5. In den Systemkonzeptionen des
Idealismus wird die ‹natura naturans/naturata› – Terminologie von der direkten Spinozainterpretation abgelöst und als eine ‹Formel› verwendet, in der die eigene philosophische Position problemgeschichtlich auslegbar wird. Es ist zunächst überraschend, daß
Kant die Begriffe nicht gebraucht. Aber die Differenz, die in ihnen liegt, ist für Kants Unterscheidung zwischen der «materiellen» und «formalen Bedeutung»
[1] der Natur konstitutiv, in der – gegenüber Spinoza – jeder «transzendente» (oder «hyperphysische») Erklärungsgrundder Natur entfällt. Die frühen Kantianer haben diese Differenz dann ausdrücklich auf die scholastische ‹natura naturans/naturata›
[2] zurückbezogen. Für
Fichte, der die kritisch-restriktiven Erfahrungsgrenzen bereits im Ansatz seiner Philosophie überschreitet, ist durch die Selbstsetzung des Ich die dogmatische Substantialität der Natur aufgehoben. Insofern nun dieses Ich in der Folge der Setzungsphasen eine praktisch-sittliche Ordnung konstituiert, muß es – entgegen der Substantialität der natura naturans – als «ordo ordinans» begriffen werden, während die gesetzte Weltordnung als «ordo ordinatus»
[3] erscheint. Während
Hegel[4] Spinozas Reduktion des «Denkens» auf die natura naturata durch die immanente Negativität des Denkens selbst auflöst, interpretiert
Schelling diese Problematik dahingehend, daß die Natur im Geist zu sich selbst erwacht und sich damit – wie umgekehrt in der Transzendentalphilosophie – aus der Differenz in eine indifferente Einheit überführt, als welche das Absolute selbst ist. Für das Absolute ist nun die Natur, aber als diese «reflektierte» Natur, die natura naturata, die im absoluten Erkenntnisakt der natura naturans
[5] gründet. In der Erkenntnis des Absoluten fallen daher die natura naturata und ihr polares Gegenbild, die «ideelle Welt» des Geistes, in die «Eine Welt»
[6] zusammen, deren «Widerschein» das All ist. Hier wird deutlich, daß Schelling die ‹natura naturans/naturata› – Thematik in einen neuplatonischen Kontext umsetzt und dialektisch fortbildet. Auch für
Schleiermacher ist dieses dialektische Rahmengefüge, nach welchem die «Welt nicht ohne Gott, Gott nicht ohne die Welt» ist, leitend. Die
«hypophilosophische» Formel der ‹natura naturans/naturata›, die Schleiermacher auf Spinoza und Eriugena zurückführt, markiert eine radikale theophanistische Extremposition, die ebenso einseitig wie die «antiphilosophische» Annahme des Schicksals sei
[7]. Die «Dialektik» des Denkens, die sich notwendig in diesen Einseitigkeiten der Gott- und Weltinterpretation bewegt, vermag daher die gegensatzlose Einheit Gottes nicht zu erreichen, die nur im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit als «Religion» erfahrbar ist. Die transzendentalphilosophische Wendung, die für die Naturkonzeption im Idealismus generell charakteristisch ist, bestimmt auch
Schopenhauers Fassung des «Willens», der sich als natura naturans in der Welt der «Vorstellung» zur natura naturata
[8] individualisiert. Aber diese voluntaristische Grundkonzeption ist insofern in ihrem Nerv getroffen, als in den kämpfend sich verzehrenden Individuen das unstillbare Wollen des Weltwillens selbst aufbricht, der die «Zähne in sein eigenes Fleisch» schlägt. «Der Quäler und der Gequälte sind eins»
[9]. Die ‹natura naturans/naturata›-Konzeption stürzt hier in einen abgründigen «Widerstreit», dessen Lösung für Schopenhauer darin läge, «alle Leiden auf sich zu nehmen», um in diesem «Nichts das All» zu finden.
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I. Kant, Met. Anfangsgründe der Natur-wiss. A III. Akad.-A. 4, 467; vgl. KrV A 418/B 446; A 845/B 873; vgl. P. Plaas: Kants Theorie der Naturwiss. (1965) 24ff. |
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G. S. A. Mellin: Enc. Wb. der krit. Philos. 4 (1801, ND 1971) 401. |
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J. G. Fichte, Aus einem Privatschreiben. Akad.-A. I/6 (1981) 373f. |
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G. W. F. Hegel: Vorles. über die Gesch. der Philos. Werke, hg. H. Glockner 19, 392–398; vgl. auch a.O. 18, 438. |
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F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philos. der Natur ... (1797, 21803) Einl., Zusatz. Werke, hg. K. F. A. Schelling I/2 (1857) 67. |
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System der ges. Philos. und der Naturphilos. insbes. (1804) § 42, a.O. I/6 (1860) 199ff. |
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F. Schleiermacher, Dialektik. Auswahl in vier Bden., hg. O. Braun/J. Bauer 3 (1910) 85ff. 90ff.; vgl. Gesch. der Philos. Werke III/4, 1 (1839) 277. |
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A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke, hg. A. Hübscher 3 (1949) 194. 367. 655; vgl. a.O. 4 (1950) 111; 5 (1946) 327; 6 (1947) 97. 685. |
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