Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Natura naturans/naturata

Natura naturans/naturata 2681 10.24894/HWPh.2681Klaus Hedwig
Metaphysik hervorbringende/hervorgebrachte Natur Trinität6 504f Substanz/Attribut6 506 hen kai pan (ἓν καὶ πᾶν)6 507 ordo ordinans/ordinatus6 507 élan vital6 509 principium ordinans naturam6 505 principium generationis6 505
(hervorbringende Natur/hervorgebrachte Natur). – 1. Die terminologischen Voraussetzungen dieser Begriffe gehen, wenngleich nicht in allen ihren systematischen Implikationen [1], auf die arabischlateinische Übersetzung eines Aristoteles-Textes zurück, in dem «Naturprodukte» und «Kunstprodukte» gegeneinander abgehoben werden: die Naturprodukte haben – anders als die Artefakte – den «Ursprung» (ἀρχή) ihres Hervorgehens in sich, derart, daß der Naturprozeß von einem Anfangsgebilde im natürlichen Sichbilden der Natur (φυόμενον) zu einem Zielgebilde als μορφή derselben Natur hinführt (τὸ φυόμενον ἐκ τινὸς εἰς τὶ ἔρχεται ἢ φύεται) [2]. In der arabisch-lateinischen Übersetzung dieser Textstelle durch Michael Scottus ist das Naturprodukt bestimmt als: «naturatum ab aliquo ad aliquid venit et naturatur aliquid» [3]. Der lateinische Kommentar des Averroes zu diesem Text verwendet die gleiche Terminologie [4]. Diesen Begriff des Naturprozesses überträgt Michael Scottus in der paraphrasierenden Übersetzung eines Aristoteles-Textes [5] auf das Verhältnis von Gott und Welt, das nach dem Modell eines Naturproduktes interpretiert wird: der göttliche «Gesetzgeber» kann durch die triadische Ordnung der Welt «verehrt» werden, da es die «hervorgebrachte Natur» selbst ist, die diese Gesetzmäßigkeit aufweist und ihr entsprechend alles leitet (quoniam natura naturata ita fecit et nos sequimur ... suum opus) [6]. Hier wird erstmals der Begriff ‹natura naturata› gebraucht, der zwar nicht terminologisch, wohl aber sachlich und problemgeschichtlich auf neuplatonisches Gedankengut zurückzuverweisen scheint [7]. Der komplementäre Gebrauch von ‹natura naturans/naturata› findet sich ebenfalls bei Michael Scottus [8].
[1]
Vgl. H. Siebeck: Über die Entstehung der Termini natura naturans und natura naturata. Arch. Gesch. Philos. 3 (1890) 370–378.
[2]
Aristoteles, Phys. II, 1, 193 b 17; vgl. M.-P. Lerner: Recherches sur la notion de fmalité chez Aristote (Paris 1969) 69. 81.
[3]
Averroes, Comm. in Arist. Phys. II, 14, in: Aristotelis Opera cum Averrois Comm. 4 (Venedig 1562, ND 1962) 53 B; vgl. a.O. II, 11, 52 A (zu Arist. Phys. 193 a 31ff.).
[4]
Vgl. a.O. 52 C. 53 E/F.
[5]
Aristoteles, De caelo I, 1, 268 a 19.
[6]
Averroes, Comm. in Arist. De caelo I, 2, a.O. [3] Bd. 5, 2 F; vgl. auch Comm. magn. in Arist. De anima, hg. F. S. Crawford (1953) 187.
[7]
Vgl. a.O. [1]; H. A. Lucks: Natura naturans – Natura naturata. The new Scolast. 9 (1935) 1–24; O. Weijers: Contrib. à l'hist. des termes ‹natura naturans› et ‹natura naturata› jusqu'à Spinoza. Vivarium 16 (1978) 70–80.
[8]
Vgl. L. Thorndike: Michael Scot (London 1963) 105.
2. In der Scholastik wird die Doppelterminologie ‹natura naturans/naturata› in philosophischen und theologischen (auch in juridischen) Kontexten gebraucht. Eine frühe Definition führt Vincent von Beauvais (1244) an: «natura primo dicitur dupliciter: uno modo natura naturans, idest ipsa summa lex naturae, quae Deus est ... aliter vero dicitur natura naturata, et haec multipliciter» [1]. Für die scholastische Rezeption ist einerseits eine systematische Ausdifferenzierung dieser Begriffe kennzeichnend, andererseits aber auch eine betont kritische Distanz nicht zu übersehen, da der neu eingeführte Terminus «naturare» [2] die zeugende und schöpferische Macht des christlichen Gottes – als Trinität und «creator» – nicht angemessen zu bestimmen vermag. Während Bonaventura den Gebrauch dieser Termini nur referiert [3], begreift Albertus Magnus zwar das schöpferische Prinzip der Dinge als die «res naturans» [4], durch die alle Natur – auch das Naturrecht – «konstituiert» ist (constitutum est a natura naturante) [5]. Aber nur mit grundsätzlichen Einschränkungen kann diese Terminologie, die von den frühen christlichen Autoren nicht gebraucht worden sei (nec ab aliquo philosopho nec ab aliquo sancto), auf das trinitarische Zeugungsgeschehen übertragen werden, insofern nämlich im Vater das «principium generationis Filii» [6] liegt. Im «eigentlichen» Sinn sind daher diese Begriffe weder auf die Trinität noch auf die schöpferische Kunst Gottes (Ars Divina) anzuwenden. Diese kritische Perspektive ist auch für Thomas von Aquin kennzeichnend. In gewisser Weise, als «allgemeine Natur», d.h. als «allgemeines Prinzip der Natur», könnte, wie einige es getan hätten, auch Gott als natura naturans bezeichnet werden [7]. Aber «besser», weil auf die «Gattung der natürlichen Ursachen» der Natur bezogen, ist dieser Begriff auf die ordnende Kausalität der siderischen Bereiche zu beschränken [8]. In der thomistischen Schultradition [9] ist daher die natura naturans konsequent nur als «naturordnendes Prinzip» (principium ... ordinans naturam) verstanden worden.
Dagegen bezeichnet Meister Eckhart in einer Anwendung dieser Begriffe auf die Trinitätslehre die göttliche «Wesenheit» als die «ungenâtûrte nâtûre», in der – durch die «Zeugungskraft» (nâtûren) des Vaters – der Sohn und vermittelt der Geist als «genâtûrte nâtûren» [10] bestehen. Raimundus Lullus überträgt die Begriffe auf den Schöpfungsprozeß und legt ihre Beziehung in trinitarischer Analogie aus (in natura superiori est naturans, qui de se ipso producit naturatum, et ex ambobus se ipsis spirant naturare) [11]. Im Spätmittelalter sind dann diese Begriffe, die die Scholastiker [12] wegen ihrer sprachlichen und systematischen Implikationen zumindest als «holperig» (asper) und die Humanisten [13] als «barbarisch» beargwöhnten, in die philosophische Fachsprache [14], in den allgemeinen literarischen Gebrauch [15] und in die romanischen [16], weniger in die germanischen Volkssprachen [17] übergegangen.
[1]
Vincentius Bellovacensis, Speculum doctrinale IX, 4 (Duaci 1624, ND 1965) 1372.
[2]
Du Cange, Glossarium 5, 575ff.
[3]
Bonaventura, In III Sent., d. 8, dub. 2. Werke 3 (Quaracchi 1887) 197.
[4]
Albertus Magnus, Met. I, 4, 2. Werke, hg. B. Geyer 16, 1 (1960) 49.
[5]
In IV Sent., d. 16, a. 13. Werke, hg. A. Borgnet 29 (Paris 1894) 570b.
[6]
Super Dion. De div. nom. c. 4, n. 200, a.O. [4] 37, 1 (1972) 281.
[7]
Thomas von Aquin, S. theol. I/II, 85, 6.
[8]
In Dion. De div. nom. IV, 21, n. 550, hg. C. Pera (Rom 1950) 206.
[9]
Iohannesa S. Thoma, Cursus philos. thomisticus II (Rom 21949) Naturalis philos. I, q. 9, a. 1, 171.
[10]
Meister Eckhart, Tractat XV, hg. F. Pfeiffer (1857, ND 1962) 537.
[11]
Raimundus Lullus, De consolatione eremitae 9. Opera lat., hg. J. Stöhr 1 (1959) 99. 194. 215. 228. 352; vgl. De efficiente et effectu 10. Opera lat., hg. H. Harada7 [CCCM 32] (1975) 278. 153f. 156.
[12]
Vgl. die Belege bei Lucks, a.O. [7 zu 1] 6ff.
[13]
G. J. Vossius: De vitiis sermonis et glossematis latino-barbaris IV, 14. Opera II (Amsterdam 1695) 236.
[14]
Vgl. die Bei. b. Weijers, a.O. [7 zu 1] 75ff.
[15]
Lex. lat. med. aevi iugoslaviae, fasc. 4 (1974) 756; vgl. auch [2].
[16]
Frz. Etymol. Wb., hg. Wartburg 7, 47 mit dem Hinweis auf R. Grosseteste, Château d'Amour 866; Dizionario etimol. ital. 4 (1954) 2553; Enc. Dantesca 4 (1973) 14.
[17]
J. H. Zedler: Grosses vollst. Universal-Lex. 23 (Leipzig 1740, ND 1961) 1045; Grimm 7, 430. 445.
3. Zu Beginn der Neuzeit bleibt durch die lexikographische Aufzeichnung der ‹natura naturans/naturata› – Terminologie in den Kompendien der Barockscholastik [1] und des Cartesianismus [2] noch eine Brücke zur Tradition bestehen, doch das systematische Rahmengefüge ändert sich grundlegend. Für Giordano Bruno, der polemisch, aber kenntnisreich auf die Tradition zurückgreift, kann die «Form» – als personifizierte natura naturans [3] – nicht mehr über die «Verführung» durch die Materialität der Welt klagen, da es die «Materie» selbst ist, die als «Quelle», «Schoß» und «Mutter» aller Formgestaltungen fungiert. In ihr, der Materie, schafft Gott mittels einer «göttlichen Kraft», nämlich der «Natur», die daher in ihrem Hervorbringen mit dem hervorbringenden Gott identisch ist (Natura enim ... est Deus ipse) [4]. Man kann diese Terminologie auch in der juridisch-kanonischen Überlieferung der ‹natura naturans/naturata› – Begriffe nachweisen [5]. Dagegen wird bei Spinoza die göttliche Natur durch das kategoriale Gefüge von Substanz, Attribut und Modus ausgelegt. Während es nur der Substanz und ihren Attributen zukommt, aus und durch sich zu sein, zeigt der Modus ein Verhältnis an, in dem sich die göttlichen Attribute der Substanz «ausdrücken». Die Modi erscheinen, insofern sie die Attribute des «Denkens» und der «Ausdehnung» manifestieren, als die natura naturata, während Gott selbst als die ewige Substanz die natura naturans [6] ist. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht als klassische Kausalbeziehung zu verstehen: denn insofern die hervorgebrachte Natur ohne die hervorbringende Natur weder sein noch begriffen werden kann, geht die natura naturans/naturata-Beziehung in ein Verhältnis über, das in der späteren Spinoza-Rezeption sowohl als «Pantheismus» wie auch als «Atheismus» ausgelegt wurde. Es ist offensichtlich, daß für Spinoza die «Natur» eine absolute Position einnimmt, der gegenüber die traditionelle Unterscheidung zwischen Naturprodukten und Kunstprodukten entfallen muß. Die gleiche Nivellierung dieser Differenz – aber umgekehrt zugunsten der Kunstprodukte und artifiziell-erzwungenen Bewegungen – ist für die beginnende neuzeitliche Naturwissenschaft kennzeichnend, die dann konsequent die natura naturans/naturata-Terminologie nicht weiterführt. Dort, wo der Begriff ‹natura naturans› dennoch auftaucht, wie etwa bei F. Bacon[7], bezeichnet er den «Urquell der gebenden Natur», deren «wahre Gestalt», die aber durch strikt empirische Verfahrensweisen zu explizieren ist. Die Terminologie in ihrem ursprünglichen Sinn verschwindet aus dem modernen, mechanistisch orientierten Weltbild.
[1]
R. Goclenius, Lex. philos. (1613, ND 1964) 747; J. Micraelius, Lex. philos. (21662, ND 1966) 878.
[2]
J. Clauberg, Met. de ente V, § 74. Op. omn. philos. 1 (Amsterdam 1691, ND 1968) 295f.; A. Heereboord, Meletemata philos., Colleg. phys., disp. 2, thesis 1, § 4 (Nijmwegen 1665) 66.
[3]
G. Bruno, De la causa, principio et uno, dial. 4, hg. G. Aquilecchia (Turin 1973) 119, 10.
[4]
Summa terminorum met. 51. Op. lat. conscr. I, 4 (Florenz 1889, ND 1962) 101.
[5]
B. Tierney: Natura id est Deus. A case of juristic pantheism? J. Hist. Ideas 24 (1963) 307–322.
[6]
B. Spinoza, Ethica I, prop. 29, schol; I, prop. 31; Korte Verhandeling ... Deel 1, Kap. 8f. Werke, hg. C. Gebhart 1 (1924) 47f.; vgl. H. A. Wolfson: The philos. of Spinoza 1 (Cambridge, Mass. 1934) 216. 252–255. 371; M. Gueroult: Spinoza I, Dieu (1968) 345ff.; E. G. Boscherini: Lex. Spinozanum (1970) 735f.
[7]
Fr. Bacon, Novum Organum II, Aph. 1. Works, hg. Spedding/Ellis/Heath 1 (London 1858, ND 1963) 227.
4. In der neueren Philosophiegeschichte werden die Termini in die kontrovers geführte Diskussion des «Spinoza Benedictus vel Maledictus» [1] einbezogen. Die Wertung ist zunächst weithin negativ. Diese Ablehnung – mit nur wenigen Ausnahmen – geht quer durch so unterschiedliche philosophische Positionen hindurch, wie sie etwa P. Bayle[2], J. G. Walch[3] oder Chr. Wolff[4] vertreten. Erst die Spinoza-Debatte, die sich an Lessing anschließt, setzt neue Akzente. Nachdem Lessing gelehrt hat, daß sich das Mysterium der Trinität für das zur «Vernunft» erzogene Menschengeschlecht natürlich aufklären werde [5], reduziert F. H. Jacobi in seinen Spinoza-Briefen diese Konzeption unter Ausklammerung der dritten Phase der Trinität einseitig auf das Verhältnis von «Vater» und «Sohn», das – als «Identität des Nichtzuunterscheidenden» – im Spinozistischen Sinn als ‹natura naturans/naturata› [6] zu verstehen wäre. Es ist konsequent, daß in dieser Uminterpretation «Gott» als das «Seyn in allem Daseyn» erscheinen muß, als das ἕν καὶ πᾶν, das fortan zur Formel des «Pantheismusstreites» wird. Die polemisch belasteten Begriffe ‹natura naturans/naturata› sind dann im aufgeklärten Spinozismus [7] der Goethezeit – trotz aller Spekulation über «Gott und Natur» [8] – bemerkenswert selten verwendet worden.
[1]
Vgl. E. Altkirch: Maledictus und Benedictes. Spinoza im Urteil ... (1924).
[2]
P. Bayle, Dict. hist. et crit. 2 (Rotterdam 1679) 1090.
[3]
J. G. Walch, Philos. Lex. (41775, ND 1968) 2, 214.
[4]
Chr. Wolff, Theol. nat. II (21741, ND 1981) § 671, S. 672ff.
[5]
G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts §§ 73ff. Werke, hg. H. Göpfert 8 (1979) 505–510.
[6]
F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza. Werke (1819, ND 1972) 4, 1, 88. 186; 4, 2, 76. 88. 142.
[7]
Vgl. H. Timm: Gott und die Freiheit: Studien zur Religionsphilos. der Goethezeit, 1. Die Spinozarenaissance (1974) 226ff.
[8]
Vgl. K. H. Heydenreich: Natur und Gott nach Spinoza (1789, ND 1973).
5. In den Systemkonzeptionen des Idealismus wird die ‹natura naturans/naturata› – Terminologie von der direkten Spinozainterpretation abgelöst und als eine ‹Formel› verwendet, in der die eigene philosophische Position problemgeschichtlich auslegbar wird. Es ist zunächst überraschend, daß Kant die Begriffe nicht gebraucht. Aber die Differenz, die in ihnen liegt, ist für Kants Unterscheidung zwischen der «materiellen» und «formalen Bedeutung» [1] der Natur konstitutiv, in der – gegenüber Spinoza – jeder «transzendente» (oder «hyperphysische») Erklärungsgrundder Natur entfällt. Die frühen Kantianer haben diese Differenz dann ausdrücklich auf die scholastische ‹natura naturans/naturata› [2] zurückbezogen. Für Fichte, der die kritisch-restriktiven Erfahrungsgrenzen bereits im Ansatz seiner Philosophie überschreitet, ist durch die Selbstsetzung des Ich die dogmatische Substantialität der Natur aufgehoben. Insofern nun dieses Ich in der Folge der Setzungsphasen eine praktisch-sittliche Ordnung konstituiert, muß es – entgegen der Substantialität der natura naturans – als «ordo ordinans» begriffen werden, während die gesetzte Weltordnung als «ordo ordinatus» [3] erscheint. Während Hegel[4] Spinozas Reduktion des «Denkens» auf die natura naturata durch die immanente Negativität des Denkens selbst auflöst, interpretiert Schelling diese Problematik dahingehend, daß die Natur im Geist zu sich selbst erwacht und sich damit – wie umgekehrt in der Transzendentalphilosophie – aus der Differenz in eine indifferente Einheit überführt, als welche das Absolute selbst ist. Für das Absolute ist nun die Natur, aber als diese «reflektierte» Natur, die natura naturata, die im absoluten Erkenntnisakt der natura naturans [5] gründet. In der Erkenntnis des Absoluten fallen daher die natura naturata und ihr polares Gegenbild, die «ideelle Welt» des Geistes, in die «Eine Welt» [6] zusammen, deren «Widerschein» das All ist. Hier wird deutlich, daß Schelling die ‹natura naturans/naturata› – Thematik in einen neuplatonischen Kontext umsetzt und dialektisch fortbildet. Auch für Schleiermacher ist dieses dialektische Rahmengefüge, nach welchem die «Welt nicht ohne Gott, Gott nicht ohne die Welt» ist, leitend. Die «hypophilosophische» Formel der ‹natura naturans/naturata›, die Schleiermacher auf Spinoza und Eriugena zurückführt, markiert eine radikale theophanistische Extremposition, die ebenso einseitig wie die «antiphilosophische» Annahme des Schicksals sei [7]. Die «Dialektik» des Denkens, die sich notwendig in diesen Einseitigkeiten der Gott- und Weltinterpretation bewegt, vermag daher die gegensatzlose Einheit Gottes nicht zu erreichen, die nur im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit als «Religion» erfahrbar ist. Die transzendentalphilosophische Wendung, die für die Naturkonzeption im Idealismus generell charakteristisch ist, bestimmt auch Schopenhauers Fassung des «Willens», der sich als natura naturans in der Welt der «Vorstellung» zur natura naturata [8] individualisiert. Aber diese voluntaristische Grundkonzeption ist insofern in ihrem Nerv getroffen, als in den kämpfend sich verzehrenden Individuen das unstillbare Wollen des Weltwillens selbst aufbricht, der die «Zähne in sein eigenes Fleisch» schlägt. «Der Quäler und der Gequälte sind eins» [9]. Die ‹natura naturans/naturata›-Konzeption stürzt hier in einen abgründigen «Widerstreit», dessen Lösung für Schopenhauer darin läge, «alle Leiden auf sich zu nehmen», um in diesem «Nichts das All» zu finden.
[1]
I. Kant, Met. Anfangsgründe der Natur-wiss. A III. Akad.-A. 4, 467; vgl. KrV A 418/B 446; A 845/B 873; vgl. P. Plaas: Kants Theorie der Naturwiss. (1965) 24ff.
[2]
G. S. A. Mellin: Enc. Wb. der krit. Philos. 4 (1801, ND 1971) 401.
[3]
J. G. Fichte, Aus einem Privatschreiben. Akad.-A. I/6 (1981) 373f.
[4]
G. W. F. Hegel: Vorles. über die Gesch. der Philos. Werke, hg. H. Glockner 19, 392–398; vgl. auch a.O. 18, 438.
[5]
F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philos. der Natur ... (1797, 21803) Einl., Zusatz. Werke, hg. K. F. A. Schelling I/2 (1857) 67.
[6]
System der ges. Philos. und der Naturphilos. insbes. (1804) § 42, a.O. I/6 (1860) 199ff.
[7]
F. Schleiermacher, Dialektik. Auswahl in vier Bden., hg. O. Braun/J. Bauer 3 (1910) 85ff. 90ff.; vgl. Gesch. der Philos. Werke III/4, 1 (1839) 277.
[8]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke, hg. A. Hübscher 3 (1949) 194. 367. 655; vgl. a.O. 4 (1950) 111; 5 (1946) 327; 6 (1947) 97. 685.
[9]
a.O. 2 (1949) 418f.
6. Für den Bruch der nachidealistischen Philosophie mit der älteren Tradition ist es kennzeichnend, daß die aristotelisch-scholastischen Voraussetzungen der ‹natura naturans/naturata›-Terminologie nur mühsam wiederentdeckt wurden [1]. Der neuere systematische Gebrauch folgt jedoch weitgehend der Spinozistischen Konzeption. Die Kritik, die L. Feuerbach an der Verhältnisstruktur der natura naturans/naturata [2] übt, richtet sich auf eine vermeintliche Inkonsequenz bei Spinoza, der die Theologie zwar philosophisch «negiert», aber dennoch «auf dem Standpunkt der Theologie» verbleibe. Nicht jedoch in dieser «Mesalliance von Philosophie und Theologie», sondern im Rahmen der modernen «Naturwissenschaft» sei die Natur zu interpretieren. Die Thematik der natura naturans gelangt damit in den Einzugsbereich der exakten Wissenschaften, ohne ihre philosophische Perspektive aufgeben zu müssen. Für H. Bergson steht die «nature» konsequent in einer methodologischen Spannung, die aus der Relevanz einzelwissenschaftlicher Ergebnisse und deren philosophischer Intuition entspringt. In den höheren gesellschaftlichen Ordnungssystemen kehrt diese strukturelle Dualität als die Differenz zwischen den sozialen «Zwängen» und dem «freien Streben» (aspiration) des Individuums in einer offenen Gesellschaft wieder. Der Übergang von der tieferen Stufe zur höheren ist für Bergson, der die Begriffe Spinozas «abwandelt», im Hinblick auf die Ursprünglichkeit der sozial-ethischen Normen als eine Rückkehr zur natura naturans [3] zu verstehen (c'est pour revenir à la Nature naturante que nous nous détachons de la Nature naturée). Aber anders als für die gesamte Tradition ist hier die natura naturans nicht mehr der hervorbringende Grund, sondern das Ziel, auf das hin die Entelechie des «élan vital» strebt. Demgegenüber ist der neuscholastische [4] und neukantianische Gebrauch [5] dieser Begriffe weniger bedeutsam. In der Philosophie der Gegenwart, insofern sie an den klassischen Rationalismus anknüpft, tritt die ‹natura naturans/naturata›-Problematik vor dem Versuch einer philosophischen Letztbegründung durch die «absolute Reflexion» [6] zurück. Eine neue Bedeutung scheinen die tradierten Begriffe dort zu gewinnen, wo auf die im Vergleich zur Theorie und Praxis «unterbestimmte» Natur zurückgefragt wird. Diese Frage, die sich auf das zurückwendet, was der Wissenschaft und Technik als «natura naturans und natura rerum» schon immer vorgegeben ist, würde dann «die erste und letzte Frage jeder natürlich denkenden Philosophie» [7] sein.
Klaus Hedwig
[1]
Vgl. J. E. Erdmann: Grundriß der Gesch. der Philos. (31878) 56; H. Denifle: Meister Eckeharts lat. Schriften. Arch. Litt.- u. Kirchengesch. 2 (1886) 456; R. Eucken: Gesch. der philos. Terminol. (1879, ND 1964) 122. 172.
[2]
L. Feuerbach, Gesch. der neueren Philos. Werke, hg. Schuffenhauer 2 (1969) 410ff. 454.
[3]
H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion. Oeuvres, hg. A. Robinet (1959) 1024.
[4]
A. D. Sertillanges: Der hl. Thomas v. Aquin (21954) 481. 554.
[5]
F. W. Garbeis: Das Problem des Bewußtseins in der Philos. Kants (1924) 128ff.
[6]
W. Cramer: Die absolute Reflexion I. Spinozas Philos. des Absoluten (1966) 67ff.
[7]
K. Löwith, Natur und Humanität des Menschen, in: Ges. Abh. (1960) 185.
H. Siebecks. Anm. [1 zu 1]. – H. A. Lucks s. Anm. [7 zu 1]. – M. Gueroult s. Anm. [6 zu 3] 556–568. – B. Tierney s. Anm. [5 zu 3]. – O. Weijers s. Anm. [7 zu 1].