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Kehre

Kehre 1929 10.24894/HWPh.1929 Winfried Franzen
Heidegger Metaphysik
Kehre. Der von M. Heidegger selbst eingeführte Terminus bezeichnet eine fundamentale Wandlung in seinem Denken: die K. vom frühen existenzialontologischen Ansatz zum späteren seinsgeschichtlichen Denken. Während in ‹Sein und Zeit› (= SuZ) die Frage nach dem Sinn von Sein vom Dasein (= vom Menschen) ausgeht, d.h. von demjenigen Seienden, dessen Seinsverfassung selbst durch Seinsverständnis ausgezeichnet ist [1], versucht das spätere Denken einen unmittelbaren Zugang zum Sein; dieses wird dabei aber nicht mehr, wie noch in SuZ, als dasjenige begriffen, was es nur im Entwurf und Verstehen des Menschen gibt [2], sondern umgekehrt ist es nun das alles tragende, dabei selbst geschichtliche Sein, welches sich seinerseits den Menschen erwirft [3], um sich ihm zu lichten. Die abendländische Geschichte der Philosophie wird dadurch geprägt, daß sich seit ihrem Beginn das Sein dem Menschen gerade entzogen und mit seiner Wahrheit an sich gehalten hat.
Im ‹Humanismusbrief› (1947) schreibt Heidegger, der Nachvollzug des neuen Denkens sei dadurch erschwert, daß bei der Veröffentlichung von SuZ der 3. Abschnitt des 1. Teils zurückgehalten wurde. «Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche Abschnitt wurde zurückgehalten, weil das Denken im zureichenden Sagen dieser K. versagte und mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam» [4]. Nach der «Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit», die in den beiden ersten (1927 erschienenen) Abschnitten von SuZ vorgelegt wurde, sollte im dritten (nicht erschienenen) Abschnitt ‹Zeit und Sein› «die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein» durchgeführt [5] und der Sinn von Sein aus der Zeit her interpretiert werden. Diese Umkehrung gelang aber nicht so, wie sie ursprünglich für SuZ geplant war: Der Versuch, von der Seinsverfassung des Daseins her zum Sinn von Sein vorzustoßen, scheiterte. Die tatsächlich vollzogene K. bedeutet also zweifellos das Aufgeben jenes Versuches zugunsten eines andersartigen Zugangs zum Sein.
Dieses neue Denken der K. wendet sich sehr bald von der phänomenologischen Methode in SuZ ab [6] und entfaltet sich zunehmend in sehr eigenwilligen Deutungen philosophischer (und dichterischer) Zeugnisse der abendländischen Geschichte sowie im Hin- und Herwenden philosophischer Schlüsselworte und -sätze. Dieses Denken will die Seinsvergessenheit der abendländischen Metaphysik (und Geschichte überhaupt) von ihren Anfängen bei den Griechen bis hin zu Nietzsches Nihilismus [7] und der auf die totale Beherrschbarkeit alles Seienden abzielenden modernen Technik [8] aufweisen und sie zugleich überwinden, um so eine neue, «anfängliche» (nämlich auf den vormetaphysischen Seinssinn [9] rekurrierende) Lichtung der Wahrheit des Seins vorzubereiten [10]. In den um 1930/31 konzipierten (jedoch erst 1942 bzw. 1943 in überarbeiteter Form erstmals publizierten) Vorträgen ‹Platons Lehre von der Wahrheit› und ‹Vom Wesen der Wahrheit› bahnen sich diese neuen Tendenzen an. Im ersten Vortrag erscheint Platon als der Initiator jener Entwicklung, die die «Richtigkeit» zum Maße der Wahrheit [11] und das Denken über das Sein zur Philosophie, genauer: zur Metaphysik [12] mache und den Menschen in den Mittelpunkt des Seienden rücke [13]; kurz: Platon stehe damit am Anfang der abendländischen Seinsvergessenheit, in der immer nur das Seiende, nie aber das Sein fragwürdig werde [14]. In ‹Vom Wesen der Wahrheit› zeigt sich bereits das Abrücken von dem im Grunde transzendental-philosophischen Ansatz auf existenzialer Basis in SuZ; nicht mehr ist es nun der Mensch, der Sein entwirft und Wahrheit hervorbringt [15], sondern Wahrheit beruht auf einem von sich selbst her schon Offenen und Offenbaren des Seienden [16], in das der Mensch eingelassen und ausgesetzt ist [17] und auf das er sich einzulassen hat [18]. Der Mensch sei nur der dem Zuspruch des Seins entsprechende und gehorchende [19]. Nach der Selbstdeutung Heideggers gibt dieser Vortrag (der ursprünglich durch einen zweiten mit dem Titel ‹Von der Wahrheit des Wesens› hätte ergänzt werden sollen [20]) «einen gewissen Einblick in das Denken der K.» [21]. Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit laute: «das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens» und sei «die Sage einer K. innerhalb der Geschichte des Seyns» [22]. – Indessen sieht Heidegger selbst (im Humanismusbrief [23] und neuerdings in einem Brief an Richardson [24]) in der K. gerade «nicht eine Änderung des Standpunktes von SuZ, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der SuZ erfahren ist» [25]. «Das Denken der K. ist eine Wendung in meinem Denken» [26], jedoch ergibt sich diese gerade daraus, «daß ich bei der zu denkenden Sache ‹Sein und Zeit› geblieben bin» [27]. Demgemäß werden die Bestimmungen in SuZ (bes. die Existenzialien) vom Horizont des späteren Denkens umgedeutet [28], so etwa ‹Existenz› in ‹Ek-sistenz› [29]. Diese Tendenz ergibt sich aus Heideggers Theorie der Seinsgeschichte: Wenn jegliches Denken vom Sein geschickt und ereignet sein soll, dann ist auch dasjenige von SuZ vom Sein selbst auf den Weg gebracht. Daher heißt es: «Die K. ist in erster Linie nicht ein Vorgang im fragenden Denken», sondern sie «spielt im Sachverhalt selbst». «Demzufolge ist schon im Ansatz der Seinsfrage in SuZ auch das Denken auf eine Wendung angesprochen, die seinen Gang der K. entsprechen läßt» [30]. «Das ‹Geschehen› der K. ... ‹ist› das Seyn als solches. Es läßt sich nur aus der K. denken. Dieser eignet keine besondere Art von Geschehen. Vielmehr bestimmt sich die K. zwischen Sein und Zeit, zwischen Zeit und Sein aus dem, wie Es Sein, wie Es Zeit gibt» [31]. Das spätere Denken sei nur möglich, sofern es im Denken der Seinsgeschichte enthalten sei [32].
K. ist so Ereignis der Seinsgeschichte selbst. In der Gefahr, welche in der letzten Aufgipfelung der Seinsvergessenheit in der Gestalt der Technik west, verbirgt sich zugleich die Möglichkeit einer «K. der Vergessenheit des Seins in die Wahrnis des Seins» [33]. Diese «K. im Sein» als die «K. der Verweigerung seines Wesens in das Ereignen seiner Wahrnis» [34], in deren «vorausgeworfenem Schatten» wir vielleicht schon stehen [35], wird aber nicht primär vom Menschen herbeigeführt, sondern sagt sich ihm als «Konstellation des Seins» zu [36]. Heideggers eigenes Denken will demnach schon in SuZ die Überwindung der Vergessenheit des Seins vorbereiten [37]. So wird die Wandlung des Heideggerschen Denkens nach SuZ zu einer K. (im engeren Sinne) innerhalb der K. (im weiteren Sinne): Weil sein frühes Denken sich in gewisser Weise als metaphysisches einführen [38], das Sein selbst noch vorstellen [39] und auf Bisheriges zurückgreifen mußte [40], kam es in Gefahr, erneut nur zu einer Verfestigung der Subjektivität zu werden. Es mußte daher abgebrochen werden [41], um einem andersartigen Denken Platz zu machen.
Die K. ist zu einem der meistbesprochenen Themen der Heideggerdeutung geworden; in ihr zeichnet sich die Tendenz ab, Heideggers Selbstinterpretation weitgehend zu folgen, d.h. die K. zum späteren Denken als Einkehr in denjenigen Grund zu verstehen, auf dem auch schon das frühe Denken stand [42], mithin als Wiederholung und ursprüngliche Aneignung des Ansatzes von SuZ [43]. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, daß das frühe und das spätere Denken Heideggers – bei allerdings weitgehender Gleichheit des appellativen Charakters – sich inhaltlich fundamental unterscheiden. Die Frage, wie die politischen Ereignisse und vor allem Heideggers politische Stellungnahme 1933/34 mit seiner Philosophie im allgemeinen und der K. im besonderen zusammenhängen, dürfte von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein; sie ist jedoch erst dann zureichend zu beantworten, wenn die Entwicklung Heideggers genauer erforscht und dokumentiert sein wird [44].
[1]
Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit (= SuZ) (1927) Einl.
[2]
Vgl. a.a.O. 147. 212. 230. 315 u. passim.
[3]
Vgl. Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Br. über den ‹Humanismus› (21954) 71. 75. 100.
[4]
SuZ 72.
[5]
Vgl. SuZ 39 u. Inhaltsverz.
[6]
Vgl. SuZ 27–39.
[7]
Vgl. Nietzsche 1. 2 (publ. 1961, verfaßt 1936–46).
[8]
Vgl. bes. Die Technik und die Kehre (1962) 5–36.
[9]
Vgl. die Interpret. zu Anaximander, Parmenides, Heraklit in: Holzwege (1950); Vorträge und Aufsätze (1954).
[10]
Vgl. bes. Brief ... a.a.O. [3]; Was ist Met.? (41943) Nachwort; (51949) Einl.; Die Überwindung der Met., in: Vorträge und Aufsätze a.a.O. [9]; Die Technik und die Kehre a.a.O. [8]; Zur Seinsfrage (1959); ferner alle nach 1945 erschienenen, jedoch teilweise vorher verfaßten Schriften.
[11]
Platons Lehre ... a.a.O. [3] 44.
[12]
a.a.O. 48.
[13]
49.
[14]
Vgl. 52.
[15]
Vgl. SuZ 220. 226f. u. passim.
[16]
Vgl. Vom Wesen der Wahrheit (41961) 12.
[17]
Vgl. a.a.O. 15.
[18]
Vgl. 14.
[19]
Vgl. z.B. Was heißt Denken? in: Vorträge und Aufsätze a.a.O. [9]; Was ist Met.? (91965) 10.
[20]
Vgl. Vom Wesen der Wahrheit a.a.O. [16] 26 (in einem den Aufl. seit 1949 hinzugefügten Absatz der Schlußanmerkung).
[21]
Platons Lehre ... a.a.O. [3] 72.
[22]
Vom Wesen der Wahrheit a.a.O. [16] 26.
[23]
ebda.; vorher schon in: Was ist Met.? (41943) Nachwort.
[24]
Abgedruckt bei W. J. Richardson: Heidegger. Through phenomenol. to thought (Den Haag 1963) VIII–XXIII.
[25]
Heidegger, Platons Lehre ... a.a.O. [3] 2; vgl. Brief an Richardson a.a.O. XVII.
[26]
a.a.O. XVII.
[27]
ebda.
[28]
Vgl. bes. a.a.O. [3] und [10]; dazu F. W. von Herrmann: Die Selbstinterpret. Martin Heideggers (1964).
[29]
Heidegger, Platons Lehre ... a.a.O. [3] 68–71; Was ist Met.? a.a.O. [10] 14–16.
[30]
Brief an Richardson a.a.O. [24] XIX.
[31]
a.a.O. XXI.
[32]
Vgl. XXIII.
[33]
Die Technik und die Kehre a.a.O. [8] 42.
[34]
a.a.O. 44.
[35]
40.
[36]
46.
[37]
Vgl. Was ist Met.? a.a.O. [10] 9f.
[38]
Vgl. Platons Lehre ... a.a.O. [3] 64.
[39]
Vgl. Was ist Met.? a.a.O. [10] 18.
[40]
Nietzsche a.a.O. [7] 2, 194.
[41]
a.a.O. 194f.
[42]
Vgl. exemplarisch R. Pflaumer: Sein und Mensch im Denken Heideggers. Philos. Rdsch. 13 (1965) 161–234, bes. 175; O. Pöggeler: Sein als Ereignis. Z. philos. Forsch. 13 (1959) 597–632, bes. 617.
[43]
Vgl. z.B. die Interpret, von Richardson, a.a.O. [24]; O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (1963); O. Pugliese: Vermittlung und Kehre. Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger (1965); vgl. ferner W. Schulz: Über den philosophiegesch. Ort Martin Heideggers. Philos. Rdsch. 1 (1953/54) 65–93. 211–232; H. Ott: Denken und Sein. Der Weg Martin Heideggers und der Weg der Theol. (1959); J. van der Meulen: Heidegger und Hegel oder Widerstreit und Widerspruch (21954) bes. 167, auch 18; B. Allemann: Hölderlin und Heidegger (21956); M. Müller: Existenzphilos. im geistigen Leben der Gegenwart (31964) 217f. 222ff.
[44]
Vgl. jetzt O. Pöggeler: Philosophie und Politik bei Heidegger (1972).
G. Lukács: Heidegger redivivus. Sinn und Form 1 H. 3 (1949) 37–62, ND in: Existentialismus oder Marxismus? (1951). – M. Müller s. Anm. [43]. – K. Löwith: Heidegger – Denken in dürftiger Zeit (21960). – W. Schulz s. Anm. [43]. – H. Ott s. Anm. [43]. – F. Wiplinger: Wahrheit und Geschichtlichkeit. Eine Untersuchung über die Frage nach dem Wesen der Wahrheit im Denken Martin Heideggers (1961). – W. J. Richardson s. Anm. [24]. – O. Pöggeler s. Anm. [43]. – F. W. von Herrmann s. Anm. [28]. – A. Schwan: Polit. Philos. im Denken Heideggers (1965). – D. Sinn: Heideggers Spätphilosophie. Philos. Rdsch. 14 (1967) 81–182. – E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (1967). – H. M. Sass: Heidegger-Bibliographie (1968). – O. Pöggeler s. Anm. [44]. – W. Franzen: Von der Existentialontol. zur Seinsgesch. Eine Untersuch. über die Entwicklung der Philos. Martin Heideggers (Diss. Gießen 1972).