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Menschheit, Menschengeschlecht

Menschheit, Menschengeschlecht Anthropologie Menschengeschlecht genus humanum mankind Natur des Menschen 5267 10.24894/HWPh.5267 RedaktionHans E. Bödeker
(lat. genus humanum; ital. genere umano; frz. genre humain; engl. mankind)
I. Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit. – Das Griechische kennt den Kollektivbegriff ‹Menschheit› (M.) bzw. ‹Menschengeschlecht› (Mg.) nicht. Auch im Lateinischen ist ‹genus humanum› relativ selten belegt. Die Idee einer gemeinsamen Menschennatur war den Griechen zunächst fremd, so daß schon deshalb die Einheit des Mg. nicht bewußt werden konnte. ‘Der Menschʼ ist der sterbliche Mensch (βροτός, θνητός) im Unterschied zu den unsterblichen Göttern [1]. (ἀνθρώπων, der Gen. plur. von ‹Mensch›, bedeutet ‹in aller Welt› [2].) Erst mit Isokrates entsteht die Vorstellung eines gemeinschaftlichen Wesens der Menschen: Sie unterscheiden sich durch die Bildung von den Tieren [3]. Cicero hat dies direkt bei Isokrates aufgenommen [4] und auch den Begriff ‹genus humanum› zur Bezeichnung der von der Natur gestifteten Gemeinschaft aller Menschen im Recht und in der Menschlichkeit (humanitas) gebraucht [5].
Das Bewußtsein der Verbundenheit der Menschen zu einem Mg. mußte sich mit dem Christentum verstärken. Augustinus weist darauf hin, daß das «genus humanum» um seiner Eintracht willen von einem Menschen abstamme und ihm eine gleiche Natur zwischen Tieren und Engeln gegeben sei [6]. Die natürliche Geselligkeit konstituiert wie bei Cicero die Einheit des Mg., sie wird aber durch die Zwietracht der Menschen zerstört, und es entstehen die beiden civitates der Welt und des Himmels. Deshalb muß die «unitas» des «genus humanum» durch eine Rückbesinnung auf den gemeinsamen Stammvater Adam und durch die Erziehung des Mg. durch Gott (humani generis recta eruditio) zurückgewonnen werden [7]. Diese Vorstellung ist für einige Weltchroniken des Mittelalters prägend geworden, so daß auch hier von dem genus humanum, das vom ersten Menschen (und dann von den Söhnen Noahs) abstammt, gesprochen wird [8]. Sonst aber bedeutet ‹genus humanum› vor allem die besondere Art von Lebewesen, die die Menschen sind, die «humana species» [9].
Wenn auch den folgenden Jh. der Begriff des Mg. nicht fremd ist, so schwingt dabei doch nicht ausdrücklich die Bedeutung einer Einheit des Mg. mit. So bemerkt Bossuet, daß das «genre humain» zunächst unter Gott vereint war, sich dann aber durch den Sündenfall, die babylonische Sprachenverwirrung und vielerlei Eifersucht und Leidenschaften zersplitterte [10]. Es war deshalb von weitreichender Bedeutung, als G. B. Vico in seiner Neubegründung der ‘Geschichtsphilosophieʼ die gemeinschaftliche Natur der Völker im «allgemeinen Sinn des Mg.» («senso commune del gener umano») fand [11]. Damit waren die Voraussetzungen für einen breiten Gebrauch des Begriffs ‹Mg.› im 18. Jh. geschaffen. Rousseau reagiert bereits kritisch darauf, wenn er «genre humain» als «idée purement collective» bezeichnet, der keine «union réelle entre les individus» entspreche. Die fortschreitende Zivilisation erstickt alles Gefühl für «humanité» und macht die «société générale» des Mg. zur Chimäre von Philosophen [12].
Redaktion
[1]
B. Snell: Die Entdeckung des Geistes (31955) 333.
[2]
Homer, II. IX, 134; Sophokles, Phil. 306; Platon, Leg. 629 a; Theait. 170 e. 195 b. 148 b; Prot. 361 e.
[3]
Snell, a.O. [1] 334.
[4]
Cicero, De inv. I, 4, 5; De or. I, 31. 32f.
[5]
Lael. V, 20; De rep. II, 26; vgl. I, 2; I, 25; vgl. Horaz, Epod. V, 2; Ep. II, 1, 7; Caesar, De bello gall. VII, 42, 2.
[6]
Augustinus, De civ. Dei XII, 21f.
[7]
a.O. XII, 28; X, 14.
[8]
Otto von Freising, Chronica sive de duabus civitatibus I, 1–4.
[9]
Thomas von Aquin, S. theol. I/II, 18, 2; S. contra gentiles I, 4; II, 59.
[10]
J.-B. Bossuet: Politique tirée des propres paroles de l'Écriture sainte I, 2. Oeuvres 5 (Paris 1846) 137.
[11]
G. B. Vico: Principi di una scienza nuova d'intorno alla commune natura delle nazioni (Neapel 1725, 31744); Die neue Wiss. über die gemeinschaftl. Natur der Völker, dtsch. E. Auerbach (1924) 79f. 140 u.ö.
[12]
J.-J. Rousseau, Oeuvres compl., hg. B. Gagnebin/M. Raymond 3 (Paris 1964) 283f.
II. – 1. ‹M.› (ahd. mennisgheit, mhd. menscheit) ist offenbar eine Begriffsprägung Notkers[1]. Als zentraler Begriff der christlichen, christologisch zentrierten Anthropologie, der dem kirchenlateinischen Begriff ‹humanitas› korrespondiert, bezeichnet ‹M.› die humanitas Christi, seine infolge der incarnatio menschliche Natur in ihrer unvollkommenen Geschöpflichkeit im Unterschied zu seiner Göttlichkeit [2]. Vereinzelt bedeutet ‹M.› die ethische Dimension christlicher Nächstenliebe [3]. Die quantitativ-kollektive Bedeutungsvariante, die sich bereits bei Notker aus dem Abstraktum ‹M.› entwickelt [4], wie die spätere Bedeutungsvariante der Bezeichnung des menschlichen Wesens ohne unmittelbar christologische Konnotation [5] sind bis zur Mitte des 18. Jh. selten.
[1]
Vgl. J. Wiesner: Das Wort ‹heit› im Umkreis althochdtsch. Persona-Übersetz. Ein Beitrag zur Lehngut-Theorie. Beitr. zur Gesch. der dtsch. Sprache und Lit. (Halle 1968) 3ff., bes. 35.
[2]
Vgl. P. Piper (Hg.): Die Schr. Notkers und seiner Schule 2, 642f.
[3]
Vgl. M. C. Sullivan (Hg.): A middle high German Benedictine rule. MS 4486 a German. Nationalmuseum Nürnberg. Comm., ed., gloss. Regulae Benedicti Studia 4 (1976).
[4]
Vgl. Piper, a.O. [2] 1, 693.
[5]
Vgl. F. Pfeiffer (Hg.): Dtsch. Mystiker 14. Jh. 2 (1907) 56.
2. Die in der christologisch geprägten Begrifflichkeit angelegte feste Einordnung des Menschen zwischen Gott und Tier scheint, wenn auch bereits modifiziert, durch in Chr. Thomasius' strenger Unterscheidung zwischen dem «Stand der Bestialität», dem «Stand der M.», als dem Stand der bloßen Vernunft, sowie dem «wahren Christenthum», charakterisiert durch die «Heilige Schrift» und die «göttliche Gnade» [1]. Andererseits und zugleich bringt die Frühaufklärung bereits ansatzweise als Folge der Horizonterweiterung durch die zunehmende Kenntnis der nicht-europäischen Gesellschaften, der Entdeckung der Globalität der Erde wie als Folge des Strittig werdens des Begriffs des Christen selbst den Begriff ‹M.› als Kollektivbegriff zur Geltung. Im bewußten Streben nach neuer Dignität des Menschen wird mit dem Begriff ‹M.› die natürliche, gottgegebene menschliche Disposition zur vernünftigen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung abbreviatorisch gegenüber dem Menschenbild vor allem protestantischer Prägung hervorgehoben [2]. Gottscheds Hinweis auf die noch wenig gebräuchliche, nicht-christologische Bedeutung von ‹M.› zeigt die einsetzende Enttheologisierung der Bestimmung des Menschen an [3]. Der christologisch bestimmte Begriff verliert außerhalb der innertheologischen Diskussion und des explizit religiös orientierten Denkens an Bedeutung. An die Stelle des theologisch bestimmten Substanzbegriffs tritt der Funktionsbegriff. Die seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. zu beobachtende Bedeutungserweiterung und -aufladung dokumentiert den tiefgreifenden Wandel der «anthropologischen Wende», in der sich die neuzeitliche Subjektivität emanzipiert.
[1]
Chr. Thomasius: Von der Artzeney wider die unvernünftige Liebe ... (1704) 521.
[2]
Vgl. ‹Der Mensch, eine moral. Wochenschr.› 1–12 (1751–56) 3, 7.
[3]
M. G. Lichtwer, Schr. (1757) XXV.
3. Bewußt impliziert Herder den anthropologischen Paradigmawechsel, wenn er seine Philosophie als «Philosophie der M.» bezeichnet, die den Menschen zum zentralen Gegenstand der philosophischen Frage macht [1]. ‹M.› jedoch meint weder den Art- noch den Kollektivbegriff; vielmehr interpretiert ‹M.› als Synonym für Humanität die menschliche Natur als eine dynamische Struktur, zu der Antriebe und Energien, Fähigkeiten und Möglichkeiten gehören, nicht als ein abgeschlossenes, unveränderliches Wesen, also nicht als ein gegebenes Sein, sondern als Seinkönnen [2]. Bereits früher definiert I. Iselin ‹M.› als «Natur des Menschen», die sich konstituiert aus den Trieben zum Dasein, zur Freiheit, zur Tätigkeit, zum Besitz, zum Genuß, zur Fortpflanzung, zur Sicherheit, zur Vervollkommnung [3]. In dieser Begriffsbestimmung fehlen sowohl die traditionelle theologische Dimension wie das Element der Schwäche und der Angst. ‹M.› interpretiert den Menschen als Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruchs, als individuelle Verwirklichung des Menschseins durch und als Folge von Weltorientierung, Selbstbestimmung und Selbstgestaltung. Der Gedanke, M. sei nicht ein Zustand, in den der Mensch hineingeboren werde, sondern vielmehr eine Aufgabe, der er durch bewußte Entwicklung seiner Fähigkeiten zu genügen habe, beherrscht die nachfolgenden Reflexionen über M. In diesem Sinne beschreibt ‹M.› als Formel der bürgerlichen Subjektivität das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum als Schöpfer seiner selbst. Angelpunkt des Begriffs ‹M.› ist die Selbständigkeit der intellektuellen und moralischen Person. Näherhin wird M. von F. H. Jacobi als «inneres Freyheitsgefühl» bestimmt [4], das sich nach J. N. Tetens in freier und vernünftiger Selbsttätigkeit manifestiert [5]. M. wird als «die freie Exertion der edelsten geistigen Kräfte» interpretiert, und ihr Verlust erscheint als Verlust von «Selbstdenken, Selbstwollen und Selbsthandeln» Verlust des Menschseins überhaupt [6]. Die in ‹M.› artikulierte dynamische, prozessuale Konzeptualisierung der menschlichen Wesensnatur begründet die Auffassung der Perfektibilität als «Grundcharakter der M.» [7]. Die normative Bestimmung von M. wird von nun an ohne große Bedenklichkeit in einen geschichtsphilosophischen Rahmen eingefügt: Die Geschichte insgesamt ist die Verwirklichung des Menschen gemäß seiner Wesensbestimmung. Deshalb entspricht es für Herder «Würde, Natur und Charakter der M. ..., durch Vernunft und Billigkeit ihr Schicksal selbst einzurichten» [8]. Angesichts der planetarischen Einheit und Endlichkeit wird ‹M.› Kollektivbegriff. Das Axiom, von dem die Aufklärung ausgeht, ist die wesentliche Gleichheit der menschlichen Natur [9]. Diese Gleichheit ist einstweilen noch durch die Inkrustierung menschlicher Natur mit den zufälligen konfessionellen, nationalen und gesellschaftlichen historischen Bildungen belastet. Dahinter verbirgt sich die Konzeption des Individuums als einer Modifikation der mit dem Gattungswesen untrennbar verbundenen Eigenschaften. Der Kollektivbegriff ‹M.› als Abstraktion höchster Allgemeinheit und Integration enthält einerseits einen Allgemeinheitsanspruch, dem zufolge kein Mensch aus der einen M. ausgeschlossen werden kann, andererseits ist er europazentrisch orientiert, insofern er allen Menschen gemeinsame Interessen namentlich an Recht, Freiheit und Frieden unterstellt [10]. Die Einsicht der Einheit der M. als einer geschichtlich, durch menschliche Praxis konstituierten Einheit und damit der Bewußtheit der M. als einer einlösbaren Gesamtheit, führt zur Auffassung der M. als eines historischen Subjekts. Über die Konzeption der Immanenz des geschichtlichen Prozesses hinaus wird Geschichte gedacht als ein Befreiungsprozeß der M. [11]. Schließlich wird M. zum allgemein statuierten Recht und damit zur Parole politischen Kampfes gegen die herrschenden Mächte und die ständischen Rechtsabstufungen.
[1]
J. G. Herder, Sämtl. Werke, hg. B. Suphan (1877–1913) 31, 131.
[2]
Vgl. a.O. 17, 137.
[3]
Vgl. I. Iselin: Philos. und patriot. Träume eines Menschenfreundes (21758) 13ff.
[4]
F. H. Jacobi, Werke (1812–25) 5, 197.
[5]
Vgl. J. N. Tetens, Philos. Versuche über die menschl. Natur und ihre Entwickl. (1777) 2, 650f.
[6]
Genius der Zeit (1795) l,59.
[7]
a.O. 1, 740f.
[8]
Herder, a.O. [1] 18, 140.
[9]
Vgl. Tetens, a.O. [5] 2, 677. 682.
[10]
Vgl. G. Forster, Werke, hg. G. Steiner (o. J.) 3, 278.
[11]
Vgl. [N. Vogt:] Anzeige, wie wir Gesch. behandelten, benutzten und darstellen werden (1783) 3ff.
4. Kants in der Abgrenzung von der traditionellen Metaphysik ursprünglich anthropologische Fragesituation unterscheidet präzise zwischen dem Art-, dem Kollektiv- und dem metaphysischen Begriff als «Abstraktum der M.» [1], im Sinn eines reinen Vernunftbegriffs bzw. der «Idee der M.» [2] als Bestimmung des Wesens des Menschen. Insofern geht Kant von einem bestimmten metaphysischen Begriff des Menschen aus. In den Zusammenhang der Unterscheidung zwischen dem konkreten Einzelmenschen und M. als Abstraktum bringt er die Differenz zwischen dem homo phainomenon und dem homo noumenon ein, die zwischen dem «Menschen als Gegenstand der Erfahrung» und der «Idee der M.» als «bloßer Idee» [3]. Kant leugnet den Naturbezug nicht, er ist nur nicht das, was den Menschen als Menschen charakterisiert und muß eingeschränkt werden, wenn das eigentlich Menschliche hervortreten soll. Es ist dem Menschen aufgegeben, sich selbst als Person zu schaffen, Schöpfer seiner selbst zu sein. Die Idee der M., «der intelligible Charakter der M. überhaupt», manifestiert sich für Kant darin, Person zu sein, ein autonomes, «mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen», dem das Pflichtgesetz zur bestimmten Ursache seines Handelns wird [4]. M. ist «das vernünftige Weltwesen überhaupt» [5]. In der Idee der Autonomie des Menschen als Vernunftwesen ist die Spitze der Kantischen Anthropologie erreicht. Verbunden ist damit der Gedanke der Unantastbarkeit jedes einzelnen Menschen, daß nämlich die Existenz jedes Menschen als eines Vernunftwesens als Selbstzweck an gesehen werden muß [6]. Die Vernunft aber ist nichts Individuelles, sondern für alle Menschen verbindlich. Kant insistiert in der Betonung der Noumenalität, die sich hinter dem Bereich der Phänomenalität auftut, auf der Transzendenz des Einzelnen über den Allgemeinbegriff hinaus, auf der «Überlegenheit des übersinnlichen Menschen in uns über den sinnlichen» [7] dergestalt, daß der individuelle Mensch «die Idee der M. ... selbst als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele» trägt, ohne mit ihr zu kongruieren [8]. Ähnlich postuliert die «M. Formel» des «Kategorischen Imperativs» die formale Identität des einzelnen und des allgemeinen Willens. Geschichtsphilosophisch kennt Kant nur das Ziel eines «moralischen Ganzen», verwirklicht in einer das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft, die wiederum der M. – nicht dem einzelnen Menschen – die Ausbildung der Totalität ihrer Anlagen ermöglicht. Für den in der noumenal-phänomenalen Natur des Menschen angelegten Antagonismus von Vernunft und Sinnlichkeit bleibt bei Kant nur das perennierende Sollen.
[1]
I. Kant, Akad.-A. 7, 39.
[2]
Vgl. a.O. 4, 439. 429; 5, 357; 7, 39; 6, 28. 61. 405. 480. 451; 9, 447.
[3]
7, 58.
[4]
7, 324.
[5]
6, 60.
[6]
Vgl. 5, 87; 6, 429. 462.
[7]
7, 58.
[8]
3, 248.
5. Die nachkantische begriffsgeschichtliche Konstellation ist wesentlich durch die in ‹M.› im subjektiv-religiösen wie ästhetischen Medium gedachte ideale Einheit und Harmonie des autonomen Menschen gekennzeichnet, die bereits auch die Kräfte- und Arbeitsteilung der Moderne reflektiert. Der ästhetisch akzentuierte Begriff ‹M.› formuliert bei Schiller ein umfassendes Konzept der widerspruchslosen Versöhnung von «Vernunft» und «Sinnlichkeit», von «Anmut» und «Würde» zu einem harmonischen Ganzen menschlicher Natur [1] «... wie jene zwei entgegengesetzten Formen der M. in der Einheit des Ideal-Menschen untergehen» [2]. Die angenommene Synthese der beiden menschlichen Grundvermögen wird geleistet in der ästhetischen Dimension. «Ohne das Schöne würde zwischen unsrer Naturbestimmung und unserer Vernunftbestimmung ein immerwährender Streit sein ..., würden wir unsre M. versäumen ...», «... die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der M. aufweisen lassen» [3]. «Schönheit» ist «unsere zweite Schöpferin», weil sie dem Menschen ähnlich wie die Natur «das Vermögen zur M. erteilte» [4]. Metaphorisch wird dieser emphatische Begriff ‹M.› umschrieben als «schöne Seele» [5]. Der «ganze Mensch» [6], «das Gleichgewicht der schönen M.» [7] ist die eigenständige Leistung des Menschen. Über Schillers ästhetisch-anthropologische Position, die das Schöne im menschlichen Umgang mit der Kunst verortet, geht Hölderlin noch hinaus. Die in M. gedachte, widerspruchslose, die einzelnen Momente selbst wieder befruchtende übergeordnete Harmonie und Totalität des Menschen als Bedingung menschlicher Selbstbestimmung in Freiheit überholt die traditionelle strenge Trennung von Göttlichkeit und Menschlichkeit und bezeugt die Gottähnlichkeit des Menschen. Bei unterstellter Gleichwertigkeit von Kunst und Religion korrespondiert beim jungen Hegel dieser begriffsgeschichtlichen Entwicklung die im Rückgriff auf die antike Religiosität im Begriff ‹M.› artikulierte Aufhebung der Lehre der erblichen Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und der Gottheit Christi, die beide als komplementär interpretiert werden hinsichtlich der Fremdbestimmtheit des Subjekts [8]. Bei der in ‹M.› explizierten subjektiv-religiösen Dimension menschlicher Autonomie als Behauptung der Freiheit, Selbständigkeit und Göttlichkeit des Menschen handelt es sich jedoch nicht um eine Theologisierung des Subjekts, sondern um eine Subjektivierung der Religion, in der die aufgeklärte Autonomiekonzeption erweitert wird. Dieser Begriff ‹M.›, der sich mit der Utopie der Herrschaftsfreiheit verbinden kann [9], ist vorrevolutionär so nicht zu denken.
Das Ideal der autonomen Subjektivität, «das Ideal der harmonisch ausgebildeten und vollendeten M.» [10], wird von W. v. Humboldt wesentlich als Bildungsprozeß interpretiert. «Der Begriff M. ist aber nichts anderes als die lebendige Kraft des Geistes, der sie beseelt, aus ihr spricht, sich in ihr thätig und wirksam erweist» [11]. ‹M.› formuliert dergestalt das klassische Ideal universaler Bildung. Die Möglichkeit individueller Verwirklichung der im Rekurs auf die idealisierten Griechen formulierten Totalität des Menschseins wird in der Regel als für den neuzeitlichen Menschen unerreichbar angesehen. «Das Ideal der M.» könne «nie anders als in der Totalität der Individuen erscheinen». «Denn nur gesellschaftlich kann die M. ihren höchsten Gipfel erreichen» [12].
[1]
Vgl. Fr. Schiller, Werke, hg. F. Fricke/H. G. Göpfert (31962) 5, 481. 470; vgl. W. von Humboldt, Werke, hg. A. Flitner/K. Giel 1 (21969) 313.
[2]
Schiller, a.O. 5, 622.
[3]
a.O. 5, 807; 5, 600.
[4]
5, 636.
[5]
Vgl. 5, 468f.
[6]
5, 971.
[7]
Fr. Hölderlin, Sämtl. Werke, hg. F. Beissner 3, 88.
[8]
Vgl. G. W. F. Hegel, Theol. Jugendschr., hg. H. Nohl (1907) 63. 67. 214.
[9]
Vgl. ‹Ältestes Systemprogramm des dtsch. Idealismus› (1796).
[10]
Arch. Dtsch. Nationalbildung (1812) 7.
[11]
W. von Humboldt, a.O. [1] 1, 515.
[12]
a.O. 1, 339.
6. Hegel trennt nach 1800 scharf zwischen der «Idee des Menschen» und «dem Abstraktum, der mit Beschränktheit vermischten empirischen M.» [1]. In ‹M.› artikulieren sich die zu überwindenden Aporien einer Reflexionsphilosophie der Subjektivität. Die empirische M. und ihre gehaltlose Idealität sei nur eine «fixe, unüberwindliche Endlichkeit der Vernunft», nicht ein «geistiger Focus des Universums» [2]. Hegel weist M. als Resultat einer Abstraktion auf und kritisiert die bloß humane Bestimmung des Menschen, die die Relation von «Glauben» und «Wissen», von Gott und Welt nicht reflektiert, sondern vertieft und perpetuiert. Eine zureichende Konzeptualisierung des Wesens des Menschen setze viel mehr eine Theorie des absoluten Geistes voraus. Die «Idee des Menschen», das «wahre und allgemeine Wesen des Menschen», wird von Hegel als «Geist» im Sinne der «inneren Allgemeinheit des Menschen» [3] definiert und ist auch insofern spekulativ fundiert, als ‹Geist› nicht anthropologisch bestimmt wird. Hegel, der die Genese des Menschen als untrennbar von der Genese und Erscheinung des Absoluten begreift, unterstreicht die Geschichtlichkeit des Menschen in der Einheit des Prozesses von Selbsterzeugung und Erzeugtwerden. Die traditionelle Unterscheidung von Gott und Mensch wird als Zeichen eines philosophisch verfehlten Ansatzes herausgestellt. Das ist noch keine Negation des theologischen Inhalts, vielmehr eine Aufwertung der philosophischen Spekulation. Hegel, mit dem die eigentlich metaphysische Bestimmung des Menschen abschließt, benutzt ‹M.› durchgehend als Art- und Kollektivbegriff und verweist die bloße Vorstellung ‹Mensch› in den Bereich der Bedürfnisse des bürgerlichen Menschen [4].
[1]
G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen. Sämtl. Werke, hg. H. Glockner 1 (1958) 292.
[2]
a.O. 291.
[3]
Enzyklop. (31830) vgl. § 377.
[4]
Vgl. Rechtsphilos. (1821) §§ 207. 209.
7. Die antitheologische und antispekulative Wendung der ‘Hegelschen Linkenʼ überschreitet die bloße Religionskritik. Der neuartige Begriff ‹M.› verzichtet in seiner radikalen Diesseitigkeit auf eine theologische oder im Sinn Kants vernünftige Fundierung, ist vielmehr bestrebt, jene theologischen Gehalte in der Bestimmung des Menschen «aufzuheben». Der Atheismus hat bei Feuerbach den Charakter einer Philosophie vom Menschen aus. «Der Atheismus ist positiv, bejahend, er gibt der Natur und M. die Bedeutung der Würde wieder, die ihr der Theismus genommen hat» [1]. Die Negation des Christentums bedeutet B. Bauer die Freisetzung der M., die «befreite M.» [2]. Durch sie hat die M. «eine neue Ära erreicht», «in der sie zum erstenmale bei ihr selber angekommen» sei [3], in ihrer Selbstmächtigkeit, die die Selbsterzeugung des Menschen impliziert, ohne daß eine feststehende Natur des Menschen unterstellt wird. Dieser anthropologische Neuansatz aber bedeutet endgültigen Verlust der festen Stellung des Menschen zwischen Tier und Gott. In diesem Prozeß wird die Gattung als M. gefaßt und verstanden und an die Stelle der Gottheit gerückt. D. F. Strauss, der die M. als den «menschgewordenen Gott», als die Vereinigung «der beiden Naturen» Christi begreifen will und christologische Prädikate auf die M. hin umdeutet, identifiziert zugleich die «Idee der Gattung» mit der «M.» [4]. In der Idee der Gattung stimmen die Christus zugeschriebenen Eigenschaften zusammen und erfüllen sich. Bei Feuerbach tritt die Gattung Mensch endgültig an die Stelle Gottes und der jenseitigen absoluten Vernunft Hegels. «Gott ist der personifizierte Gattungsbegriff des Menschen» [5]. «... der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der M. in Eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmungen ... sind Gattungsbestimmungen ..., die in dem Einzelnen ... beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz ... aufgehoben sind» [6]. In diesem Sinne spricht Feuerbach von der «Idee des Unendlichen, die dem Menschen nicht nur eingeboren, sondern die M. selbst im Menschen ist» [7]. Dieser Selbstmächtigkeit des Menschen korrespondiert eine emphatische Wendung zur zeitlichen Gegenwart und Politik. Wenn Feuerbach andererseits M. näherhin als «die Vernunft, der Wille, das Herz» versteht [8], legt er seine Bindung an die klassische philosophische Anthropologie ebenso frei wie seine undialektische Identität von Individuum und Gattung.
[1]
L. Feuerbach, Sämtl. Werke, hg. W. Bolin/F. Jodl (21903–11) 8, 357.
[2]
B. Bauer, Rez. zu D. F. Strauss. Dtsch. Jb. Wiss.u. Kunst (1843) 91.
[3]
Kritik der evang. Gesch. der Synoptiker und des Johannes 3 (1842) 312; vgl. A. Rüge, Sämtl. Werke 1 (1847/48) 299.
[4]
D. F. Strauss: Das Leben Jesu, krit. bearb. (1836) 2, 734f.
[5]
Feuerbach, a.O. [1] 7, 345.
[6]
a.O. 6, 183f.
[7]
4, 116.
[8]
6, 3.
8. Marx und Engels, die bewußt an die antispekulative Wendung anknüpfen, teilen den qualitativ normativen Begriff ‹M.› einer gegebenen und aufgegebenen Wesensbestimmung des Menschen anfänglich. In ihrer Argumentation gegen den «abstrakten» Menschen Feuerbachs formen sie den philosophischen Begriff des Menschen historisch-materialistisch um und denken die «menschliche Natur» selbst als menschliches Produkt [1]. Dabei ist ihnen die Schwierigkeit des Auseinanderhaltens der «menschliche[n] Natur im allgemeinen» und der «in jeder Epoche historisch modifizierte[n] Menschennatur» bewußt [2]. Im Anschluß an Feuerbach verstehen sie zwar unter M. die menschliche Gattung, gleichwohl begreifen sie den Menschen nicht als bürgerliche Privatperson, sondern als soziales Gattungswesen und Gattung näherhin als sozialhistorischen Prozeß [3]. Die Totalität des menschlichen Wesens, für Feuerbach anthropologisch verbürgt, steht für sie noch aus. Zumeist beschreibt ‹M.› den quantitativ-kollektiven Aspekt. In seinem Changieren zwischen deskriptiven und normativen Aspekten hat der Kollektivbegriff zwei Dimensionen. Er bezeichnet die historische Gesamtheit der Menschen und die durch und in menschlicher Praxis konstituierte Einheit der Menschen. Dieser Prozeß der Globalisierung verdankt sich der faktischen Universalisierung menschlicher Beziehungen im kapitalistischen Zeitalter, also «Weltmarkt» und «Weltverkehr» [4]. Die sich konstituierende Weltgesellschaft ist Marx und Engels zufolge wesentlich bestimmt durch den Antagonismus der Nationen und den ihn bedingenden zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Über die sich zunächst kapitalistisch vermittelnde und demzufolge beschränkte Universalität postulieren sie einen Prozeß über Nationen und Klassen hinaus zur M. «Die kommunistische Revolution konstituiert die Eine M.» [5]. Ihre emphatische Einheitskonzeption formulieren sie in bewußter Distanz zu der gegliederten, vormarxistischen Einheitsvorstellung – nicht immer konsequent – im Begriff ‹Internationalismus› [6].
[1]
Vgl. G. Markus: Der Begriff des «menschlichen Wesens» in der Philos. des jungen Marx. Annali 6 (1964/65) 156ff.
[2]
Vgl. K. Marx und Fr. Engels, MEW 23, 640f.
[3]
Vgl. a.O. Erg.-Bd. 1, 515ff.
[4]
Vgl. 4, 472.
[5]
4, 416.
[6]
Vgl. 2, 230f.; 22, 20.
9. Nietzsches Begriff ‹M.› reflektiert die anthropozentrische, antimetaphysische Wendung wie den ökonomischen, technischen und verkehrstechnischen Prozeß der Globalisierung. Zumal aus der weltumspannenden Erweiterung des menschlichen Spielraumes leitet Nietzsche die Forderung der uneingeschränkten Planung der Zukunft der M. ab. Unmittelbar verknüpft mit der Reflexion auf die Gesamt-M. als historisches Subjekt ist die Bestimmung des Menschen als mundanes, sich selbst bedingendes Wesen [1]. Konsequent fordert Nietzsche die Evolution der M. aus einer «moralischen», d.i. religiös metaphysisch, also heteronom bestimmten M., zur «weisen», d.h. antimetaphysisch bestimmten, sich selbst über antworteten, autonomen M. [2]. Die implizierte Überwindung des Menschen setzt explizit den «Tod Gottes» voraus, mit der die Genese des «Übermenschen» zusammenhängt [3]. Dieser ist der Mensch der Zukunft, «ein höherer Typus, eine stärkere Art» gegenüber dem gegenwärtigen «Durchschnittsmenschen» [4]. «Nicht M. sondern Übermensch ist das Ziel» [5]. Bei Nietzsche weitet sich die Differenz zwischen der Gattung und dem Individuum zur unüberbrückbaren Kluft zwischen den «vielen» und den wenigen «großen» Menschen aus. Nietzsche denkt den unbedingten Vorrang weniger Einzelner vor der als «Masse» aufgefaßten M. Das Ziel der M. liegt «nicht am Ende; sondern nur in ihren höchsten Exemplaren» [6]. An die Stelle einer Evolution der M. setzt er die «höchsten Exemplare», für die der «Typus: die M. ... bloß das Versuchsmaterial», Werkzeug ist [7].
[1]
Fr. Nietzsche, Werke, hg. K. Schlechta (1963–65) 1, 807f.; 1, 405f.; 1, 957f.; 1, 983; 1, 1061; 1, 1248.
[2]
a.O. 1, 514.
[3]
Vgl. 2, 523. 127. 340.
[4]
3, 628.
[5]
3, 440; vgl. 443.
[6]
1, 270.
[7]
3, 793.
10. Die «Entdeckung der Nation» führt seit der Wende zum 19. Jh. zur bewußten Thematisierung des Verhältnisses von Nation und M. Der Kollektivbegriff ‹M.› wird definiert als die «Gesamtheit aller auf dem Erdboden nebeneinander bestehenden Völker» [1]. Die Spannweite der Interpretation dieser Einheits-Vielheits-Konzeption reicht von dem Modell der gleichberechtigten Mitglieder der Völkergemeinschaft über organische bis hin zu entwicklungsgeschichtlichen Konzeptualisierungen. Grundsätzlich begreift ‹M.› das menschliche Geschlecht in «staatsrechtlicher Hinsicht» als universale Rechtsgemeinschaft, als «Sozialzustand», als dessen Bedingungen die «cosmopolitische Philantropie» und die «allgemeine Handelsfreiheit» angesehen werden. Sie schlagen ein «geistiges und ein natürliches Band um die ganze M.» [2]. J. K. Bluntschli spricht angesichts der «Einen M.» in ihrem Staatenpluralismus und ihrer wachsenden zwischenstaatlichen Interaktion und Integration bereits von einem «gemeinsamen öffentlichen Leben oder M.», von «einem Bewußtsein der M.» [3].
Andererseits und zugleich ist die Einheits-Vielheits-Konzeption im Prozeß der Nationalisierung ständig in der Gefahr des Umschlagens in eine Hierarchisierung der Völker und der daraus resultierenden Entwicklung eines menschheitlichen Sendungsbewußtseins einzelner Völker [4].
Dem gegliederten Kollektivbegriff, der wesentlich durch Zwischen- und Überstaatlichkeit geprägt ist, steht der sozialistische Begriff ‹M.› gegenüber. Dieser akzentuiert die horizontale Gliederung der menschlichen Gattung gegenüber der vertikalen nationalen und sozialen Gliederung und überschreitet intentional die Grenzen der einzelnen Staaten und durchbricht die Geschlossenheit der bestehenden Staaten. In geschichtsphilosophischer Perspektive intendiert er die weltweite «klassenlose Gesellschaft, die echte menschliche Gesellschaft, die M. und das Menschentum» [5]. Der sozialistische Kollektivbegriff ‹M.› ist Synonym von ‹Internationalismus›.
[1]
K. H. L. Pölitz: Die Staatswiss.en im Lichte unserer Zeit (1823) 2, 117; vgl. 2, 137.
[2]
J. Fallati: Über die sog. materielle Tendenz der Gegenwart (1842) 6.
[3]
J. K. Bluntschli: Poltik als Wiss. (1876) 3, 76. 63. 77.
[4]
Vgl. H. Treitschke: Politik (1898) 2, 361. 548.
[5]
W. Liebknecht: Protokoll des Parteitages der SPD von 1891 (1891) 340.
11. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. verengt sich der Begriffsinhalt von ‹M.› auf den quantitativ-kollektiven Aspekt, während in qualitativer Hinsicht ‹Menschentum› an seine Stelle rückt. Der Neukantianismus fundiert den qualitativen Begriff ‹M.› transzendental und behauptet Religion als Apriori des Menschseins [1]. Ebenso sucht Scheler vom Gott-Mensch-Bezug her die M. des Menschen zu bestimmen [2]. Die neue Ontologie seit Husserl, besonders aber bei Heidegger, verwendet den qualitativen Begriff ‹M.› kaum, wohl wegen seiner «metaphysischen» Vorbelastung. Um das Wesen des Menschen aufzufinden, muß man Heidegger zufolge vom Menschen wegblicken und sich im Gegensatz zum alteuropäischen Humanismus, der die «M. des Menschen» nicht «aus der Nähe des Seins» denke [3], auf den Ermöglichungsgrundseines Daseins zurückbeziehen. Die kritische, marxistisch beeinflußte Sozialphilosophie wiederum kritisiert, ohne auf anthropologische Aussagen zu verzichten, den qualitativen Begriff ‹M.› als obsolete Mystifikation [4].
Der religiös-metaphysischen Fundierung des Qualitätsbegriffs korrespondiert ein religiös-metaphysisch konzipierter Quantitätsbegriff ‹M.›. Der Neukantianismus interpretiert die Einheit des menschlichen Geschlechts als «sittliche Idee», als ein umgreifendes, universelles Ganzes, in das die Staaten, Rassen und Volkstümer integriert sind [5]. Für Scheler hat die M. als das «planetarische», in Völker und Staaten gegliederte «Geschlecht» [6], das sich zum ersten Mal im Ersten Weltkrieg als geschlossene Einheit erfahren hat, seine «Einheit in Gott», liegt doch die «Einheit der Menschennatur» nicht in der Gleichheit der Naturmerkmale als vielmehr in der «Gottesebenbildlichkeit» [7]. Die «M. als eine reale Gattung», die zu unterscheiden ist von der «Summe der Menschen» wie vom «Begriff des Menschen», umfaßt «nur die je gleichzeitig lebenden Menschen». Demgegenüber substituiert Spenglers Synthese von Historismus und Lebensphilosophie die M. durch große Kulturen und negiert die Einheit der M. als Handlungssubjekt der Geschichte: «... die M. hat kein Ziel. ... Die M. ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort» [8]. Das Individuum wird als bloßes Akzidens interpretiert.
Hatte bereits L. Gumplowicz behauptet, ‹M.› sei kein soziologischer Begriff, da er mit der Gattungsbezeichnung verschwimme und keinen realen sozialen Inhalt habe [9], negiert C. Schmitt – gemäß seiner «Freund-Feind-Opposition» als Bedingung des Politischen – ‹M.› auch als politischen Begriff. Die ganze M. kann keine politische Einheit darstellen, setzt doch eine politische Einheit eine «andere, koexistierende politische Einheit voraus». «M. ist kein politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische Einheit der Gemeinschaft und kein Status.» Die mögliche Universalgesellschaft M. ist charakterisiert durch «völlige Entpolitisierung» und «Staatenlosigkeit»; die mögliche wirtschaftliche und verkehrstechnische Einheit der M. gleicht einer sozialen Einheit nur im Sinn einer Aggregation. Den «echten» Begriff ‹M.› expliziert Schmitt am Völkerbund als unpolitischer, zwischenstaatlicher Verwaltungsgemeinschaft [10]. A. Gehlen schließlich negiert M. als möglichen «moralischen Inhalt für Menschen»; weil sie nicht «zur Gegebenheit» kommt, könne man «nicht auf sie handeln» [11].
Der gegenwärtige Gebrauch von ‹M.› reflektiert die Integration der sich konsolidierenden, überstaatlichen weltgesellschaftlichen Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. W. Schulz definiert in diesem Horizont M. als das «werdende Geschichtssubjekt», dessen Dilemma darin liege, trotz des technologischen Zusammenhangs noch keine einheitliche Aktions- und Verantwortungseinheit zu bilden. «Der Begriff M. als Subjekt der Geschichte hat einen anderen Sinn als der Begriff Volk und Nation. Er ist ‘pragmatisch-politischʼ ausgerichtet. M. betrifft nicht nur alle Menschen, sondern jeden einzelnen Menschen in seinem Menschsein», «... je ungeschlossener der umfassende Einheitsbegriff ist, desto direkter kommt der einzelne ins Spiel» [12].
Hans E. Bödeker
[1]
Vgl. H. Cohen: Der Begriff der Relig. im System der Philos. (1906) 66.
[2]
Vgl. M. Scheler: Vom Ewigen im Menschen (1933) 138.
[3]
M. Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Br. über den Humanismus (21954) 90.
[4]
Vgl. M. Horkheimer: Bemerk. zur philos. Anthropol. Z. Sozialforsch. 4 (1935) 1ff.; vgl. Th. W. Adorno: Negative Dialektik (1966).
[5]
Vgl. H. Cohen: Ethik des reinen Willens (1904) 57ff.
[6]
Scheler, a.O. [2] 280.
[7]
Ges. Werke (21966) 2, 546f.
[8]
O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (1963) 28f.
[9]
L. Gumplowicz: Der Rassenkampf (1883).
[10]
C. Schmitt: Der Begriff des Politischen (31933) 3. 5. 37. 40.
[11]
A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur (21964) 142; vgl. Moral und Hypermoral (31973) 92.
[12]
W. Schulz: Philos. in der veränderten Welt (1976) 625f. 627.
F. Stählin: «Die M.» – Umriß einer Wortgesch. Z. Deutschkunde 50 (1936) 614ff. – K. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jh. (1950); Ges. Abh. zur Kritik der gesch. Existenz (1960); Gott, Mensch und Welt in der Met. von Descartes bis zu Nietzsche (1967). – W. Weischedel: Der Gott der Philosophen 1. 2 (21972). – P. Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung (1971). – A. M. Haas: Nim Din Selbes War. Stud. zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse (1971). – R. Koselleck: Zur hist.-polit. Semantik asymmetr. Gegenbegriffe, in: Poetik und Hermeneutik 6: Positionen der Negativität (1975) 64ff. – W. Schulz s. Anm. [13].