Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Logozentrisch

Logozentrisch 2296 10.24894/HWPh.2296 Egon Pöhler Redaktion
Klages Sprachphilosophie und Semiotik biozentrisch logocentrique5 503 Vernunftkritik critique of reason grammtologie5 503
Logozentrisch oder «herakleisch» [1] nennt L. Klages die in Christenheit und Spätzeit vorherrschende lebensfeindliche «Geistigkeit», die «das Leben im Geiste zu binden» versuche [2]. Ihr Gegensatz ist das in Vorzeit und Antike beheimatete, den «Geist im Leben» lösende [3] Denken, das Klages als «prometheisch» oder – wohl in Anlehnung an den in ähnlicher Bedeutung schon bei R. H. Francé auftauchenden Terminus [4] – als «biozentrisch» bezeichnet [5]. Die biozentrische Geisteshaltung wird gleichgesetzt mit der «Grundgesinnung der Metaphysik» [6]: Sie ist «tief», «idealistisch», «beschaulich» und «kontemplativ» [7]; die logozentrische dagegen entspricht nach Klages der «Grundgesinnung der Wissenschaft» [8]: Sie ist «flach», «mechanistisch» und «voluntaristisch»[9]; statt lebendiger Zusammenhänge sieht sie nur Beziehungen zwischen Objekten [10], statt sich dem «nur zu erlebenden Wesen der Wirklichkeit» zu nähern [11], entfernt sie sich immer weiter «vom Wirklichkeitsgehalt des Erlebens» [12].
In völlig anderer Bedeutung und ohne Bezug zu Klages wird der Begriff ‹logocentrique› neuerdings von J. Derrida verwendet. Mit ‹logozentrisch› oder ‹Logozentrismus› bezeichnet er eine nach seiner Auffassung mit den platonischen Dialogen beginnende, seither die gesamte Tradition der europäischen Philosophie bestimmende Konzeption des Zeichens, welche als Medium der Erkenntnis die gesprochene Sprache (phoné, parole) gegenüber der geschriebenen (graphé, écriture) systematisch bevorzugt [13]. Das gesprochene Wort gilt als das Primäre, weil man in ihm unmittelbar bei dem Gedachten selbst und mit diesem gegenwärtig zu sein glaubt, das geschriebene Wort dagegen als ein problematischerer Ersatz des gesprochenen, mit dem die Möglichkeit des Irrtums und des Betrugs gegeben sei [14]. Der Glaube an die Präsenz des Seins im gesprochenen Wort ist jedoch nach Derrida bloßer Schein: der Schein, daß Sinn und Bedeutung (Husserl), signifiant und signifié (Saussure), sich trennen ließen und das Konzeptuelle sich verselbständigen könnte [15]. In Wahrheit aber sei das Zeichen unteilbar und bedeute für sich genommen nichts, es sei nur eine Spur (trace), die auf andere Zeichen und von diesen wieder auf andere verweise. Der Sprecher selbst sei gefangen in diesem Zeichensystem: Er könne nur schreiben oder sprechen, soweit er dessen grammata folge. Diese Einsicht in unsere Abhängigkeit von den grammata der Schrift (écriture) ist nach Derrida allerdings nur dadurch zu gewinnen, daß man das logozentrische Denken systematisch destruiert und durch das grammatologische Denken ersetzt [16].
Derridas Wendung gegen den Logozentrismus hat vor allem die Literatur- und Erkenntnistheorie der Gruppe Tel Quel beeinflußt, die in der Grammatologie eine positive Wissenschaft von der Textualität sieht: Jeder Text ist nur ein Gefüge von Verweisungen auf andere Texte; es gibt weder das autonome schöpferische Subjekt noch einen rein ursprünglichen Text [17].
[1]
L. Klages: Der Geist als Widersacher der Seele. Werke, hg. E. Frauchiger u.a. 1 (1969) 374. 510.
[2]
a.O. 129.
[3]
ebda.
[4]
R. H. Francé: Zoësis (1920) 8.
[5]
Klages, a.O. [1] 374. 511.
[6]
130.
[7]
Vgl. 130. 374. 511. 729.
[8]
130.
[9]
374. 729. 689.
[10]
a.O. [1] 2 (1966) 1144.
[11]
a.O. 2, 130.
[12]
610f.
[13]
J. Derrida: L'écriture et la différence (Paris 1967) bes. 63ff.; 293f.; Lapharmacie de Platon, in: La dissémination (Paris 1972) 69–197; Positions (Paris 1972) bes. 21ff. 27. 46f. 66ff.
[14]
Vgl. La voix et le phénomène (Paris 1967); La pharmacie a.O. 210ff.
[15]
La voix a.O.
[16]
Vgl. bes. De la grammatol. (Paris 1967); La différence, in: Tel Quel, Théorie d'ensemble (Paris 1967) 41–66.
[17]
Vgl. etwa: J. Kristeva: Séméiotiké. Rech. pour une sémanalyse (Paris 1969); Le texte du roman (Paris 1970); J.-J. Goux: Freud, Marx-Economie et symbolique (Paris 1973).