3. Bewußt impliziert
Herder den anthropologischen Paradigmawechsel, wenn er seine Philosophie als «Philosophie der M.» bezeichnet, die den Menschen zum zentralen Gegenstand der philosophischen Frage macht
[1]. ‹M.› jedoch meint weder den Art- noch den Kollektivbegriff; vielmehr interpretiert ‹M.› als Synonym für Humanität die menschliche Natur als eine dynamische Struktur, zu der Antriebe und Energien, Fähigkeiten und Möglichkeiten
gehören, nicht als ein abgeschlossenes, unveränderliches Wesen, also nicht als ein gegebenes Sein, sondern als Seinkönnen
[2]. Bereits früher definiert
I. Iselin ‹M.› als «Natur des Menschen», die sich konstituiert aus den Trieben zum Dasein, zur Freiheit, zur Tätigkeit, zum Besitz, zum Genuß, zur Fortpflanzung, zur Sicherheit, zur Vervollkommnung
[3]. In dieser Begriffsbestimmung fehlen sowohl die traditionelle theologische Dimension wie das Element der Schwäche und der Angst. ‹M.› interpretiert den Menschen als Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruchs, als individuelle Verwirklichung des Menschseins durch und als Folge von Weltorientierung, Selbstbestimmung und Selbstgestaltung. Der Gedanke, M. sei nicht ein Zustand, in den der Mensch hineingeboren werde, sondern vielmehr eine Aufgabe, der er durch bewußte Entwicklung seiner Fähigkeiten zu genügen habe, beherrscht die nachfolgenden Reflexionen über M. In diesem Sinne beschreibt ‹M.› als Formel der bürgerlichen Subjektivität das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum als Schöpfer seiner selbst. Angelpunkt des Begriffs ‹M.› ist die Selbständigkeit der intellektuellen und moralischen Person. Näherhin wird M. von
F. H. Jacobi als «inneres Freyheitsgefühl» bestimmt
[4], das sich nach
J. N. Tetens in freier und vernünftiger Selbsttätigkeit manifestiert
[5]. M. wird als «die freie Exertion der edelsten geistigen Kräfte» interpretiert, und ihr Verlust erscheint als Verlust von «Selbstdenken, Selbstwollen und Selbsthandeln» Verlust des Menschseins überhaupt
[6]. Die in ‹M.› artikulierte dynamische, prozessuale Konzeptualisierung der menschlichen Wesensnatur begründet die Auffassung der Perfektibilität als «Grundcharakter der M.»
[7]. Die normative Bestimmung von M. wird von nun an ohne große Bedenklichkeit in einen geschichtsphilosophischen Rahmen eingefügt: Die Geschichte insgesamt ist die Verwirklichung des Menschen gemäß seiner Wesensbestimmung. Deshalb entspricht es für
Herder «Würde, Natur und Charakter der M. ..., durch Vernunft und Billigkeit ihr Schicksal selbst einzurichten»
[8]. Angesichts der planetarischen Einheit und Endlichkeit wird ‹M.› Kollektivbegriff. Das Axiom, von dem die Aufklärung ausgeht, ist die wesentliche Gleichheit der menschlichen Natur
[9]. Diese Gleichheit ist einstweilen noch durch die Inkrustierung menschlicher Natur mit den zufälligen konfessionellen, nationalen und gesellschaftlichen historischen Bildungen belastet. Dahinter verbirgt sich die Konzeption des Individuums als einer Modifikation der mit dem Gattungswesen untrennbar verbundenen Eigenschaften. Der Kollektivbegriff ‹M.› als Abstraktion höchster Allgemeinheit und Integration enthält einerseits einen Allgemeinheitsanspruch, dem zufolge kein Mensch aus der einen M. ausgeschlossen werden kann, andererseits ist er europazentrisch orientiert, insofern er allen Menschen gemeinsame Interessen namentlich an Recht, Freiheit und Frieden unterstellt
[10]. Die Einsicht der Einheit der M. als einer geschichtlich, durch menschliche Praxis konstituierten Einheit und damit der Bewußtheit der M. als einer einlösbaren Gesamtheit, führt zur Auffassung der M. als eines historischen Subjekts. Über die Konzeption der Immanenz des geschichtlichen Prozesses hinaus wird Geschichte gedacht als ein Befreiungsprozeß der M.
[11]. Schließlich wird M. zum allgemein statuierten Recht und damit zur Parole politischen Kampfes gegen die herrschenden Mächte und die ständischen Rechtsabstufungen.
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J. G. Herder, Sämtl. Werke, hg. B. Suphan (1877–1913) 31, 131. |
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Vgl. I. Iselin: Philos. und patriot. Träume eines Menschenfreundes ( 21758) 13ff. |
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F. H. Jacobi, Werke (1812–25) 5, 197. |
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Vgl. J. N. Tetens, Philos. Versuche über die menschl. Natur und ihre Entwickl. (1777) 2, 650f. |
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Genius der Zeit (1795) l,59. |
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Herder, a.O. [1] 18, 140. |
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Vgl. Tetens, a.O. [5] 2, 677. 682. |
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Vgl. G. Forster, Werke, hg. G. Steiner (o. J.) 3, 278. |
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Vgl. [N. Vogt:] Anzeige, wie wir Gesch. behandelten, benutzten und darstellen werden (1783) 3ff. |