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Materie

Materie Metaphysik hyle (ὕλη) materia matière 5260 10.24894/HWPh.5260Wolfgang DetelMatthias SchrammWolfgang BreidertTilman BorscheRainer PiepmeierPeter Hucklenbroich
Materie V (phys.) 2418 Hucklenbroich Peter Physik Ausdehnung Schwere5 921 Kraft5 922
(griech. ὕλη, lat./ital./span. materia, frz. matière, engl. matter, stuff, dtsch. M., Stoff)
I. Antike. – 1. Erstes Auftreten des Terminus ‹M.›. – Der deutsche Ausdruck stammt vom lateinischen ‹materia› oder ‹materies› (urspr. Holz, Nutzholz). Cicero übersetzt mit Hilfe von ‹M.a› den griechischen Ausdruck ὕλη, soweit er in philosophischem Kontext vorkommt, etwa bei Aristoteles [1] oder den Stoikern [2]. Aristoteles' Kennzeichnung der vorsokratischen Prinzipien (ἀρχαί) sowie des platonischen ‘Raumesʼ (χώρα) als M. (ὕλη) vollzieht Cicero in seinen Übersetzungen mit [3]; dasselbe gilt von Lukrez, der bis auf eine Stelle [4] den älteren Ausdruck ‹materies› benutzt [5]. ὕλη bezeichnet im Griechischen von Homer an Wald, Unterholz oder (totes) Holz, das dem Wald entnommen wurde (Reisig, Stämme u.a.) und zum Bauen verwendet wird. Auch Platon benutzt ὕλη durchaus noch umgangssprachlich [6]. Als philosophischer Terminus tritt ὕλη erstmalig wahrscheinlich in den frühen Schriften des Aristoteles auf. Bereits im ‹Protreptikos› (Abfassung vor 353 v.Chr.) findet sich die Unterscheidung von δύναμις und ἐνέργεια (‘Möglichkeitʼ und ‘Wirklichkeitʼ) [7], die kaum ohne die Unterscheidung von ὕλη und εἶδος denkbar ist [8]. Die frühesten direkten Belege enthält die ‹Physik›, wo der aristotelische ὕλη-Begriff bereits voll ausgebildet ist [9]. Nicht völlig auszuschließen, wenn auch nur von Jamblich bezeugt [10], ist die terminologische Verwendung von ὕλη vor Aristoteles bei Speusipp oder Xenokrates[11]. Als philosophischer Terminus bedeutet ὕλη bei Aristoteles ursprünglich «das, woraus etwas entsteht» (τὸ ἐξ οὗ) [12]; damit setzt sich Aristoteles ab von Platons Bestimmung der χώρα als «dem, in dem etwas entsteht» (τὸ ἐν ᾦ γίγνεται) [13].
[1]
Cicero, De nat. deor. III, 39, 92; De fin. I, 18; Acad. 1, 6.
[2]
Acad. 1, 24.
[3]
a.O. II, 118.
[4]
Lukrez, De rer. nat. IV, 148.
[5]
a.O. I, 58. 635.
[6]
Platon, Phileb. 54 c 2; Tim. 69 a 6.
[7]
Frg. 14 (Ross).
[8]
I. Düring, Gnomon 27 (1955) 156.
[9]
z.B. Arist., Phys. I, 9, 192 a 31f.
[10]
Iamblich, Comm. math. sci. IV, 16, 19f. (Festa); 17, 25f.
[11]
P. Merlan: From Platonism to Neoplatonism (21960) 122.
[12]
Arist., Phys. VII, 3, 245 b 10; Gen. et corr. II, 1, 329 a 20; Met. VII, 7, 1033 a 5.
[13]
Platon, Tim. 50 d 1.
F. Solmsen: Aristotle's word for matter. Didascaliae. Stud. in honor of A. M. Albareda (New York 1961) 395–408. – H.-J. Hartung: Ciceros Methode bei der Übersetzung griech. philos. Termini (1970).
2. Der M.-Begriff vor Aristoteles. – a) Aristoteles verwendet den von ihm eingeführten M.-Begriff auch zur Interpretation der Aussagen seiner Vorgänger [1]. Dieses anachronistische Verfahren findet sich ebenso in Theophrasts Schrift über die Meinungen der Naturphilosophen (φυσικῶν δόξαι), das die gesamte spätere doxographische Tradition maßgeblich beeinflußt hat. Versteht man die Relation ‹x ist M. von y› jedoch in ihrer ursprünglichen Bedeutung ‹y entsteht aus x›, und ist ihr Nachbereich die Allklasse – ist also M. das, aus dem alles entsteht –, so ist es nicht abwegig zu fragen, ob die Vorsokratiker oder Platon Aussagen über M. gemacht haben. Das, was in diesem weiten, der aristotelischen Terminologie aber nicht völlig fernstehenden Sinne als M. aller Dinge im Kosmos angesehen wird, kann dann durchaus Kennzeichen tragen, die wir heute nur lebenden oder denkenden Wesen zuschreiben würden.
b) Die spekulativen Ansätze der frühen ionischen Naturphilosophie sind ursprünglich wohl durch die kosmogonische Problemstellung der vorderorientalischen Mythologie bestimmt. Als M. wird derjenige Urstoff betrachtet, aus dem alles entstanden ist und auch weiterhin entsteht. Die M. gilt daher nicht nur als ewig, sondern auch als bewegte, lebendige, alles erfüllende und erhaltende göttliche Macht. Thales identifizierte sie mit dem Wasser, das alle kosmischen Elemente stützt und erzeugt [2], Anaximander mit dem Unbestimmt-Grenzenlosen, das, selbst unvergänglich und göttlich, einen unaufhörlichen und stabilen Zyklus des Werdens und Vergehens ermöglicht [3], Anaximenes schließlich mit der lebensspendenden, beweglichen Luft [4]. Diese in nicht-mythischer Sprache formulierten kosmogonischen M.-Spekulationen werden aber auch schon als Hypothesen zur Erklärung empirischer Phänomene angesehen, so daß der M. stets regelhafte, gesetzmäßige Bewegung zugeschrieben werden muß (z.B. Kondensations- und Verdünnungsvorgänge bei Anaximenes). Dieser Gedanke gewinnt bei Heraklit zentrale Bedeutung, der wie die Milesier die M. mit einem Stoff (Feuer) gleichsetzt, den er für ewig, lebendig und höchst wandlungsfähig hält [5], dessen Identität er jedoch in bezug auf ein kosmisches Maß oder Gesetz (λόγος), die Einheit der Gegensätze, bestimmt [6]. Dieses kosmische Gesetz der M. ist nur theoretisch erfaßbar; bei Heraklit wird daher zum erstenmal das Problem der Erkennbarkeit der M. angedeutet [7].
c) Die bereits in der voreleatischen Naturphilosophie angedeutete Vorstellung, daß der Ursprung, die Grundlage alles Bestehenden selbst dem Wandel entzogen ist, seine Identität bewahrt und nur theoretisch erkennbar ist, wird von Parmenides in einer für den M.-Begriff folgenreichen Weise ontologisch und erkenntnistheoretisch radikalisiert. Er geht von der Prämisse aus, daß vom Seienden wahrheitsgemäß gesagt werden muß, daß es ist [8], und schließt daraus zunächst, daß weder gilt, daß das Seiende nicht ist [9], noch, daß das Seiende ist und nicht ist [10]. Aus diesen Voraussetzungen folgt weiter, daß das Seiende eines, d.h. nicht-räumlich, nicht-zeitlich, bewegungslos, unvergänglich, ohne Teile und unteilbar ist [11], ferner, daß das Seiende das einzig mögliche Objekt des Denkens [12] und von Phänomenen kein Wissen möglich ist [13]. Das parmenideische Seiende ist kaum als M. anzusprechen, denn Parmenides betrachtet es nicht als Grundlage der veränderlichen, sinnlich erfahrbaren Welt, die für ihn bloßer Schein ist. Aber einige seiner ontologischen Grundsätze sowie das in aller Schärfe herausgestellte Problem der Erkennbarkeit des Veränderlichen beeinflussen die weitere Entwicklung der Vorstellungen über M. maßgeblich.
d) Die vorsokratischen Naturphilosophen nach Parmenides versuchen einerseits M. wieder als Ursprung und Grundlage des Kosmos zu beschreiben, sehen andererseits nunmehr aber die eleatischen Grundsätze, daß das Seiende nicht aus Nichtseiendem entsteht und unveränderlich ist und daß Vieles nicht aus ursprünglich Einem hervorgehen kann, als bindend an. Aus beidem folgt, daß die M. von Anfang an aus vielen Elementen besteht, daß diese Elemente selbst unveränderlich sind, daß ihre Bewegung eine Ursache haben muß und daß die Veränderung der sichtbaren Teile des Kosmos eine Umschichtung seiner M. ist. Die Pluralität der M. erscheint bei Empedokles in den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, bei Anaxagoras in der allgemeinen Mischung aller im Kosmos vorkommenden Stoffe und bei Demokrit in der unendlichen Anzahl der Atome, wobei die M.-Elemente stets als unveränderlich gelten [14]. Empedokles und Anaxagoras leugnen den leeren Raum als etwas Nichtseiendes [15] und postulieren in Gestalt von Anziehungs- und Abstoßungskräften (‘Liebeʼ, ‘Streitʼ) bzw. einer singulären Antriebskraft (‘Geistʼ) Bewegungsursachen, die noch als Teile der M. selbst aufgefaßt werden [16]. Demokrit führt zwar den leeren Raum (besser: Zwischenraum) ein, aber als etwas, das nicht schlechthin nichtseiend ist und die Funktion einer Bewegungsbedingung übernimmt [17]. Atome haben eleatische Eigenschaften, d.h. sind unvergänglich, unteilbar, homogen und unveränderlich [18].
e) Platons Philosophie kann als Versuch angesehen werden, die eleatische Lehre so weiterzuentwickeln, daß sie mit der Annahme der Existenz – wenn auch nicht der vollständigen Erkennbarkeit – eines wahrnehmbaren, veränderlichen Kosmos vereinbar wird. Dies gelingt durch die Unterscheidung der Formen (εἴδη) von ihren wahrnehmbaren Trägern (αἰσθητά). Die Formen sind unveränderlich und bilden daher den Bereich des im eigentlichen Sinne Seienden und Erkennbaren; die wahrnehmbaren Gegenstände dagegen sind veränderlich, haben jedoch an den Formen teil, so daß Veränderung in diesem Bereich als Wechsel der Teilhabe-Relation beschrieben werden kann. Wenn aber Formen das im höchsten Maße Seiende sind, dann kann das Problem des Aufbaus des Kosmos, das Platon in seinen Spätdialogen, insbesondere im ‹Timaios›, ins Auge faßt, sicher nicht nach Art der jüngeren Vorsokratiker durch Angabe von Stoffen oder Kräften gelöst werden, die sich selbst nicht wesentlich von den sichtbaren Teilen des Kosmos unterscheiden; diese elementaren Stoffe oder Kräfte müssen vielmehr ihrerseits noch auf das im eigentlichen Sinne Seiende reduziert werden. Andererseits sah Platon sich gezwungen, den parmenideischen Monismus preiszugeben: soll der Kosmos nicht als Scheinwelt gelten, so ist von vornherein eine Vielheit von Formen und mathematischen Strukturen anzunehmen. Platon scheint daher zur Erklärung alles Bestehenden ein Formprinzip und ein Vielheitsprinzip postuliert zu haben. Letzteres wird im ‹Timaios› als dritte Gattung (neben Formen und ihren wahrnehmbaren Trägern) eingeführt [19] und schließlich als ‘Raumʼ (χώρα, τόπος) bezeichnet [20], wobei Platon sicher nicht den leeren Raum, sondern eine Art von (mathematischem) Kontinuum im Auge hat. Dieser Raum nimmt Nachbilder des ständig Seienden auf, ist also selbst ohne Bestimmung, nicht wahrnehmbar und unvergänglich [21]; er ermöglicht aber Veränderung und wird daher auch als Grundbereich allen Werdens bezeichnet [22]. Wie die werdenden Dinge unter Mitwirkung des Vielheitsprinzips im einzelnen entstehen könnten, macht Platon in seiner Elementenlehre deutlich [23]. Alle Körper sind aus Elementen aufgebaut, die selbst noch körperlich, aber nicht mehr in Körper teilbar sind und spezifische mathematische Strukturen aufweisen: Feuerteilchen (Tetraeder), Wasserteilchen (Oktaeder), Luftteilchen (Ikosaeder) und Erdteilchen (Würfel) [24]. Diese Teilchen sind jedoch nicht gänzlich unteilbar, sondern ihrerseits aus (mathematischen) Flächen zusammengesetzt, die aus zwei Arten von Dreiecken aufgebaut sind [25]. Das, was die Vorsokratiker als M. betrachtet haben, erfährt also bei Platon eine weitere Reduktion auf rein mathematische Strukturen und letztlich auf das Form- und Vielheitsprinzip. Der häufig als problematisch empfundene Übergang von mathematischen Strukturen zu Körpern mit Masse und Gewicht wird verständlich vor dem Hintergrundeiner ontologischen Stufung, in der Strukturen als im höchsten Maße seiend, dagegen Eigenschaften wie Tastbarkeit und Undurchdringlichkeit als ontologisch zweitrangig gelten, ein Standpunkt im übrigen, dem sich die moderne Physik wieder zu nähern scheint.
[1]
Vgl. Aristoteles, Met. I, 3–10.
[2]
Thales bei Arist., Met. I, 3, 983 b 6ff.; De an. I, 5, 411 a 7ff.
[3]
Anaximander bei Arist., Phys. III, 4, 203 b 7; VS I, 12 B 2. 3.
[4]
Anaximenes, VS I, 13 B 2; Arist., Met. I, 3, 984 a 5f.
[5]
Heraklit, VS I, 22 B 30.
[6]
a.O. 1. 10. 31. 53. 80.
[7]
a.O. 51. 56. 123.
[8]
Parmenides, VS I, 28 B 2, 3f.
[9]
ebda.
[10]
a.O. 2, 5ff.; 6.
[11]
8.
[12]
a.O. 3.
[13]
a.O. 2, 7f.; 8, 16; 8, 38–41.
[14]
Vgl. VS I, 31 B 6. 11. 12; II, 59 B 6. 17.
[15]
VS I, 31 B 14; Arist., Phys. IV, 6, 213 a 22ff.
[16]
VS I, 31 B 17; II, 59 B 12.
[17]
Arist., Gen. et corr. I, 8, 324 b 35ff.
[18]
Met. I, 4, 985 b 4ff.; VS II, 67 A 14. 49.
[19]
Platon, Tim. 48 e–49 a.
[20]
a.O. 52 b 4.
[21]
50 e 4f.; 50 d 7; 51 a 3; 50 b 6f.; 52 a 8ff.; 51 a 7; 52 b 2.
[22]
49 a 5f.
[23]
47 e–68 d.
[24]
54 a 1ff.; 55 d 7ff.
[25]
54 b.
C. Baeumker: Das Problem der M. in der griech. Philos. (1890, ND 1963). – P. Wilpert: Die Elementenlehre des Platon und Demokrit, in: Natur, Geist, Gesch. Festschr. A. Wenzl (1950) 99–118. – G. S. Kirk und J. E. Raven: The presocratic philosophers (Cambridge 1960). – J. T. Reagan: The material substrate in the Platonic dialogues (Saint-Louis 1960). – K. Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre (1963). – J. Klowski: Das Entstehen der Begriffe Substanz und M. Arch. Gesch. Philos. 48 (1966) 2–42. – D. J. Schulz: Das Problem der M. in Platons ‹Timaios› (1966).
3. Der M.-Begriff bei Aristoteles. – a) Die Ausarbeitung des aristotelischen M.-Begriffes erfolgte auf dem Hintergrundder kritischen Diskussion der eleatischen und platonischen Philosophie. Aristoteles hält wie Platon daran fest, daß Wissenschaft Erkenntnis von Formen ist; aber er betrachtet die Folgerung, daß es weder eine konsistente Beschreibung (Parmenides) noch eigentliche Erkenntnis von werdenden, veränderlichen Gegenständen geben könne (Platon), für inakzeptabel. Für ihn stellte sich daher in erster Linie das ontologische und erkenntnistheoretische Problem, wie eine wissenschaftliche Physik möglich ist [1], wenn Wissenschaft die Erkenntnis von Formen und Physik die Wissenschaft von veränderlichen Gegenständen sein soll [2]. Erst nach Klärung dieses Problems kann der Aufbau einer Physik dann auch wirklich durchgeführt werden. Diese spezifische Problemsituation mußte es ihm als ausgeschlossen erscheinen lassen, die M. – nach Art der Vorsokratiker – als Menge bestimmter Grundelemente und Werden und Veränderung als quantitative Umschichtung der Grundelemente aufzufassen. Denn damit ist das Problem nur verschoben, weil die Frage nach der Veränderung und Entstehung der Grundelemente selbst offen bleibt [3]. Aristoteles versucht daher durch eine Relativierung des platonischen Vielheitsprinzipes sein Ziel zu erreichen.
b) Logisch gesehen tritt der M.-Begriff bei Aristoteles stets als zweistellige Relation auf, entspricht also einem Satzschema der Form ‹x ist M. von y[4]. Dies gilt schon deshalb, weil M. ein Prinzip (ἀρχή) und jedes Prinzip ein Prinzip von etwas ist [5]. Für ‹x› und ‹y› sind dabei Namen bestimmter Elemente oder Gegenstände im Kosmos einzusetzen. Daher kann es Gegenstände a, b und c geben, so daß a M. von b und b M. von c ist [6]. Der Relationscharakter des M.-Begriffs zeigt bereits, daß Aristoteles sich mit seinem M.-Begriff nicht auf einen Grundstoff, sondern auf Paare bestimmter Gegenstände bezieht. Dabei ist aber nicht vorausgesetzt, daß, falls ‹a ist M. von b› zutrifft, a und b unabhängig voneinander existieren.
Die Bedeutung der M.-Relation ist nach Aristoteles zunächst anhand analoger Fälle erkennbar [7], d.h. exemplarisch erfaßbar durch Angabe von Paaren (x, y), für die gilt ‹x ist M. von y›. So ist, um ein häufig angeführtes Beispiel zu nennen, Erz M. für die Statue [8]; analog sind die vier Elemente M. für die Lebewesen [9] und ist der Körper M. für die Seele bzw. für beseelte Lebewesen [10]. Nach aristotelischer Auffassung enthält eine Statue gegenüber dem Erz, ein Lebewesen gegenüber den Elementen, ein beseeltes Lebewesen gegenüber dem Körper eine zusätzliche Form. Ist a also irgendein veränderlicher Gegenstand, so nennt Aristoteles denjenigen Bestandteil von a, der sein durch Formen strukturierbares Material ausmacht, ‹M. von a[11]. Diese Kennzeichnung wird in den drei ‘klassischenʼ Explikationen des M.-Begriffes hinsichtlich der drei für Aristoteles grundlegenden Aspekte, unter denen die Gegenstände der Physik betrachtet werden können, präzisiert: ihrer Veränderlichkeit, ihres Seins und ihrer Erkennbarkeit.
Ist a M. von b, so ist a zunächst das zugrunde liegende Material oder der zugrunde liegende Gegenstand, aus dem b entsteht oder sich entwickelt [12]. Diese Explikation begründet Aristoteles mit dem Hinweis, daß jeder, der behauptet, daß etwas wird oder entsteht, eine Unterscheidung voraussetzt zwischen dem, was zu etwas wird (dem γιγνόμενον), und dem, zu dem es wird (ὃ γίγνεται). Ersteres ist die M. (ὕλη), letzteres die Form bzw. genauer der aus M. und Form zusammengesetzte Gegenstand [13]. Aristoteles unterscheidet zwar zwischen dem substantiellen Werden, d.h. dem Entstehen einzelner Gegenstände, und dem prädikativen Werden, d.h. dem Übergang bestehender einzelner Gegenstände zu bestimmten Zuständen [14]; aber seine M.-Explikation soll durchaus für beide Arten von Werden zutreffen [15].
Ist a M. von b, so ist ferner a, für sich betrachtet, nicht b, also ein Nichtseiendes hinsichtlich b, besitzt aber die Disposition, unter geeigneten Umständen – d.h. bei Vorliegen einer geeigneten Wirkursache – zu b zu werden. Insofern ist das, was jeweils M. für einen bestimmten Gegenstand ist, zwar nicht schlechthin etwas Nichtseiendes, läßt sich aber in aristotelischer Terminologie als etwas bezeichnen, das der Möglichkeit nach (δυνάμει) ein bestimmter Gegenstand (τόδε τι) ist [16]. Hieraus wird verständlich, daß zwar nicht Material schlechthin, wohl aber das, was jeweils M. für einen bestimmten Gegenstand ist, nicht unabhängig von diesem Gegenstand existiert (ὕλη οὐ χωριστή) [17]: Erz als Material existiert unabhängig, aber als M. für diese gegebene Statue existiert dieses Erz nicht unabhängig von dieser Statue.
Ist a M. von b, so besitzt schließlich a, für sich betrachtet, keine der kategorialen Bestimmungen von b[18], sondern ist unbestimmt (ἀόριστον, ἄμορφον) [19]. Insofern ist das, was M. für etwas ist, für sich betrachtet (καθ' αὑτήν), unerkennbar [20] und nicht wahrnehmbar [21]. Erz als Material schlechthin hat eine bestimmte Form und ist daher erkennbar; aber als M. für diese Statue hat es weder substantiale Form noch Größe oder andere Bestimmungen, die die erzene Statue hat.
Für Aristoteles ist daher das Werden der Gegenstände ontologisch und erkenntnistheoretisch konsistent beschreibbar als Realisierung ihrer Dispositionen, durch gewisse Formen geprägt zu werden. Notwendige Bedingung für diese Problemlösung ist, daß das, was jeweils M. ist, in Beziehung gesetzt wird zu dem, wofür es M. ist – ontologisch als das der Möglichkeit nach Seiende, erkenntnistheoretisch als das durch Formen Bestimmbare. M. ist daher eines der Prinzipien (ἀρχαί) [22], nämlich ein Erstes, von woher etwas entsteht oder wird oder erkannt wird [23]. Der aristotelische M.-Begriff (der Begriff ὕλη) gehört zur logischen Kategorie der zweistelligen Prädikate zweiter Stufe; seine Extension ist die Menge aller Dispositionen von Gegenständen, durch geeignete Formen strukturiert zu werden. Er bezeichnet also nicht einen bestimmten Grundstoff, wohl aber impliziert er ein physikalisches Forschungsprogramm: das Werden gegebener Gegenstände oder Klassen von Gegenständen daraufhin zu untersuchen, was jeweils als M. für sie anzusehen ist und durch welche Ursachen – in Gestalt von Form, Bewegungsursache oder Ziel – die Realisierung ihrer spezifischen Dispositionen bedingt ist. So beantwortet Aristoteles die Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Physik, die damit notwendig eine ‘qualitativeʼ Physik wird.
c) Den Aufbau der Physik selbst, und damit die Anwendung des M.-Begriff es auf verschiedene einzelne Gegenstandsbereiche, führt Aristoteles nicht in der ‹Physik›, sondern in den naturwissenschaftlichen Schriften im engeren Sinne durch. Jeder einzelne Erklärungsversuch steht dabei unter der Direktive, stets die unmittelbare Ursache, insbesondere die M., für das Explanandum herauszustellen [24]. Im ganzen ergibt sich eine zusammenhängende Stufenleiter von Gegenstandsbereichen der Natur derart, daß jeweils die Elemente des tieferen Gegenstandsbereiches die M. für die Elemente des höheren bilden und in jedem höheren Gegenstandsbereich neue Formen hinzutreten. Die elementarsten Formen sind die vier Qualitäten Warm, Kalt, Feucht und Trocken, deren M. nunmehr, für sich betrachtet, als gänzlich strukturlos vorgestellt werden muß; Aristoteles nennt sie ‘äußersteʼ oder zuweilen auch ‘ersteʼ M. (ἐσχάτη, πρώτη ὕλη) [25]. Aus der Verbindung der ersten M. mit den vier Qualitäten entstehen die vier Elemente Erde (kalt und trocken), Wasser (kalt und feucht), Luft (warm und feucht) und Feuer (warm und trocken) [26]. Diese Elemente sind ihrerseits M. für die gleichteiligen Stoffe (ὁμοιομερῆ) wie etwa Gold, dessen Teile wieder aus Gold bestehen, wobei die vier Elemente derart gemischt werden, daß eine neue Form entsteht und sie nur noch der Möglichkeit nach in den gleichteiligen Stoffen enthalten sind [27]. Die gleichteiligen Stoffe bilden die M. für die ungleichteiligen Stoffe (ἀνομοιομερῆ) wie z.B. einzelne Körperteile von Lebewesen, die eine besondere Funktion erfüllen [28]. Schließlich sind gleichteilige wie ungleichteilige Stoffe M. für beseelte Lebewesen, wobei die Seele als neu hinzukommende Form anzusehen ist [29]. In den einzelnen Anwendungen des M.-Begriffes wird deutlich, daß im allgemeinen ein Gegenstand, der M. für etwas sein soll, dafür seinerseits spezifische Voraussetzungen zu erfüllen hat, d.h. durch spezifische Formen strukturiert sein muß: nicht aus jedem Material kann z.B. eine Säge entstehen [30]. Der Spielraum für die Annahme von Formen wird also durch die vorgegebene Struktur der Gegenstände, die M. für etwas sein sollen, eingeschränkt. In genau diesem Sinne nennt Aristoteles die Wirkungsweise der M. ‘notwendigʼ und nicht ‘zweckgerichtetʼ [31]. Überhaupt gilt dann das, was jeweils M. ist, als Ursache der Unvollkommenheit, der mangelhaften Realisierung einer Form [32]; und platonisierend kann Aristoteles in diesem Zusammenhang die M. auch als das Aufnehmende der Formen [33] und zugleich als Ursache numerischer Verschiedenheit formgleicher Gegenstände, also als Individuationsprinzip, beschreiben [34]. All das trifft aber nur auf die sublunare Sphäre zu; die Gestirne oberhalb des Mondes entstehen und vergehen nicht und bestehen aus einem fünften Element, dem Äther [35].
d) In weiterer Bedeutung wendet Aristoteles seinen M.-Begriff auch auf unvergängliche Gegenstände an [36]. Bezeichnungen für mathematische Gegenstände sind doppeldeutig, denn sie können sich auf mathematische Formen oder mathematische Einzeldinge (z.B. diesen Kreis von dieser Größe) beziehen [37]. Mathematische Operationen wie das Konstruieren oder Teilen geometrischer Figuren werden nach aristotelischer Auffassung stets an mathematischen Einzeldingen vorgenommen, denn Formen entstehen nicht und sind nicht teilbar. Mathematische Einzeldinge sind daher als zusammengesetzt aus einer mathematischen Form und einer zugrunde liegenden intelligiblen M. (ὕλη νοητή) anzusehen [38], unter der Aristoteles sich vermutlich ein mathematisches Kontinuum vorgestellt hat (z.B. die Fläche ist intelligible M. für diesen einzelnen Kreis) [39]. Endlich kann sogar eine Form a als (intelligible) M. für eine andere Form b bezeichnet werden, wenn ‹b› ein Unterbegriff von ‹a› ist, so daß a in einer Definition durch b bestimmbar ist (z.B. ist die Form ‹Lebewesen› (intelligible) M. für die Form ‹Mensch›) [40].
[1]
Aristoteles, Met. I, 9, 991 a 9ff.
[2]
Phys. II, 1, 192 b 13ff.; Met. XII, 1, 1069 a 37f.; speziell zum M.-Begriff Phys. I, 1. 2 und Met. XII, 2, ferner Met. VII, 7, 1032 a 20; Gen. et corr. I, 3, 318 a 9ff.
[3]
Met. I, 8, 998 b 28ff.; Phys. I, 8, 191 a 23ff.
[4]
Phys. II, 2, 194 b 9.
[5]
Phys. I, 2, 185 a 4.
[6]
Cael. IV, 4, 312 a 17.
[7]
Phys. I, 7, 191 a 10.
[8]
z.B. Phys. II, 3, 194 b 23ff.
[9]
Part. anim. I, 1, 640 b 16.
[10]
De an. II, 1, 412 a 19.
[11]
Met. XII, 4, 1070 b 17.
[12]
Phys. I, 9, 192 a 31f.
[13]
Phys. I, 7.
[14]
a.O. 189 b 32f.; Gen. et corr. I, 4, 320 a 1ff.
[15]
Vgl. Phys. I, 7, 190 b 17ff.
[16]
Met. VIII, 1, 1042 a 27f.; Gen. et corr. II, 1, 412 a 9.
[17]
Phys. IV, 2, 209 b 23; Met. VII, 10, 1035 a 8.
[18]
Met. VII, 3, 1029 a 20f.
[19]
Phys. I, 7, 191 a 10; Met. IV, 4, 1007 b 28.
[20]
Phys. III, 6, 207 a 26; Met. VII, 10, 1036 a 8.
[21]
Gen. et corr. II, 5, 332 a 35.
[22]
Met. I, 4, 985 a 32.
[23]
Met. V, 1, 1013 a 17ff.
[24]
Met. VIII, 4, 1044 b 1–3.
[25]
Met. XII, 3, 1069 b 35f.; Met. V, 4, 1015 a 7–10; vgl. aber Phys. II, 1, 193 a 29.
[26]
Gen. et corr. II, 3, 330 a 30.
[27]
a.O. I, 10, 327 b 22ff.
[28]
Part, anim. II, 1, 646 a 22f.
[29]
De an. II, 1, 412 b 1–4; Part. anim. II, 1, 647 a 2–6.
[30]
Met. VIII, 4, 1044 a 27–29; Part. anim. I, 1, 639 b 26ff.; Phys. II, 9, 200 a 30ff.
[31]
Gen. et corr. V, 1, 778 a 30ff.
[32]
Phys. II, 8, 199 a 33ff.
[33]
Gen. et corr. II, 4, 320 a 2.
[34]
Cael. I, 9, 278 a 19; Met. XII, 8, 1074 a 34.
[35]
Cael. II, 7, 289 a 11ff.
[36]
Met. VII, 11, 1036 b 35ff.
[37]
Met. VII, 10, 1035 b 1ff.
[38]
Met. VII, 11, 1037 a 3ff.
[39]
Met. VIII, 6, 1045 a 36.
[40]
Met. X, 8, 1058 a 23f.
C. Baeumker: Das Problem der M. in der griech. Philos. (1890, ND 1963). – H. R. King: Arist. without Prima M.a. J. Hist. Ideas 17 (1956) 370–389. – L. Cencillo: Hyle. Origen, concepto y funciones de la M.a en el Corpus Arist. (Madrid 1958). – F. Solmsen: Arist's system of the physical world (New York 1960). – S. Toulmin und J. Gooldfield: The architecture of matter (London 1962). – W. Wieland: Die arist. Physik (1962). – E. McMulltn (Hg.): The concept of matter in Greek and Medieval philos. (Notre Dame, Ind. 1963). – A. R. Lacey: Οὐσία and form in Arist. Phronesis 10 (1965) 54–69. – I. Düring: Arist. (1966). – J. Owens: The Arist. argument for the material principle in bodies, in: Naturphilos. bei Arist. und Theophrast, hg. I. Düring (1969) 193–209. – H. Happ: Hyle. Stud. zum arist. M.-Begriff (1971).
4. Der M.-Begriff nach Aristoteles. – a) Die beiden unmittelbaren Nachfolger des Aristoteles als Scholarchen im Lyceum, Theophrast und Strato, haben, soweit wir wissen, eine rein kausale, auf natürliche Ursachen sich stützende Erklärungsweise in der Physik bevorzugt. Theophrast scheint die Brauchbarkeit der Finalursachen, Strato sogar die der Formen überhaupt in der Physik bezweifelt zu haben [1]. Insbesondere hat Strato das Zugrundeliegende (ὑποκείμενον) selbst, abweichend von Aristoteles, als bewegt bezeichnet [2]. Die Entwicklung der empirischen Einzelwissenschaften und insbesondere der experimentellen Technik führt im 3. Jh. v.Chr. zur Ausbildung einer empiristischen Erkenntnistheorie und damit zur Vernachlässigung der klassischen ontologischen und erkenntnistheoretischen Problematik. Hinzu kam nicht selten der Wunsch, einem weiten Kreis philosophisch interessierter Zeitgenossen ein System der Naturphilosophie präsentieren zu können, das übersichtlich, geschlossen und mit ethischen Grundsätzen vereinbar ist. Daher kritisieren auch Stoiker und Epikureer den klassischen M.-Form-Dualismus und kehren zu monistischen Erklärungsversuchen des Kosmos zurück, in denen die M. nicht nur als Grundlage allen Geschehens angesehen wird, sondern auch neue Eigenschaften zugesprochen bekommt. Später entsteht im Neuplatonismus eine monistische Philosophie, in der umgekehrt das Formprinzip als ursprünglich und die M. als abgeleitet gilt. In diesen philosophischen Systemen finden sich die wichtigsten Bedeutungsverschiebungen des M.-Begriffes gegenüber der aristotelischen Fassung, die gleichwohl durchaus einflußreich bleibt.
b) Epikur und seine Anhänger übernahmen ihre Vorstellungen über Aufbau und Struktur der M. im wesentlichen von der vorsokratischen Atomistik. Einige Abweichungen sind jedoch nicht unbedeutsam für die Entwicklung des M.-Begriffes.
Im Gegensatz zu Demokrit läßt Epikur nicht beliebige Atomformen zu. Insbesondere sind seiner Auffassung nach Atome nicht beliebig groß [3] und haben keine stark verzweigte, zerbrechliche Gestalt [4]. Die explizite Beschränkung des atomaren M.-Teiles auf den nicht-wahrnehmbaren Bereich und die Verwendung mechanistischer Kriterien sind fortan Bestandteil der atomistischen M.-Theorie. Das für die nachklassischen Atomisten wichtigste Problem ist aber die von Aristoteles neu aufgeworfene Frage nach dem Ursprung der Bewegung, die, wie Aristoteles selbst deutlich macht, in der vorsokratischen Atomistik unbeantwortet bleibt [5]. Epikur versucht dieses Problem für den atomaren Bereich durch Einführung einer dritten Eigenschaft neben Gestalt und Größe, nämlich Schwere (βάρος), zu lösen [6], von der Demokrit wahrscheinlich nur in bezug auf zusammengesetzte Gegenstände und auch nur als Funktion ihrer Größe gesprochen hat [7]. Ferner macht Epikur – allerdings recht unvollkommene – Ansätze, die Bewegung der wahrnehmbaren M. durch Hinweis auf die Bewegung ihrer Atome zu erklären [8]. In diesem Zusammenhang benutzt er nicht nur seine umstrittene Deklinationstheorie [9], sondern entwickelt auch zwei neue, für die M.-Theorie wichtige Begriffe: den des Moleküls, also einer einfachen atomaren Verbindung mit koordinierter Bewegung [10], und den bis in die Neuzeit hinein gültigen Raumbegriff, wobei der Raum nicht mehr als Zwischenraum zwischen den Atomen aufgefaßt wird wie in der vorsokratischen Atomistik, sondern als ‘Behälterʼ, in dem sich die M.-Teile bewegen [11]. Die Konzeption einer atomar strukturierten M., für die ein Zusammenhang zwischen Schwere und Bewegung sowie ein absolutes Bezugssystem besteht, ist ein Verdienst der epikureischen Naturphilosophie.
c) In der stoischen Philosophie wird der monistische Ansatz konsequenter ausgearbeitet als im Epikureismus. Das Sein ist eines, und zwar innerhalb des gesamten Kosmos [12]; daraus erst folgt auch die Einheitlichkeit des Kosmos selbst [13]. Im Anschluß an eine – möglicherweise nur vorläufige – Explikation des späten Platon[14] gilt den Stoikern die Fähigkeit, etwas zu erleiden oder zu bewirken, als wichtigstes Kennzeichen des Seienden [15]. Andererseits halten sie alle Körper (σώματα) und nur diese für fähig, etwas zu erleiden oder zu bewirken [16]. Daraus ergibt sich insgesamt der Grundsatz, daß genau die Körper das Seiende ausmachen [17]. Auch Gott, Seele und Qualitäten werden als körperlich angesehen [18]. Das bedeutet, daß die Stoiker zwar nicht nur wahrnehmbare Einzeldinge als existent anerkennen, wohl aber nur Gegenstände, die dreidimensional sind und Widerstand bieten [19]. Bedeutungen, Ort, leerer Raum und Zeit sind dagegen unkörperlich und daher zwar ‘etwasʼ (τι), aber nicht Seiendes [20]. Darum leugnen die Stoiker die Existenz des leeren Raumes innerhalb des Kosmos und halten an einer physikalischen Kontinuumstheorie fest, nach welcher beliebige Körper immer wieder in Körper teilbar sind [21]. Die M. ist nach stoischer Auffassung also insofern einheitlich, als sie körperlich ist, ein Kontinuum bildet und das einzige Seiende ausmacht. Diese Kennzeichen haben allein jedoch nur geringen Erklärungswert. Insbesondere jene Funktionen, die die klassische griechische Philosophie bei ihren Erklärungsversuchen den Formen zugeschrieben hat, können durch diesen M.-Begriff noch nicht erfüllt werden. Die dadurch erforderlichen Differenzierungen haben zu wichtigen Erweiterungen des stoischen M.-Begriffes geführt.
Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einem aktiven und einem passiven Teil der M. Das Postulat dieser beiden Prinzipien (ἀρχαί), des Bewirkenden und Leidenden [22], kann als Übernahme des klassischen M.-Form-Dualismus in den stoischen Monismus angesehen werden; gerade dieser Vorgang führt aber zu einer neuen Charakterisierung der M. Derjenige M.-Teil, der die Fähigkeit des Erleidens besitzt, ist das Zugrundeliegende, die M. im engeren Sinne (ὕλη) [23]. Dieser Grundstoff des gesamten Kosmos – den die Stoiker im übrigen unterscheiden vom jeweiligen Grundstoff einzelner Gegenstände [24] – ist körperlich, aber qualitätslos (ἄποιον σῶμα) [25]; er erhält seine Quantität, d.h. ist ungeworden und unzerstörbar [26], wird aber auch als träge und bewegungslos bezeichnet [27]. Die Annahme eines körperlichen Grundstoffes, der seine Quantität erhält und Trägheit besitzt (d.h. kräftefrei ist), schafft einige Voraussetzungen für die Entwicklung des neuzeitlichen Massebegriffes.
Der aktive M.-Teil, der die Fähigkeit des Bewirkens besitzt, wird von den Stoikern als Vernunft (λόγος), Gott (θεός) und luftartiger Hauch (πνεῦμα) gekennzeichnet [28]. Dieses vernunftartige, göttliche Pneuma besteht aus einer Mischung der feinsten körperlichen Elemente: aus warmer Luft und Feuer [29]. Die Stoiker erklärten seine Wirkungsweise mit Hilfe ihrer Lehre von der totalen Mischung. Dieser Lehre zufolge können sich innerhalb des körperlichen M.-Kontinuums verschiedene Komponenten derart durchdringen, daß die gemischten Stoffe absolut homogen sind, d.h. in beliebig kleinen Volumina alle Mischungskomponenten zugleich enthalten [30]. In dieser Weise durchdringt auch das Pneuma, vorgestellt als äußerst feines, elastisches Medium, die trägen Teile der M., d.h. die M. im engeren Sinne (πρώτη ὕλη) [31]. Dabei übernimmt es jene Funktionen, die von Platon und Aristoteleles den Formen zugesprochen wurden: es ordnet und strukturiert die M. im engeren Sinne und macht den Kosmos zu einem geschlossenen Ganzen [32]. Zugleich erzeugt es aber auch Bewegung und Veränderung [33] und wirkt als eine Art Spannung (τόνος), als dynamische Anziehungskraft zwischen den trägen M.-Teilen [34]. Die Ordnung innerhalb der M. braucht damit nicht mehr, wie in der klassischen griechischen Philosophie, mittels des problematischen Begriffes der Teilhabe an Formen verständlich gemacht zu werden, sondern erfährt eine physikalische Interpretation, die die Herausbildung des späteren Äther- und Kraftbegriffes und damit wesentliche Aspekte des M.-Begriffes andeutet.
d) Nach langer Vorherrschaft der aristotelischen und stoischen Naturphilosophie entsteht im 3. Jh. n.Chr. noch einmal eine spekulative Philosophie von hohem Reflexionsniveau, die auf Platon zurückgreift, dessen M.-Begriff neu belebt und ihn mit dem aristotelischen zu harmonisieren versucht. Plotin, der wichtigste Vertreter dieses Neuplatonismus, verwirft allerdings den platonischen Dualismus; die M. gilt ihm nicht mehr als ein Vielheitsprinzip, das vom obersten Seinsgrund, dem Einen und Guten, unabhängig ist, sondern wird im Laufe eines Entwicklungsprozesses allererst aus dem Einen entlassen. Plotin unterscheidet dabei vier Stufen: das Eine, den noetischen Bereich, den psychischen Bereich und den sinnlichen Stoff; jede Stufe enthält mehr Vielheit als die vorhergehende. Als Vielheitsprinzip ist die M. daher auch schon im noetischen Bereich, der die Formen enthält, wirksam; diese intelligible M. (ὕλη νοητή) ist jedoch scharf zu trennen von der sinnlichen M. der vierten Stufe [35]. Letztere ist jenes gänzlich bestimmungslose Prinzip [36], das Platon als ‘Raumʼ und Aristoteles als ‘äußerste M.ʼ bereits ins Auge gefaßt hatten. Plotin beschäftigt sich aber sehr viel intensiver mit diesem schwierigen Grenzbegriff und arbeitet seine Problematik deutlicher heraus. Wenn die M. reine Privation ist, wie kann sie dann überhaupt gedacht werden? [37] Wenn sie, als reine Privation, Nichtseiendes ist, wie kann sie dann wirksam werden? [38] Und wenn sie, als bestimmungsloses Nichtseiendes, in keinerlei Hinsicht Eines und damit Gutes ist – wenn sie also das ursprünglich Schlechte (πρῶτον κακόν) ist, weshalb wird ihre Produktion dann in Gang gesetzt? [39] Wichtiger als die Antworten, um die Plotin sich redlich müht, sind die Fragen selbst – Fragen, die in der Tat als äußerste Konsequenz der klassischen Unterscheidung zwischen Formen und M. anzusehen sind und innerhalb dieses Ansatzes möglicherweise überhaupt nicht befriedigend beantwortet werden können. Gleich wohl ist Plotins M.-Lehre von bedeutenden Männern fortgeführt worden, etwa von Porphyrios, Jamblich und Proklos[40], die sich nur gegen Plotins Gleichsetzung von M. und Schlechtem gewandt haben [41]. Dadurch ist aber auch Platons Vermutung, daß die M. letztlich mathematische Struktur besitzt, lebendig geblieben – ein Gedanke, der in der weiteren Entwicklung des M.-Begriffes eine bedeutsame Rolle spielen sollte.
Wolfgang Detel
[1]
Theophrast, Met. 10 a 22–24; 11 a 1–3; Strato, Frg. 32 (Wehrli).
[2]
a.O. Frg. 72.
[3]
Diogenes Laertius (= DL) X, 42f. 55; vgl. IX, 44.
[4]
Epikur, Frg. 270 (Usener).
[5]
Aristoteles, Met. XII, 1071 b 32ff.
[6]
Plutarch, Plac. I, 3, 2 b; vgl. VS II, 68 a 47; Cicero, Fat. 46.
[7]
Aristoteles, Gen. et corr. I, 8, 326 a 9ff.
[8]
DL X, 62.
[9]
Vgl. Lukrez, De rer. nat. II, 216ff.
[10]
a.O. 757ff. 1007ff.
[11]
DL X, 40; Epikur, Frg. 273, S. 194ff. (Us.); Lukrez, De rer. nat. I, 420.
[12]
SVF I, 88; II, 424. 544.
[13]
SVF II, 533.
[14]
Platon, Soph. 247 e.
[15]
SVF II, 525; vgl. 336.
[16]
SVF I, 90. 98; II, 140. 336. 387.
[17]
SVF II, 319. 320. 329. 359. 469. 525.
[18]
SVF I, 153; II, 129. 467. 848.
[19]
SVF III, 315.
[20]
SVF II, 331.
[21]
SVF II, 381. 793; III, 7.
[22]
SVF I, 85; II, 301.
[23]
ebda, u. pass.
[24]
SVF II, 316.
[25]
SVF II, 320. 326; vgl. 310. 325.
[26]
SVF I, 87. 509; II, 316. 408.
[27]
SVF II, 449. 1168.
[28]
SVF I, 85; II, 1027; vgl. Cicero, De nat. deor. II, 22, 57.
[29]
SVF I, 127. 135; II, 442. 471. 786.
[30]
SVF II, 473.
[31]
a.O. 1027.
[32]
SVF I, 85. 159; II, 310. 416. 440. 441. 473. 1168.
[33]
SVF II, 471.
[34]
SVF II, 407. 441. 546.
[35]
Plotin, Enn. II, 4, 1–5. 15f.; II, 9, 12. 39ff.
[36]
a.O. II, 4, 8f.
[37]
II, 4, 10, 5–11.
[38]
III, 6, 7.
[39]
I, 8, 7, 4–23.
[40]
Vgl. zu Porphyrios Simplikios, In Phys. 231 a 19; Iamblich, Comm. math. sci. IV, 16, 15; Proklos, El. Theol. 72, Cor.
[41]
Vgl. Porphyrios, Ad Marc. 29; Iamblich, Comm. math. sci. IV, 15, 12; Proklos, De mal. Subs. X, 30ff.
H. F. Müller: Plotins Forsch. nach der M. (1882). – S. Sambursky: Physics of the Stoics (London 1959); Das phys. Weltbild der Antike (1956). – J. M. Rist: Plotinus on matter and evil. Phronesis 6 (1961) 154–166; Epicurus. An introd. (Cambridge 1972). – P. F. Hager: Die M. und das Böse im antiken Platonismus. Mus. helv. 19 (1962) 73–103. – H. R. Schlette: Das Eine und das Andere. Stud. zur Problematik des Negativen in der Met. Plotins (1966). – F. Krafft: Dynam. und stat. Betrachtungsweise in der antiken Mechanik (1970). – L. Bloos: Probleme der stoischen Phys. (1973).
II. Mittelalter. – 1. Geschichtliche Voraussetzungen. – a) Die aristotelische Tradition. – Die Diskussion über den Begriff der M. wird im östlichen und westlichen Mittelalter weithin von den Lehren des Aristoteles beherrscht. Er hat das Begriffspaar von Form und M. geschaffen und damit im Zusammenhang seiner Philosophie eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die in seinen Schriften keine befriedigende Lösung fanden und von Nachfolgern und Kommentatoren als Herausforderung empfunden wurden. Weitere Fragen ergaben sich dadurch, daß man sich – und das gilt ganz besonders für das Mittelalter – immer stärker um eine Systematisierung der aristotelischen Gedanken bemüht und dabei von Aristoteles in ganz anderen Zusammenhängen entwickelte Theorien mit dem Begriff der M. zu verbinden sucht. Schließlich füllen sich die durch Aristoteles veranlaßten Fragen in der Spätantike unter dem Einfluß von stoischen und neuplatonischen Begriffsbildungen mit einem neuen Inhalt. Die Anfänge der im Mittelalter geführten Auseinandersetzungen beginnen sich bereits in den antiken Aristoteleskommentaren abzuzeichnen.
b) Die außeraristotelische Tradition. – Aristoteles verwendet seinen Begriff der M. vor allem bei der Untersuchung belebter Substanzen. Seine Naturwissenschaft ist weithin biologischer Art. Demgegenüber wird der Bereich der unbelebten M. von ihm recht stiefmütterlich behandelt. In dem Maß, in dem dieser Bereich für die Wissenschaft von der Natur an Bedeutung gewann, bemühte man sich von dieser Seite um einen angemesseneren M.-Begriff. Das gilt vor allem für die mit dem Hellenismus beginnende Alchemie, die im arabischen Kulturkreis sich mehr und mehr der Bewältigung der begrifflichen Seite materieller Umwandlungen zuwendet und auf die Philosophie des östlichen und westlichen Mittelalters erhebliche Rückwirkungen ausübt. Das gilt aber auch für die Medizin. Neben stoischen Vorstellungen finden hier Gedanken der antiken Atomistik Eingang. Zu ihrem Überleben hat nicht zuletzt die gegen sie von den Aristotelikern geführte Polemik beigetragen. Solche vom Begriff der aristotelischen Form unabhängigen Begriffsbildungen sollen im folgenden besonders berücksichtigt werden, während für die im engeren Sinn aristotelische Begrifflichkeit auf den Artikel ‹Form und M.› verwiesen sei.
c) Probleme der aristotelischen Tradition. – Die Kategorienschrift kennzeichnet die Substanz als das, was einer Aussage zugrunde liegt im Gegensatz zu dem von ihm Ausgesagten [1]. Andererseits wird die M. von Aristoteles in analoger Weise gekennzeichnet [2], ja sogar mit der Substanz, die im Laufe der Zeit gegensätzliche Prädikate annimmt, ausdrücklich parallelisiert. Wie verhält sich der Begriff der M. zu dem der Substanz? Wie lassen sich die als sekundäre Substanzen eingestuften Artbegriffe [3] von Qualitätsbegriffen scheiden? Hier setzt Kritik von seiten der Stoa ein. Aristoteles' Bewegungslehre schafft weitere Komplikationen: Bald werden Entstehen und Vergehen scharf gegen die Bewegungen im engeren Sinn, bei denen eine sich durchhaltende Substanz gegensätzliche Bestimmungen aufnehmen soll, abgehoben [4]; bald werden jene substantiellen Wandlungen mit diesen Bewegungen zusammen dem Übergang von einem potentiellen zum entsprechenden aktuell Seienden einheitlich untergeordnet [5]. Worin unterscheidet sich die M. vom potentiell Seienden? Neben die M. als das sich in einem Prozeß identisch Durchhaltende tritt bei teleologisch gesteuerten Prozessen das Material, das in eine bestimmte, im Sinn einer Essenz vorgestellte Form gebracht wird [6]. Die Essenz wiederum besitzt ihre logische Struktur in Form einer Definition mit Gattung und spezifischer Differenz. Gibt es eine Entsprechung zwischen den Bestandstücken der Definition auf der einen, M. und Form auf der anderen Seite? [7] Wie weit muß M. unabhängig von Vorgängen des Werdens und Vergehens als Ursache angenommen werden? Gibt es für Bewegungen im engeren Sinn, etwa für die räumliche, eine entsprechende M.? [8] In den ‹Zweiten Analytiken› setzt Aristoteles Ursache und Mittelbegriff in Parallele. Wie weit läßt sie sich durchführen?
‹M.› ist wie ‹Form› bei Aristoteles ein relativ zu einer bestimmten Substanz oder einem bestimmten Prozeß gebrauchter Reflexionsbegriff. Doch wird, mindestens in Ansätzen, der Versuch unternommen, den Prozessen im Bereich der vier Elementarkörper eine elementare M. zuzuordnen. Ist diese M. eine materia prima? Die diesbezüglichen Bestimmungen sind so wenig entwickelt, daß immer wieder Zweifel laut werden. Die aktiven und passiven Qualitäten der vier Elementarkörper geben Anlaß zu der Frage, wie weit in Elementarprozessen die M. als aktives oder passives Prinzip zu denken ist. Eine ganze Serie von Problemen wirft die von Aristoteles in ‹De caelo› für die Himmelskörper eingeführte sogenannte fünfte Substanz auf. Entspricht ihr eine M.? Wie soll sich diese M. bei Trägersphären und eigentlichen Himmelskörpern unterscheiden? In welchem Sinn müssen die Sphärenbeweger zur Form der Sphären-M. gerechnet werden? Wie verhalten sich demgegenüber ihre rein mathematischen Formen? Die ganze Konzeption der aristotelischen Metaphysik wird von diesen Fragen berührt. Welche Rolle spielt die M. in einer Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes behandelt? Geht es hier bereits um eine Ontologie, oder haben wir den Gegenstand der Metaphysik im Sinn der neuplatonischen Exegeten als die primär und im eigentlichen Sinn seiende Ursache zu verstehen?
d) Probleme der außeraristotelischen Tradition. – Für Aristoteles sind die natürlichen homogenen Substanzen im wesentlichen durch das Mischungsverhältnis der in sie eingehenden vier Elemente und die mit ihnen verbundenen aktiven und passiven Wirkungen bestimmt. Die in der ‹Meteorologie› enthaltenen Versuche, auf dieser Grundlage natürliche homogene Substanzen zu charakterisieren, konnten die Bedürfnisse der Fachwissenschaften kaum befriedigen. Das gilt zunächst für den im 4. Buch dieser Schrift behandelten Chemismus der organischen Substanzen. Doch bereits von Theophrast werden Eigenschaften organischer homogener Substanzen behandelt, die sich so kaum zureichend erklären lassen und zu der später immer mehr sich verbreitenden Vorstellung sympathetischer Wirkungen führen [9]. Ähnlich steht es mit der spezifischen Wirkung geringster Dosen von Pharmaka in der Medizin, wie überhaupt die materia medica Anlaß zu mannigfachen neuen Überlegungen zum Begriff der M. gibt. Ein Sammelbecken für einschlägiges Material stellen die ‹Physica› des Bolos von Mendes dar [10]. Färbe-, Beiz- und Legierungsprozesse, die in der immer größere Bedeutung gewinnenden Technologie der hellenistischen Zeit eine wichtige Rolle spielen, verlangen im Fall der anorganischen Substanzen ebenfalls nach anderen als den aristotelischen Ansätzen. Hier hat sich vor allem die arabische und die weithin von ihren Vorstellungen abhängige Alchemie des westlichen Mittelalters um begriffliche Klärung bemüht. Die Frage der Metallumwandlung zeigte bald, wie unzulänglich hier die aristotelische Begrifflichkeit bleiben mußte. Es erwies sich unter anderem, daß zur M. entscheidend ihre Wägbarkeit gehört, ebenso ihr spezifisches Gewicht, wie es durch Archimedes' hydrostatische Untersuchungen präzisiert worden war. Wie sollte man diese Erscheinungen erklären? Wie waren die spezifischen Wirkungen von Pharmaka zu verstehen?
Die pneumatischen Experimente eines Philon und Heron[11] wurden mit Hilfe korpuskularer, auf den Aristoteliker Straton von Lampsakos zurückgehender Vorstellungen gedeutet [12]. Gab es nicht andere Erscheinungen zur Genüge, die eine korpuskulare Deutung nahelegten? War durch die Polemik des Aristoteles und seiner Anhänger der Atomismus wirklich bündig widerlegt? Bei der naturwissenschaftlichen Einzelerklärung schien er sich jedenfalls als recht leistungsfähig zu erweisen.
Die M. wurde bei Aristotelikern wie Nichtaristotelikern zunächst stets als vorgegeben vorausgesetzt. Mit der im Christentum wie im Islam sich durchsetzenden Vorstellung von der Allmacht Gottes wurde auch die M. in die creatio ex nihilo einbezogen. Auf Spuren dieser Vorstellung stoßen wir bereits in vorchristlicher Zeit. Beispielsweise läßt die Bedeutung des Grundsatzes «nihil ex nihilo fit» bei Lukrez und die ausführliche dafür vorgetragene Argumentation [13] darauf schließen, daß es davon abweichende Ansichten gab.
[1]
Aristoteles, Cat. 5.
[2]
Phys. A 8.
[3]
Cat. 5.
[4]
Phys. E 1–2.
[5]
Phys. Γ 1.
[6]
Vgl. z.B. De part. anim. A 1.
[7]
Vgl. Met. Z 11.
[8]
Met. H 1, 1042 b 6.
[9]
Theophrastus, De odoribus 13, 61–63.
[10]
Vgl. M. Wellmann: Die Georgika des Demokritos. Abh. preuß. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. (1921); Die Φυσικά des Bolos Demokritos und der Magier Anaxilaos von Larissa. Abh. ... a.O. (1928) 7.
[11]
Heron von Alexandria, Druckwerke und Automatentheater, griech./dtsch. hg. W. Schmidt; im Anhang Philons Druckwerke (1899).
[12]
Vgl. H. Diels: Über das phys. System des Straton. Sber. Preuß. Akad. Wiss. (1893) 101–127 = Kl. Schr. zur Gesch. der antiken Philos., hg. W. Burkert (1969) 239–265.
[13]
Lucretius, De rerum natura I, 146–214.
M. Berthelot: Les origines de l'alchémie (Paris 1885). – C. Baeumker: Das Problem der M. in der griech. Philos. (1890). – C. Bailey: The Greek atomists and Epicurus (Oxford 1928). – S. Sambursky: Physics of the Stoics (New York 1959). – P. Merlan: From Platonism to Neoplatonism (Den Haag 31968). – H. Happ: Hyle. Stud. zum aristotelischen M.-Begriff (1971).
2. M. im arabischen Kulturkreis. – a) M. in der frühen arabischen Philosophie. – Die arabische Wissenschaft benutzt zur Bezeichnung der M. den Ausdruck ‹mādda› [1], daneben das aus dem Griechischen übernommene ‹hayūla› [2], das sich in lateinischen Übersetzungen in der Form (alheiule) [3] wiederfindet. Gelegentlich begegnet ‹'unṣur› [4], das jedoch sonst vorwiegend zur Wiedergabe des Begriffs ‹Element› dient.
Die arabische wissenschaftliche Literatur nimmt in Gebieten des vorderen Orients ihren Anfang, die unter dem Einfluß griechischer Kultur und Literatur gestanden hatten. Platonisierende und pythagoreisierende Strömungen waren dort lebendig geblieben. Sie gewinnen nun in der arabischen Sprache ein neues, erstaunlich bildungsfähiges Ausdrucksmittel. So steht am Anfang der arabischen Wissenschaft das, was am Ende der griechischen gestanden hatte, und erst nach und nach findet man zurück zu den grundlegenden Werken des griechischen Altertums. Zunächst beherrschen unter Verwendung von Gedanken des Plotin und Porphyrios kompilierte Pseudepigrapha, wie die ‹Theologie des Aristoteles› [5] und der ebenfalls Aristoteles zugeschriebene ‹Liber de causis› [6], das Feld. Die Beschäftigung mit dem echten Aristoteles erfolgt dann von diesem Ausgangspunkt aus.
Das zeigt sich besonders deutlich bei al-Kindī[7], dem ersten Philosophen und Peripatetiker, den die Araber hervorgebracht haben. Er soll die ‹Theologie des Aristoteles› verbessert haben. Er übernimmt unter Berufung auf Aristoteles die neuplatonische Einteilung, «daß der Intellekt in vier Arten auftritt; die erste von ihnen ist der Intellekt, der ständig aktuell ist; die zweite ist der Intellekt, der potentiell ist, und der gehört zur Seele; die dritte ist der Intellekt, der in der Seele aus der Potenz in den Akt heraustritt; und die vierte ist der Intellekt, den wir den zweiten nennen» [8]. Der potentielle Intellekt wird in der späteren, an al-Kindī anknüpfenden Diskussion dann kurz als ‹M.› bezeichnet [9]. In seiner ‹Abhandlung über die Definitionen der Dinge und ihre Beschreibungen› [10] definiert al-Kindī die M. (hayūla) als «Potenz, die zum Tragen der Formen zugrunde liegt und passiv» ist, wogegen die Form bestimmt wird als «das, wodurch das Ding das ist, was es ist». Die elementare M. faßt al-Kindī atomistisch auf, wenn er weiter das Element (usṭuḳus [11]) wie folgt definiert: «Aus ihm wird das Ding erzeugt und zu ihm kehrt es bei seiner Auflösung zurück; und andererseits ist es der Elementarkörper ('unṣur) des Körpers, und der (Elementarkörper) ist das kleinste Etwas vom gesamten Körper.» Im Gegensatz zur griechischen Tradition ist M. für al-Kindī geschaffen, ja, er glaubt in seiner Untersuchung über das Endliche und Unendliche feststellen zu können, «daß von der Zeit, der Bewegung, dem Körper keines dem anderen vorausgeht im faktischen Gegebensein» und daß schließlich «dann weder die Zeit noch die Bewegung noch der Körper ewig sind» [12].
Einen gewissen Abschluß erreicht die Assimilation griechischen Wissens in der einflußreichen Enzyklopädie der Lauteren Brüder[13], die einen Abschnitt über M. und Form enthält [14]. Dort wird als M. (hayūlā) jede eine Form aufnehmende Substanz bezeichnet. Es wird weiter die extreme Theorie vertreten, daß die existierenden Dinge sich ausschließlich durch die Form, nicht aber durch die M. voneinander unterscheiden. Des näheren wird dann unterschieden zwischen technischer M., natürlicher M., M. des Alls und erster M. Die technische M. wird dann weiter als Material beschrieben, die natürliche den vier Elementen ('arkān) gleichgesetzt, aus denen alle Wesen im sublunaren Bereich unter der Einwirkung der universalen Sphärenseele entstehen und in die sie sich wieder auflösen sollen. «Was nun die M. des Alls betrifft, so ist sie der absolut gesetzte Körper, aus dem die Gesamtheit der Welt ist, und damit meine ich die Sphären, die Gestirne, die Elemente und die existierenden Dinge zusammengenommen, weil sie insgesamt Körper und ihre Verschiedenheit voneinander nur durch die Verschiedenheit ihrer Formen zustande kommt. Und was die erste M. betrifft, so ist sie eine einfache Substanz (djawhar), die vom Intellekt gedacht wird, ohne daß sie von den Sinnen wahrgenommen würde. Die bloße Existenz nämlich, sie ist die Es-heit (huwiyya [15]). Und nachdem die Es-heit die Quantität aufgenommen hat, wird sie dadurch ein für sich bestehender, in dem Sinn aufweisbarer Körper, daß er drei Dimensionen, welche die Länge, die Breite und die Tiefe darstellen, besitzt; und nachdem der Körper die Qualität – und das ist die Figur, wie Kreisförmigkeit, Drei- und Viereckigkeit und andere Figuren – aufgenommen hat, wird er dadurch ein spezieller aufweisbarer Körper, welche Figur auch immer es sein mag.» Die Rangfolge in der Existenz von Es-heit, Quantität und Qualität wird anschließend mit der Folge der Zahlen Eins, Zwei, Drei verglichen. Weiter heißt es: «Wisse, daß die Es-heit, die Quantität und die Qualität insgesamt einfache, durch den Intellekt ohne Sinneswahrnehmung vorgestellte Formen sind. Wenn aber eines von ihnen zum anderen gefügt wird, so ist eines gleich der M. und das andere gleich der Form. Die Qualität aber ist eine Form an der Quantität und die Quantität ist die M. für sie; und die Quantität ist eine Form an der Es-heit und die Es-heit ist die Materie für sie.» Die erste M. ist nach Meinung der Lauteren Brüder nicht vorgegeben. Vielmehr fassen sie in ihrer Abhandlung über den Intellekt und das durch ihn Vorgestellte [16] ihre Ansicht wie folgt zusammen: «Die erste M. ist eine spirituelle (rūḥaniyya) Form, die von der universalen Seele emaniert und die universale Seele wiederum ist eine spirituelle Form, die von dem universalen Intellekt emaniert, welcher das erste Existierende ist, das vom Schöpfer zur Existenz gebracht worden ist.»
Bedeutung und Wirkung der an die griechische Tradition anknüpfenden Schulphilosophie für das Geistesleben des Islam sollten nicht überschätzt werden. Das gilt nicht nur für ihre Anfänge, sondern ebenso für ihre noch zu behandelnde Fortsetzung, ganz im Gegensatz zu der dominierenden Bedeutung, die gerade dieser Teil der arabischen Wissenschaft später für den Westen gewonnen hat. Aus ganz anderen Wurzeln, nämlich aus theologischer Apologetik der Muslime, erwachsen die Versuche der Mutakallimūn, die mit dialektischer Schärfe die unmittelbare Allmacht Gottes zu verteidigen suchten. Vor allem durch die ausführlichen Referate des Maimonides sind ihre Lehren auch dem Westen bekannt geworden [17]. Maimonides führt zwölf ihrer wichtigsten Ansätze an. Der erste besagt, «daß die Welt in ihrer Gesamtheit, das heißt jeder der in ihr befindlichen Körper, zusammengesetzt ist aus kleinen Partikeln, die wegen ihrer Winzigkeit keine Teilung zulassen». Des Näheren wird dann ausgeführt, daß der einzelnen Partikel überhaupt kein Quantum zukomme, daß aber, wenn die einen mit den anderen sich verbänden, das Verbundene ein Quantum und alsdann ein Körper sei. Verbänden sich zwei von ihnen, so werde alsdann jede von ihnen zum Körper, und es entstünden, im Rahmen der Lehre bestimmter Mutakallimūn, zwei Körper. Alle jene Partikeln seien einander ähnlich und gleich, ohne irgendeine Art von Unterschied zwischen ihnen. Es sei unmöglich, daß irgendein Körper entstünde, er sei denn zusammengesetzt aus diesen einander gleichen Teilen in der Weise der Aneinanderlagerung, so daß nach ihrer Auffassung das Werden das Sichverbinden und das Vergehen ein Sichtrennen sei. An zweiter Stelle wird die Existenz des Leeren postuliert. Durch die dritte Annahme wird eine atomare Struktur der Zeit – und damit auch der Bewegung – eingeführt. Viertens wird das Vorhandensein der Akzidentien für alle Körper verlangt, wobei die Akzidentien als Bestimmungen beschrieben werden, die zur Bestimmung der Substanz hinzutreten. Die Akzidentien werden, wie Maimonides des näheren erläutert, stets in Gegensatzpaaren gedacht, wobei jeweils ein Glied des Paares der Substanz notwendigerweise zukommen soll und bestimmte zwangsläufige Kopplungen von Akzidentien bestehen sollen. Nach der fünften Annahme sollen die Akzidentien mit der Einzelsubstanz verbunden ihren Bestand haben und von ihr untrennbar sein. Aufklärung über den Sinn dieser eigenartigen Annahmen gibt schließlich die sechste, nach der das Akzidens nicht zwei Zeitatome lang dauern soll. Nach Maimonides ist der Sinn dieser Annahme, daß Gott beim Erschaffen einer Einzelsubstanz zugleich die Gesamtheit der Akzidentien miterschafft. Die wahre Vorstellung vom Akzidens sei die, daß das für ein Zeitatom geschaffene im nächsten schon wieder vergehe und nicht bleibe, daß vielmehr Gott ein neues Akzidens derselben Art schaffe. Die Regelmäßigkeiten der Natur werden so zu Gewohnheiten Gottes, die er in seiner Allmacht jederzeit aufheben könnte. Es ist nur konsequent, wenn durch die achte Annahme natürliche Formen im Sinn der Tradition verworfen werden. Durch die neunte Annahme wird ausgeschlossen, daß ein Akzidens zum Träger eines anderen werden könnte, wie es bei den Lauteren Brüdern geschieht.
Die Lehren der Mutakallimūn bieten keineswegs einen einheitlichen Zusammenhang. Der beispielsweise von Abū Hu ayl vertretene Atomismus fand bei dem zur gleichen Gruppe zu rechnenden Abū Iṣḥāk al-Naẓẓām eine schroffe Ablehnung. al-Naẓẓām sucht die atomistischen Vorstellungen seines Vorgängers Punkt für Punkt zu widerlegen und setzt an ihre Stelle Vorstellungen, die mit der antiken Theorie der Homoiomerien und der von den Stoikern gelehrten κρᾶσις δι' ὅλων gewisse Analogien aufweisen [18].
Der bedeutende Arzt Muhammad B. Zakarīya al-Rāzī (Razes) [19] nahm im Widerspruch zur orthodoxen Lehre des Islam einer auch sonst zu findenden platonisierenden Anschauung folgend fünf von Ewigkeit her bestehende Prinzipien an: M., Zeit, Raum, Weltseele und Demiurg. Für sich genommen besteht die M. seiner Ansicht nach aus unteilbaren Teilen. Zwar sollen sie Größe besitzen, damit sich aus ihnen ausgedehnte Körper aufbauen können, doch müssen sie andererseits so klein sein, daß keine Teilung mehr möglich ist. Durch dichtere oder lockerere Verbindung dieser Teile im leeren Raum entstehen die vier Elemente; auch die Himmelssphären sollen aus einer von diesen Fällen abweichenden Verbindung der unteilbaren Teile hervorgehen; die übrigen Eigenschaften der Körper wie Schwere, Leichtigkeit, Dunkelheit, Leuchten und anderes sollen von der geringeren oder erheblicheren Beimischung von Leerem zur M. herrühren [20].
b) M. in der Alchemie. – Die arabische Alchemie weist enge Beziehungen zur Philosophie auf. Sie übernimmt eklektisch philosophisches Gedankengut und entwickelt es, ungehindert von den Rücksichten der aristotelischen Schulphilosophie, in origineller Weise weiter. Umgekehrt wirkt alchemistisches Gedankengut zurück auf die Philosophie. Al-Fārābi beispielsweise und Ibn Sīnā haben sich mit alchemistischen Fragen beschäftigt [21]. Besonders einflußreich im Osten wie im Westen war das Corpus der Ḏjābir-Schriften [22]. Sie verraten Beziehungen zu ismailitischen Sekten, in denen gnostisches Gedankengut die Elemente des Islam nahezu überwuchert hatte. Die Schriften des Corpus enthalten eine Vielfalt miteinander konkurrierender Ansätze.
Das ‹Kitāb al-Taṣrīf› bietet im Rahmen einer Kosmologie ausführliche Bemerkungen über die M. An die Prinzipien des aktiven und passiven Intellekts und der Weltseele, die symbolisch als konzentrische, von außen nach innen aufeinanderfolgende Kreise vorgestellt werden, schließt sich als innerster Kreis die Welt der Substanz. «Was die Substanz betrifft», so hören wir [23], «so ist sie dasjenige, womit die Zwischenräume ausgefüllt sind. Und sie ist aufnahmefähig für jede Form. Und in ihr ist jedes Ding enthalten, aus ihr ist jedes Ding zusammengesetzt und in sie löst sich jedes Ding auf. Und wenn du nicht in der Lage bist, durch diese Rede zu erkennen, was sie ist: sie ist der Staub, dessen Farbe etwas ins Weiße geht. Wenn aber auf ihn die Sonne fällt, dann entzündet er sich und wird sichtbar. Und es ist erforderlich, daß du weißt, daß dies der Körper der leuchtenden größten Sphäre ist ... und der Körper, welcher in den übrigen drei existierenden Bereichen vorhanden ist, welche die Lebewesen, die Pflanzen und die Minerale sind. Und es ist niemandem möglich, ihn zu fühlen, und wenn er ihn betastet, dann wird er ihn nicht fühlen. Jedoch sein Schöpfer ... wirkt auf ihn ein, so wie er es will.» Im ‹Kitāb al-Sab'īn› erfahren wir dazu folgendes [24]: «Die Wurzel ('aṣl) der Dinge sind vier Naturen und für sie gibt es eine fünfte, und das ist die einfache Substanz, welche M. (hayūlā) genannt wird. Und sie ist der Staub, womit die Zwischenräume ausgefüllt sind. Und er wird dir offenbar, wenn die Sonne über ihm erscheint und man behauptet, daß er die Seele ist. Merke dies! Und zu ihm fügen sich die Figuren und die Formen, und alles löst sich in ihn auf und er ist eine Wurzel für alles Zusammengesetzte und das Zusammengesetzte ist eine Wurzel für ihn, und er ist die Wurzel des Alls und er ist bleibend bis zur gewissen Zeit. Was nun die vier Elemente ('unṣur) betrifft, die in dieser Substanz wirken und sie färben, so sind sie zweifellos einfach: Wärme, Feuer ohne Trockenheit; Trockenheit, Erde ohne Kälte; Kälte, Wasser ohne Feuchtigkeit; und Feuchtigkeit, Luft ohne Wärme. Was aber aus diesen Elementen in dieser Substanz sich zusammensetzt und sich auf sie an erster Stelle projiziert, das sind vier Basen ('arkān), und sie sind zu den Elementen erster Ordnung gehörige Elemente zweiter Ordnung und rein, ohne einen Makel, und zwar das Feuer, die Luft, das Wasser und die Erde.» Man ist davon überzeugt, daß die Darstellung der Elemente erster Ordnung im Bereich der Möglichkeiten der Alchemie liegt. Aus einem bestimmten Ausgangsmaterial, dem sogenannten Stein, gewinnt man durch allmählich gesteigerte Erhitzung Destillationsprodukte: Wasser, Öl, Tinktur und Erde, und aus ihnen durch ständig wiederholte Destillationsprozesse schließlich die Elemente erster Ordnung. Aus ihnen können umgekehrt Stoffe wieder synthetisch aufgebaut werden. Der für den Alchemisten wichtigste so zu gewinnende Stoff ist das Elixier. In kleinsten Quantitäten auf andere Stoffe geworfen, projiziert, genügt es, deren Mängel zu beseitigen. Insbesondere sind die unedlen Metalle mit solchen Mängeln wie mit Krankheiten behaftet, die durch das Elixier wie durch ein Heilmittel behoben werden sollen [25].
Die Wirkung des Elixiers sucht man sich wie andere spezifische, durch geringste Mengen eines Stoffs hervorgerufene Wirkungen vorzustellen. Solche Wirkungen hatten den Vorgängern zunächst als wunderbar und unbegreiflich gegolten. Nun glaubt man zuversichtlich, in den besonderen Zahlenverhältnissen der eingehenden Mengen von Elementen den Schlüssel zum Verständnis solcher Phänomene zu besitzen [26]. Das Mittel, mit dessen Hilfe diese Verhältnisse festgestellt werden sollen, ist die Waage. Dabei geht es allerdings weniger um wirkliches Wägen als um Versuche, mit Hilfe einer Art von Gematria aus den Namen der Stoffe die gesuchten Zahlen zu ermitteln. Allerdings gewinnt dabei die Ponderabilität der M. eine neue und erhöhte Bedeutung [27]. – Das gilt übrigens auch außerhalb der Alchemie. Insbesondere ersinnt man geistreiche Methoden zur Bestimmung spezifischer Gewichte, wie die hydrostatische Waage [28]. Die den Titel ‹Waage der Weisheit› tragende Schrift des Al- zīnī bietet umfangreiches Material zu diesen Entwicklungen [29].
c) M. bei Al-Fārābī und Avicenna. – Mit Al-Fārābī ist die vorwiegend rezeptive Phase der arabischen Philosophie abgeschlossen. Er verfügt nahezu über die Gesamtheit der aristotelischen Schriften und hat vor allem den logischen ausführliche, auf alle technischen Einzelheiten eingehende Kommentare gewidmet [30]. Ausgangspunkt bleibt dabei allerdings immer noch das neuplatonische Aristotelesbild, von dem geleitet Al-Fārābī den Versuch unternommen hat, beider Philosophie in Harmonie zu bringen. Seine eigenen Gedanken hat Al-Fārābī gern in kurzen und prägnanten Abhandlungen vorgetragen, die auf die Folgezeit, namentlich auf Avicenna [31], großen Eindruck gemacht haben, bis in die Spätzeit, so bei Averroës, durch dessen Kommentare vieles aus nicht ins Lateinische übersetzten Schriften Al-Fārābīs dem Westen bekannt geworden ist. Al-Fārābī hat durch seine neuartigen Fragestellungen dazu beigetragen, daß es zu einer Ontologie als einer Wissenschaft von den allgemeinsten Bedingungen jedes Seienden gekommen ist.
Al-Fārābī hat in einer kleinen Schrift die Hauptprobleme seiner Philosophie zusammengestellt [32]. Er führt dort zunächst den kosmologischen Gottesbeweis in klassischer und nach allen Seiten wohlabgesicherter Form. Der ontologische Beweis, wie wir ihn später finden, stellt nur eine Verkürzung seiner Argumentation dar. Aus dem als erste Ursache vollkommen Existierenden geht dann der erste Intellekt hervor, dem als Verursachtem bereits Potentialität zukommen muß. «Nun entsteht aus jenem ersten Intellekt», erklärt Al-Fārābī [33], «dadurch, daß er möglich der Existenz nach ist, und dadurch, daß er sein Wesen erkennt, die erste Sphäre mit ihrer M. (mādda) und ihrer Form, welche die Seele ist». Die Folge der weiteren Intellekte und Sphären endet bei den vier Elementen und ihren Mischungen. «Nun gilt für die Himmelskörper, auch wenn die vier M.n in ihrer Zusammensetzung an M. und Form teilhaben, daß die M. der Sphären und der (Himmels-)Körper verschieden von der M. der vier Elemente und der entstehenden Dinge ist, so wie die Form von jenen verschieden von der Form dieser ist, trotz der Teilhabe der Gesamtheit an der Körperlichkeit, weil die drei Dimensionen in ihnen angesetzt werden. Da dies nun so ist, ist die Existenz der materia prima (hayūlā) in aktueller und von der Form freier Weise nicht angängig und auch nicht die Existenz der natürlichen Form in von der materia prima entblößter Weise, vielmehr ist die materia prima der Form bedürftig, damit sie durch sie existent in aktueller Weise wird. Auch ist es nicht angängig, daß eines von beiden die Ursache für die Existenz des anderen ist, vielmehr ist hier ein Grund, der beide zusammen zur Existenz bringt.»
Eine Schlüsselstellung nimmt in Al-Fārābīs Philosophie der Begriff des Intellekts ein. Er hat ihm eine eigene Untersuchung gewidmet [34]. In ihr hat er aus dem von Aristoteles in ‹De anima› (Γ 5) mehr Angedeuteten als Ausgeführten eine anspruchsvolle Theorie geschaffen, vor allem dadurch, daß er ausführlich entwickelte Vorstellungen über Abstraktion in sie aufnimmt. Neben den aktuellen und den potentiellen, einer M. verglichenen Intellekt treten hier der erworbene (mustafād) und der intellectus agens (al-'aḳl al-fa''āl), der in seiner Tätigkeit auf die Verhältnisse der M. angewiesen ist, die ihm durch den Einfluß der Sphären vorgegeben werden.
Avicenna (Ibn Sīnā) hat die von Al-Fārābī begonnene Diskussion in enzyklopädischen Darstellungen fortgesetzt [35]. Wir folgen dem Gedankengang, den er im metaphysischen Teil seiner ‹Shifā'› entwickelt hat. Nach Bestimmung der Aufgabe der Metaphysik und dem Beweis für die Existenz des höchsten Wesens geht Avicenna im ersten Abschnitt des zweiten Traktats zu der Frage über, was Substanz sei. Der zweite Abschnitt soll dann der genauen Bestimmung der körperlichen Substanz und dessen, woraus sie sich zusammensetzt, dienen. Avicenna kritisiert und verwirft die Definitionen, die den Körper als mit Länge, Breite und Tiefe versehen oder durch räumlichen Zusammenhang und Trennung bestimmen wollen. Er schließt: «In den Körpern ist aber dann ein Etwas, das dem Zusammenhang und der Trennung zugrunde liegt und dem, was dem Zusammenhang an bestimmten Beträgen zukommt» [36]. Diese Körperlichkeit ist also gerade nicht mit der Dreidimensionalität oder der dreidimensionalen Quantität zu verwechseln, sondern sie ist es, die erst die Möglichkeit für die Aufnahme solcher Bestimmungen schafft. Avicenna erklärt weiter: «Und wiederum kommt dem Körper, insofern er ein Körper ist, die Form der Körperlichkeit zu, und er ist dann ein Etwas aufgrunddes Aktes; und insofern er zur Aufnahme bereit ist – gleich, welche Aufnahme du willst –, ist er aufgrundder Potenz. Dabei ist das Etwas, insofern es aufgrundder Potenz ist, nicht ein Etwas, und insofern es aufgrunddes Aktes ist, ein anderes Etwas. Somit kommt die Potenz dem Körper nicht zu, insofern ihm der Akt zukommt. Die Form des Körpers wird dann mit einem weiteren Etwas gekoppelt sein, einem anderen als ihm, im Hinblick auf den Umstand, daß er eine Form ist. Mithin ist der Körper eine Substanz, die zusammengesetzt ist aus einem Etwas, von Seiten dessen ihm die Potenz zukommt, und aus einem Etwas, von seiten dessen ihm der Akt zukommt. Dasjenige, von seiten dessen ihm der Akt zukommt, das ist dann seine Form, und dasjenige, von seiten dessen er aufgrundder Potenz ist, das ist seine M. (mādda), und zwar seine materia prima (hayūlā).» Im folgenden dritten Abschnitt sucht Avicenna in teilweise außerordentlich verwickelten Überlegungen jede Möglichkeit eines selbständigen Bestehens der von ihm erschlossenen M. ad absurdum zu führen. Mit der Form der Körperlichkeit und der ihr entsprechenden M. ist von Avicenna die Problematik aufgeworfen worden, die in der Folgezeit die Philosophen des Orients vor allem beschäftigt hat [37].
d) M. in der späten arabischen Philosophie. – Die von Al-Fārābī und Avicenna geschaffene, an die griechische Tradition anknüpfende Philosophie findet ihren scharfsinnigsten, sie mit ihren eigenen Waffen schlagenden Gegner in Al- āzālī[38]. In seinem ‹Tahāfut al-falāsifa› (Destructio philosophorum) sucht er ihre Lehren aufzulösen und insbesondere zu zeigen, daß sie dort versagen, wo sie mit der Offenbarung in Konkurrenz treten: bei der Frage der Erschaffung der Welt, der Existenz Gottes und seiner Attribute, der Unsterblichkeit der Seele. Gegenüber der Kritik treten die eigenen Ansichten Al-Ghazālīs in den Hintergrund. «Wir erklären aber», schreibt er [39], «daß wir für unsere Teile uns in diese Schrift nicht versenkt haben in der Art derer, die den rechten Weg bahnen, vielmehr in der Art derer, die den Weg aufreißen und versperren; und darum haben wir die Schrift die Auflösung des Zusammenhangs der Philosophie genannt und nicht die Bahnung des Wegs zur Wahrheit.» So fällt auch seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der M. rein kritisch aus. Im ‹Ersten Problem› behandelt er vier Beweise für die Ewigkeit der Welt. Im vierten wird argumentiert, daß jedem Entstehenden seine M. vorangehen müsse, da es einer solchen M. nicht entbehren könne; die M. sei aber nicht etwas Entstehendes, das Entstehende seien die Formen, die Akzidentien und die Qualitäten an den M.n. Das werde so bewiesen, daß zunächst gezeigt werde, daß alles Entstehende vor seinem Entstehen seinem Wesen nach in seiner Existenz Mögliches sei; Möglichkeit in der Existenz sei aber eine relative Beschreibung, die durch sich selbst keinen Bestand habe. Es bedürfe jedoch unumgänglich eines Bezugspunktes (maḥall), auf den es sich beziehe, und ein Bezugspunkt außer der M. sei nicht gegeben. Der M. selbst komme in diesem Zusammenhang ihrerseits nicht wieder eine M. zu, sowenig wie sie entstehe. Auch könne das Mögliche nicht als das vom Ewigen Gewollte bestimmt werden. Gegen diese Argumentation der Philosophen bemerkt Al-Ghazālī: «Die Widerlegung besteht darin, daß man feststellt: Das Möglichsein, das sie erwähnen, reduziert sich auf ein Urteil des Intellekts. All das jedoch, dessen Existenz der Intellekt annimmt, ohne daß dessen Annahme für ihn ausgeschlossen ist, nennen wir möglich; und wenn sie ausgeschlossen ist, nennen wir es unmöglich; und wenn man nicht imstande ist, sein Nicht-Vorhandensein anzunehmen, nennen wir es notwendig» [40]. Al-Ghazālī fügt als Indiz für die Richtigkeit seiner Ansicht folgende Punkte hinzu: Müßte man für die Möglichkeit eine M. als Bezugspunkt ansetzen, warum dann nicht auch für die Unmöglichkeit? Gibt es eine Möglichkeit von Schwarz und Weiß für sich, geht es nicht vielmehr um die Möglichkeit, daß ein Körper schwarz oder weiß wird? Und wie steht es schließlich um die Entstehung der individuellen Seelen? Der entscheidende, auch sonst immer wieder von Al-Ghazālī betonte Punkt liegt in der Zurückführung der Modalität von Gegenständen auf Urteile.
Den größeren Zusammenhang, in dem wir Al-Ghazālīs Auffassung von der M. zu sehen haben, ist durch seine Ansicht über die Universalien gegeben, wie sie besonders klar im ‹17. Problem› zum Ausdruck kommt, das schließlich auch die Unsterblichkeit der Seele kritisiert. Der zehnte dieser Schlüsse sucht die Universalien als immateriell, nicht aufweisbar, positions- und quantitätslos nachzuweisen und von ihnen als existenten Zuständen auf die Existenz eines Trägers von gleicher Art zurückzuschließen. «Die Widerlegung», erklärt Al-Ghazālī gegen die Philosophen gewandt, «besteht darin, daß wir die Vorstellung des Allgemeinen, welche sie als Zustand im Intellekt ansetzen, nicht akzeptieren; vielmehr befindet sich nur das im Intellekt, was sich in der Sinneswahrnehmung befindet. Jedoch befindet es sich in der Sinneswahrnehmung als Gesamtheit, und die Sinneswahrnehmung ist nicht zu seiner Zergliederung imstande, während der Intellekt zu seiner Zergliederung imstande ist» [41]. Für Al-Ghazālī ist das Allgemeine nur ein durch Zergliederung in den Einzelvorstellungen der Sinneswahrnehmung feststellbares identisches Moment, das keine von ihnen unabhängige Existenz besitzt.
Al-Ghazālī wendet sich später völlig der Mystik zu. Tendenzen dieser Art finden sich auch sonst in der späteren arabischen Philosophie, wenn auch nicht immer so radikal vertreten. Beispielsweise greift Ibn Bādjdja (Avempace) die neuplatonische Tradition auf, die vom Einen stufenweise bis zur M. hinabsteigt, und arbeitet deren mystische Elemente wieder heraus [42]. Gleichzeitig lehnt er aber Al-Ghazālī Form der Mystik ab [43].
Der für den Westen bedeutendste Gegenspieler Al-Ghazālī wurde Averroës (Ibn Ru d) [44], der der Philosophie wieder zu ihrem Recht zu verhelfen versucht, indem er einerseits auf die klassische Quelle, die Schriften des Aristoteles, zurückgriff und sie durch ein reiches kommentierendes Werk erschloß und der zum anderen den ‹Tahāfut› durch einen ‹Tahāfut al-Tahāfut› (Destructio destructionis) seinerseits aufzulösen sucht. Gegen Al-Ghazālīs Versuch, Möglichkeit zu einer Urteilsmodalität zu machen, führt Averroës in der letzten Schrift folgendes auf [45]: «Was den Umstand betrifft, daß die Möglichkeit eine existente M. verlangt, so ist dies klar. Denn alle übrigen wahren Gegenstände des Intellekts verlangen unumgänglich einen existenten Sachverhalt außerhalb der Seele, da ja das Wahre, wie man in seiner Definition sagt, darin besteht, daß dasjenige, das in der Seele ist, dem gemäß ist, was außerhalb der Seele ist. Dann ist es bei unserer Aussage über etwas, daß es möglich sei, unumgänglich, daß diese Einsicht etwas verlangt, an dem diese Möglichkeit existiert.» Al-Ghazālīs Einwand, daß man dann auch für das Unmögliche eine M. ansetzen müsse, betrachtet er als ein sophistisches Argument. «Denn das Unmögliche», erklärt er weiter, «verlangt ein Zugrundegelegtes, so wie es die Möglichkeit verlangt. Und das ist klar, weil das Unmögliche das Entgegengesetzte des Möglichen ist, und die entgegengesetzten Gegenteile erfordern unumgänglich ein [ihnen] Zugrundegelegtes. Wenn mithin die Möglichkeit ein Zugrundegelegtes verlangt, dann erfordert auch die Unmöglichkeit, welche die Negation jener Möglichkeit ist, ein Zugrundegelegtes.»
Entscheidend für Averroës' Auffassung von der M. wird seine Deutung der aristotelischen Lehre, nach der es unmöglich sein soll, daß eine Substanz aus zwei in ihr aktuell vorhandenen Substanzen bestehen könne [46]. Dabei ist wohl zunächst an Zusammensetzungen von der Art der Mischungsprodukte aus Elementen gedacht, die im Produkt nicht aktuell fortdauern sollen. Averroës geht einen Schritt weiter und formuliert das Prinzip in solcher Weise, daß es sich auch zur Übertragung auf die Verbindung von Form und M. hergibt. Er kommentiert das Aristotelische Prinzip nämlich wie folgt: «Der Grund dafür besteht darin, daß nicht zwei Etwas aktuell existieren, aus denen zu irgendeiner Zeit ein einziges Etwas entstehen könnte, während sie in ihm aktuell als zwei in einem vorhanden wären» [47].
Einen Anlaß, seine Auffassung von Form und M. im einzelnen darzulegen, gibt Averroës das Problem der dem Werden und Vergehen enthobenen Himmelssphären, das er in einer Sammlung von Einzeltraktaten behandelt hat, die im Westen unter dem Titel ‹De substantia orbis› laufen [48]. Er erklärt, wenn schon nicht die Lehre des Aristoteles selbst, so doch darüber hinaus nur einiges, was aus dessen Worten folge, vorzutragen [49]. Zur materia prima gehört für ihn ihre Dreidimensionalität, zwar ändern sich die Volumina der Elemente bei ihrem Übergehen ineinander, doch jeweils nach festen Maßverhältnissen. «Videtur enim forma caliditatis», schreibt er [50], «agente in aquam aquam augeri et crescere in dimensionibus et vicinari in dimensionibus aeris: cum igitur pervenit ad maximam quantitatem aquae, tunc subjectum eius denudatur a forma aquae et quantitate dimensionum aquae propria, et recipit formam aeris et quantitatem dimensionum propriarum formae aeris.» Ganz andere Verhältnisse nimmt Averroës für die Himmelskörper an, die dem Werden und Vergehen entzogen sein sollen. Hier kann seiner Ansicht nach keine M., sondern nur ein subiectum für ihre räumliche Bewegung vorhanden sein, das höchstens aequivoce als ‹M.› bezeichnet werden darf. Wegen des Fortfalls jeder Potentialität können die Himmelskörper nur aktuell sein. Das führt insbesondere dazu, daß ihnen auch die – geometrisch ja durchaus gegebene – Teilbarkeit abgesprochen wird, im Gegensatz zur M. des Werdens und Vergehens, die gerade durch diese Eigenschaft wesentlich gekennzeichnet sein soll. Die den Himmelssphären korrespondierenden Intellekte dürfen nicht als Formen aufgefaßt werden, die auf eine M. bezogen sind, sondern sie besitzen, verglichen mit den Verhältnissen bei materiegebundenen Formen, eine unabhängige Existenz und sind mit den Sphären im wesentlichen durch ihre Funktion als Beweger verbunden [51].
Maimonides hat in seinem ‹Führer der Verirrten› [52] versucht, die arabische Aristotelestradition in den Dienst der jüdischen Religion zu stellen. Er verfährt dabei nicht interpretierend und kommentierend, sondern in genialer Weise generalisierend und auf den verfolgten Zweck reduzierend. Er faßt die aristotelische Lehre in 26 Grundsätze zusammen [53] und erläutert ihre Bedeutung für die Religion. Wichtig ist vor allem der 10. Grundsatz: «Die Gesamtheit dessen, wovon man sagt, daß es an einem Körper ist, zerfällt in zwei Teile: entweder, daß sein Bestand durch den Körper ist, wie bei den Akzidentien, oder daß der Bestand des Körpers durch es gegeben ist, wie bei der natürlichen Form; und beide von ihnen stellen eine Potenz (ḳuwwa) am Körper dar» [54]. Schon diese Formulierung macht deutlich, daß bei Maimonides die aristotelische Lehre in höchst eigenwilliger Weise gefaßt und daß insbesondere der Begriff der Potenz in diesem Zusammenhang einen neuen Sinn erhält. Die Grundsätze sind später durch Crescas einer systematischen Kritik unterzogen worden; er läßt auf die Argumente für einen Grundsatz jeweils Argumente zu seiner Widerlegung folgen [55].
[1]
Die ursprüngl. Bedeutung ist ‘Nachschubʼ.
[2]
Vgl. J. Lecerf: Art. ‹hayūlā›, in: Encyclop. of Islam (= EoI) 3 (Neu-A. Leiden/London 1971).
[3]
Vgl. z.B. Avicennae philosophi praeclarissimi ac medicorum principis compendium de anima ... (Venetiis apud Iuntas 1546) cap. 8, fol. 23r.
[4]
Das Wort bedeutet im gewöhnlichen Sprachgebrauch ‘Ursprungʼ.
[5]
Die sog. Theol. des Aristoteles, hg. F. Dieterici (1882); dtsch. (1883).
[6]
Die ps.aristotelische Schrift über das reine Gute, bek. unter dem Namen liber de causis, dtsch. hg. O. Bardenhewer (1882).
[7]
Vgl. J. Jolivet und R. Rashed: Art. ‹Al-Kindī, Abū Yūsuf Ya'ḳūb b. Iṣāḳ›, in: EoI 5 (Leiden 1979).
[8]
Risāla fi 'l-'aḳl, in: Ya'ḳūb b. Isḥāk Al-Kindī, Rasā'il al-falsafiyya, hg. M. A. Abū RĪDA [1.] 2. (Kairo 1950/1953) 1, 353f.
[9]
Vgl. z.B. Al-Fārābī, Philos. Abh., hg. F. Dieterici (1890) 46.
[10]
Risāla fi ḥudūd al-a yā' wa-rusūmihā a.O. [8] 1, 166.
[11]
a.O. 1, 168.
[12]
Risāla fi māhiyyat mā lā yumkinu an yakūna lā nihāyatan wa-mā alla ī yuḳālu ‹lā nihāyata lahū› a.O. [8] 1, 197f.
[13]
S. M. Stern: New Information about the authors of the «Epistles of the Sincere Brethren». Islamic Studies 3 (Karachi 1964) 405–428.
[14]
Rasā'il Ikhwān al-Ṣafā' 1–4 (Beirut 1957) 2, 5–23.
[15]
Vgl. A. M. Goichon: Art. ‹huwiyya›, in: EoI 3 (Leiden/ London 1971).
[16]
a.O. [14] 3, 235.
[17]
Moise ben Maimoun, Le guide des égarés p. 1, cap. 73; frz. S. Munk 1–3 (Paris 1856–1866) 1, 375–419.
[18]
Vgl. J. van Ess: Theol. and sci.: the case of Abū Isḥāq an-Naẓẓām. The 2nd annual United Arab Emirates Lecture in Islamic Stud. (Ann Arbor 1978).
[19]
Zu Razes' einschlägigen Schr. vgl. Epître de Bērūnī contenant le répert. des œuvres de Muhammad b. Zakarīyā Al-Rāzī, hg. R. Kraus (Paris 1936).
[20]
Abi Bakr. Mohammadi filii Zachariae Raghensis (Razis) Opera philos. frg., hg. P. Kraus 1. Univ. Fouadi I litt. Fac. Publ. 22 (Kairo 1939) 217–228.
[21]
Zustimmend Al-Fārābī; vgl. E. Wiedemann: Zur Alchemie bei den Arabern. J. prakt. Chemie 84, NF 76 (1909) 105–123; ablehnend Avicenna; vgl. J. E. Holmyard: Chem. to the time of Dalton (London 1925) 22.
[22]
Vgl. P. Kraus: Jābir Ibn Ḥayyān. Contrib. à l'hist. des idées sci. dans l'Islam 1. 2. Mém. pres. à l'Inst. d'Égypte (Kairo 1943/42) 44f.
[23]
Jābir Ibn Ḥayyān: Essai sur l'hist. des idées sci. dans l'Islam 1: Textes choisis, hg. P. Kraus (Paris/Kairo 1935) 429.
[24]
a.O. 482.
[25]
Vgl. Kraus, a.O. [22] 2, 1–18.
[26]
Vgl. 61–95.
[27]
Vgl. 187–303.
[28]
E. Wiedemann: Arab. spezifische Gewichtsbestimmungen. Ann. der Phys. 20 (1883) 539–541.
[29]
N. Khanikoff: Analysis and extracts of the book of the Balance of Wisdom. J. Amer. Orient. Soc. 6 (1859) 1–128.
[30]
Vgl. R. Walzer: Art. ‹Al-Fārābi›, in: EoI 2 (Leiden/London 1965); M. Steinschneider: Al-Farabi (Alpharabius), des arab. Philosophen Leben und Schr. Mém. de l'Acad. imp. Sci. St. Petersbourg 8, sér. 13, 4 (1869).
[31]
Vgl. Avicennas Autobiogr., in: Ibn al-Qiftī, Ta'rīh al-huḳamā', hg. J. Lippert (1903) 415f.
[32]
Al-Fārābī, 'Uyūn al-masā'il a.O. [9] 56–65.
[33]
a.O. 59.
[34]
39–48.
[35]
Vgl. A.-M. Goichon: Art. ‹Ibn Sīnā›, in: EoI 3 (Leiden/London 1971).
[36]
Ibn Sīnā, al- ifā', al-Ilāhiyyāt (1. 2.), hg. G. C. Anawati/Sa'id Zayed (Kairo 1960) 1, 67.
[37]
Ansätze zu dieser Diskussion bereits bei Simplicius, In Arist. Phys. I–IV, hg. H. Diels. Comm. in Arist. graeca 9 (1882) 225–233: zu A 7, 191 a 7.
[38]
Vgl. W. Montgomery Watt: Art. ‹Al- azālī, Abu Ḥāmid Muḥammad b. Muḥammad›, in: EoI 2 (Leiden/London 1965).
[39]
Algazel, Tahafot al-Falasifat, hg. M. Bouyges. Bibl. arab. scholast., Sér. arabe 2 (Beirut 1927) 179f.
[40]
a.O. 70.
[41]
330.
[42]
Vgl. D. M. Dunlop: Art. ‹Ibn Bā ja›, in: Eol 3 (London/Leiden 1971).
[43]
Avempace, El regimen del solitario, span. hg. M. Asín Palacios (Madrid/Granada 1946) 58ff.
[44]
Vgl. Art. ‹Ibn Ru d›, in: EoI 3 (Leiden/London 1971).
[45]
Averroës, Tahafot al-tahafot, hg. M. Bouyges = Bibl. arab. scholast. 3 (Beirut 1930) 103.
[46]
Aristoteles, Met. Z 13, 1039 a 3–14.
[47]
Averroës, Tafsir ma ba'd at-tabi'at, hg. M. Bouyges a.O. [45] 5–7 (Beirut 1938–1952) 3, 971.
[48]
In: Aristoteles, Opera cum Averrois Cordubensis Sermo de substantia orbis etc. fol. 3 r–14 v.
[49]
a.O. fol. 5 KL.
[50]
fol. 4 C.
[51]
fol. 5 C-G.
[52]
Vgl. I. Münz: Moses Ben Maimon, sein Leben und seine Werke (1912).
[53]
Maimonides, a.O. [17] 2, 3–28.
[54]
a.O. 11.
[55]
Vgl. H. A. Wolfson: Crescas' crit. of Aristotle (Cambridge, Mass. 1929) bes. 99–113.
E. Renan: Averroès et le Averroisme (Paris 1852). – S. Munk: Mélanges de philos. juive (Paris 1859). – M. Berthelot: La chimie au moyen age 1–3 (Paris 1893). – T. J. De Boer: Gesch. der Philos. im Islam (1901). – P. Duhem: Système du monde 1–5 (Paris 1913–1917, ND 1954) 4, 3e parte. – A. Baumstark: Gesch. der syrischen Lit. (1922). – B. Carra de Vaux: Penseurs de l'Islam 4: La scolastique ... (Paris 1923). – L. Thorndike: A hist. of magic and exp. sci. 1–3 (New York/London 1923–1934). – G. Sarton: Introd. to the hist. of sci. Carnegie Inst. publ. 1–3 (Washington 1927–1947) 376. – S. Pines: Beitr. zur islam. Atomenlehre (1936). – A.-M. Goichon: Vocabulaires comparés d'Aristote et d'Ibn Sīnā (Paris 1939). – M. Steinschneider: Die arab. Übersetz. aus dem Griech. (Graz 1960).
3. M. im westlichen Mittelalter. – a) Frühes westliches Mittelalter. – Die Vorstellungen, die sich im frühen Mittelalter im Westen mit dem Begriff der M. verbinden, ähneln denen, die wir in der einschlägigen frühen arabischen Literatur antreffen, obwohl das zur Verfügung stehende antike Gedankengut hier und dort weithin verschieden ist. Im Westen hat die auf den Namen des Dionysius Areopagita gefälschte Schrift ‹De coelesti hierarchia› dominierenden Einfluß. Sie vermittelt dem frühen Mittelalter die neuplatonischen Vorstellungen von der Emanation aller Realität aus dem Urgrund, verbunden mit einer exzessiven, an die Wechselbeziehungen zwischen Licht und Finsternis anknüpfenden Metaphorik, bei der die Grenzen zwischen den Vergleichselementen weithin verschwimmen. Wie im arabischen Osten ist das Wissen um die klassischen Texte der antiken Philosophie demgegenüber spärlich, namentlich fehlt eine Kenntnis der metaphysischen Untersuchungen des Aristoteles.
Das erste eindrucksvolle Zeugnis, in dem diese Tradition neuen Ausdruck findet, sind die ‹Libri quinque de divisione naturae› des Ioannes Scotus Eriugena[1]. Wenn auch seine Terminologie noch von der später unter dem Eindruck der Übersetzungsliteratur üblich werdenden abweicht, so bietet sein Werk in der Sache doch die neuplatonischen Vorstellungen, die weithin die frühen Epochen beherrscht haben. Unter Berufung auf Augustinus und Platon definiert Ioannes Scotus in I, 59: «Mutabilitas rerum mutabilium, capax omnium formarum informis materia est» [2]. Im Anschluß an Dionysius Areopagita bestimmt er sie weiter als «Ornatûs et formae et speciei participationem, sine quibus per se informis materia, et in nullo intelligi potest». Nach der einen wie der anderen Auffassung, fährt er fort, lasse sich seiner Ansicht nach nicht bestreiten, daß die M. allein durch den Intellekt wahrgenommen werden könne. Daraus schließt er im folgenden Kapitel: «Atqui cum haec ita sint, necessariò fateberis corpora in incorporea posse resolvi, ita ut corpora non sint, sed penitus soluta. ... Non mireris itaque ex incorporalibus causis corpora creari, inque easdem herum resolvi; ipsas verò causas ab una eadémque rerum omnium creatrice creatas procedere. Ex forma enim omnium, unigenito videlicet patris verbo, omnis forma, sive substantialis, sive quae ex qualitate assumitur, materiaeque adiuncta corpus generat, creata est. Ab ipsa quoque omnis informitas» [3]. Im dritten Buch bemüht sich Ioannes Scotus um eine naturphilosophische Auslegung der Genesis. Sie gibt ihm Gelegenheit, die Rolle der M. in der Welt des Werdens und Vergehens näher zu bestimmen. Dabei unterscheidet er in III, 28 zwischen zwei dieser M. zukommenden Formen. Er stellt fest: «Quum igitur omnium corporum ex quatuor simplicium Elementorum coitu compositorum ... triplex est consideratio: aliter enim in iis materia inspicitur, aliter forma; et species, quae materia adiecta omne solidum atque sensibile corpus efficit: sola siquidem materia carens specie nullum corpus peragit; quia per se informis est; adiecta vero specie corpus fit: aliter essentia et substantialis forma, quae veluti fundamentum formatam suffert et continet materiam» [4]. Die zuletzt genannte substantiale Form wird später durch Beispiele erläutert (homo, equus usw.). Die zunächst die materia prima prägende Form hingegen wird demgegenüber als eine bloße forma qualitativa bezeichnet, wie sie der materia prima körperlichen Charakter verleiht und den elementaren Umwandlungen entspricht, ohne damit schon zu einer wohlumrissenen Substanz zu führen.
Neuplatonische Vorstellungen über den Zusammenhang zwischen Gott und Welt von ganz ähnlicher Art finden wir wieder bei Anselm von Canterbury[5]. Ebenso zeigt sich bei Gilbertus Porretanus der dominierende Einfluß des Ioannes Scotus [6]. Neben der M. als materia prima kennt Gilbertus die M. als das, was dem substantiellen Sein zur Existenz verhilft (subjecta materia). Zum Sein des Körpers gehört für ihn die corporalitas, in der er den Grund dafür sieht, daß der Körper zur M. von Figuren und anderen Eigenschaften werden kann. Er soll sie aufgrunddieser corporalitas und der Potenz, die ihr zukommt, besitzen [7].
Nicht übersehen werden sollte, daß in dieser frühen Epoche auch atomistische, an Platons ‹Timaeus› und seine spätantike Auslegung, doch auch an Lukrez anknüpfende Vorstellungen von der M. zu finden sind. Besonders weit entwickelt wurden sie bei dem naturwissenschaftlich stark interessierten Wilhelm von Conches[8]. Einen Einblick in die Auffassungen von der M. in der frühen medizinischen Literatur gibt der ‹De commistionibus elementorum libellus› des Urso von Salerno[9]. Anknüpfend an neuplatonische Vorstellungen läßt Urso die Welt aus den Prinzipien opifex, materia und forma hervorgehen. Die M. beschreibt er wie folgt: «materia intrinsecus fuit principium et cum motu, a quo res contrahunt simpliciter esse et indeterminate. ... In principio ... creavit deus ex nichilo quandam rudem et primeriam materiam omnium corporum genetricem, quam silvam[10] vel ylem apellaverunt philosophi, que nec fuit corporea nec incorporea. Non enim erat substantia, cum accidentibus non esset subiecta, fuit tamen quoddam non corporeum, quam Plato ... sine quantitate, sine forma, sine loco, sine tempore, inter aliquam et nullam substantiam extitisse asseruit» [11]. Die genannten Bestimmungen sind nur potestate vorhanden. Ein der primeria materia eingepflanztes «desiderium in actum» trieb sie dazu, sich in die vier Elemente zu verwandeln, die Urso als Körper mit Substanz, Quantität usw. auffaßt. Jedes Element vermag sich um so stärker mit anderen zu verbinden, je größer die Ähnlichkeit zwischen ihnen ist. So bilden sie die corpora elementata der sichtbaren Welt [12].
b) M. im westlichen Hochmittelalter. – Während dieser Zeit werden fast sämtliche Werke des Aristoteles, einschließlich der sie kommentierenden oder auf ihr aufbauenden arabischen Tradition, einschließlich ihres platonisierenden Gedankenguts, dem Westen in Übersetzung zugänglich [13]. Gegen gewisse Gedanken, so gegen die gleitenden Übergänge zwischen sinnlich erfahrbarem Körperlichem und Intelligiblem bei den in der neuplatonischen Tradition stehenden Philosophen, wie des Ibn Gebirol, regt sich Widerspruch. Wilhelm von Auvergne[14] verwirft die These, daß die intelligiblen Substanzen so wie die körperlichen aus Form und M. zusammengesetzt sein sollen [15]. Anders Alexander von Hales[16], der für alles, bei dem sich ein quod est von einem quo est unterscheiden läßt, eine von der Form unterschiedene M. ansetzt [17].
Eine neue Wendung nimmt die Auseinandersetzung mit dem Begriff der M. durch Robert Grosseteste[18] dadurch, daß er von den metaphysischen Erörterungen zu naturphilosophischen Einzeluntersuchungen übergeht. Neben seine Kommentare zu den Schriften des Ps.-Dionysius Areopagita [19] tritt ein Kommentar zur aristotelischen ‹Physik› [20] und Einzeluntersuchungen, in denen er die traditionelle Lichtmetaphorik in eine auf dem Begriff des Lichts aufbauende Naturphilosophie umsetzt. Insbesondere deutet er die erste körperliche Form in seinem Traktat ‹De luce seu de inchoatione formarum› in diesem Sinn: «Formam primam corporalem, quam quidem corporeitatem vocant, lucem esse arbitror» [21]. Das Licht als erste Form wirkt auf die als erste geschaffene M.: «Lux ..., quae est prima forma in materia prima creata, seipsam per seipsam undique infinities multiplicans et in omnem partem aequaliter porrigens, materiam, quam relinquere non potuit, secum distrahens in tantam molem, quanta est mundi machina [22], in principio temporis extendebat» [23]. Für Robert erhalten infolgedessen die Ausbreitungsgesetze des Lichts besondere Bedeutung [24]. Eine Fortsetzung haben seine Überlegungen bei Roger Bacon[25] gefunden, dessen ‹Opus maius› [26] ein die naturwissenschaftliche Tradition in weitem Umfang berücksichtigendes Forschungsprogramm entwirft. In der Schrift ‹De multiplicatione specierum› [27] greift er die Lichtmetaphysik Robert Grossetestes auf und benutzt für die sie beherrschenden optischen Regeln, die sich der herkömmlichen aristotelischen Ursachenlehre nur mangelhaft fügen, den von ihm in ähnlichen Zusammenhängen geprägten Ausdruck «lex naturae universalis» [28]. Dieses Gesetz ist allumfassend, unbedingt und konstitutiv für die materielle Welt. Die große, das optische Wissen der Zeit zusammenfassende Kompilation des Witelo[29] ist von demselben Geist getragen, wie besonders deutlich ihr an Wilhelm von Moerbeke gerichtetes Vorwort [30] zeigt.
Albertus Magnus hat – im wesentlichen sich am Leitfaden der Schriften des ‹Corpus Aristotelicum› orientierend – die erste ausführliche enzyklopädische Zusammenfassung der peripatetischen Traditionen unternommen [31]. Seine Zusammenfassung, die von Exkursen und Traktaten über Sonderfragen unterbrochen wird, deckt den naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Teil der aristotelischen Schriften und die ‹Metaphysik›. Dabei wird deutlich, daß er die von Al-Ghazālī gegebene Darstellung der aristotelischen Lehre mit Vorzug wiedergibt und sich in Widerspruch zu der exzessiv neuplatonischen Auffassung Ibn Gebirols stellt, namentlich in seinem ‹Liber de causis› [32]. Die materia prima ist für Albertus zwar nicht im Sinn von Aristoteles' ‹Physik› geworden, aber doch geschaffen [33]. Er schließt sich in diesem Punkt deutlich an Maimonides' Auffassung an [34]. Später scheint sich Albertus darum bemüht zu haben, die philosophische Erörterung soweit wie möglich von theologischen Argumenten freizuhalten. Er verwirft nach dem Prinzip der lex parsimoniae die Zuordnung einer Seele und eines Intellekts zu einer Sphäre; der Intellekt muß genügen, wenn an ihm nur eine der übergeordneten Ursachen von der der materiellen Sphäre zugeordneten Seite unterschieden wird. Mit dieser letzten ‘berührtʼ er die M., ist eine der M. ‘beigemischteʼ aktive Kraft [35]. Besondere Schwierigkeiten bereitet ihm die Individualität der menschlichen Seele. Besteht er doch darauf, daß die M. es ist, welche die Individuation des Einzelnen gewährleisten soll [36]. Wie sollen die vom Leib und damit von der M. befreiten Seelen oder, genauer, die Intellekte sich dann noch unterscheiden, wie kann der einzelne Intellekt noch ein hoc aliquid darstellen? Unter Berufung auf Boethius [37] erklärt er: «Citra principium quicquid est, est ex quo est et quod est; aliter enim non esset hoc aliquid» [38]. Das ex quo est wird von ihm des näheren als eine einem actus unterliegende potentia, und zwar des intellectus possibilis bestimmt, der ut materia quaedam gegenüber dem intellectus agens fungiert [39].
Thomas von Aquin[40] stand vor der Aufgabe, das von Albertus Magnus zusammengetragene Material zu einer Einheit zu gestalten. Albertus hatte mehr und mehr die methodische Bedeutung einer eigenständig philosophischen, unabhängig von theologischen Überlegungen geführten Diskussion erkannt und hatte infolgedessen in steigendem Maße auf einen Ausgleich zwischen beiden Bereichen verzichtet, wie er ihn zunächst im Anschluß an Maimonides versucht hatte. Das hatte dazu geführt, daß die sich hier aufdrängenden Fragen weithin offen geblieben waren. Auch innerhalb der philosophischen Darstellung hatte Albertus eine ähnliche Zurückhaltung geübt und weithin darauf verzichtet, widersprechende Theorien miteinander in Einklang zu bringen. Das gilt auch für den Begriff der M.; neben die schon durch Aristoteles selbst gegebenen Probleme waren die Auslegungen der an den Neuplatonismus anknüpfenden arabischen Philosophen getreten, die in einer Vielzahl von grundsätzlichen Problemen wie auch Einzelfragen zu einer Klärung drängten.
Wie für Aristoteles kann auch für Thomas die M. nicht durch eine generatio im Sinn der Naturphilosophie entstehen; allerdings folgt daraus für ihn noch nicht, daß sie ewig sein müßte, vielmehr erklärt er: «Nos autem dicimus quod materia et caelum producta sunt in esse per creationem» [41]. Bereits in ‹De ente et essentia› [42] finden wir M. als principium individuationis; allerdings fällt diese Rolle jetzt nur einer in bestimmtem Sinn verstandenen M., der materia signata zu, von der Thomas feststellt: «Materia non quolibet modo accepta est individuationis principium, sed solum materia signata. Et dico materiam signatam, quae sub determinatis dimensionibus consideratur.» In die Definition des Menschen als solchen geht diese M. nicht ein, hier haben wir eine allgemeine M. anzusetzen; man müsse hingegen diese materia signata in der Definition dieses besonderen Menschen, Sokrates etwa, ansetzen, wenn der einzelne Mensch Sokrates eine Definition zuließe. Was man in der Definition des Menschen überhaupt ansetzt, das bezeichnet Thomas demgegenüber als die materia non signata. Thomas hat an dieser Auffassung durch sein ganzes Werk unbeirrt festgehalten. Auch die Individualität der menschlichen Seele ist für ihn eine Folge ihrer Verbindung mit individueller M., die auch dann erhalten bleiben soll, wenn die Seele sich von der M. löst [43]. Thomas macht auch nicht das mindeste Zugeständnis an Auffassungen, wie wir sie in der arabischen neuplatonischen Philosophie finden, nach denen die M. ihren körperlichen Charakter erst durch zusätzliche Formen erhalten soll. Wie schon seine Unterscheidung zwischen bezeichneter oder individueller und allgemeiner M., so gehört vor allem die Unterscheidung [44] zwischen sinnfälliger M. (materia sensibilis) und einer von der Vernunft erfaßbaren M. (materia intelligibilis) zur Lehre von der Begriffsbildung (vgl. Art. ‹Abstraktion› III, 2, b).
Ein Problem, das Thomas immer wieder beschäftigt hat, bieten die Himmelssphären und deren Beziehung zu ihren Bewegern [45]. Anknüpfend an die Überlegungen des Averroës schreibt Thomas den Sphären eine besondere M. zu, die sich von der dem Werden und Vergehen unterworfenen unterscheiden soll. Auf die Frage, ob eine einzige formlose M. für alle körperhaften Gegenstände gegeben sei [46], antwortet er: «Non est una materia omnium corporum corruptibilium et incorruptibilium, nisi secundum analogiam.» Nach Ausschluß gegenteiliger Ansichten, die seine Vorgänger vertreten haben, schließt Thomas: «Relinquitur ergo quod materia corporis caelestis, secundum se considerata, non est in potentia, nisi ad formam quam habet. Nec refert ad propositum, quaecumque sit illa, sive anima, sive aliquid aliud. Unde illa forma sic perficit illam materiam, quod nullo modo in ea remanet potentia ad esse, sed ad ubi tantum.» Das hier bereits anklingende Problem des Verhältnisses von der Sphäre zu ihrer Form und ihrem Beweger hat Thomas von immer wieder anderen Seiten aufgegriffen [47]. Seine Lösungen reichen von der Ablehnung einer besonderen, mit der Form der Sphären identischen oder nicht identischen anima bis zu deren Zulassung, mit oder ohne Annahme einer zusätzlichen intelligiblen Substanz, welche die Bewegung final steuern soll.
Thomas' Ansichten über die M. stießen auf Widerspruch bei Ioannes Duns Scotus[48]. Für ihn existiert die M. zwar nur potentiell, doch meint er damit nicht nur, daß sie, weil widerspruchslos möglich, als Objekt des göttlichen Schaffens hervorgehen kann, sondern daß sie einem Entstehungsprozeß auch als Subjekt zugrunde liegt. Ein bloßes Nichts könnte im Sinn des Aristoteles keine Form aufnehmen, weshalb Duns Scotus erklärt: «Et ideo ponens materiam solum in potentia obiectiva, et non subiectiva, negat omnem rationem philosophi de materia» [49]. Der Unterschied ergibt sich, sobald man auf das nur eine potentia obiectiva bietende creabile reflektiert. M. hat als Ursache von Seiendem Existenz, ist in diesem Sinn actu oder actus [50], ihr ist eine bestimmte positive Realität eigen [51]. Des näheren wird diese Aktualität wie folgt bestimmt: «... dico quod si accipis actum pro actu informante, materia non est actus; si autem accipias actum pro omni eo quod est extra causam suam, sic materia potest dici ens actu, vel actus» [52]. Von der individuellen und bezüglich der quiditas akzidentellen M. unterscheidet Duns Scotus die allgemeine M. Sie ist nach ihm in der quiditas der einzelnen species mit beschlossen [53]. All das bedeutet für ihn nicht etwa die Aufhebung der Unterscheidung der M. von der Form. Sie bilden, auch nach ihrem aktuellen Sein betrachtet, extreme Gegensätze, der M. kommt Aktualität im geringstmöglichen Grad zu. Gerade darin aber ist die Eignung für ihre Vereinigung begründet [54]. Nichts widerstreitet der Möglichkeit, daß Gott die M. ohne Form hätte schaffen können [55]. Besonders bemerkenswert ist die Kritik, die Duns Scotus am Ansatz übt, die M. sei Individuationsprinzip. Er geht dabei aus von dem quod quid est, das er, für sich genommen, als gleichgültig gegenüber einer Bestimmung durch Individualität oder Universalität ansieht, möge sie nun in der Wirklichkeit oder auch im Vorstellungsvermögen oder im Intellekt erfolgen. Da die individuierende Funktion, die man der M. in diesem Zusammenhang zuschreiben möchte, vor allem auf der für sie angenommenen Verbindung mit der Quantität beruht, wendet sich Duns Scotus konsequent gegen die Ansicht, daß die unterschiedlichen quantitativen Verhältnisse, in welche die Natur des quod quid est eintritt, die Individuation zum Einzelding bewirken könnten. Das würde aber bedeuten, daß sie auf ein accidens gegründet würde [56]. Duns Scotus betont, daß die Quantität im übrigen keineswegs an sich individuell sei; nicht sie macht die Substanz individuell zum Einzelnen, sondern umgekehrt, das Einzelding verleiht ihr erst die Individualität. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß die Teilbarkeit der Quantität den Irrtum nahelegt, sie könne daher die Individuation leisten. Auch die Gestalt und die Position im Raum werden von Duns Scotus wegen ihrer untrennbaren Verbindung mit der Quantität als Erklärungsgrundverworfen; sonst wäre die Frage nur auf Gestalt und Position verschoben. Die Quantität, als Bestimmung der M. gedacht, vermag also die positive Kennzeichnung des Einzeldings so wenig zu bewirken wie jede andere ihrer akzidentellen Bestimmungen oder eine Verbindung von ihnen [57]. Da für Duns Scotus die Existenz als Individuationsprinzip ebenfalls ausscheidet – auch sie liefert für sich genommen nur etwas schlechthin Allgemeines – schließt er auf jene haecceitas, die eine solch bedeutsame Rolle in der weiteren scotistischen Diskussion gespielt hat. Sie spielt zwar eine ähnliche Rolle wie die Differenz gegenüber der Gattung, sie verbindet sich aber mit den Elementen des quod quid est nicht als gleichartiges Element, sondern als positives Bestimmungsstück eigener Art. Sie soll die Bestimmung des Einzeldings unabhängig von der Existenz leisten und nicht aus dem Bereich des Essentialen herausführen. Ebensowenig ist sie etwa durch die M. festgelegt, vielmehr ist sie es, welche die M. bestimmt [58]. Der Unterschied gegenüber den auf die M. als Individuationsprinzip zurückgreifenden Auffassungen wird besonders deutlich bei der Diskussion der Frage intelligibler Substanzen. Sie brauchen für Duns Scotus, auch wenn er ihnen keine M. beilegt, keineswegs mit ihrer species zusammenzufallen, vielmehr sind für ihn auch unter solchen Bedingungen unterschiedene Individuen als unter die species fallende denkbar [59].
c) M. im späten westlichen Mittelalter. – Die Behandlung des M.-Begriffs im späteren Mittelalter ist durch die äußere und innere Reaktion auf die vorangegangene Entwicklung des Aristotelismus bestimmt. Die äußere Reaktion findet ihren Ausdruck in der Verurteilung des Averroismus vom Jahre 1270 und der in unserem Zusammenhang noch wichtigeren Verurteilung einer langen Reihe von philosophischen, den theologischen Ansichten zuwiderlaufenden Thesen durch Etienne Tempier im Jahre 1277. Die innere Reaktion richtet sich gegen den teilweise exzessiven Realismus, den wir bei der Behandlung der Universalien und insbesondere der species in der vorangegangenen Epoche finden.
Unter den durch Etienne Tempier verurteilten Thesen betreffen mehrere den Begriff der M. [60]. So These 46, nach der aus der M. nichts erzeugt werden könne ohne ein agens, ebenso wie ein agens nicht ohne M. erzeugen könne; These 55, nach der das erste Wesen nichts als sich selbst hervorbringen soll, weil das Erzeugte sich allein durch M. vom agens unterscheide; These 103, nach der die Form nur in der M. erzeugt werden und existieren könne, auch nur mittels eines durch die M. wirkenden agens; These 192, welche die Erschaffbarkeit der materiellen Form leugnet. Mittelbar waren einige gegen Theorien der Sphärenbeweger gerichtete Thesen von Belang, so These 66, welche die Existenz mehrerer erster Beweger behauptet; These 77, nach der eine abgelöst von dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt existierende Substanz, die in ihr keinen Körper bewege, nicht in ihr enthalten sein könne; These 212, nach der die Intelligenz durch ihren bloßen Willen den Himmel bewegen soll.
Die innere Reaktion findet ihren Ausdruck in der Bewegung des Nominalismus und des durch ihn ausgelösten Universalienstreits. Der Nominalismus knüpft wieder an gewisse Gedanken der Frühscholastik an, die sich allerdings dadurch von dem nun einsetzenden Nominalismus unterscheiden, daß systematisch entwickelte realistische Theorien noch nicht vorlagen. Der nun einsetzende Nominalismus des späten Mittelalters hat ganz entschieden dazu beigetragen, kritisch die Synthese des scholastischen Aristotelismus aufzulösen, damit aber auch gewisse Blockaden zu beseitigen, die der Entwicklung einer neuen Naturphilosophie und Naturwissenschaft entgegenstanden.
Eng an die Position des Thomas von Aquin schließt sich Aegidius Romanus an [61]. Er lehnt jede Aktualität der M. strikt ab und wendet sich insbesondere gegen die Vorstellung, daß irgendeine aktive Potenz in der M. gegeben sein könne [62]. Nachdem Aegidius die Beweggründe, die zu einer solchen Ansicht führen konnten, dargelegt und dabei besonders darauf hingewiesen hat, daß entscheidend das Paradoxon einer Entstehung der Form aus nichts zu diesen Beweggründen gehöre, weist er nach, daß ein inchoativum formae, wie man es in solchem Zusammenhang einführe, daran im wesentlichen überhaupt nichts ändere: «quia etiam ponendo huiusmodi potentiam per hoc non fugimus inconveniens; nam quantumcumque ponamus potentiam activam in materia, de qua fiat forma; per hoc non effugimus, quin fiat aliquod ex nihilo.» In einem anderen Quodlibet setzt sich Aegidius mit der Frage auseinander, ob eine vollständige Substanz von der Art eines Intellekts aus M. und Form zusammengesetzt sein könne [63]. Seine Antwort: «sciendum, quod numquam facit materia diversitatem in specie, sed solum facit in numero, vel in genere.» Zum ersten Punkt erfahren wir über das Bekannte hinaus nichts Neues. Anders steht es mit dem zweiten, zu dem es heißt: «... potest sumi diversitas ex materia ... propter aliam et aliam rationem recipiendi formam; et sic differunt per materiam supercoelestia corpora ab his inferioribus, nam in his inferioribus materia sub alia ratione recipit formam quam in supercoelestibus, quia hic recipit formam non complentem totum appetitum, ibi autem complentem.» Die damit aufgeworfene Frage nach der besonderen Art der M. der Himmelskörper und -sphären hat Aegidius auch sonst behandelt, z.B. in seinen ‹Quaestiones metaphysicales› [64]. Aegidius wendet sich dort gegen die von Averroës vor allem in seiner Schrift ‹De substantia orbis› vertretene Ansicht, daß es bei den Himmelskörpern zwar den Unterschied zwischen Potentiellem und Aktuellem gebe, daß aber das Potentielle dort nicht die Bezeichnung einer M. verdiene und das Aktuelle mit einer Seele gleichzusetzen sei, daß schließlich der Himmelskörper ein subiectum simplex darstelle. Dagegen stellt Aegidius fest: «Dicendum ..., quod corpora caelestia habent unam materiam. Ad quod notandum, quod quaedam accidentia consequuntur materiam tanquam propriae passiones eius; et haec sunt esse hic et nunc sub esse signato; et haec sunt principia individuantia. Et quia non est proprium sine eo, cuius est proprium, in caelo est invenire hic et nunc, cum istae sint propriae passiones materiae, in caelo erit propria materia.» Zur Frage des subiectum simplex erklärt Aegidius: «Illud tamen non videtur bene dictum, scilicet quod aliqua materia corporalis possit esse sine forma; hoc enim non videtur intelligibile.» Und schließlich: «Nec patet, quod commentator diceret caelum esse ex materia, quia intelligentia est ibi tanquam forma et caelum quam materia; nam amota intelligentia adhuc caelum esset quid sensibile et caelum sentiretur a nobis et videretur. Si ergo omne sensibile est compositum ex materia et forma et amota intelligentia adhuc caelum remaneret sensibile: ergo praeter intelligentiam adhuc in ipso corpore caeli oportet ponere compositum ex materia et forma.» Das alles beruht natürlich auf der Prämisse, «quod omne sensibile esset compositum ex materia et forma».
Raymundus Lullus war einer der entschiedensten Gegner averroistischer Tendenzen [65]. In seiner Schrift über die zwölf Prinzipien der Philosophie treten diese, an erster Stelle die Form, dann die M., als redende Figuren auf, zusammen mit der Philosophie, die Klage darüber führt, von den Averroisten verleumdet zu werden [66]. Die M. schildert dann im einzelnen ihre Stellung zur Philosophie [67]. Sie erklärt des näheren, durch die Quantität individualisiert zu werden und sich in den Himmels- wie den Elementarsphären zu befinden. Neu ist dabei, daß sie als ihren eigentlichen Ort einen abstrakten, über die Einzelörter sich hinwegerstreckenden Ort angibt, der in absolutem Sinn in sich bleiben soll. Die M. ihrerseits bleibt in diesem absoluten Ort und befindet sich nur in besonderen Örtern, soweit sie in der besonderen Wesenheit ihre Konkretisierung erfahrt. Die M. besitzt eine erste Form, die ihr erst die für ihre Passivität erforderliche Prägung verleiht. Diese Form scheint insbesondere für die Kontinuität der M. in der Natur den Grund zu liefern.
Die nominalistische Kritik an den Begriffen ‹Form› und ‹M.› erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Wilhelm von Ockham[68]. In seinen ‹Summulae in libros physicorum› [69] kritisiert Ockham die Dreiheit von forma, privatio und materia bei seinen Vorgängern [70]. Die privatio erscheint ihm als eine ohne Berechtigung durch die Sache eingeführte unnötige Komplikation. Er schreibt dazu: «Cum forma per suam absentiam et praesentiam facit sufficienter mutationem, nulla requiritur pluralitas, nisi quod primo forma non sit, et postea fiat praesens eidem. Ergo duo sufficiunt ad mutationem, scilicet materia et forma.» M. und Form sind für ihn nichts anderes als nomina communia und keineswegs Prinzipien der Einzeldinge [71]. Er erklärt dazu: «... dicendum ... quod tantum sunt duo genera principiorum per se, scilicet materia et forma, ita, quod quodlibet principiorum per se, vel est materia vel forma: tamen ista genera non sunt principia rerum extra, sed sunt nomina communia et principia rerum, quae variantur sicut et generata. ... Dicendum, quod principia non sunt universalia, sed singularia, quae plura sunt numero in diversis, ita, quod haec forma istius generati est primum principium istius generati, et ista forma alterius generati est principium illius, et sic de materia, quia alia est prima materia mea et alia prima materia tua, et sic de aliis.» Konsequent betrachtet Ockham die M. als aktuell gegeben. Er schreibt: «Utrum materia sit quaedam entitas actualis, manifestum quod sic» [72]. Die Potenz wird von ihm geradezu der M. gleichgesetzt, wenn er bemerkt: «Materia est ipsa potentia, quae potest recipere formam.» Ja, die materia prima existiert sogar für sich genommen und unabhängig von der sie prägenden Form [73]; so heißt es: «Non solum autem materia prima est illa, quae in potentia ad omnes formas omnium specierum formarum generabilium et corruptibilium, sed etiam est quaedam res actu existens.» Irgendeine von der M. ausgehende Tendenz zur Form ist fiktiv, wie Ockham bei der Untersuchung der Frage, «an aliquid ipsius formae praecedat in materia, quod potentia activa vocatur secundum aliquos, vel inchoatio formae secundum aliquos», erklärt [74]. Ebensowenig akzeptiert er eine besondere Bestimmung für das aus der Verbindung von M. und Form hervorgehende Einzelwesen [75]. Die M. ist für ihn in jedem solchen Einzelwesen eine numerisch unterschiedene. In ihrer Art jedoch ist sie überall von derselben ratio. Auch die M. der Himmelskörper bildet da keine Ausnahme, sie ist von derselben Natur wie die der vergänglichen Körper. Ihre Unzerstörbarkeit ist nicht einfach und absolut, Gott könnte sie aufheben, und insofern gibt es hier und dort nicht den mindesten Unterschied [76].
Bei Johannes Buridan finden wir viele der Ockhamschen Ansätze weiter ausgeführt. So benutzt er unter anderem die neu geschaffene Lehre von der Supposition, um die von Ockham vorgenommenen Reduktionen zu bekräftigen. In seinen ‹Quaestiones super octo libros physicorum› sucht er beispielsweise mit diesem Hilfsmittel die Frage zu lösen, ob zwischen materia und privatio zu unterscheiden sei oder nicht [77], und meint dazu: «Videtur mihi, quod ista quaestio faciliter potest solvi dicendo, quod idem est privatum et privatio, et materia est privata. Ergo materia est privatio. Quod autem privatum sit privatio, declaratur per aliquas regulas. Una est, quod, si nomen concretum supponit pro aliquo et etiam nomen abstractum pro aliquo, et nomen abstractum non significat vel connotat aliud ab eo, pro quo concretum supponit, tunc oportet, quod abstractum et concretum supponunt pro eodem et quod de se invicem affirmative verificentur. Sic enim credo, quod istae sunt verae: entitas est ens; deitas est deus; ... et sic de multis aliis. Hoc enim nomen entitatis nihil significat, vel connotat, pro quo non supponit hoc nomen ens et sic deitas nihil significat vel connotat, quod non sit deus.» So löst die Scholastik fast ohne jede Rücksicht eben das auf, was sie zuvor so kunstvoll geschaffen hatte. Reste bleiben, so wenn Buridan die Frage der Individuation diskutiert [78]. Für die konkreten Einzeldinge scheint sie ihm ohne Bedeutung, vielmehr geht es ihm noch immer um das Verengen (contrahere) der species bis auf die unter sie fallende Einzelsubstanz. Und er fährt fort: «Postea diligenter notandum est quod loquendo de individuis pro rebus significatis per terminos singulares nullam viam habemus ad percipiendum differentiam inter individua eiusdem speciei nisi per accidentia sive per extranea.» Am Beispiel zweier zum Verwechseln ähnlicher Sterne oder Menschen zeigt Buridan das des näheren und faßt seine Überlegung wie folgt zusammen: «Et ideo semper ad discernendum alienitatem oportet in aliquibus percipere specificam determinationem, in qua forte hoc intensum, illud vero remissum, hoc magnum, illud vero parvum. Ista enim nomina intensum, remissum, magnum et parvum iam differunt specie. ... dicendum est quod individua eiusdem speciei ut Socrates et Plato differunt substantialiter, scilicet per suas substantias, tam per formas, quam per materias ... Sed tamen istam diversitatem non possumus iudicare nisi per differentiam extraneorum ...» Ganz konsequent wird in der nächsten Quaestio, «utrum singulare possit definiri» [79], eine Definition im eigentlichen Sinn ausgeschlossen, obschon die scientia naturalis solcher Mittel nicht entbehren kann. Doch bleibt es bei akzidentellen, außerwesentlichen Bestimmungen, und selbst dann kann planeta maximus et lucidissimus nicht auf ein Einzelnes beschränkt werden, da es Gott ja gefallen könnte, weitere Sonnen zu schaffen. Die Argumente für und wider eine selbständige Rolle der privatio werden schließlich noch einmal von Marsilius von Inghen zusammengefaßt [80], der sich für die von Ockham vertretene Lösung entscheidet.
Einen Versuch, die divergierenden Ansichten über den Begriff der M. wieder in den Schoß der orthodox aristotelisch-averroistischen Tradition aufzunehmen, unternimmt Johannes von Jandun. Man muß nur die unterschiedlichen Aspekte, unter denen die Frage gesehen wird, erkennen, dann haben alle recht. Dazu schlägt er in einer langen Quaestio über das Individuationsprinzip [81] folgende Einteilung vor: «Et potest fieri talis divisio. Primo omnes qui loquuntur de principio individuationis, vel loquuntur de principio individuationis pro accidente vel de principio naturae subiecta individuationi. si primo modo, aut loquimur de principio formali aut subiectivo.» Seine eigene Ansicht läuft dann aber schließlich auf die Annahme einer zusätzlichen, die Individuation leistenden substantiellen Form hinaus. Im einzelnen hält Johannes von Jandun streng an der Trennung zwischen irdischer und himmlischer M. fest. Bei der Diskussion der Questio, «an caelum sit compositum ex materia et forma» [82], lautet seine Conclusio: «Si qua in caelo est materia, ea non est in potentia ad aliquam formam, sed est materia, quae est in potentia ad locum.»
Mit dem Vordringen der Einzelwissenschaften findet der Begriff der M. in neuen Zusammenhängen seine Anwendung. Ein typisches Beispiel dafür liefert die im späteren Mittelalter nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Lichtmystik starkes Interesse findende Optik. In der Schrift über den Regenbogen verwendet Dietrich von Freiberg[83] das Begriffspaar ‹M.› und ‹Form› in einem neuen Sinn: «Sic ... habemus duas contrarietates in principiis huiusmodi colorum, quarum una est magis formalis et habet modum formae, sive multa vel pauca luminositas, alia autem contrarietas sive multa et pauca diaphanitas, habet modum materiae seu materialis proprietatis in specie colorum» [84]. Trotz der folgenden Berufung auf Aristoteles ist nicht zu verkennen, daß der Terminus ‹M.› hier einen neuen Sinn gewinnt.
In der deutschen Mystik werden die begrifflichen Bausteine, aus denen das Neue geschaffen wird, weithin der Tradition – nicht zuletzt der averroistischen – entnommen[85]. Zu einer durch sie beeinflußten eigenständigen Behandlung mit dem Begriff der M. zusammenhängenden Fragen kommt es wieder bei Nicolaus von Cues. Er handelt im 2. Buch seiner Schrift ‹De docta ignorantia› im 8. Kapitel ‹De possibilitate sive materia universi› [86]. Sie gibt ihm ein augenfälliges Beispiel der docta ignorantia. Die angeführten Autoritäten, die dann zur possibilitas absoluta oder materia zitiert werden, sind allerdings nun nicht mehr nur die Peripatetici: ihnen gehen die Platonici, Hermes und die Stoici voran. Und schließlich faßt er zusammen: «Haec est positio eorum, qui de possibilitate absoluta locuti sunt. Nos autem per doctam ignorantiam reperimus, impossibile fore possibilitatem absolutam esse. Nam cum inter possibilia nihil minus possit esse quam possibilitas absoluta, quae est propinquissime circa non esse, secundum etiam positionem authorum: hinc ad minimum, deveniretur atque ad maximum in recipientibus magis et minus, quod est impossibile. Quare possibilitas absoluta in deo est deus, extra ipsum vero non est possibilis; numquam enim est dabile aliquid, quod sit in potentia absoluta, cum omnia praeter primum necessario sint contracta.»
Matthias Schramm
[1]
Vgl. L. Noack: Leben und Schr. des Joh. Scotus (1876).
[2]
Joannis Scoti Erigenae De divisione naturae (Oxford 1681) 32f.
[3]
a.O. 33.
[4]
137f.
[5]
Vgl. P. Duhem: Le système du monde 1–5 (6) (1913–1917, ND Paris 1954) 5, 340.
[6]
Vgl. M. de Wulf: Hist. of mediaeval philos. (London 21926) 166ff.
[7]
Gilberti Porretani In III de trinitate comm., in: Anitii Manlii Boethi ... opera omnia (Basel 1520) 1137ff.
[8]
Zur ges. frühen Lukreztradition vgl. J. Philippe: Lucrèce dans la théol. chrét. du 3e au 13e siècle et specialement dans les écoles carolingiennes. Ann. du Musée Guimet = Rev. Hist. des Rélig. 16e année/t. 31 (Paris 1895) 284–302; 17e/33 (1896) 19–36. 125–162.
[9]
Vgl. Urso von Salerno, De commistionibus elementorum libellus, hg. W. Stürner. Stuttg. Beitr. Gesch. Pol. 7 (1976) 7–12.
[10]
Vgl. Tim. a Chalcidio transl., hg. J. H. Waszink. Plato lat. 4 (London/Leiden 1962) 273.
[11]
Urso, a.O. [9] 39f.
[12]
a.O. 43f.
[13]
Vgl. C. H. Haskins: Stud. in the hist. of mediaeval sci. (Cambridge, Mass. 1924); M. Steinschneider: Die europ. Übersetz. aus dem Arab. (1956).
[14]
Vgl. A. Masnovo: Da Guiglielmo d'Auvergne a S. Tommaso d'Aquino 1–3 (Mailand 21945/46).
[15]
Vgl. Guillermi Parisiensis Episcopi De universo secunda pars principalis, pars 1, cap. 52, t. 2 (Paris 1516) 217 A.
[16]
Vgl. V. Doucet: De «Summa Fr. Alexandri Halensis» historice considerata. Riv. Filos. neoscolast. 40 (Mailand 1948) 1–44.
[17]
Alexandri de Hales S. theol. II, tr. 2, q. un., c. 2, art. 2. 1–4 (Quaracchi 1924–1948) 2, 134–136.
[18]
Vgl. A. C. Crombie: Robert Grosseteste and the origins of exp. sci. 1100–1700 (Oxford 1953).
[19]
Robert Grosseteste, Philos. Werke, hg. S. L. Baur. Beitr. Gesch. Philos. MA 9 (1912) 31–43.
[20]
a.O. 19–24.
[21]
51.
[22]
Vgl. Chalcidius, a.O. [10] 184.
[23]
Grosseteste, a.O. [19] 52.
[24]
So in De lineis angulis figuris ... a.O. 59–65.
[25]
Vgl. A. G. Little: Roger Bacon. Essay ... (Oxford 1914).
[26]
Roger Bacon, hg. J. H. Bridges 1. 2. Suppl. (Oxford/London 1897/1900).
[27]
Als Anh. a.O. 2, 453.
[28]
Vgl. z.B. Communia naturalia I, p. 3f, hg. R. Steele. Opera hactenus ined. fasc. 3, 224.
[29]
Vgl. C. Baeumker: Witelo, ein Philosoph und Naturforscher des 13. Jh. Beitr. Gesch. Philos. MA 3 (1908).
[30]
Vgl. Opticae thesaurus Alhazeni ... item Vitellonis Thuringopoloni I–X, hg. F. Risner (Basel 1572).
[31]
Vgl. Duhem, a.O. [5] 412–423.
[32]
a.O. 423–432.
[33]
Albertus Magnus, Physica I, 8, tract. 1, cap. 14.
[34]
Vgl. M. JoËl: Das Verhältnis Alberts des Großen zu Moses Maimonides (1863).
[35]
Albertus Magnus, Met. I, 11, tract. 2, cap. 20.
[36]
a.O. tract. 1, cap. 7.
[37]
Eine Bezugsstelle bei Boethius scheint sich nicht nachweisen zu lassen.
[38]
Liber de causis III, cap. 1, par. 2.
[39]
Albertus Magnus, De anima I, 3, tract. 3, cap. 11.
[40]
Vgl. E. Gilson: Le Thomisme: Études de philos. médiévale 1 (Paris 51947).
[41]
Thomas von Aquin, S. theol. I, q. 46, a. 1 ad 3.
[42]
De ente et essentia cap. 2.
[43]
a.O. cap. 5.
[44]
S. theol. I, q. 85, a. 2 ad 1.
[45]
Vgl. Duhem, a.O. [5] 536–559.
[46]
Thomas, S. theol. I, q. 66, a. 2.
[47]
Vgl. II Sent. 14, 1, 3; Sub. sep. 2; S. c. gent. 2, 70; De spir. creat. 5; In Met. 12, 9; S. theol. I, q. 70, a. 3; Quodl. 12, 8.
[48]
Vgl. E. Gilson: Jean Duns Scot. Introd. a ses positions fondamentales. Études de philos. médiévale 42 (Paris 1952).
[49]
Ioannes Duns Scotus, Opus Oxon. II, dist. 12, q. 1, 10.
[50]
a.O. 1, 11.
[51]
q. 1, 13.
[52]
1, 20.
[53]
Quaest. in Met. VII, q. 16, 6.
[54]
Opus Oxon. II, dist. 12, q. 1, 16.
[55]
a.O. q. 2, 3.
[56]
dist. 3, 4, 2.
[57]
Vgl. 4, 10f.
[58]
Vgl. dazu q. 6, 11–16.
[59]
Vgl. dist. 3, q. 7, 3.
[60]
Bequem zugänglich und sachl. geordnet bei P. Mandonnet: Siger de Brabant 2 (Louvain 1908) 175–191.
[61]
Vgl. G. Bruni: Le opere di Egidio Romano (Florenz 1936).
[62]
B. Aegidii Columnae Romani ... Quodlibeta rev. ... P. de Coninck (Louvain 1646) II quodl. 12: «utrum in materia sit potentia activa».
[63]
a.O. I, quodl. 8: «Utrum substantia intellectualis completa sit composita ex materia et forma».
[64]
Quaest. met. (Venedig 1501) VIII, q. 2: «utrum in corporibus celestibus sit materia».
[65]
Vgl. O. Keicher: Raymundus Lullus und seine Stellung zur arab. Philos. Beitr. Gesch. Philos. MA 4/5 (1909).
[66]
Duodecim principia philosophiae ..., quae est lamentatio seu expostulatio philosophiae contra Averroistas, et physica eiusdem dici possunt. Raymundi Lullii Opera ea quae ad inventam ab ipso artem [etc.] ... pertinent, editio postrema (Strassburg 1651).
[67]
a.O. 117ff.
[68]
Vgl. G. de Lagarde: La naissance de l'esprit laïque au declin du moyen âge 4: Ockham et son temps (Paris 1942).
[69]
Oder Philosophia naturalis; vgl. P. Böhner: Die unpolem. Schr. Ockhams, in: Wilhelm Ockham (1349–1949). Aufs. zu seiner Philos. und Theol. (1950) 156–163.
[70]
Wilhelm von Ockham, Philos. nat. I, cap. 12 (Rom 1637) 14 a–15 b.
[71]
a.O. cap. 14 = 17 b–18 b.
[72]
cap. 16 = 19 a–21 b.
[73]
cap. 17 = 21 b–22 b.
[74]
cap. 24 = 27 b–29 b.
[75]
cap. 25 = 29 b–31 a.
[76]
Tabule ad diversas huius operis ... super IV Sent. annotationes ... (Lyon 1495) II, q. 22.
[77]
Acutissimi philosophi ... Johannis Buridani quaestiones super VIII Phys. Arist. I, q. 23 (Paris 1509) 26 d.
[78]
In Met. Arist. quest. ... VIII, q. 7 (Paris 1518) 52 b/c.
[79]
a.O. q. 18 = 52 d–53 b.
[80]
Quest. ... Johannis Marsilii Inguen super VIII Phys. secundum nominalium viam (Lyon 1518).
[81]
Joannes de Janduno, Quest. ... in XII Met. ... VII, q. 17 (Venedig 1525) fol. 96 C–100 F.
[82]
In Arist. De coelo ... quaest. ... I, q. 22 (Venedig 1552) 14 d–16 c.
[83]
Vgl. E. Krebs: Meister Dietrich. Beitr. Gesch. Philos. MA 5, H. 5/6 (1906).
[84]
Dietrich von Freiberg, Über den Regenbogen, hg. J. Würschmidt. Beitr. Gesch. Philos. MA 12, H. 5/6 (1914) 68.
[85]
Vgl. P. Merlan: Aristoteles, Averroes und die beiden Eckharts, in: Autour d'Aristote (Louvain 1955) 543–580.
[86]
Nicolaus CusanusDe docta ign. Schr. in dtsch. Übers. 1, hg. E. Bohnenstädt (51977) 87f.
Literaturhinweise. – Übersichten: P. Duhem: Le système du monde 1–5 (6) (Paris 1913–1917, ND 1954) Bde. 5. 6. – Fr. Ueberwegs Grundriß Gesch. Philos. 2: Die patrist. und scholast. Philos., hg. B. Geyer (121928, ND 1967). – E. McMullin (Hg.): The concept of M. in Greek and medieval philos. (Notre Dame, Indianapolis 1965). – Zu Einzelfragen: M. de Wulf: La doctrine de la pluralité des formes dans l'anc. école scolast. du 13e siècle. Rev. Hist. Litt. relig. 6 (1901) 427–453. – P. Mandonnet: Les premières disputes sur la distinction réelle entre l'essence et l'existence 1276–1287. Rev. thomiste 18 (St-Maximin-Var 1910) 741–765. – E. Rolfes: Zur Kontroverse über die Körperlehre in der griech. und scholast. Philos. Divus Thomas 4 (Piacenza 1917) 381–435. – J. Assenmacher: Die Gesch. des Individuationsprinzips in der Scholastik (1926). – H. Grzondziel: Die Entwickl. der Unterscheid. zwischen potentia Dei absoluta und der potentia Dei ordinata von Augustin bis Alexander von Hales (Diss. Breslau 1926). – E. Kleineidam: Das Problem der hylemorphen Zusammensetzung der geistigen Substanzen im 13. Jh., beh. bis Thomas v. Aquin (Diss. Breslau 1930). – S. Moser: Grundbegriff der Naturphilos. bei Wilhelm von Ockham (1932). – J. A. Sheridan: Expositio plenior hylemorphismi Fr. Rogeri Baconis (Rom 1938). – P. Stella: L'ilemorfismo di Giovanni Duns Scoto (Turin 1955). – T. Litt: Les corps célestes dans l'univers de Saint Thomas d'Aquin (Louvain/Paris 1963). – I. Klinger: Das Prinzip der Individuation bei Thomas v. Aquin (1964). – W. M. Neidl: Der Realitätsbegriff des Franz Suarez nach den Disputationes metaphysicae (1966).
III. Die Wandlungen des M.-Begriffs in der neuzeitlichen Philosophie unterliegen vor allem folgenden Tendenzen: a) Realisierung: Der auf die Form bezogene und insofern unselbständige Stoff wird zur allgemeinen, selbständigen, Bewegungen und Gestalten produzierenden Substanz, die die gesamte Wirklichkeit ausmacht (Materialismus), b) Strukturierung: Die formlose M. wird mit allgemeinen, von ihr untrennbaren Eigenschaften versehen, wie z.B. Ausdehnung, Trägheit, Schwere und/oder atomistischer Struktur. c) Dynamisierung: Die passive M. wird mit Aktivität, Kraft, Eigenbewegung und der Fähigkeit, Wirkungen hervorzurufen, ausgestattet. d) Phänomenalisierung: Die M. wird nicht als Substanz, sondern als Erscheinung aufgefaßt. e) Dissolution: Die M. verliert sämtliche Eigenschaften und wird auf den unerkennbaren Träger von Attributen beschränkt und schließlich als überflüssig betrachtet oder in ein Nichts aufgelöst. Manche dieser Tendenzen überlagern oder verstärken sich, andere führen in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Auch läßt sich die Geschichte des ontologischen Subsumtionsbegriffs der M. (als Gegensatz zu Bewußtsein, Geist, Seele) nicht immer von der des erkenntnistheoretischen Reflexionsbegriffs ‹M.› (als Gegensatz zu Form) trennen.
1. Während in der aristotelisch-thomistischen Philosophie die erste M. reine Potentialität ist, geben ihr Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und Suárez eine eigene, wenn auch noch durch die Form bestimmungsbedürftige Aktualität. G. Cardano greift diese Akzentverschiebung auf: «Die M. ist im Hinblick auf die Form der Möglichkeit nach (potentia), in sich selbst aber ist sie in Wirklichkeit (actu). ... Die erste M. ist in einer, wenn auch sozusagen verkümmerten Wirklichkeit; verglichen mit den Formen ist sie in Möglichkeit» [1]. Die materia prima verliert also ihren Charakter eines unselbständigen Prinzips von Seiendem, das «beinahe nichts» [2] ist, und nimmt gewisse Züge eines stofflichen Substrats im Sinne der materia secunda an, womit ein wichtiger Schritt auf den M.-Begriff der (atomistischen) Mechanistik des 17. Jh. hin gemacht ist. Mit der Beharrung wird dem ursprünglich Bestimmungslosen eine erste Bestimmung beigelegt. So sagt Cardano von der materia prima vor dem Hintergrundder seit den Eleaten die philosophische Tradition durchziehenden und noch die neuzeitliche Suche nach Erhaltungssätzen treibenden ontologischen Vorrangstellung des Ruhenden gegenüber dem Veränderlichen: «Sie bleibt und daher ist sie, denn was bleibt, ist» [3]. Aus der Neutralität des Bleibens der M. wird bei B. Telesio aufgrundder Stoa-Rezeption ein Trieb, sich selbst zu erhalten [4], womit ein Keim zur Dynamisierung der M. gelegt ist.
G. Bruno führt alle Substanzen auf zwei substantielle Prinzipien zurück: ein formales Prinzip (Weltseele) als Quelle aller Formen und die M., die im Anschluß an Platon als Behälter (der Formen) aufgefaßt wird [5]. Diese eine M., zum Urbild des Universums gesteigert, ist nur mit der Vernunft erkennbar [6] und sowohl Akt als auch Potenz, weil die absolute Möglichkeit mit der Wirklichkeit zusammenfällt [7]. Insofern sie die Formen umfaßt, kann sie als das erste Prinzip des Universums gelten [8]. Die Aufwertung der M. liegt darin, daß die körperliche M. für die Naturerscheinungen die Quelle der Formen und damit der Wirklichkeit ist. Die M. ist ein von der Wirklichkeit ununterscheidbares Vermögen; im Gegensatz dazu wird den aus ihr in beständigem Wechsel hervorgehenden Formen bloße Potentialität zugesprochen [9]. Insofern die M. die Formen in ihrem Schoß enthält, ist sie die Natur [10]. Eingeschränkt auf den dynamischen Bereich greift E. Torricelli die Behältervorstellung auf und nennt die M. ein «Zaubergefäß der Circe», das nur dazu diene, die Kräfte in sich zu fassen [11].
Gassendis Neubelebung der Atomistik und die cartesische Philosophie bilden eine Basis für verschiedene Weiterführungen und Neufassungen des M.-Begriffs. Descartes begreift das Wesen der M. als bloße dreidimensionale Ausdehnung. Dem Körper kommen alle wahrnehmbaren Eigenschaften wie Härte, Gewicht und Farbe nur akzidentell zu [12]. Als passive ausgedehnte Substanz ist die M. beliebig teilbar, erfüllt jeden Raum und ist überall – auch wenn es mehrere Welten gäbe – dieselbe [13]. Diese strenge Homogeneität verläßt Descartes jedoch wieder dadurch, daß er einzelne, aufgrundihrer Abmessungen und Bewegungen unterschiedene Teile der M. zuläßt, um damit die verschiedenen Arten der M. im Sinne der materia secunda zu erklären [14].
Um einen daraus entstehenden Materialismus zu verhindern, hebt H. More die Gleichsetzung von M. und Ausdehnung auf und erklärt die Existenz des körperlosen Raumes zur Voraussetzung der M., die durch Undurchdringlichkeit (Antitypie) gekennzeichnet sei [15]. Sie bestehe in einer homogenen Ansammlung von undurchdringlichen «physischen Monaden», die sich zwar beliebig eng berühren, aber aufgrundihres Wesens getrennt sind. Sie sind ausgedehnt, aber physisch unteilbar. Über ihre Gestalt enthält sich More des Urteils [16]. Diese konstituierenden Teile der Körper besitzen keine eigene Bewegung, so daß eine zweite Schranke gegen den Materialismus errichtet ist, denn zur Erklärung der Bewegung wird ein zusätzliches bewegendes («hylarchisches») Prinzip (oder spiritus naturae) erforderlich [17].
[1]
G. Cardano, Opera (Lugduni 1663, ND 1967) 3, 359 (De subtil. I).
[2]
Thomas von Aquin, S. theol. I, q. 54, a. 3, 2.
[3]
Cardano, a.O. [1].
[4]
B. Telesio: De rerum natura (1588) IX; vgl. K. Lasswitz: Gesch. der Atomistik (1890, ND 1963) 1, 313; H. Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Abh. Akad. Wiss. Lit. zu Mainz, geistes- und sozialwiss. Kl. (1969) Nr. 11, 335–383.
[5]
G. Bruno, Dialoghi ital. hg. G. Aquilecchia (Florenz 31957) 272f. (De la causa III); vgl. Platon, Timaios 51.
[6]
Bruno, a.O. [5] 266.
[7]
a.O. 279ff.
[8]
286f.
[9]
314.
[10]
311f.
[11]
E. Torricelli: Lezioni Accad. (Florenz 1715) 25.
[12]
Descartes, Princ. philos. II, 1. 4.
[13]
a.O. II, 16. 20. 22f. 46.
[14]
II, 52; vgl. Leibniz' Kritik, in: Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt 4, 399. 513f.
[15]
H. More, Opera (London 1679, ND 1966) II/1, 159ff. 318 (Enchir. met.).
[16]
a.O. 173f.
[17]
177.
2. Leibniz, dessen Philosophie vom Streben nach Stetigkeit und Harmonie geprägt ist, versucht, in seinem Kraftbegriff Aktivität und Passivität unlösbar zu verschweißen [1]. Substanz besteht in einer ursprünglichen Kraft, die sich nur durch metaphysische Reflexion in eine aktive und eine passive trennen läßt. Die ursprüngliche passive Kraft ist das Prinzip der Undurchdringlichkeit und der Trägheit. Leibniz nennt sie auch materia prima, weil er sie für die adäquate Interpretation des aristotelischen Ausdrucks hält [2]. Der Körper wird als ein Aggregat von unendlich vielen Monaden angesehen, wobei das damit gesetzte kontinuierliche gleichzeitige Aggregat der passiven Kräfte das Fundament der Ausdehnung und Masse des Körpers ist [3]. Dieser ist eine in den ausdehnungslosen Monaden wohlbegründete Erscheinung (phaenomenon bene fundatum) oder Quasisubstanz [4]. Ebenso wie Telesio und Descartes, aber im Gegensatz zu Hobbes und Spinoza hält Leibniz die M. für von Gott erschaffen [5].
Chr. Wolff, der sich eng an Leibniz anschließt, lehnt es jedoch ab, den Begriff der M. auch auf einfache Substanzen anzuwenden, was Leibniz mit dem Begriff der materia prima getan hatte. Wolff beschränkt den Begriff der M. bewußt auf den Bereich der physischen Dinge [6]. Den Körper faßt auch er als ein Aggregat einfacher, unausgedehnter, immaterieller Substanzen, «einfacher Dinge» auf, die er jedoch nicht «Monaden», sondern «Elemente» oder «atomi naturae» nennt [7]. Der Grund der determinierten Beweglichkeit der Körper ist die Trägheitskraft, die aber nicht allein durch die Ausdehnung des Körpers bestimmt ist, sondern ihr supponiert wird [8]. Als M. wird definiert, was durch seine Widerstandskraft dem Körper Ausdehnung verleiht [9]. Ausdehnung und Trägheit sind die beiden einzigen mit den Sinnen deutlich erkennbaren Merkmale der M., kommen aber letztlich von den Elementen her. Wolff leugnet nicht, daß die M. noch mehr enthalten könne, aber wir müssen es aus Unkenntnis «ausgestellt sein lassen» [10]. Das, was durch die Art der Zusammensetzung der Teile das Wesen eines bestimmten Körpers annimmt, ist die M. desselben [11]. Sie ist durch Veränderung der Gestalt modifizierbar und dabei gleichsam dauerhaft (tanquam perdurabilis), deswegen ist sie gleichsam (instar) als Substanz aufzufassen [12]. Andererseits besitzt sie als nicht in allen Elementen deutlich perzipierte Phänomencharakter und ist ein «phaenomenon substantiatum» [13]. Ebenso wie bei Leibniz [14] bleibt die Naturwissenschaft, abgesehen von den allgemeinen Bewegungsgesetzen [15], bei der Untersuchung von «kleinen Körperlein» stehen [16], die aber, wie Wolff betont, nicht mit den einfachen Dingen oder Elementen verwechselt werden dürfen, denn dies bedeute eine unzulässige Vermengung von Metaphysik und Naturwissenschaft. Wolff hält Leibniz entgegen, daß dieser die «derivative» Kraft der Trägheit des Körpers nicht durch eine Herleitung aus den Monaden bestimmen kann. Alles, was in der M. liege, müsse zwar aus den Elementen als ihrem Ursprung erklärt werden können, «allein dieses kann nicht eher von uns geschehen, bis wir die innere Kraft der einfachen Dinge determiniert, damit wir sie nach ihrer besondern Art kennen lernen» [17]. Aus diesem Grunde ist Wolff in den Aussagen über die Elemente zurückhaltender als Leibniz und vermeidet den Ausdruck ‹Monaden› [18], wogegen A. G. Baumgarten ihn für die Bezeichnung der einfachen Substanzen oder «absoluten Elemente» übernimmt [19]. Baumgarten nennt sie zwar die «konstituierenden» und absolut ersten Teile der Körper, doch sind diese dem Phänomen «Körper» zugrunde liegenden ‘Teileʼ ebensowenig wie bei Leibniz oder Wolff ausgedehnt oder körperlich [20].
[1]
Leibniz, Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt (= LPG) 6, 615 (Monadol. § 52).
[2]
Math. Schr., hg. C. I. Gerhardt (= LMG) 3, 541 (an Joh. Bernoulli); 6, 236f. (Spec. dyn.); 6, 98ff. = LPG 4, 393ff. (gegen Descartes).
[3]
LPG 4, 510ff. (De ipsa natura); 6, 607 (Monadol. § 2).
[4]
LPG 2, 257 (an De Volder); 2, 305f. (an Des Bosses).
[5]
LPG 2, 170 (an De Volder); 6, 313. 341 (Theod. §§ 335. 380).
[6]
Chr. Wolff: Philos. prima sive Ontologia (= Ontol.) (1730, 21736, ND 1962) § 948.
[7]
Vernünfftige Gedancken von Gott ... (= Vern. Ged.) (1720, zit. 1751) §§ 75. 81; Cosmologia (= Cosmol.) (1731) §§ 184. 186; vgl. Leibniz, LPG 6, 607 (Monadol. §§ 2. 3).
[8]
Wolff, Cosmol. § 131; Ontol. § 113.
[9]
Vern. Ged. § 607; Cosmol. § 141.
[10]
Anm. über die Vern. Ged. (= Anm.) (1724) § 221.
[11]
Ontol. §§ 948. 533. 112.
[12]
Cosmol. § 146. 168; Ontol. § 766.
[13]
Cosmol. §§ 225f. 298.
[14]
Leibniz, LMG 6, 242.
[15]
Wolff, Anm. § 229.
[16]
Vern. Ged. § 612f. 694; Anm. §§ 229. 241. 248.
[17]
Vern. Ged. § 697; Anm. §§ 221. 251.
[18]
a.O. § 215; Vern. Ged. §§ 598f.
[19]
A. G. Baumgarten: Met. (1739, 41757) §§ 230ff. 423.
[20]
a.O. § 422; vgl. J. Hessen: Das Substanzproblem in der Philos. der NZ (1932) 100.
3. Für Locke ist der Körper eine «dichte, ausgedehnte und gestaltete Substanz» [1]. Die «unklare Teilvorstellung» einer dichten Substanz ohne Ausdehnung und Gestalt macht den Begriff der M. aus, der durch Abstraktion gewonnen ist. Sie wird als überall gleich und einförmig angenommen, weil die Unterschiede der Körper nur auf Unterschieden ihrer Gestalt und Ausdehnung beruhen. Die M. kann nicht selbständig bestehen und wird als völlig passiv und tot vorgestellt, sie ist unfähig, aus sich heraus Bewegung oder Denken hervorzubringen [2].
Berkeley reduziert alles nicht geistige Sein auf wahrgenommene Vorstellungen (ideas) und schließt damit die M. als Träger der (sekundären, aber auch der primären) Qualitäten und als Ursache der Wahrnehmungen aus [3]. Da Gott selbst unsere Vorstellungen hervorbringt, kann die Ursache ihrer Entstehung nicht die M. sein [4]. Nicht einmal als Instrument oder Anlaß (occasion) für Gott, bestimmte Perzeptionen in unserem Geist zu produzieren, ist sie erforderlich [5]. Nur sofern man damit nichts anderes meint als die wahrnehmbaren Gegenstände, läßt Berkeley den Gebrauch des Ausdrucks ‹M.› zu [6].
Der in den mechanistischen und atomistischen Anschauungen des 17. Jh. wurzelnde französische Materialismus des 18. Jh. faßt M. als die Gesamtheit der Wirklichkeit auf. Nach Holbach ist für uns die wahre Natur der M. zwar unerkennbar, doch da M. alles ist, was auf unsere Sinne wirkt, können wir aus der Art, wie sie auf uns wirkt, wenigstens gewisse ihrer allgemeinen Eigenschaften erkennen. Sie sei sowohl räumlich als auch zeitlich grenzenlos, ausgedehnt und teilbar, außerdem sei sie undurchdringlich, gestaltbar und enthalte den Ursprung ihrer Bewegung, die allerdings den Naturgesetzen unterliege, in sich selbst. Alle ihre Modifikationen, wozu auch das Denken gehört, gehen aus der Bewegung der M. hervor [7].
[1]
J. Locke, Essay conc. human understanding III, ch. 10, § 15.
[2]
a.O. IV, ch. 10, § 10.
[3]
G. Berkeley, Treatise conc. the princ. of human knowledge §§ 9ff. 16f. 47. 67. 73.
[4]
a.O. § 72.
[5]
§ 75; Dialogues between Hylas and Philonous II. Works, hg. A. A. Luce/T. E. Jessop 2, 216ff.
[6]
a.O. III = 2, 261.
[7]
P. H. Th. d'Holbach: Système de la nature (London 1770) 1, 32f.; 2, 106f.; 131. 135ff.; vgl. Voltaire, Oeuvres (1787) 44, 177 (Micromégas VII).
A. A. Luce: Berkeley's immaterialism (London u.a. 21950). – C. D. Broad: Berkeley's denial of material substance. Philos. Rev. 63 (1954). – C. J. Sullivan: Berkeley's attack on matter, in: George Berkeley – Lectures delivered before the Philos. Union Univ. of Calif. (Berkeley/Los Angeles 1957) 20–36. – H. M. Bracken: The early reception of Berkeley's immaterialism 1710–1733 (Den Haag 1959).
4. Bei Chr. Wolff und Baumgarten wurde der M.-Begriff zwar auf den Bereich der Erscheinungen eingeschränkt, aber als ihre rationalen Gründe werden immer noch einfache Substanzen gefordert. Kant reduziert diesen Grund der Erscheinungen auf das uns völlig unerkennbare transzendentale Objekt (Ding an sich), auf das die Kategorie der Substanz nicht mehr anwendbar ist. So wird die M. zur «Substanz in der Erscheinung», aber sie ist nicht mehr Erscheinung der Substanz [1]. Als Erscheinung ist sie in uns und von der Existenz des erkennenden Subjekts abhängig, aber trotzdem außer uns vorgestellt [2], «eine bloße Form oder eine gewisse Vorstellungsart eines unbekannten Gegenstandes durch diejenige Anschauung, welche man den äußeren Sinn nennt» [3]. Die M. ist das, was den Raum erfüllt, Ausdehnung und Undurchdringlichkeit machen ihren Begriff aus [4]. Selbst der Begriff der «Beharrlichkeit» oder der Unveränderlichkeit der Quantität wird ihr synthetisch, allerdings a priori, zugesprochen [5], denn die Anwendung der Kategorie der Substanz auf die Erscheinung ist nur mit Hilfe des zugehörigen Schemas, nämlich der Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, möglich. Die M. ist das oberste empirische Prinzip der Einheit der Erscheinungen und als solches empirisch von keiner Bedingung abhängig, doch nicht im Sinne eines konstitutiven, sondern eines regulativen Prinzips, denn jede reale Bestimmung der M. (z.B. Undurchdringlichkeit) kann als eine von etwas anderem ableitbare Wirkung aufgefaßt werden, weswegen der M. keine absolute Notwendigkeit zukommt [6]. Obwohl der M.-Begriff a priori entspringt, ist ihre Realität ein empirisches Faktum [7]. Hatte H. More den Raum aus theologischem Motiv zur (körperlosen) Voraussetzung der M. erklärt, so geht für Kant – und damit in der Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der neueren Ontologie – der Raum aus erkenntnistheoretischen Gründen der M. voraus [8]. Die nähere Bestimmung dessen, was als Beharrliches den Raum erfüllt, gehört, soweit sie a priori möglich ist, zu den ‹Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft›. M. ist «Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne» ist, da aber unsere Sinne nur durch Bewegung affiziert werden können, ist Bewegung die Grundbestimmung der M. [9]. Die vier Kategorienklassen ergeben vier primäre apriorische Bestimmungen: M. ist das Bewegliche im Raum (Quantität), das den Raum erfüllt (Qualität), eine bewegende Kraft besitzt (Relation) und ein Gegenstand der Erfahrung ist (Modalität). Zur Raumerfüllung sind zwei Grundkräfte erforderlich: die repulsive oder expansive ist Grund der Ausdehnung und Undurchdringlichkeit, die Anziehungskraft Grund der Begrenztheit und Quantität der M. – Im ‹Opus postumum› versuchte Kant, die Schwierigkeiten dieser M.-Theorie (z.B. Probleme der Kohäsion und der Dichteunterschiede) durch einen Neuansatz zu überwinden [10], der aber ohne Wirkung bleiben mußte.
Schelling übernimmt zunächst von Kant die Gegenüberstellung von Repulsiv- und Attraktivkraft als Prinzipien der Realität bzw. bestimmten Form der M. [11]; später löst er aus den absolut entgegengesetzten eine dritte «synthetische» Kraft (Schwerkraft) heraus, die erst die «Konstruktion der M.» vollende [12]. M. versteht Schelling unter Hinweis auf Leibniz («Schlafzustand der Monaden») und Hemsterhuys («geronnener Geist») als «den Geist im Gleichgewicht seiner Tätigkeiten angeschaut». Jeder reelle Gegensatz zwischen Geist und M. soll dadurch überwunden sein, daß die M. «selbst nur der erloschene Geist, oder umgekehrt jener die M., nur im Werden erblickt, ist» [13]. War Berkeleys Idealismus an der M. als passivem, formlosem Substrat orientiert und auf ihre Dissolution gerichtet, verschafft Schelling ihr durch ihre Konstruktion aus bestimmten Geistestätigkeiten eine gewisse Dignität. Die Aufwertung betrifft aber nur die materia prima als das «erste Etwas-sein», das Schelling scholastisch als «Anfang und erste Potenz, als das Nächste am Nichts» bezeichnet, während er die «geformte und mannigfach gebildete M.», zu der auch die körperliche M. gehört, als ein Abbrechen oder Abfallen von der Absolutheit und Realität in den Bereich der Schattenbilder und Nichtwesen deutet [14].
Hegel entwickelt die M. dialektisch aus dem abstrakten Außereinander in der Position (Raum) und in der Negation (Zeit). «Das erste Konkrete, die Einheit und Negation dieser abstrakten Momente, ist die M.» [15]. Sie markiert somit den «Übergang der Idealität in die Realität» [16]. «Die Bewegung ist der Prozeß, das Übergehen von Zeit in Raum und umgekehrt: die M. dagegen die Beziehung von Raum und Zeit, als ruhende Identität» [17]. Den Ansatz einer formlosen, ewigen und unveränderlichen M., die nachträglich mit den Formen von Raum, Zeit und Bewegung versehen wird, lehnt Hegel ausdrücklich als ein «unwahres Abstraktum» ab, denn der Begriff des Raumes verschaffe sich gerade Existenz in der M. Diese setzt also den Raum und die Zeit in ihrer Abstraktion schon voraus. Die M. ist «die erste Realität, das daseiende Fürsichsein; sie ist nicht nur abstraktes Sein, sondern positives Bestehen des Raums, aber als ausschließend anderen Raum». In dieser ausschließenden Beziehung auf sich ist sie «die erste reale Grenze im Raum». «Wie es keine Bewegung ohne M. gibt, so auch keine M. ohne Bewegung» [18]. In fortgesetzten dialektischen Schritten wird der M.-Begriff entfaltet (Repulsion – Attraktion – Schwere; schwere M. – «elementarische» M. – individualisierte M.), wobei Repulsion und Attraktion nicht als selbständige Kräfte, sondern nur als Begriffsmomente der ihrem Wesen nach schweren M. angesehen werden. In der Schwere sieht Hegel die Substantialität der M. und zugleich «das Bekenntnis der Nichtigkeit des Außersichseins der M. in ihrem Fürsichsein, ihrer Unselbständigkeit» [19].
[1]
I. Kant, KrV A 277/B 333. A 379.
[2]
a.O. A 385.
[3]
ebda.
[4]
A 618/B 646.
[5]
B 18.
[6]
a.O. [4].
[7]
Vgl. P. Plaass: Kants Theorie der Naturwiss. (1965) 86ff.
[8]
Kant, KrV A 266f./B 322f.; vgl. J. G. Fichte, Werke, hg. I. H. Fichte 2, 99. 101.
[9]
Kant, Akad.-A. 4, 476.
[10]
Vgl. B. Tuschling: Met. und transzendentale Dynamik in Kants opus postumum (1971).
[11]
F. W. J. Schelling, Werke, hg. K. F. A. Schelling (1856ff.) 2, 231–236 (Ideen zu einer Philos. der Natur).
[12]
a.O. 3, 444 (Syst. des transz. Ideal).
[13]
453.
[14]
6, 38. 46 (Philos. und Relig.); 10, 104 (Zur Gesch. der neueren Philos.).
[15]
G. W. F. Hegel, Werke, hg. H. Glockner 9, 70 (Syst. der Philos.).
[16]
a.O. 89.
[17]
93.
[18]
ebda.
[19]
95f.
Literaturhinweise bei P. Plaass s. Anm. [7].
5. In dem von Fr. Engels als Grundfrage der Philosophie bezeichneten Verhältnis von Sein und Denken gilt der Begriff der M. im dialektischen Materialismus als irreduzibel und markiert sowohl die Grenze gegenüber dem Idealismus als auch gegenüber dem mechanistischen Materialismus. M. ist nach Engels kein Urstoff oder Urgrundvon Seiendem, keine einheitliche selbständige Substanz, sondern als Allgemeines «eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion», die aus den konkreten, quantitativ und qualitativ bestimmten Dingen gewonnen wird [1]; sie ist die «letzte Abstraktion» [2]. «Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff M. zusammenfassen. M. als solche, im Unterschied von den bestimmten, existierenden M.n, ist also nichts Sinnlich-Existierendes» [3].
M. bedeutet weder einen bloß passiv beweglichen Stoff, noch ein Erzeugnis des Geistes, noch ist sie in irgendeiner Weise vom denkenden oder erkennenden Subjekt abhängig. Sie ist «eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert» [4]. «... die einzige ‘Eigenschaftʼ der M., an deren Anerkennung der philosophische [= dialektische] Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren» [5], d.h. von Bewußtsein überhaupt. Mit dieser erkenntnistheoretischen Definition entzieht sich Lenin allen Angriffen, die aus einem Wandel der naturwissenschaftlichen Auffassung über die Struktur der M. herrühren könnten. Die Funktion der M.-Definition besteht nach Lenin nur darin, die objektive Realität als das Primäre gegenüber dem Denken auszuzeichnen, denn es handelt sich um die «beiden letzten erkenntnistheoretischen Begriffe» [6]. Der Gegensatz soll nur «die Richtung der erkenntnistheoretischen Forschung» bestimmen und darf, um dem ontologischen Geist-M.-Dualismus zu entgehen, jenseits dieser Richtungsbestimmung nicht absolut genommen werden [7]. Gegen den Idealismus und gegen den mechanistischen Materialismus wird hervorgehoben, daß M. und Geist nicht vermengt werden dürfen und «sowohl das Denken als auch die M. ‘wirklichʼ sind, d.h. existieren» [8].
Die neuere Diskussion über den Leninschen M.-Begriff hat sich vor allem an der Frage entzündet, ob auch die bewußtseinsunabhängigen Formen oder Daseinsweisen der M. (Raum, Zeit, Bewegungsgesetzmäßigkeiten, Energie usw.) unter den Begriff der M. fallen. Einige Autoren sehen die Bewußtseinsunabhängigkeit als hinreichendes Kriterium an, um die Frage zu bejahen [9], andere versuchen, die durch ihre Selbständigkeit gekennzeichnete M. von ihren bloß «materiellen» Eigenschaften terminologisch zu unterscheiden: «M. ist das, was objektiv real existiert als Subjekt, das zwar Eigenschaften besitzt, aber selbst nicht Eigenschaft, Attribut von irgend etwas anderem ist» [10]. Die Kontroverse beruht darauf, daß nach Lenin die Unterscheidung der M. von ihren Daseinsweisen nur gnoseologisch, begrifflich zulässig ist, jedoch keiner realen Differenz entspricht. Die Wirklichkeit kennt nur bestimmte M., aber keine Trennung in einen stofflichen oder substantiellen Träger und seine Eigenschaften. «Worte wie M. und Bewegung sind nichts als Abkürzungen. ... Die M. und Bewegung kann also gar nicht anders erkannt werden als durch Untersuchung der einzelnen Stoffe und Bewegungsformen, und indem wir diese erkennen, erkennen wir pro tanto auch die M. und Bewegung als solche» [11]. Ebenso wie bei Hegel sind M. und Bewegung untrennbar miteinander verbunden [12].
[1]
MEW 20, 519. 503 (Engels: Notizen zum Anti-Dühring).
[2]
Vgl. R. Rochhausen: Gegen eine Erweiterung oder Einengung des Leninschen M.-Begriffs. Dtsch. Z. Philos. 7 (1959) 290.
[3]
Engels, MEW 20, 519.
[4]
W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus (71964) 124.
[5]
a.O. 260. 267.
[6]
141f.
[7]
142f. 243f.
[8]
242.
[9]
Vgl. G. Höpfner: Über den M.-Begriff des dial. Materialismus. Dtsch. Z. Philos. 6 (1958) 453f.
[10]
K. Zweiling: Der Leninsche M.-Begriff und seine Bestätigung durch die moderne Atomphysik (1956) 15f.; V. Stern: Es gibt keine nichtstoffliche M. Dtsch. Z. Philos. 4 (1956) 283.
[11]
Engels, MEW 20, 503.
[12]
a.O. 55.
G. Klaus: Jesuiten – Gott – M. (1957, 21958). – A. Polikarow: Über die Kategorie M. Dtsch. Z. Philos. 4 (1956) H. 5/6, 539–549. – K. Zweiling: Die Strahlung – eine spezifische Form der M. a.O. 550–562. – M. W. Mostepanenko: Die Arten der M. im Lichte des dial. Materialismus a.O. 563–583. – G. Redlow: Lenin über den marxist. philos. Begriff der M. Dtsch. Z. Philos. 7 (1959) 199–217. – H. Vogel: Über die M. und ihre Eigenschaften. Dtsch. Z. Philos. 8 (1960) 144–160.
6. Mit dem Ziel, «empirische Begriffe an die Stelle der metaphysischen» zu setzen, behauptet E. Mach die wissenschaftliche Entbehrlichkeit des üblichen Begriffs der M., denn Beständigkeit liege ausschließlich im gesetzmäßigen Zusammenhang der «Elemente (Empfindungen)»[1]. In der Naturphilosophie der zweiten Hälfte des 19. Jh. wächst unter Machs Einfluß die Überzeugung, daß der M.-Begriff ein bloß hypothetischer Hilfsbegriff der Naturwissenschaft oder bedeutungslos und daher aus der Wissenschaft zu eliminieren sei [2]. In Anknüpfung an Berkeley behauptet H. Vaihinger die objektive Unmöglichkeit der M., weil in ihrem Begriff sich widersprechende Elemente vereinigt seien, doch im Gegensatz zu Berkeley vertritt er die Auffassung, daß es sich bei diesem Begriff um eine für das wissenschaftliche Denken und die praktische Orientierung in der Welt nützliche, ja notwendige Fiktion handle [3], die provisorisch zweckmäßig und methodologisch erlaubt sei [4].
[1]
E. Mach: Die Analyse der Empfindungen (1885, zit. 81919) 270f.; Erkenntnis und Irrtum (1905, zit. 21906) 148.
[2]
W. K. Clifford: Der Sinn der exakten Wiss., hg. H. Kleinpeter (1913) III; F. Mauthner: Beitr. zu einer Kritik der Sprache (31923) 3, 554–560.
[3]
H. Vaihinger: Die Philos. des: Als Ob (1911, zit. 41920) 91ff.
[4]
a.O. 381f.
7. Die Auslegung des M.-Begriffs durch den deutschen Idealismus wird nicht nur im dialektischen Materialismus, sondern auch in der antimaterialistischen Ganzheitsphilosophie und Ontologie des 20. Jh. wieder aufgenommen. O. Spann stellt seine an den Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften orientierte Ganzheitsphilosophie im Rahmen der Kategorienlehre jenen Richtungen entgegen, die final, kausal oder dialektisch ausgerichtet sind. Alle Ganzheiten sind nach dem Schema der Beziehung von Unabhängigem («Mitte») und Abhängigem («Umkreis»), das selbst wiederum Mitte niederer Ganzheiten ist, in einen Gesamtbau eingeordnet. Da nichts nur Umkreis ist, gibt es keine letzte Ganzheit, keine M. als absolut Unableitbares. «Der liebe Gott hat niemanden zum Fußschemel der Welt gemacht» [1]. Ebensowenig wie bei Leibniz gibt es absolute Passivität. M. (Stoff) geht durch Verräumlichung aus einem Vorstofflichen, das zugleich vorräumlich ist, hervor. M. ist relativ; nur in bezug auf eine Mitte darf dieser Begriff auf das «jeweils verhältnismäßig Passive» angewandt werden. «Die M. ist selbst Glied jener Ganzheit, der sie angehört, sie ist Gestaltung, Selbstdarstellung., Auswirkung, Gestaltannahme eines Ganzheitlichen, das sich auswirkt und darstellt – Glied, nicht Unterlage (ὑποκείμενον, Substrat)» [2].
Bei dem Versuch, die Naturwissenschaften auf ihre ontologische Basis zu stellen, geht G. Jacoby vom Begriff der Substanz als einem ontologisch selbständigen Träger von Eigenschaften, Zuständen und Beziehungen aus und findet als Substanz der transzendenten Außenwelt die leere Raumzeit, weil diese zwar ohne M., aber M. nicht: ohne Raumzeit denkbar sei. Wäre die M. Substanz, so wäre die Welt in materiell erfüllten Bereichen doppelt; und nicht eindeutig [3]. Daher wird die M. «ein Inbegriff ontologisch unselbständiger Eigenschaften ihres Raumzeitbezirkes, die diesem als außerweltlicher Zustand inhärieren, ihn als ihre Vorbedingung voraussetzen, sich ... über seine Substantialität ... staffeln.» Oder fast tautologisch: «M. ist Raumzeit in materiellem Zustande» [4].
Wolfgang Breidert
[1]
O. Spann, Gesamt-A. (1969) 9, 330f. (Kategorienlehre); vgl. I. Kant, KrV A 618/B 646.
[2]
Spann, a.O. 333; 15, 44ff. 78ff. (Naturphilos.).
[3]
G. Jacoby: Allg. Ontol. der Wirklichkeit 2 (1955) 707.
[4]
a.O. 708.
F. A. Lange: Gesch. des Materialismus (1866 u.ö.). – F. Lieben: Vorstellungen vom Aufbau der M. im Wandel der Zeiten (1953). – U. Schöndorfer: Philos. der M. (1954). – E. Bloch: Das Materialismusproblem, seine Gesch. und Substanz. Gesamt-A. 7 (1972).
IV. Eine andere Traditionslinie der neuzeitlichen Philosophie, die u.a. im Neuplatonismus und in kabbalistischen Lehren wichtige Wurzeln hat, erörtert, indem sie philosophische mit theologischen Spekulationen über die Natur der Dinge verknüpft, das Problem der M. zumeist im Rahmen der Schöpfungslehre. M. ist danach weder bloß passiv noch bloße Möglichkeit, sondern dasjenige, was die Fülle der Gestalten ‘gebiertʼ. Sie ist wesentlich Trieb zur Form.
1. In diesem Sinn deutet zu Beginn der Neuzeit z.B. Th. B. von Hohenheim, gen. Paracelsus, die Schöpfung der Welt. Die «prima materia mundi» [1] ist «ungeschaffen», denn nur Geformtes kann geschaffen sein, aber sie ist «von dem höchsten künstler zubereitet» für die Schöpfung [2]. Während also «alle geschöpf aus einer materien komen», «so seind doch nicht alle gewechs in ir geformirt gewesen» [3]. Vielmehr ist die erste M. ein noch völlig unbestimmter «einiger chaos» [4], aus dem alles Bestimmte wird. Sie ist selbst nichts, «dieweil alle ding aus nichts gemacht seind, alein der mensch nit» [5]. Diese «M. aller ding» wird deshalb auch «mysterium magnum» genannt – ohne Begriff, ohne Bild, ohne Eigenschaft, ohne Natur: «nicht ein begreiflikeit auf keinerlei wesen gesteh, noch in kein biltnus geformirt. auch mit keiner eigenschaft inclinirt, der gleichen on farben und elementische natur». Aber alle Geschöpfe sind aus ihr geboren: «dis mysterium magnum ist ein muter gewesen aller elementen und gleich in solchen auch ein großmuter aller stern, beumen und der creaturen des fleischs. dan aus dem, wie von einer muter kinder geboren werden, also auch vom mysterio magno geboren seind alle geschöpf von entpfintlichen und unentpfintlichen und aller andern gleichförmig. und ist mysterium magnum ein einige muter aller tötlichen ding» [6].
Paracelsus denkt diese Ur-M. formlos in Analogie zu der Art, wie er sich den Samen des Baumes bezüglich seiner späteren Gestalt formlos denkt. So ist nach umgekehrter Analogie auch der Samen «prima materia», eben des Baumes: «Ein ietlich ding das da wechst, das ist on form in seiner ersten materia und ist als vil als nichts» [7]. Der Samen, der als solcher doch immerhin «etwas» ist, «zerbricht» in der Erde durch «faulung». «So er aber faulet, so ist er nichts mer. nun aber aus dem das da faulet, folgt hernach, das dise faulung ist prima materia, die get iezt in das gewechs» [8].
Trotz dieses Befundes, der den Begriff der M. als Trieb zur Form belegt, ist festzuhalten, daß er kein zentraler Terminus für Paracelsus geworden ist. «Materia» bedeutet für ihn ganz allgemein «ein stuck, das man in die Hand nimpt» [9]. Anstelle von ‹prima materia› verwendet er häufig den Terminus ‹yliaster› (oder ‹iliaster›) und definiert: «Iliaster ist die erst materi vor aller schöpfung» [10]. Im Unterschied zu ‘vulcanusʼ und ‘archeusʼ wird diese Ur-M. näher als eine Formen hervortreibende Kraft bestimmt: «solche merende, zunemende und wachsende art ist ... der yliaster, und ist auch kein geschaffener geist, noch person, noch sêl, sonder ein kraft, das ist ein virtus die also wirket» [11]. Er ist «ein sam, aus dem ein stamm wachst», und «der stamm der aus dem yliastro geboren ist, das seind die vier elementen» [12]. Auch in seinen für die Naturlehre und Medizin grundlegenden Schriften spricht Paracelsus gewöhnlich nicht von der M., sondern von den Substanzen, die ein Corpus bilden: «Drei sind der Substanz die do einem ietlichen sein corpus geben ...: sulphur, mercurius, sal. dise drei werden zusamen gesezt, als dan heißts ein corpus, und inen wird nichts hinzu getan als alein das leben» [13]. Dieses die Substanzen verbindende und eine Zeitlang in Harmonie erhaltende Leben bildet «ein mittel corpus, das ist das lebendige corpus». Ihm gegenüber ist der ihrer Verbindung vorhergehende und der ihrer Auflösung folgende Zustand der Substanzen die M. des Körpers, «dan vor disem leben ist prima materia, nach disem leben ist ultima materia» [14]. Mit dieser letzten Unterscheidung deutet der Chemiker und Arzt die Unumkehrbarkeit aller Lebensprozesse an, ohne zu übersehen, daß die ultima materia eines Prozesses wieder als prima materia eines anderen Prozesses dienen kann. Was im kleinen gilt, ist auch im großen wahr: Der Prozeß der Schöpfung der Welt aus dem Chaos ist unumkehrbar; der prima materia mundi wird «keine niemermer gleich und komt auch niemer wider» [15].
Tilman Borsche
[1]
Paracelsus, Neun Bücher de natura rerum. Sämtl. Werke 1. Abt. (= SW), hg. K. Sudhoff, z.B. 11, 360.
[2]
Philos. ad Athenienses SW 13, 390.
[3]
ebda.
[4]
a.O. [1].
[5]
Astronomia magna. SW 12, 37.
[6]
a.O. [2].
[7]
Labyrinthus medicorum errantium. SW 11, 208.
[8]
ebda.
[9]
SW 9, 658.
[10]
ebda.
[11]
De meteoris. SW 13, 158.
[12]
Philos. de generationibus et fructibus quatuor elementorum. SW 13, 9.
[13]
Opus paramirum. SW 9, 45; vgl. z.B. 13, 12f.
[14]
9, 53; vgl. 13, 27: «vom ersten yliastro bis in extremum yliastrum».
[15]
a.O. [2].
2.J. Böhmes Lehre von der Entstehung der Natur und der M. bekommt ihre Eigenart dadurch, daß Böhme Uneinigkeit und Kampf als bewegendes Prinzip alles irdischen Seins anerkennt und dieses dennoch als Offenbarung Gottes verstehen will, der als Einheit und Ruhe zu denken ist [1]. «Ein ieglicher Cörper [ist] mit ihme selbst uneins; wie zu sehen, daß solches nicht allein in lebendigen Creaturen ist, sondern auch in Sternen, Elementen, Erden, Steinen, Metallen, in Holtz, Laub und Gras: in allen ist Gift und Bosheit; Und befindet sich, daß es also seyn muß, sonst wäre kein Leben und Beweglichkeit ..., sondern es wäre alles ein Nichts» [2]. Der Prozeß der Schöpfung entspricht einem Prozeß vor der Schöpfung. Natur und M. als Schöpfung ist Offenbarung der vorgeschöpflichen Selbstwerdung Gottes. Die Schöpfung «ist mit allen Umständen gleich dem ewigen Wesen. Aber es anfanget sich, und gehet von dem Ewigen aus, es ist eine Offenbarung des Ewigen, eine Erweckung, Bildniß und Gleichniß des Ewigen» [3]. Indem Gott die irdische Welt schafft, schafft er aus Nichts in dem Sinne, daß keine irdische M. vorgegeben ist, aber insofern nicht aus Nichts, als die Schöpfung in der Selbstoffenbarung Gottes vorgestaltet ist. «Die Vernunft saget: Gott habe diese Welt aus Nichts gemacht; Antwort: Es war wohl kein Wesen oder Materia dazu, das äusserlich greiflich wäre; aber es war eine solche Gestaltniß in der ewigen Kraft im Willen» [4].
Der Beginn des innergöttlichen Werdeprozesses ist ein Grund, der noch «Ungrund» ist. Der «Ungrund» ist gekennzeichnet durch Orts- und Zeitlosigkeit [5]. «Der Ungrundist ein ewig Nichts» [6], «ohne Anfang und Ende» [7]. Obwohl der Ungrundohne Willen zu etwas ist [8], muß doch ein Wille gedacht werden, damit der Beginn eines Prozesses zu denken ist, der über den Ungrundhinaus zu einem Grund alles weiteren führt. Dieser Wille ist ebenso Nicht-Wille wie der Ungrundschon Grund ist. Er hat «nichts, das er wollen kann, als nur sich selber zu einem Grund und Stätte seiner Ichheit» [9]. So ergibt sich ein «Zwey und doch nur Eines ..., daraus die Zeit und sichtbare Welt samt allen Creaturen geflossen» [10]. Es ist der «Wille des Ungrundes zum Grunde» [11]. «Das Nichts hungert nach dem Etwas» [12].
Hieran schließt sich als erste Phase des eigentlichen Werdeprozesses, als ‘erstes Prinzipʼ, die Phase der ‘ewigen Naturʼ, das ‘finstere Prinzipʼ an. Die Selbstfassung des Willens als «Coagulation oder Impression oder Begierde oder Hunger» [13] führt zu einer «Beschattung oder Finsterniß» [14], die aus der «dünnen Freyheit, da Nichts ist», entstand, weil der «begehrende Wille ... von Einziehen dicke und voll» wird [15]. Die Phase ist gekennzeichnet durch drei Qualitäten, Urelemente, aus denen alle Dinge geworden sind: Sal, Mercurius, Sulphur. Sie machen die prima materia aus [16]. Sal als das Herbe, Zusammenziehende ruft die Reaktion von Mercurius, den Stachel, hervor. Daraus ergibt sich Sulphur, als «Angst-Gestalt»; Sulphur ist «sterbende Qual, und ist doch der wahre Urstand zum Leben» [17]. Der Wille will von der «grossen Angst frey seyn, und mag doch nicht: Er will fliehen und wird doch von der Herbichkeit gehalten; und je grösser der Wille zum Fliehen wird, je grösser wird der bittere Stachel der Essentien und Vielheit» [18]. Daraus entsteht ein «drehend Rad» der Angst und des Kampfes [19], aus dem sich der «grosse Schrack», ein «Blitz» [20] entzündet. Es bildet sich die vierte Qualität, die des ‘Feuersʼ [21]. Darin ist die M. prima überwunden, «wie erstorben und ohnmächtig» [22]. Es ist ein Eingehen in die «Gelassenheit» [23], «Sanftmuth» [24].
Daraus ergibt sich das ‘zweite Prinzipʼ, die Natur im «Licht-Leben» [25], das sich wiederum in drei «Gestalten», Qualitäten gliedert. Die fünfte Gestalt der Natur ist die «Liebe», in der die Herbigkeit der ersten und die Bitterkeit der zweiten Qualität versöhnt gedacht werden [26]. Die sechste Gestalt der Natur ist der «Schall oder Offenbarung der Farben, Wunder und Tugenden, davon die fünf Sensus, als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen entstehen» [27]. Die siebte Gestalt der Natur ist die «Wesenheit des Lichts», «die allen Gestalten Wesen, Kraft und Sanftmuth gibt, daß ein ewig Leben und Wonne des Lebens ist ...» [28].
Mit den Gestalten, Qualitäten der Natur sind in einem Prozeß vor der Schöpfung die Elemente gekennzeichnet, die die irdische M. bestimmen. «Man findet in allen Dingen diese 7 Eigenschaften ...» Sie «geben in der innern Welt das heilige Element, als das heilige natürliche Leben und Weben; aber in dieser äussern Welt scheidet sich das einige Element in 4 offenbare Eigenschaften; als in 4 Elemente ..., in Feuer, Luft, Wasser und Erde» [29].
In dem ‘dritten Prinzipʼ, der Schöpfung, ist es nach dem Stadium der Engelswelt erst der Fall Lucifers, als zweite Phase, der den eigentlichen Weltentstehungsprozeß, als dritte Phase, einleitet. «Die Welt ist aus dem Ewigen ausgeboren: das Centrum der Natur ist von Ewigkeit je gewesen, es ist aber nicht offenbar gewesen. Mit dieser Welt, und mit des Teufels Grimm ists ins Wesen kommen» [30]. Lucifers Fall besteht darin, daß er nicht von der fünften Gestalt, der Liebe, ausgeht, sondern von der der Angst [31]. Obwohl M. neben der Schicht des finsteren Prinzips [32] auch die des Licht-Lebens in sich hat [33], ist in der Entstehung der M. aus dem Fall Lucifers begründet, daß «die gantze Natur in grossen Aengsten und Sehnen [stehet] von der Eitelkeit los zu werden» [34].
[1]
Vgl. H. Grunsky: Jacob Böhme (1956); A. Koyré: La philos. de Jacob Böhme (Paris 1929); A. F. Christen: Ernst Blochs Met. der M. (1979), bes. 109–142; H. Bornkamm: Luther und Böhme (1925), bes. 8–74; E. Metzke: Von Steinen und Erde und vom Grimm der Natur in der Philos. Jacob Böhmes, in: Coincidentia oppositorum, hg. K. Gründer (1961) 129–157.
[2]
J. Böhme, De tribus principiis, oder Beschreib. der Drey Principien Göttl. Wesens, Vorrede 13, zit. wird nach Sämtl. Schr. 1–11 (1730), neu hg. W.-E. Peuckert (1960).
[3]
Sex puncta theosophica, oder Von sechs Theosophischen Puncten 2, 15; vgl. De signatura rerum, oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen 16, 1; De electione gratiae, oder Von der Gnadenwahl 4, 19.
[4]
Sex puncta theos. 2, 16; vgl. De sign. rer. 16, 2; 9, 1; Mysterium magnum, oder Erklärung über Das erste Buch Mosis 10, 7.
[5]
Vgl. Myst. mag. 1, 2; De elect. grat. 1, 27.
[6]
Mysterium pansophicum, oder Gründl. Bericht von dem Irdischen und Himmlischen Mysterio 1.
[7]
De incarnatione verbi, oder Von der Menschwerdung Jesu Christi II, 1, 8.
[8]
Vgl. De elect. grat. 1, 3.
[9]
Myst. mag. Kurtzer Extract 2.
[10]
a.O. 1; vgl. Sex puncta theos. 1, 4.
[11]
De elect. grat. 2, 8.
[12]
Myst. mag. 3, 5; vgl. Myst. pansoph. 1; Sign. rer. 2, 7.
[13]
Myst. mag. a.O. 3, 6.
[14]
Sign. rer. 2, 7.
[15]
Sex puncta theos. 1, 38.
[16]
De tribus princip. 1, 6ff.
[17]
De sign. rer. 14, 18; vgl. 3, 12; Myst. mag. 3, 18.
[18]
Sex puncta theos. 1, 47.
[19]
De incarnat. verbi II, 8, 9.
[20]
Myst. mag. 3, 25.
[21]
a.O. 3, 18.
[22]
De tribus princip. 1, 12; vgl. Myst. mag. 4, 11.
[23]
De sign. rer. 10, 30.
[24]
De incarnat. verbi II, 8, 14.
[25]
a.O. III, 5, 10.
[26]
Vgl. De tribus princip. 4, 53.
[27]
De incarnat. verbi II, 8, 14.
[28]
ebda.
[29]
Myst. mag. 7, 18; vgl. Sign. rer. 6, 14–19, wo Böhme seinen M.-Begriff systematisch zusammenfaßt.
[30]
De incarnat. verbi II, 9, 1.
[31]
ebda.
[32]
De elect. grat. 6, 27.
[33]
De tribus princip. 8, 23f.
[34]
a.O. 8, 33; vgl. 14, 33.
3. F. C. Oetinger[1] hat Böhmes Lehre von den sieben Qualitäten der Natur rezipiert [2] und gegen Tendenzen der Philosophie seiner Zeit gewendet, die er ‘idealistischʼ nennt [3]. Ebenso appliziert er die kabbalistische Lehre von den Sefiroth [4], die er als schriftgemäß einführt [5]. Dabei geht Oetinger davon aus, daß die kabbalistische Lehre und das System Böhmes sich gegenseitig erklären [6]. Beide Lehren werden aber auf die Lehre I. Newtons bezogen. Indem Oetinger so eine Vermittlung von Naturwissenschaft und biblischer Naturanschauung versucht, werden die Qualitätenlehre Böhmes und die Sefirothlehre der Kabbala von Newtons Lehre der Zentralkräfte her ausgelegt [7]. «Inzwischen bleibt wahr, daß die sieben Gestalten J. Böhmes nicht leere Worte, sondern die aus der vi centripeta und centrifuga zusammengesetzten Wirbelbewegungen der unbegreiflich kleinen Naturtheilchen seien» [8]. Gegenüber der ‘idealistischen Philosophieʼ seiner Zeit bedeutet das Betonung des «Materialismus». «Sagt nicht Gott deutlich, daß der Idealismus und Materialismus, d.i. Licht und Finsternis zusammen gehören, daß keins ohne das andere könne modificirt werden?» [9] Gegenüber Böhme bedeutet das aber eine Vereinfachung des komplexen innergöttlichen Selbstwerdungsprozesses.
Der «Herrlichkeit Gottes» wird auch «Leiblichkeit» zugeschrieben [10]. «Wenn man alles Leibliche von Gott absondert, so ist Gott ein Nichts» [11]. Die Leiblichkeit Gottes ist zu unterscheiden von der irdischen M., die durch Auflöslichkeit der Kräfte gekennzeichnet ist. Die Leiblichkeit Gottes ist «Körperlichkeit» als «höchste Eigenschaft» [12]. Körper ist, «was in Subsistenz ausgeht». Diese besteht in der unauflöslichen Verbindung der Kräfte, die in der Auflösung materialisiert wird. «M. ist alles, was in die Elemente oder in das Chaos sich auflösen läßt» [13]. Daß diese Möglichkeit Wirklichkeit wurde, ist – wie bei Böhme – Folge des Falls Lucifers [14].
Körperlichkeit und M. sind dennoch von gleicher Struktur. «Das Leben Gottes ist durch alles: das Leben Gottes kann ... verkehrt werden; aber es ist und bleibt doch wahr, auch das unordentlichste verfälschte Leben lebt und bewegt sich und ist und bleibt der Wurzel nach in Gott» [15]. Von hierher ergibt sich die Dynamik der Erlösungshoffnung, die auch M. umfaßt. «Leibhaft sein und werden ist eine Vollkommenheit» [16]. Der Mensch hätte dies für sich und die M. vollbringen sollen, aber er «bewahrte kaum die ersten Anfänge» [17]. Mit seinem Fall blieb auch Natur unerlöst. «Nach dem Fall war ein allgemeines Sehnen in der Kreatur» [18]. So wird Christus mit seiner Erlösungstat auch der «Architekt der Natur», der «Bauherr» und «Lebendigmacher» der Natur [19]. Unter Voraussetzung dieser Erlösungstat ist es für Oetinger «offenbar, daß das Leben des Menschen ... eines immer weitern Wachsthumes und einer Hinzufügung von Kräften fähig gewesen und auch jetzt noch fähig sei» [20]. Aus dieser Hoffnung lebt Oetingers Philosophie des Lebens. Die Erhöhung des Lebens als Versöhnung mit der Natur, die der M. ihre Feindlichkeit und Vergänglichkeit nimmt, ist Ziel einer Geschichte, die von Gott geleitet wird, die aber erst jenseits irdischer Geschichte erfüllt sein wird [21]. «Gott würde ja alles umsonst geschaffen haben, wenn er die geistliche Erhöhung nicht erreichen könnte. Die Form und Materie müssen so vereinigt werden, daß es von ewiger Währung sey ...» [22].
Rainer Piepmeier
[1]
Vgl. R. Piepmeier: Aporien des Lebensbegriffs seit Oetinger (1978); S. Grossmann: Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung. Versuch einer Analyse seiner Theol. (1979).
[2]
F. C. Oetinger, Sämmtl. Schr., hg. K. C. E. Ehmann z.B. I/1, 247ff.; 1, 370ff.; 2, 233.
[3]
Vgl. z.B. 2, 296; 1, 120.
[4]
Vgl. G. Scholem: Die jüd. Mystik in ihren Hauptströmungen (1967) 224ff.
[5]
Vgl. Grossmann, a.O. [1] 167ff.; Piepmeier, a.O. [1] 57f. 161f.
[6]
Oetinger, a.O. [2] 1, 288. 277; Selbstbiogr., hg. J. Hamberger (1845) 46; Bibl. Wb., hg. J. Hamberger (1849) 234. 27.
[7]
Grossmann, a.O. [1] 184. 204; Piepmeier, a.O. [1] 58.
[8]
Oetinger, a.O. [2] 1, 272.
[9]
1, 198; vgl. 2, 278.
[10]
Die Theol. aus der Idee des Lebens abgeleitet und auf sechs Hauptstücke zurückgeführt, dtsch. J. Hamberger (1852) 71.
[11]
Bibl. Wb. a.O. [6] 350.
[12]
a.O. [2] 1, 217.
[13]
Theol. a.O. [10] 67; vgl. 47ff. 115.
[14]
Bibl. und emblemat. Wb. (1776, ND 1969) 853f.
[15]
a.O. [2] 2, 250f.
[16]
a.O. [2] 1, 117; vgl. 6, 125; 2, 350; Bibl. Wb. a.O. [6] 183.
[17]
Theol. a.O. [10] 250; vgl. 269; a.O. [2] 5, 62; Piepmeier, a.O. [1] 176ff.
[18]
Oetinger, Bibl. Wb. a.O. [6] 3, 38; vgl. a.O. [2] 6, 327; 4, 11.
[19]
a.O. [2] 1, 76; 6, 162; Bibl. Wb. a.O. [6] 77; vgl. Die Philos. der Alten, wiederkommend in der güldenen Zeit 2 (1762) 163f.
[20]
Theol. a.O. [10] 190.
[21]
Vgl. Piepmeier, a.O. [1] 191ff. 296ff.
[22]
Oetinger, Bibl. Wb. a.O. [6] 163f.
4. In engem Anschluß an J. Böhme und die mystische Tradition entwickelt F. v. Baader seine naturphilosophische und theologische Kritik an der zeitgenössischen Philosophie, vor allem an der Hegels und Schellings. Charakteristisch für seine Bestimmung des Begriffs der M. in diesem Zusammenhang ist die entschiedene Zurückweisung der verbreiteten Ansicht, welche «die Worte: natürlich und materiell für synonym nimmt» [1]. Für ihn ist Gott und alles ursprünglich geschaffene Sein immaterielle Natur oder immaterielle Geistleiblichkeit [2]. Die produktiven Eigenschaften, die der M. als der ‘Mutterʼ aller Dinge nach der älteren Mystik zukommen, legt Baader folglich der «Natur» bei, die «das unmittelbar schaffende (Creaturen gebärende) Princip (das Fiat oder die Allmacht) selbst ist ... Durch diese ewige Natur ... gebiert sich ... jenes tiefe Mysterium der Gottheit zum offenbaren Gott aus, zum dreifaltigen, naturfreien, aber nicht naturlosen Geist» [3]. Natur ist die «vis Dei viva» [4], «ewiges Leben» als «ewiges Leiben» [5].
M. ist also nicht, wie viele annehmen, «die unmittelbare, ewige und erste Production Gottes» [6]. Im Anfang schuf Gott Engel und Menschen – Kreaturen, in denen wie in ihm selbst Geist und Natur zwar unterschieden, nicht aber getrennt sind. Denn beide sind «in ihrem Urstand und Bestand in solidum verbunden», und dem «normalen» Verhalten beider entspricht ihre «beiderseitige Integrität und Freiheit» [7]. In diesem «Urstand» ist der Geist der Natur mächtig, er ist Wirkender, sie sein Werkzeug. Doch ist «dem Unschuldzustande [der intelligenten Creatur] die Labilität, dem unverdorbenen Zustande [der nichtintelligenten Creatur] die Corruptibilität ... nothwendig beigesellt». Es war die Bestimmung des Menschen und stand in seiner Macht, «aus einer blossen Creatur Gottes Kind» zu werden und damit alle «Creatur unter sich» zu vollenden [8]. Doch der Abfall zunächst Lucifers und dann Adams durch die Selbsterhebung der eigenen Natur gegen ihr Zentrum in Gott führte zur Entzweiung oder zum Chaos des Anfangs, das also, entgegen der gewöhnlichen Auslegung, vielmehr ein Ende (Zusammenbruch, Tohu va bohu [1. Mose 1, 2]) bedeutete. Damit wäre die Kreatur unwiderruflich «der geöffneten Region der Abimation (der Macht der Finsterniss)» verfallen [9], wenn nicht Gott in diesem Moment zu ihrer Rettung die materielle Welt erschaffen hätte. Diese erscheint als «ein furchtbarer und mächtiger Schild, durch welchen der Schöpfer dem Vater der Lüge immer den Mund verschlossen hält, damit die Gotteslästerung sich nicht ausspreche» [10], und der die «über dem immer offenen Grabesschlunde gleichsam nur gespenstisch und phantasmagorisch schwebende» Kreatur vor dem Abgrundbewahrt [11]. «So muss man es eben sowohl als einen Unbegriff dieser M. erklären, wenn man ein geistig und persönlich Böses als Causa occasionalis ihres Entstehens und Bestehens verkennt, gegen welches sie eben geschaffen ward und fort geschaffen wird, als wenn man (wie die Gnostiker gethan) diese M. für ein Geschöpf des Bösen selber nimmt» [12].
M. ist also Gottes zweite Schöpfung, seine aus Liebe zur Kreatur gegebene Antwort auf den Sündenfall. So kann Baader das elementarische Wasser des Anfangs auch «die erste Thräne dieser Liebe» nennen [13]. Die zweite Schöpfung ist eine «Materialisierung» [14] der ewigen Natur, ihre Trennung vom Geist, Verendlichung, Zerstreuung in Raum und Zeit. Demgegenüber bezweckt die Geschichte eine allmähliche Entmaterialisierung der Natur, ihre Rückkehr in die Einheit mit dem Geist. M. ist geschaffen als der Ort, in den das Böse gebannt ist bis zur Erlösung der Kreatur. Sie ist die endliche, d.h. erlösungsbedürftige, aber auch erlösungsfähige («restaurabel[e]» [15]) Manifestation der Entzweiung von Natur und Geist. «Nur ein ungeheueres Verbrechen (minder ein Abfall, als eine Empörung gegen die Einheit) konnte diese materielle Manifestation (als Krisis, Hemmungs- und Restaurationsanstalt) veranlassen, und nur die Fortdauer dieses Verbrechens macht den Fortbestand oder die Forterzeugung dieser M. begreiflich» [16]. Denn allein die M. verhindert, daß der böse Geist Macht über die Natur gewinne, oder, wie Baader zustimmend aus St. Martin zitiert: «La matière fut créée afin que le mal ne puisse prendre nature» [17].
Das Böse also hat seinen «Sitz (nicht Ursprung) in der M.» [18]. So ist die M. wohl Kerker des Geistes, aber erst des böse gewordenen Geistes und zum Schutz vor seiner eigenen Bosheit erschaffen. «Der Teufel ist wie ein wahnsinniger Verbrecher, der aus seinem Kerker aufs Blutgerüste stürzen möchte. Und doch ist gerade dieser Kerker (die M.) das einzige, was das verzehrende Feuer noch sänftiget. So wie die M. verschwindet, geht dem Bösen die Hölle auf. Missbrauche, Mensch, die M. nicht, denn es liegt ein Fluch darin, so wie ein Segen darin liegt» [19].
Tilman Borsche
[1]
F. X. v. Baader, Sämtl. Werke, hg. F. Hoffmann (1851–60) 9, 52.
[2]
Vgl. D. Baumgardt: Franz von Baader und die Philos. der Romantik (1927) bes. 275–292.
[3]
Baader, a.O. [1] 2, 306.
[4]
3, 324.
[5]
10, 71.
[6]
2, 477.
[7]
7, 376.
[8]
7, 81f.
[9]
9, 53.
[10]
2, 88.
[11]
9, 81.
[12]
4, 345f.; ähnlich schon Origenes; vgl. H. Koch: Pronoia und Paideusis. Stud. über Origenes und sein Verhältnis zum Platonismus (1932) bes. 24ff. 36ff.
[13]
2, 79.
[14]
9, 53.
[15]
ebda.
[16]
2, 490.
[17]
9, 51.
[18]
4, 84f.
[19]
13, 121.
5. Böhme und Oetinger denken M. als Substrat eines vorgeschichtlichen und geschichtlichen Prozesses. M. ist in ihrer Entstehung und möglichen Vervollkommnung an Bewußtwerdungen, an Entscheidungen und Handlungen gebunden. Die Hoffnung auf Erlösung ist geknüpft an die Hoffnung einer Vervollkommnung der M. Diese Faktoren finden sich – materialistisch umbesetzt – wieder in der M.-Lehre von E. Bloch. Er knüpft dabei besonders an Aristoteles [1], die «Aristotelische Linke» [2] von Avicenna über Averroes bis G. Bruno [3], an Paracelsus [4], J. Böhme [5], Schelling [6], Hegel [7] an und, durch diese Rezeption geprägt, an den dialektischen Materialismus von Marx [8].
Seine Konzeption von M. wendet sich gegen den M.-Begriff des mechanischen Materialismus, den er der bürgerlichen Gesellschaft zuordnet [9]. Da der mechanische Materialismus dominierte, findet Bloch «bei großen Idealisten, mindestens Halb-Idealisten wichtigere Beiträge zur Biographie des Begriffs M. ...» [10]. Aus der idealistisch-materialistischen Geschichte des Begriffs gewinnt Bloch die für ihn grundlegenden Verbindungen: «Dialektik und M.» und «Utopie und M.» [11]. M., von diesen Verbindungen her konzipiert, «ist also nicht mehr als das zu verstehen, was man mit Händen fassen kann, was ein Gewicht hat und so weiter. Sondern sie bildet sich als die ökonomisch-gesellschaftliche Grundlage in Gestalt von Unterbauten aus, die doch alle Verstand schon voraussetzen, weil er bei ihren Bildungsprozessen mithalf. Wegen des großen Anteils von Kopfarbeit in den Unterbauten stehen sie ja dem eigentlich Überbauhaften von Kunst, Ethik, Religion, Literatur nicht so fern wie oft gemeint wird» [12]. Das führt Bloch dazu, den Begriff ‹M.› durch den «offenen, auch transparenten Begriff des Substrats» zu erläutern [13]. M. ist als «Geschichtsstoff», «Geschichts-M.» [14], das «dialektisch-materielle Substrat alles Werdens und Geschehens» [15], mit dem besonderen Akzent, «Möglichkeits-Substrat» [16] zu sein.
So ist der Bogen von «Utopie und M.» gewonnen, der nicht ein «zwischen» bezeichnet, sondern als einer «in der M.» gedacht wird [17]. Mit ihm sollen die subjektiven Hoffnungen, die im ‹Prinzip Hoffnung› analysiert sind [18], feste Widerlager haben. «In so zu begreifender M. hat auch die Phänomenologie und Enzyklopädie der menschlichen Hoffnungsinhalte ihren vom bloßen menschlichen Bewußtsein unabhängigen Halt» [19]. Die subjektiven Hoffnungen werden verankert in einer M., die von der Utopie her begründet wird. Diese Utopie ist die Utopie der Konstitution von M. als vollendetem Dasein, als Substanz. Denn M. als Substrat eines erfüllten Daseins hat sich im Prozeß der M. als Prozeß der Geschichte erst zu bilden. Deshalb heißt es: «materia ultima» [20], «letzte M.» [21], «weil sie zuletzt als die Substanz der ganzen Sache hervortritt, als herausgebrachtes Rätsel des Prozesses ...» [22]. «Die Welt selber ist so die in Fluß befindliche Summierung geschehener Proben aufs Exempel, tendenzhafter Latenzgestalten einer noch völlig unobjektivierten Substanz» [23].
In diese «unabsehbare Karriere» der M. ist der Mensch in der Weise «mit eingeschlossen», daß «die Welt ein Experiment [ist], das diese M. durch uns mit sich selber anstellt» [24]. Alles könne «in Nichts ... enden», aber auch in der Erfüllung «eines Alles». «Doch nur, wenn wir uns daranhalten und zusammen mit der Tendenz und Latenz, mit dem Trend und mit der Verborgenheit von etwas Wesenhaftem, das hier vorliegt und ans Licht dringen will, das Erhoffbare bewirken, das noch nicht da ist» [25]. Es eröffnet sich hier das Feld der Geschichte als das Zusammenwirken objektiver Möglichkeiten und des «subjektiven Faktors». «Objektiv-real möglich ist das partial Bedingte, zu ihm muß ein subjektiver Faktor hinzukommen, damit das Mögliche bereichert wird genau um die Bedingungen, die zur Realisation noch fehlen» [26]. Bloch ordnet diese Bestimmungen nur dem «Kata to dynaton», dem «nach Maßgabe des Möglichen» zu, das «reformistisch» zur «Politik als Kunst des Möglichen» heruntergekommen sei, bei Marx allenfalls präziser ökonomisch-materiell den Geschichtsgang erfassen könne [27]. Blochs Geschichtsbegriff einer sich vollendenden M. ist dominiert vom «Dynamei on», dem «In-Möglichkeit-Sein», als ein «zielhaft Enthusiasmierendes» [28]. Handeln als subjektive Intention hat sich deshalb auf das Objektive der «Tendenz» zu beziehen, deren beider Garant die «Latenz» ist [29], wobei Tendenz die «Energetik der M. in Aktion» ist, Latenz «das Entelechetische der M. in Potentialität» [30]. Vom Wissen um Tendenz und Latenz ergibt sich auch die Einsicht in den Sinn der Geschichte als ganzer und «den ganzen Sinn der Geschichte», der vom Menschen «fortschreitend» in die Wirklichkeit zu setzen ist [31].
Sinn der Geschichte stellte sich aber nicht allein her im Erreichen eines menschlichen Reichs der Freiheit, für das das Anorganische nur als Vorstufe verstanden würde. Sondern das Anorganische müsse verstanden werden als ein «gerade die menschlich gelungene Freiheitswelt umgreifender Kosmos in unabgeschlossener, mit der menschlichen wie erst recht mit seiner eigenen Freiheit vermittelten Latenz. Dies erst und nicht nur das Reich der menschlichen Freiheit erschüfe dann die noch gänzlich ausstehende Daseinsweise der ‘letzten M.ʼ » [32]. Daraus ergibt sich das Postulat: «Das mögliche Subjekt der Naturdialektik (die natura naturans)» soll «mit dem menschlichen Geschichtssubjekt konstitutiv vermittelt» werden, «statt daß der Mensch in der Natur wie in Feindesland steht und sie nur technisch abstrakt beherrscht» [33].
Rainer Piepmeier
[1]
E. Bloch: Tendenz – Latenz – Utopie (1978). Gesamt-A. (= GA) Erg.-Bd. 280f. 411; GA (1959–1977) 13, 208f. 233; 7, 516. 143. 235. 473. 499.
[2]
Bezeichnung eingeführt und begründet GA 7, 493.
[3]
7, 494. 148. 520.
[4]
12, 227.
[5]
12, 227–241, bes. 239f.
[6]
Vgl. 7, 441; 12, 316. 319; vgl. H. Fuhrmanns: Schellings Philos. der Weltalter (1954); J. Habermas: Das Absolute und die Gesch. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (1954); W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilos. Schellings (1955); M. Schröter: Krit. Stud. Über Schelling und zur Kulturphilos. (1971) 82–88; J. Habermas: Dialekt. Idealismus im Übergang zum Materialismus. Gesch.philos. Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes, in: Theorie und Praxis (Neu-A. 1971) 172–227.
[7]
Vgl. Bloch, GA 12, 306; 7, 428.
[8]
Vgl. J. Habermas: Ein marxist. Schelling, in: Philos.-polit. Profile (1971) 147–167; A. F. Christen: Ernst Blochs Met. der M. (1979); H. H. Holz: Logos spermatikos. Ernst Blochs Philos. einer unfertigen Welt (1975).
[9]
Bloch, GA 7, 164ff.; zum M.-Begriff des mech. Materialismus und der mod. Phys. vgl. a.O. 13, 208; 7, 316–358; bes. 322.
[10]
7, 185; vgl. Aufzählungen 7, 256. 442. 44.
[11]
13, 207. 208.
[12]
Erg.-Bd. 272f.
[13]
GA 13, 202.
[14]
Erg.-Bd. 279.
[15]
a.O. 278.
[16]
GA 13, 233; vgl. 13, 234. 227. 207; 7, 516f.
[17]
13, 232.
[18]
Das Prinzip Hoffnung (1959). GA 5.
[19]
13, 233; vgl. 13, 208; Erg.-Bd. 278.
[20]
Erg.-Bd. 283.
[21]
GA 13, 277. 294.
[22]
Erg.-Bd. 283.
[23]
GA 13, 277; vgl. 7, 524; 13, 294. 284. 196.
[24]
Erg.-Bd. 281.
[25]
a.O. 283.
[26]
281.
[27]
GA 15, 139f. 141.
[28]
15, 139f. 141.
[29]
13, 229f.
[30]
7, 469 (ausführl. Def.).
[31]
13, 144; vgl. 7, 475.
[32]
7, 315.
[33]
Erg.-Bd. 306; vgl. GA 7, 476f. 358.
V. Der physikalische Begriff der M. löst sich vom ontologischen ab mit der Entstehung der experimentellen Naturwissenschaft durch Fusion der theoretisch-literarischen und der handwerklich-künstlerischen Traditionen um 1600 [1] und der erkenntnistheoretischen Reflexion und Systematisierung des zugrunde liegenden Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriffs [2]. Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion des physikalischen M.-Begriffs wird daher nur diejenigen Bedeutungsbestimmungen und -verschiebungen berücksichtigen können, die im Zusammenhang mit Beobachtungen, Messungen und anderen Experimenten und im Hinblick auf das Gesamtsystem physikalischer bzw. erfahrungswissenschaftlicher Begriffe vorgenommen worden sind.
G. Galilei zählt als primäre Qualitäten der M. arithmetische (Zählbarkeit), geometrische (Gestalt, Größe, Lage, Berührung) und kinematische Eigenschaften (Beweglichkeit) auf [3]; auch die Möglichkeit einer natürlichen Trägheit der M. faßt er bereits ins Auge [4]. Letztere Eigenschaft wird jedoch erst von J. Kepler im Zusammenhang der Erklärung der Planetenbewegung systematisch herangezogen: Kepler legt ein dualistisches Schema zugrunde, bei dem bewegende Kräfte der natürlichen Trägheit der M. antithetisch gegenüberstehen [5]. Dabei gelangt er zu Aussagen, die die spätere Definition der Massenverhältnisse und das 2. Newtonsche Bewegungsgesetz präfigurieren und bereits eine Verknüpfung zwischen den Ideen der quantitas materiae und der Trägheit bzw. der trägen Masse herstellen. Demgegenüber lehnt R. Descartes eine solche Verknüpfung wieder ab und will das wesentliche Merkmal der M. in ihrer Ausdehnung sehen (res extensa), ihre Quantität nur im Rauminhalt, so daß man seine Auffassung als eine rein geometrische bezeichnen muß [6]. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. wächst jedoch das Erfahrungsmaterial durch das Studium der Rotationsbewegungen und Stoßphänomene in eine Richtung an, die es schließlich Newton ermöglicht, eine Systematisierung der Trägheits- und Gravitationsphänomene vorzunehmen [7]. Gemäß der darauf beruhenden «klassischen» Mechanik sind Trägheit (träge Masse), aufgefaßt als Beharrungsvermögen im jeweiligen Zustand der Ruhe oder der geradlinig-gleichförmigen Bewegung, und Schwere (schwere Masse), aufgefaßt als Fähigkeit zur wechselseitigen Attraktion gemäß dem Gravitationsgesetz, Grundeigenschaften der M.; ihr steht die Energie gegenüber, die als quantitatives Maß der Fähigkeit, auf einem Weg eine Kraft auszuüben – also mechanische Arbeit zu leisten –, begrifflich von M. unterschieden ist. Weitere wesentliche Merkmale der M. in der klassischen Mechanik sind die Identität von träger und schwerer Masse, die Erhaltung der Masse bei allen physikalischen und chemischen Vorgängen (Lavoisier, Kant[8]) und die quasi ontologische, d.h. nicht weiter zurückführbare begriffliche Differenz von M., Raum und Zeit (erkenntnistheoretisch gewendet bei Kant[9]).
Durch Leibniz[10] und Kant[11] wird die M. als ein Phänomen interpretiert, das völlig auf Kraftwirkungen zurückgeführt werden kann; diese Interpretation führt jedoch nicht zur Entdeckung neuer Gesetzmäßigkeiten und bleibt wohl daher physikgeschichtlich ohne große Wirkung.
Das Thema «Kraft und Stoff» steht auch im Mittelpunkt materialistischer Schriften des 19. Jh., u.a. bei L. Büchner[12], J. Moleschott[13] und C. Vogt[14]. Physikalisch gehen diese Autoren jedoch nicht über den klassischen Dualismus von M. und Energie hinaus, wenn sie «Kraft» als die «Fähigkeit des Stoffs zur Bewegung des Stoffs» definieren, wofür exemplarisch L. Büchner zitiert sei: «Genauer ausgedrückt muß man Kraft als einen Thätigkeitszustand oder als eine Bewegung des Stoffs oder der kleinsten Stofftheilchen oder auch als eine Fähigkeit hierzu, oder noch genauer als einen Ausdruck für die Ursache einer möglichen oder wirklichen Bewegung definiren oder bezeichnen – was aber Alles in der Sache selbst nichts ändert» [15]. Die Diskussion dieser Position dreht sich daher auch vorwiegend um die atheistischen und antispiritualistischen Konsequenzen, die die Autoren ziehen zu müssen glauben [16].
Eine andere Tendenz des 19. Jh. geht dahin, alle Anklänge von «Substanzialität» und «Stofflichkeit», ja «Materialität» aus dem physikalischen Begriff der M. als «metaphysisch» zu streichen, indem für «Masse» eine rein operationale Definition gegeben wird. Dabei sind verschiedene Richtungen zu unterscheiden, in denen eine Operationalisierung versucht wird, u.a.
a) durch Wägeverfahren, also durch Zurückführung der Masse auf Gewichtsmessungen (z.B. bei H. Hertz[17]);
b) durch Definition der Masse als des Verhältnisses von Kraft und Beschleunigung gemäß dem 2. Newtonschen Bewegungsgesetz (zuerst bei L. Euler[18]);
c) kinematisch, durch die Definition des Massenverhältnisses von Körpern über die Beschleunigungsverhältnisse bei Kollision (Saint-Venant[19]) oder bei gegenseitiger Anziehung (E. Mach[20]).
Diese Überlegungen finden bis heute Beachtung und Weiterführung in der wissenschaftstheoretischen Grundlagendiskussion der Physik, z.B. bei R. Carnap[21] und P. Lorenzen[22].
Obwohl diese Tendenz einen Rückgang der Wirkung des klassischen M.-Begriffs anzeigt, stellt sie doch die klassische Systematisierung insgesamt noch nicht in Frage. Auch die Theorien über die Mikrostruktur der M., die seit der Akzeptierung von Daltons Atomtheorie [23] beständig weiter ausgebaut und u.a. auf die elektrischen und elektrochemischen Erscheinungen sowie das Licht (Äthertheorie) ausgedehnt werden, bilden zunächst nur die Extrapolation der klassischen Vorstellungen in den Mikrobereich. Die M. besteht danach aus kleinsten Teilchen – Atomen und Molekülen –, die als klassisch-mechanische Körper vorgestellt werden. Um die Wende zum 20. Jh. beginnen sich jedoch die Ergebnisse und Hypothesen zu mehren, die eine Auflösung der klassischen Grundvorstellungen bedeuten. Hier sind folgende Entwicklungen zu nennen:
a) Die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien in der Mathematik und die Frage ihrer möglichen physikalischen Bedeutung (Gauss, Riemann, Bolyai, Lobatschewski[24]);
b) Hypothesen über die Existenz einer negativen (abstoßenden) Gravitation, mit Konsequenzen für kosmo-logische Annahmen über die Massenverteilung im Universum (Pearson, Föppl[25]);
c) Versuche, die Masse als einen rein elektromagnetisch-induktiven Effekt zu erklären, bei denen die Masse als geschwindigkeitsabhängige Größe aufgefaßt werden muß (Abraham, Kaufmann[26]).
Umfassendere Systematisierungen werden dann vonEinsteins Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie erreicht [27]. Für die Auffassung der M. von besonderer Bedeutung sind dabei folgende Konsequenzen:
– die Masse eines Körpers ist geschwindigkeitsabhängig;
– Masse und Energie sind gemäß der Beziehung E = mc2 (c für die Lichtgeschwindigkeit) einander äquivalent und ineinander umwandelbar; ein Erhaltungssatz gilt nur noch für die «Summe» von Masse und Energie, bisweilen als ‹Massergie› bezeichnet;
– Raum bzw. Raum-Zeit und M. sind keine ‘ontologischʼ radikal unterschiedlichen Entitäten, sondern gewissermaßen Aspekte einer einheitlichen Realität, die untereinander in Austausch stehen können: Der Raum selbst ist M.
Der letztgenannte Zusammenhang konnte bislang allerdings noch nicht in einer einheitlichen Feldtheorie vollständig befriedigend dargestellt werden; die vorliegenden Partiallösungen unterscheiden sich noch stark in der Systematisierungsstrategie. Auch ist es bislang noch nicht gelungen, einen Überblick über die Gesamtheit der Elementarteilchen zu bekommen, aus denen die materielle Realität nach dieser Auffassung bestehen müßte. Man kann jedoch allgemein formulieren, daß die geometrische Struktur des Raumes nach heutiger Auffassung eine Eigenschaft der M., und zwar genauer eine Funktion der M.-Dichte, ist bzw. daß Masse (und Ladung) Aspekte der geometrischen Struktur des Raumes (Misner und Wheeler[28]) darstellen. Bedenkt man die oben genannte Identität von Masse und Energie, so wird deutlich, daß von den klassischen ‘ontologischenʼ Differenzen keine einzige übriggeblieben ist – eine Feststellung, die nicht zuletzt für die philosophische Erkenntnistheorie ein Problem enthält [29].
Peter Hucklenbroich
[1]
E. Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitl. Wiss. (1976); G. Böhme, W. van den Daele und W. Krohn: Exp. Philos. (1977).
[2]
H. Blumenberg: Der Prozeß der theoret. Neugierde (1973); Säkularisierung und Selbstbehauptung (1974); Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner (1976); J. Mittelstrass: Neuzeit und Aufklärung. Stud. zur Entstehung der neuzeitl. Wiss. und Philos. (1970).
[3]
Discoveries and opinions of Galilei, engl. S. Drake (New York 1957) 274.
[4]
G. Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, hg. G. de Santillana (Chicago 1953) 228.
[5]
J. Kepler, Opera omnia, hg. H. Frisch 1 (1858) 161. 590; 3 (1860) 151. 305; 6 (1896) 174f. 341f. 345f. 374.
[6]
R. Descartes, Oeuvres, hg. Adam/Tannery 2 (1898) 466f.; 8 (1905) 42. 214.
[7]
I. Newton, The math. principles of nat. philos., engl. Motte/ Cajori (Berkeley 1934).
[8]
A. L. Lavoisier, Oeuvres 1 (Paris 1864) 101; I. Kant, KrV A 182/B 224.
[9]
KrV I, Erster Teil.
[10]
Vgl. M. Jammer: Der Begriff der Masse in der Phys. (1964) Kap. 7.
[11]
I. Kant: Met. Anfangsgründe der Naturwiss. (1786).
[12]
L. Büchner: Kraft und Stoff (1855, 161888).
[13]
J. Moleschott: Der Kreislauf des Lebens (1852).
[14]
C. Vogt, Physiol. Briefe (1845–47); Köhlerglaube und Wiss. (1855).
[15]
Büchner, a.O. [12] 9.
[16]
Vgl. F. A. Lange: Gesch. des Materialismus 2 (1866).
[17]
H. Hertz: Die Prinzipien der Mechanik (1894) 7.
[18]
L. Euler: Mechanica sive motus scientia analytice exposita 1. 2 (Petersburg 1736).
[19]
M. de Saint-Venant: Mémoire sur les sommes et les différences géométriques et sur leur usage pour simplifier la mécanique, in: CR. hebdom. Séances Acad. Sci. 21 (1845) 620.
[20]
E. Mach: Über die Definition der Masse, in: Carls Rep. der Exp.phys. 4 (1868) 355–359.
[21]
R. Carnap: Phys. Begriffsbildung (1926) 42f.
[22]
P. Lorenzen: Zur Definition der vier fundamentalen Meßgrößen. Philos. nat. 16 (1976) 1–9.
[23]
J. Dalton: A new system of chem. philos. (London 1808).
[24]
Vgl. M. Jammer: Das Problem des Raumes (1960) Kap. V.
[25]
K. Pearson: On the motion of spherical and ellipsoidal bodies in fluid media. Quart. J. pure a. appl. Math. 20 (1885) 60–80. 184–211; A. Föppl: Über eine mögliche Erweiterung des Newtonschen Gravitations-Gesetzes. Sber. math.-phys. Kl. Königl. Bayr. Akad. Wiss. München 27 (1897) 93–99.
[26]
M. Abraham: Prinzipien der Dynamik des Elektrons. Ann. Phys. 10 (1903) 105–179; W. Kaufmann: Über die elektromagnet. Masse des Elektrons. Gött. Gel. Nachr. (1902) 291.
[27]
A. Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Ann. Phys. 17 (1905) 891–921; Grundgedanken der allg. Relativitätstheorie (1915).
[28]
C. W. Misner und J. A. Wheeler: Class. phys. as geometry. Ann. of Phys. 2 (1957) 525; On the nature of quantum geometrodynamics. Ann. of Phys. 2 (1957) 604.
[29]
Vgl. H. Reichenbach: Der Aufstieg der wiss. Philos. (Berlin 1951, Braunschweig 21968); P. Mittelstaedt: Philos. Probleme der modernen Phys. (51976); F. Kambartel: Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus (1968); P. Hucklenbroich: Theorie des Erkenntnisfortschritts. Zum Verhältnis von Erfahrung und Methode in den Naturwiss. (1978).
G. Hamel: Elementare Mech. (1912). – W. Thomson Lord Kelvin und P. G. Tait: Principles of mech. and dynamics (Cambridge 1912). – A. S. Eddington: Raum, Zeit und Schwere (1923). – J. C. C. McKinsey, A. C. Sugar und P. Suppes: Axiomatic foundations of class. particle mech. J. rat. Mech. Anal. 2 (1953) 253–272. – S. F. Mason: Gesch. der Naturwiss. (dtsch. 1961). – M. Jammer s. Anm. [10]. – H. Weyl: Philos. der Math. und Naturwiss. (31966). – J. D. Bernal: Die Wiss. in der Gesch. (31967). – M. Bunge: Foundations of phys. (1967). E. Kappler: Die Wandlung des M.-Begriffs in der Gesch. der Phys. Jschr. 1967 der Ges. zur Förderung der Westf. Wilhelms-Univ. Münster (1967) 61–92. – E. Ströker: Denkwege der Chem. (1967). – H. Weyl: Raum, Zeit, M. (61970). – J. D. Sneed: The log. structure of mathematical phys. (Dordrecht 1971). – C. A. Hooker (Hg.): Contemporary res. in the foundations and philos. of quantum theory (Dordrecht 1973). – W. Stegmüller: Theorie und Erfahrung II/2 (1976). – G. Böhme (Hg.): Protophys. (1976).