2.
Der L.-Begriff Husserls. – Ihm kommt im Spätwerk
Husserls die Funktion zu, den gesamten Stufenbau der konstitutiven Leistungen in einen genetischen Fundierungszusammenhang zu bringen und die verschiedenen Problembereiche des phänomenologischen Denkens zur universalen Einheit zu vermitteln. Er ermöglicht so die Vollendung der Phänomenologie als universaler, letztbegründender Transzendentalphilosophie. Der L.-Begriff leistet dies, indem er für die Phänomenologie in vierfacher Hinsicht bedeutsam wird:
a) Im geschichtsphilosophischen Einleitungsteil der
Krisis-Abhandlung zeigt Husserl, daß Philosophie und Wissenschaft des Abendlandes aufgrunddes für sie konstitutiven Vorurteils eines in Wahrheiten an sich erfaßbaren objektiven An-sich-seins die vorwissenschaftliche L. vergessen und übersprungen haben
[1]. In der Neuzeit hat der Begriff des objektiven Seins durch die galileische Naturwissenschaft und die Philosophie Descartes' eine Radikalisierung und universale Ausweitung erfahren
[2]. Das Vorurteil des Objektivismus hat in der Gegenwart zur Herrschaft des positivistischen Wissenschaftsbegriffes geführt
[3]. In dieser seiner äußersten Gestalt hat es die Krise der Gegenwart als den vollständigen Verlust der Einheit von Wissenschaft, Philosophie und Lebensbedeutsamkeit zur Folge
[4]. Diese Geschichte des abendländischen Denkens entspringt der Grundtendenz des natürlichen Lebens selber. Indem es ganz seinen gegenständlichen Erfahrungskorrelaten hingegeben ist und durch ihre Gegebenheitsweise dazu motiviert wird, auf dem Wege methodischer Idealisierung den Begriff des objektiven An-sich-seins zu erzeugen, übersieht es den konstitutiven Rückbezug des ideal-objektiven Seins auf die Erfahrung und die methodische Erzeugung des Subjektes
[5]. Indem die L. als Ursprungssphäre aller Objektivität aufgedeckt wird, in der sich alles gegenständlich Objektive in seiner ursprünglichen Rückbezogenheit auf das erfahrende Subjekt gibt, kommt ineins mit der Aufdeckung der L. das objektivistische Vorurteil der Tradition als solches in den Blick. Damit ist die Möglichkeit des Gelingens der Transzendentalphilosophie qua transzendentaler Phänomenologie geschichtsphilosophisch gesichert und die Aufgabe ihrer Verwirklichung als «Telos» der Geschichte aufgewiesen
[6].
b) Nach einer Epoché von den objektiven Wissenschaften und von allen Zielsetzungen des praktischen Lebens kann die L. als ein «Universum prinzipieller Anschaubarkeit» (zunächst und fundamental reiner Wahrnehmbarkeit) in mundaner Einstellung in mehrfacher Hinsicht zum Thema von apriorischen Wissenschaften werden, die alle methodisch auf der Dignität wirklicher und ursprünglicher Evidenz (Selbstgebung) basieren
[7]. Es gehört zur Wesensstruktur der L., daß sie als physisch-naturale Umgebung um eine leibliche, kinästhetisch vermögliche Ichlichkeit zentriert ist, die ihrerseits stets wahrnehmend-erfahrend auf irgendwelche einzelnen Dinge ihrer Umwelt gerichtet ist
[8]. Diese sind nur in einem offen-endlosen Horizont von mit ihnen machbaren Erfahrungen gegeben. Ihr Gesamthorizont ist die in allen ihren Inhaltsbeständen immerfort bewegliche, relative Welt, die jeweils Welt eines einstimmig-offenen Erfahrungszusammenhanges besagt und in jeder Einzelerfahrung mitgegeben ist
[9]. Alles relative lebensweltliche Erfahren ist jedoch an invariante-irrelative Strukturen gebunden, die als unzerbrechliche Weltform in der Methode der Wesensschau gewonnen werden können und ein Apriori aller lebensweltlichen Gegebenheiten, auch der höherstufigen (animalischen, geistig-personalen, kulturellen) als immer auch physisch fundierten Gegebenheiten, darstellen (Ontologie der L. im ersten und engsten Sinne, «erste Weltwissenschaft»)
[10]. Auf dieser in der naturalen (noch nicht naturalistischen) Einstellung thematisierten, fundierenden ästhetischen Unterschicht der L. bauen sich die höherstufigen Schichten des Animalischen, Personal-Geistigen, des Kulturellen usw. auf. Sie haben ihre durch keinen Erfahrungswandel betreffbare regionale Typik, die den Aufbau eigenständiger materialer Ontologien ermöglicht
[11]. Alle regionalen Ontologien werden umgriffen von der formalen Ontologie als
der apriorischen Wissenschaft von möglichen Gegenständen überhaupt
[12]. Die L. hat nach Husserl immer auch generativ-geschichtlichen Charakter. Sie ist von Menschen gestaltete, praktische Umwelt, die als eine unter vielen im Horizont der Geschichte und ihrer Traditionen steht
[13]. Als solche wird sie in der personalistischen Einstellung thematisch und vom Geisteswissenschaftler in vergleichend-typisierendem Verfahren erforscht
[14]. Durch die frei vermögliche, eidetisch-variative Horizontauslegung der Phänomenologie können alle relativen geschichtlichen L.en als Varianten der einen invarianten Struktur von L. überhaupt, die als solche in der Weise des zeitlich-geschichtlichen Strömens ist, und damit als zu ein- und derselben Welt gehörig begriffen werden
[15]. Eine
konkrete Explikation des geschichtlichen Horizontes
unserer, durch die Herrschaft der objektiven Wissenschaft bestimmten L. führt auf ihre Herkunft aus der Geschichte des abendländischen Denkens zurück und vermag objektiv-wissenschaftliches Denken und naturalistisch-wissenschaftliche Einstellung in ihrer geschichtlichen Faktizität als Konsequenzen der wissenschaftlichen Zielsetzung des abendländischen Denkens auf dem Gewißheitsboden der L., dem gemeinsamen Boden aller geschichtlichen Kulturen, zu begreifen
[16].
c) In einer solchen Explikation kann der Begriff des objektiven Ansichseins, der für alle Wissenschaften der Neuzeit (auch die Logik) das wahre Sein bedeutet, als «Entwicklungsprodukt» einer spezifisch höherstufigen Art von konstituierenden subjektiven Leistungen, einer exakte Objektivität allererst methodisch erzeugenden Idealisierung, begriffen werden
[17]. Alle Idealisierungen haben ihren Ursprung und ihr Sinnesfundament in der L., die ihre Erzeugung ermöglicht und motiviert
[18]. Nach einmal gelungener Erzeugung sedimentiert sich das Idealisierte und gehört sodann als passiver Niederschlag (in Gestalt von wissenschaftlicher Wahrheit oder Technik) der L. selber an
[19]. Als solches bestimmt es wiederum den jeweiligen Sinn von L. als einer aus dieser geschichtlichen Sinnesgenesis gewordenen; jedoch so, daß die «Urstiftungen», aus denen die Idealisierungen erwachsen sind, stets aus ihrem lebensweltlichen Herkunftsgrunde wieder in Identität ihres Sinnes reaktiviert werden können
[20].
d) Da in jeder lebensweltlichen Erfahrung die zeitlich strömende L. als Horizontimplikation vorausgesetzt ist, muß die transzendentale Reduktion so vollzogen werden, daß die Bodengeltung der Welt selber mit einem Schlage außer Spiel gesetzt wird
[21]. Erst dadurch gelangt die transzendentale Reduktion zu ihrer Vollendung. Sie verwandelt die L. in das «bloße transzendentale Phänomen», das Korrelat eines uninteressierten Zuschauers
[22]. Ihm zeigt sich, wie sich die L. als das erste Objektive aus den Leistungsvollzügen der transzendentalen Subjektivität konstituiert bzw. aufbaut
[23]. Ist L. Welt im zeitlich-geschichtlichen Strömen, so muß ihr transzendentales Apriori so beschaffen sein, daß es sie als strömend-geschichtliche ermöglicht
[24].
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E. Husserl: Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 18ff. 93. 271ff. 392ff. |
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a.O. 5ff. 60ff. 74ff. 80ff. 402ff.; Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana 1 (Den Haag 21963) 63f. |
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Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 3ff. |
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Vgl. Janssen, Gesch. und L. a.O. [6 zu 1]. |
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Husserl, Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 138ff. 140ff. 176ff.; Phänomenol. Psychol. a.O. [3 zu 1] 69ff. |
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Die Krisis ... a.O. 145f.; Erfahrung und Urteil. Untersuch. zur Geneal. der Logik ( 41972) 23f. |
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Phänomenol. Psychol. a.O. [3 zu 1] 59ff.; Erfahrung und Urteil a.O. 24ff.; vgl. L. Landgrebe: Welt als phänomenol. Problem, in: Weg der Phänomenol. a.O. [3 zu 1] 41ff. |
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Husserl, Phänomenol. Psychol. a.O. [3 zu 1] 68ff.; Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 145f. 176f.; Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der log. Vernunft (1929). Husserliana 17 (Den Haag 1974) 296ff. |
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Erfahrung und Urteil a.O. [8] 51ff.; vgl. L. Landgrebe: Seinsregionen und regionale Ontol. in Husserls Phänomenol., in: Der Weg der Phänomenol. a.O. [3 zu 1] 143ff. |
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Husserl, Formale und transzendentale Logik a.O. [10] 148ff. |
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Ideen ... a.O. [6 zu 1] II, 190ff.; Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 314ff. 488ff. 502ff.; Cartes. Medit. a.O. [2] 160f.; vgl. Landgrebe, Das Methodenproblem ... a.O. [12 zu 1] 25ff. |
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Husserl, Ideen ... a.O. [6 zu 1] II, 143. 377ff.; Die Krisis ... a.O. 150f. |
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Die Krisis a.O. [3 zu 1] 377f. 491ff. |
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a.O. 314ff. 485ff.; vgl. L. Landgrebe: Husserls Abschied vom Cartesianismus, in: Der Weg der Phänomenol. a.O. [3 zu 1] 186ff. |
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Husserl, Die Krisis ... a.O. 18ff. 357ff.; Erfahrung und Urteil, a.O. [8] 38ff. |
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Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 360f. 383ff. |
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179ff.; Cartes. Meditat. a.O. [2] 163ff. |
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Die Krisis ... a.O. [3 zu 1] 491ff.; vgl. Landgrebe, Das Methodenproblem a.O. [12 zu 1] 25ff. |
M. Merleau-Ponty: Phénoménol. de la perception (Paris 1945). – A. De Waelhens: La philos. et les expériences naturelles. Phaenomenologica 9 (Den Haag 1961). – H. Hohl: L. und Gesch. Grundz. der Spätphilos. E. Husserls (1962). – H.-G. Gadamer: Die phänomenol. Bewegung. Philos. Rdsch. 11 (1963) 1ff. – Symposium sobre la Noción Husserliana de la L. Univ. Nacional Autónoma de Mexico. Centro de Estud. filos. (1963). – G. Funke: Phänomenol. – Met. oder Methode? (1966). – L. Landgrebe: Welt als phänomenol. Problem, in: Der Weg der Phänomenol. (
21967) 41ff.; Husserls Abschied vom Cartesianismus, in: Der Weg ... 163ff. – E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (1967) bes. 227ff. – R. Boehm: Vom Gesichtspunkt der Phänomenol. (Den Haag 1968). – W. Marx: Vernunft und L., in: Vernunft und Welt (Den Haag 1970) 45–62; L. und L.en a.O. 63–77. – G. Brand: Die L. (1971). – Life-World and consciousness. Essays for A. Gurwitsch, hg. L. Embree (Evanston 1972). – W. Biemel: Refl. zur L.-Thematik, in: Phänomenol. heute. Festschr. L. Landgrebe, hg. W. Biemel (Den Haag 1972) 49–77. – U. Claesges: Zweideutigkeiten in Husserls L.-Begriff, in: Perspektiven transzendentalphänomenol. Forsch. Landgrebe zum 70. Geburtstag, hg. U. Claesges/K. Held (Den Haag 1972) 85–101. – H. Lübbe: Positivismus und Phänomenol. Mach und Husserl, in: Bewußtsein in Geschichten (1972) 33ff. – G. Brand: The structure of the Life-World according to Husserl. Man and World 6/2 (1973) 143–162. – J. N. Mohanty: «Life-World» and «a priori» in Husserl's later thought, in: The phenomenol. realism of the possible worlds. Papers and Debate of the 2nd int. Conf. held by the Int. Husserl a. Phenomenol. Res. Soc, hg. A.-T. Tymineucka, in: Analecta Husserliana 3 (1974) 46–65. – D. Carr: Phenomenol. and hist. (Evanston 1974). – Phänomenol. und Marxismus, hg. B. Waldenfels u.a. 1. 2 (1977). – K. Hedwig: L.en der L. Aspekte einer phänomenol. Thematik. Philos. Lit.anz. 32 (1979) 284–295. – L. und Wiss. in der Philos. E. Husserls, hg. E. Ströker (1979).