Kenose (griech.
κένωσις, lat. exinanitio, seltener evacuatio, Ausleerung, Entäußerung) ist ein Begriff der Christologie, der in der lutherischen Theologie des 17. und dann des 19. Jh. ein bestimmtes Moment der Menschwerdung des Gottessohnes bezeichnet und dessen Geschichte in diesen Phasen deshalb besonders beachtet wird. Er steht im Mittelpunkt der Exegese von Phil. 2, 6–11, wo
Paulus – eher beiläufig – davon spricht, daß Christus, «ob er wol in göttlicher gestalt war», sich doch «[ent-]eussert sich selbs» (
ἑαυτὸν ἐκένωσεν) «und nam Knechts gestalt an, ward gleich wie ein ander Mensch, ... ernidriget sich selbs und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum tode am Creutz» (
Luther). Zusammen mit dem benachbarten
ἐταπαίνωσεν ἑαυτόν (humiliavit se, er erniedrigte sich) und dem patristischen Begriff der
συγκατάβασις (Herunterlassung, Kondeszendenz, s.d.) wird der nur in Phil. 2, 7 gebrauchte Begriff der K. fortan oft als wichtigstes Kennzeichen der Menschwerdung Christi (
σάρκοσις, incarnatio) gesehen.
Dies gilt schon für die
Patristik. Wird in der Frühzeit Phil. 2, 7 nur zitiert oder umschrieben, so wird die K. seit
Origenes, besonders aber seit dem 4. Jh. häufig in der Christologie der griechischen
[1] und lateinischen
[2] Kirchenväter erörtert und spielt auch eine Rolle in der Auseinandersetzung mit den Häresien der Arianer und Nestorianer. Allgemeine Auffassung ist, daß die K. eine des in Gott präexistenten Sohnes, des
λόγος ἄσαρκος, sei und Christi Annahme der menschlichen Natur keine völlige Ablegung der göttlichen Natur bedeute, sondern nur eine Entäußerung der göttlichen Macht und Herrlichkeit (
δόξα, gloria). Die Zweinaturen-Lehre wird so durch die K.-Lehre bestätigt.
Augustinus: «Sic se exinanivit, formam servi accipiens, non formam Dei amittens»
[3].
Novatian kennt eine zweistufige K., die der Menschwerdung und darüberhinaus die Erniedrigung, die Christus als Mensch auf sich nimmt
[4].
Von der Theologie des Mittelalters wird der Begriff K. fast gar nicht rezipiert.
Luther gibt verschiedentlich eine Exegese von Phil. 2, 7
[5], doch bildet er keine ausdrückliche K.-Lehre aus. Das geschieht erst in der
lutherischen Orthodoxie des 17. Jh. Hatten
J. Gerhard und
D. Hollaz bereits gelehrt, daß die K. nicht mit der Inkarnation identisch sei, sondern sich erst im menschgewordenen Sohn, dem
λόγος ἔνσαρκος, vollziehe
[6], so führen die noch verbliebenen Unklarheiten zum Streit zwischen Gießener und Tübinger Theologen. Die Gießener B.
Mentzer (d. Ä.) und
J. Feurborn interpretieren die K. so, daß die menschliche Natur des
menschgewordenen Sohnes Gottes göttliche Eigenschaften besitze, sich aber ihres Gebrauchs enthalte
[7], die Tübinger
L. Osiander (d. J.),
Th. Thumm und
M. Nicolai dagegen, daß sie diese verberge
[8].
Die Kenotiker des 19. Jh., die zwischen lutherischer Zweinaturenlehre und einem nachromantischen Personbegriff vermitteln wollen, vertreten eine «Selbstbeschränkung des Göttlichen», eine K. nicht des menschgewordenen, sondern des
menschwerdenden Sohnes Gottes, der sich zumindest der Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit entäußert habe
[9]. Schließlich hat
S. Boulgakof den Begriff ‹K.› so weit gefaßt, daß bereits die innertrinitarische Liebe der drei göttlichen Personen zueinander, die Schöpfung und eine metaphysische Inkarnation, von der die historisch-empirische Menschwerdung nur die Folge ist, als K. begriffen werden
[10].
Ob der philosophische Begriff der Entäußerung bei
Fichte und
Hegel eine Wurzel auch in der K.-Lehre hat (wie ‹Entfremdung› neben seiner juristischen auch eine theologische Wurzel hat), bleibt zu untersuchen.