Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Neigung

Neigung 2719 10.24894/HWPh.2719 Karl-Heinz Nusser Wolfgang Schirmacher
Ethik und Moralphilosophie inclinatio pronitas propensio proclivitas Hang Erbsünde6 707 appetitus6 707 moral sense6 708 Gewohnheit6 708 Gefühl, moralisches6 708 Begierde6 709 Pflicht6 709ff Seele, schöne6 709f Naturtrieb6 710 Selbstachtung6 710 appetitus intellectualis6 707 Vernunftinteresse6 710 Vernunftgebot6 710 Vernunftmotiv6 711
Neigung (lat. inclinatio naturalis, pronitas, propensio, proclivitas; engl. propensity; franz. inclination, penchant; ahd. hnîgan; mhd. nîgen) bezeichnet ursprünglich das Gestimmt- und Gerichtetsein der Seelenvermögen zur Ausübung ihrer spezifischen Akte. Das deutsche Wort wurde wohl von den deutschen Mystikern des 14. Jh. zuerst eingeführt und sollte die lateinischen Ausdrücke ‹inclinatio naturalis› und ‹pronitas› (animi, voluntatis) übersetzen. Erst in späterer Zeit, aufgrunddes Einflusses der englischen Moral-sense-Philosophie, gesellt sich als weiteres Bedeutungselement die Gewohnheit dazu, so daß man auch von einer gewohnheitsmäßigen N. sprechen kann, wobei sich die Bedeutung derjenigen der Wörter ‹Hang›, ‹Leidenschaft› und ‹Trieb› annähert.
N. benennt einen für die Ethik zentralen Sachverhalt, dessen nähere Bestimmung davon abhängig ist, ob man die menschliche Natur für ‘korruptʼ hält, als eine durch Erbsünde getrübte Gottesebenbildlichkeit ansieht [1], oder ob man davon ausgeht, daß der Mensch von Natur aus gut ist. Danach gestaltet sich jeweils die Rolle der N. im Verhältnis von Natur und Tugend. Der Mensch hat aufgrundder Erbsünde nach Thomas von Aquin eine indirekte Willensneigung zum Bösen (quadam pronitate voluntatis ad malum) [2], eine N., die bei Adam ebenso wie bei den Engeln anfänglich nicht vorhanden war, so daß der erste Abfall von Gott bloß aus der freien Entscheidung herrührte [3]. Bei den Mystikern nimmt Meister Eckhart vor allem auf, daß Thomas von Aquin und Duns Scotus dem Menschen auch eine N. zum Guten und zur Tugend zubilligen [4], während Tauler der anderen Traditionslinie folgt und die böse N. unterstreicht [5]. Aufgrundder Erbsünde hat der Mensch eine N. zum Bösen (geneiglich ist ze gebresten). Die Sinne und niedersten Kräfte des Menschen neigen sich zur äußeren und vergänglichen Welt (neigent sich nider zuo ussern dingen). Gegen diese N. muß der um Selbsterkenntnis bemühte Mensch ankämpfen [6]. Deutlich trennt Meister Eckhart N. und Sünde: N. zur Sünde ist selbst keine Sünde, sondern wird dies erst durch den Willen [7]. N. ist für sich noch keine zwingende Kraft [8], eine wichtige Einschränkung, die Leibniz später verwenden wird [9]. Der Mensch soll sich nach Meister Eckhart nicht wünschen, daß ihm die N. zur Sünde verginge; denn dann würde es auch keine Tugend geben können [10]. Die N. zum Guten ist jedoch dem «Seelenfünklein» so eingewurzelt, daß sie sogar noch in der Hölle wirksam wird [11].
Ethisch bedeutungsvoll ist die damit angezielte höhere N., wie Leibniz analysiert: «... immaßen die Tugend darin bestehet, daß man eine N. und Fertigkeit habe, nach dem Verstand zu würken, und folglich alles zum rechten Endzweck, das ist zur wahren Erkänntniß und Liebe Gottes zu richten» [12]. Der Wille wird von Leibniz als «inclinatio intelligentis, sive proclivitas» definiert und ausdrücklich als ein appetitus intellectualis vom appetitus sensitivus unterschieden [13]. Der Geist neigt sich immer der Seite zu, auf der gerade das größere Gut zu sein scheint; er neigt sich aber frei, so daß er sich auch anders entscheiden könnte; denn er handelt spontan [14]. Die N. (propensio) ist eine Bestimmung des Geistes, etwas vor anderem zu denken, weil der Gedanke daran differenzierter ist als die anderen gleichzeitigen Gedanken [15]. Bei Wolff wird der Zusammenhang von Vernunft und N. dagegen geleugnet; denn N. – auch sinnliche Begierde und gelegentlich Wille genannt [16] – ist bloß «N. der Seele gegen die Sache, davon wir einen undeutlichen Begriff des Guten haben» [17]. N. bringt Empfindungen hervor; die Vernunft hat damit nichts zu schaffen.
Es blieb der englischen Moralphilosophie vorbehalten, die systematische Annahme eines moral sense zu entwickeln, in dem der Widerstreit von N. und Tugend durch die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit beendet wird. Shaftesbury, Hutcheson und Hume beeinflußten entscheidend Herder, Lessing, Kant, Goethe, Schiller und Winckelmann. Shaftesbury rät, der Natur zu folgen, und führte die bis heute geltende Dreiteilung in egoistische, altruistische und höhere N.en ein [18]. Im Rahmen seiner Analyse des Liebesbegriffs gelangt Hutcheson zur Unterscheidung von drei Klassen von Wünschen: 1. die ruhigen (calm) Wünsche, die frei von begleitenden Lust- bzw. Schmerzempfindungen sind; 2. die Affekte, die von reflexiv verursachten Gefühlen begleitet sind, und 3. die Leidenschaften im engeren Sinn, bei denen heftige und verwirrende Empfindungen auftreten [19]. Mit der letzten Klasse sind nach Hutcheson in der Regel N.en verknüpft. Von N.en, im Unterschied zu Wünschen, ist dann die Rede, «wenn wir zu ... Gegenständen oder Handlungen bestimmt sind, ... ohne irgendeine Vorstellung von ihnen als etwas Gutem oder als ein Mittel zur Abwendung von etwas Üblem zu haben ... und ohne daß sie Gegenstand eines besonderen Wunsches sind». Diese N.en nennt er auch Leidenschaften. Als Beispiele führt Hutcheson u.a. an: Handlungen aus Zorn und Neugier, den Angstschrei, instinktive Reaktionen (auch bei Tieren) [20]. Bei Hutcheson tritt N. in den Zusammenhang mit Gewohnheit. Dies mag damit zusammenhängen, daß Hutcheson die Erbsünde nicht mehr für die Erklärung des moralischen Übels in Rechnung stellt, sondern in letzterem ein korrigierbares Übergewicht von egoistischen Wünschen und N.en sieht, die nicht auf die menschliche Natur, sondern auf «preternatural causes» wie Gewohnheit, Habitus und Vorstellungsvermögen zurückgehen [21]. Der wilde und der zivilisierte Mensch unterscheiden sich im Grunde ihres Herzens und ihrer N.en, behauptet wenig später Rousseau[22]. Dabei kann der von Natur aus gute Mensch seinen natürlichen Gefühlen mehr trauen als seiner durch die Gesellschaft verdorbenen Vernunft [23]. Allgemein betrachtet, gibt es im Menschen sowohl den Egoismus als auch die selbstlose Freude am Glück anderer. Nur das letztere bedeutet, den N.en des Gewissens zu folgen, und dies befriedigt wirklich [24]. Für Hume wird das moralische Gefühl nicht vom Gedanken der Nützlichkeit geleitet, sondern vom Gefühl der Sympathie mit dem Glück der Menschheit [25]. Die kühle und uninteressierte Vernunft ist im Gegensatz zur produktiven N. kein Motiv zum Handeln [26]. N. oder Abneigung entspringt nach Humes Auffassung der Aussicht auf Lust oder Unlust [27], und die Vernunft lenkt den durch N. übermittelten Handlungsimpuls nur, insofern sie die Mittel zum Erreichen des gewünschten Ziels angibt [28]. Bei der Streitfrage, ob die moralische Billigung durch Vernunft oder N. zustande kommt, obsiegt bei Hume die N.: «Es ist wahrscheinlich, daß das endgültige Urteil, das Charaktere oder Handlungen für liebenswert oder hassenswert erklärt, ... auf irgendeinem inneren Sinn oder Gefühl beruht, den die Natur uns Menschen ganz allgemein mitgegeben hat» [29].
Tetens sieht dagegen N.en eher als von «Ideen auf die Objekte geleitete Triebe» an. Trieb und N. sind noch zu unterscheiden; denn «oft leitet die Idee zum Gegenstande hin, wovon das ungeleitete, bloß durch dunkle Gefühle bestimmte, Bestreben sich abwendet» [30]. Auch für Hutcheson spielt Vernunft eine positive Rolle; denn von Vernunft gesetzte Ziele wirken auf das Gefühl zurück, ein vom vorkritischen Kant geteiltes Urteil [31].
Doch bereits in seiner Schrift ‹Träume eines Geistersehers› (1766) rückt Kant von den Engländern ab; die moralischen Prinzipien entstammen nicht dem Gefühl, sondern allein der Vernunft. Kant definiert N. als «habituelle sinnliche Begierde» [32]; sie besteht in der «Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen» und «beweist jederzeit ein Bedürfnis» [33]. Die auf das Gefühl von Lust und Unlust gegründeten N.en sind natürlichen Ursprungs, doch wechseln sie und «wachsen mit Begünstigung» [34]. Grundsätzlich gilt, daß alle Menschen «die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit» haben [35]. Die Idee der Glückseligkeit wird bei Kant zum allgemeinen Titel für alle N.en, die den Willen bestimmen. Ein von N.en bestimmter Wille kann jedoch niemals moralisch sein. Wesentlich für den durch das Sittengesetz bestimmten moralischen Willen ist, «daß er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben, und mit Abbruch aller N.en, so fern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde» [36]. N.en sind «blind und knechtisch, sie (die N.) mag nun gutartig sein oder nicht» [37], Freiheit und Moralität entstehen erst durch «Unabhängigkeit von N.en» [38]. So ist etwa das Gebot der Nächstenliebe so zu verstehen, daß der Mensch wohltun solle «aus Pflicht, selbst wenn dazu gleich gar keine N. treibt» [39]. Nach Kant können zwar die Materien, auf die sich N. und Pflicht beziehen, zusammenfallen, doch Handeln «aus Pflicht» und Handeln «aus Neigung» bezeichnen zwei einander ausschließende Bestimmungsprinzipien des Willens.
Schiller hat Kants Bestimmung der N. eingehend kritisiert. Zwar beteuert er, daß er mit Kant grundsätzlich übereinstimme und einverstanden sei, daß dieser die Glückseligkeit aus der Ethik verbannt habe, aber tatsächlich versucht Schiller, gegen Kant die Sinnlichkeit zu rehabilitieren. Kant und Schiller haben ihre Kontroverse als Darstellungsproblem ansehen wollen [40], aber sie unterscheiden sich bereits darin fundamental, daß Schiller Kants Lehre vom «radikal Bösen» in einem Brief an Körner strikt ablehnt [41]. Kants Behandlung der N. hält Schiller für philosophisch angemessen, aber doch für lebensfremd, wie sein berühmtes Distichon ‹Die Philosophen› zeigt: «Gern dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit N., / Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin» [42]. Kant wird von Schiller vorgehalten, die Affekte des Menschen zu gering zu achten, er habe auch den «uneigennützigen Affekt in der edelsten Brust verdächtig» gemacht [43]. In seiner Schrift ‹Über Anmut und Würde› (1793) entwirft Schiller dagegen die Existenzweise einer «schönen Seele», in deren «Anmut» dann «Pflicht und N. harmonieren» [44]. Denn es gibt «keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht» [45], heißt es programmatisch in ‹Über die ästhetische Erziehung des Menschen› (1795). Schiller strebt eine Veredelung des Menschengeschlechts durch Selbsterziehung an, bei der die ästhetische N. vermittelnd tätig ist und eine Wesensverbindung von Pflicht und N. herstellt [46]. Schiller wollte den Gehorsam gegen die Vernunft selbst zum Gegenstand der N. machen, eine «N. zu der Pflicht» [47] einführen. Kantisch bleibt Schiller jedoch darin, daß er die von ihm angestrebte «innige Übereinstimmung» zwischen den beiden Naturen des Menschen bloß als eine «Idee» ansieht, die uns aufgegeben ist, aber nie ganz erreicht werden kann. Daher wandelt sich auch die Anmut der schönen Seele in die «Würde» als «Ausdruck einer erhabenen Gesinnung» [48]. Kant seinerseits hält in seiner Schiller gewidmeten Fußnote an der Trennung von Pflicht und N. fest: Das von Schiller entworfene «herrliche Bild der Menschheit ... verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten» [49] müssen, aber er erwägt die Möglichkeit einer «sinnenfreien N.», eines «habituellen Begehrens aus reinem Vernunftinteresse» [50].
Der frühe Fichte steht noch ganz unter dem Einfluß Kants, aber ihn interessieren die Gründe für die «Unzulänglichkeit des Vernunftgebots», wenn ein der Vernunft widerstreitendes Naturgesetz unsere N. bestimmt [51]. In uns selbst erleben wir dann, daß wir «die Stimme der Pflicht vor dem Schreyen der N. nicht hören, sondern uns in der Lage zu seyn düncken könnten, wo wir unter bloßen Naturgesetzen stehen» [52]. Was Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit heißen kann, ist Fichtes Frage. «Sittliches Interesse» heißt bei ihm «Selbstachtung als activer, den Willen ... thätig zur N. bestimmender Trieb» [53]. N. wird später bei Fichte durch den Begriff Naturtrieb abgelöst, der als «Medium zwischen Fremd- und Selbstbestimmung» [54] verstanden ist. Hegel dagegen nimmt Schillers Motiv auf und radikalisiert es, wenn er Kants moralischer Weltanschauung «Verstellung» und Unernst vorwirft. «Das moralische Selbstbewußtsein stellt seinen Zweck rein, als von N.en und Trieben unabhängig auf.» Aber indem es handelt, «bringt es seinen Zweck zur Wirklichkeit, und die selbstbewußte Sinnlichkeit, welche aufgehoben sein soll, ist gerade diese Mitte zwischen dem reinen Bewußtsein und der Wirklichkeit». Die Sinnlichkeit hat ihre eigenen Gesetze, und es kann der Moralität «daher nicht Ernst damit sein, ... der Neigungswinkel der N.en zu sein». Die Harmonie von Pflicht und N. in der moralischen Handlung ist also «nur an sich und postuliert», in Wahrheit «jenseits des Bewußtseins in nebliger Ferne» [55]. Bei Hegel wird der Kantische Begriff der N. durch die Gleichsetzung mit den Begriffen Trieb und Begierde abgelöst. In § 11 der ‹Grundlinien der Philosophie des Rechts› spricht er von den «Trieben, Begierden und N.en, durch die sich der Wille von Natur bestimmt findet». N.en, Triebe und Begierde liegen vielfach zueinander im Gegensatz. Sie gehören zur Erscheinungsweise des Willens in seinem anthropologisch-empirischen Zustand, in dem sich der Mensch durch den dialektischen Gegensatz der N.en bildet [56]. Von der N. im eindeutig positiven Sinn, von der die Dichter reden, spricht Hegel bei der Behandlung der Ehe: Die besondere N. kann der Ausgangspunkt der Ehe sein [57].
Schopenhauer verwendet N. wieder in traditioneller Weise als «Empfänglichkeit des Willens für Motive einer gewissen Art». Bei einer «starken N.», Leidenschaft also, üben diese Motive «eine Gewalt über den Willen» aus, die «absolut» ist [58]. Damit wird nach Schopenhauer die «intellektuelle Freiheit in gewissem Grade» aufgehoben [59]. Wir haben «böse N.en», aber die von Schopenhauer angenommene Unveränderlichkeit des Charakters schließt nicht aus, daß wir sie erfolgreich bekämpfen. Fast optimistisch klingt Schopenhauers Feststellung, daß «in jedem Menschen auch eine N. zur Wahrheit [liegt], die bei jeder Lüge erst überwältigt werden muß» [60].
Für Nietzsche ist die Kantische Unterscheidung von Pflicht und N. hinfällig. Pflichten können sich nach langer Übung in lustvolle N.en verwandeln. Ein «kleiner Rest asketischer Grausamkeit» sei der Grund, daß Kant die Pflicht mit etwas Unangenehmem identifiziert habe [61]. Wie die Unterscheidung von Pflicht und N. überflüssig wird, so erübrigt sich nach Nietzsche auch der asketische Geist-Leib-Gegensatz der bisherigen abendländischen Moral. Intellekt und N.-Bejahung sind beide nur Triebresultate, Ausflüsse der Physiologie. «Der Egoismus ist so viel werth als der physiologisch werth ist, der ihn hat» [62]. N.-Bejahung ist genauso Ausdruck des «Willens zur Macht» wie N.-Verneinung, wobei beide bei edlen und unedlen Menschen vorkommen können. Jene Morallehrer, die die Selbstbeherrschung ins Zentrum ihrer Lehre stellen, «bringen damit eine eigenthümliche Krankheit über den Menschen: nämlich eine beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und N.en und gleichsam eine Art des Juckens» [63]. «Selbstsein, sich selber nach eigenem Maß und Gewicht schätzen» gehört erst zur jüngeren Geschichte der Menschheit. «In den längsten und fernsten Zeiten» würde die N. dazu «als Wahnsinn empfunden worden sein» [64]. Im ganzen der Entwicklung gesehen, wirkt Nietzsches Subjektivierung der N. auch im Sinne der Entsubjektivierung: an die Stelle der N., die gut und schlecht sein kann, wird der Trieb treten.
Im 20. Jh. wird N. von Philosophen, soweit sie sich nicht ausdrücklich auf Kants Sprachgebrauch beziehen, terminologisch im umgangssprachlichen, positiven Sinn verwendet. Mit diesem positiven Sinn geht – wie schon bei Hegel, Schopenhauer und Nietzsche – auch bei M. Scheler die Kritik an Kants Auffassung der N. einher. Scheler gesteht Kant zu, daß nur der Willensakt und nicht die N. im strengen Sinne sittlich gut sein könne. Aber der höhere Wert, der im Akt gewählt werde, liege schon «in den Strebungen selbst, nicht erst entspringt dieses Höhersein aus seinem Verhältnis zum Wollen» [65]. Auch die Liebe zu Gott als N., die Kant abgelehnt hatte, ist möglich; denn N. ist «unmittelbare Hinwendung zu einem Wert» und im Fall der Liebe nicht primär auf einen bloßen Gegenstand der Sinne bezogen [66]. Auch die experimentelle und verhaltenstherapeutische Psychologie spiegelt die Veränderung des Sprachgebrauchs. So spricht z.B. J. W. Atkinson nicht mehr von N.en, sondern höchstens von kausal wirkenden Motivationen. Die Differenzierung, Trieb einem Tier, N. im guten und schlechten Sinne aber nur vernünftigen Wesen zuzuschreiben, ist untergegangen. Husserl stößt auf N. bei dem Problem, wie das Ich den Akt aus «originärer Freiheit» vollziehen kann: «Ich kann mich frei entscheiden und gleichzeitig folge ich der gewohnheitsmäßigen N. Ganz frei bin ich, wenn ich nicht passiv motiviert bin, das ist, Folge leiste durch Affekte, sondern durch ‘Vernunftmotiveʼ» [67]. Für Adorno ist N. ein allerdings entfremdeter Rest menschlicher Unmittelbarkeit, weil sie sich dem Tauschprinzip der Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft nicht unterwerfen will: «dann widersetzt dem sich die einmal gefaßte N., indem sie ausharrt» [68].
[1]
K. Kirmsse: Die Terminologie des Mystikers J. Tauler (1930) 59.
[2]
Thomas von Aquin: S. theol. II/I, 85, 3 ad 2.
[3]
a.O. I, 63, 7.
[4]
II/II, 123, 1.
[5]
A. Haas: J. Taulers Lehre von der Selbsterkenntnis des Menschen. Freib. Z. Philos. Theol. 16 (1969) 248–286. 350–387.
[6]
A. M. Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei M. Eckhart, J. Tauler, H. Seuse (Fribourg 1971) 92. 95. 103f.
[7]
Meister Eckhart, Die dtsch. Werke, hg. J. Quint (1958) 5, 214.
[8]
H. Arendt: Vom Leben des Geistes 2 (1979) 56.
[9]
Vgl. K. Goldammer, Art. ‹Inklination›. Hist. Wb. Philos. 4, 383, Anm. 11.
[10]
Meister Eckhart, a.O. [7] 5, 214.
[11]
a.O. 1, 333.
[12]
G. W. Leibniz, Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt 7 (1890) 116.
[13]
Textes inédits, hg. G. Grua (Paris 1948) 725.
[14]
a.O. 302.
[15]
523. 525.
[16]
Chr. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1741) § 878.
[17]
a.O. § 434.
[18]
A. A. C. Earl of Shaftesbury: Untersuch. über die Tugend, hg. P. Ziertmann (1905); vgl. Lalande 10 484.
[19]
F. Hutcheson: An essay on the nature and conduct of the passions and affections (1728). Coll. works 2, hg. B. Fabian (1969–71) 27ff. 60ff.
[20]
a.O. 62ff.
[21]
165–203.
[22]
J.-J. Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité, hg. J. Starobinski. Oeuvres compl., hg. B. Gagnebin/M. Raymond 3 (Paris 1964) 192.
[23]
E. Zeil-Fahlbusch: Wissen und Handeln (1979).
[24]
Rousseau, Emile, hg. Ch. Wirz/P. Burgelin, a.O. [22] 4, 596ff.
[25]
D. Hume, Untersuch. über die Prinzipien der Moral, hg. C. Winckler (1955) 135f.
[26]
a.O. 176.
[27]
Traktat über die menschl. Natur, hg. Th. Lipps (1973) 152.
[28]
a.O.
[29]
a.O. [25] 7.
[30]
J. N. Tetens: Philos. Versuche über die menschl. Natur und ihre Entwicklung 2 (1777) 823.
[31]
I. Kant, Werke. Akad.-A. 2, 311.
[32]
Anthropol. in pragm. Absicht, a.O. 7, 251.
[33]
Grundl. der Met. der Sitten, a.O. 4, 413 Anm.
[34]
KpV A 212.
[35]
Grundl., a.O. [33] 399.
[36]
KpV A 129.
[37]
A 213.
[38]
A 212.
[39]
Grundl, a.O. [33] 399.
[40]
Vgl. H. Reiner: Die Grundlagen der Sittlichkeit (1974) 36.
[41]
Zit. bei: P. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik (1979) 295; der Brief ist vom 28. 2. 1793.
[42]
Fr. Schiller, Sämtl. Werke (= Säkular-Ausg.) 1, 268.
[43]
a.O. 11, 219.
[44]
a.O. 222.
[45]
12, 87.
[46]
Reiner, a.O. [40] 42.
[47]
Schiller, a.O. [42] 11, 217.
[48]
a.O. 223f.
[49]
Kant, a.O. [31] 6. 24 Anm.
[50]
a.O. [49] 6, 212f.
[51]
J. G. Fichte: Critik aller Offenbarung. Ges.-Ausg., hg. Lauth/Jacobs 1, 32.
[52]
a.O. 33.
[53]
143f.
[54]
W. G. Jacobs: Trieb als sittl. Phänomen (1967) 183.
[55]
G. W. F. Hegel: Phänomenol. des Geistes, hg. J. Hoffmeister (1964) 438.
[56]
Grundl. der Philos. des Rechts § 17ff.
[57]
a.O. § 162.
[58]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher (31972) 680.
[59]
a.O. 681.
[60]
a.O. I, 292.
[61]
Fr. Nietzsche, Morgenröthe. Werke, hg. Colli/Montinari 5/1 (1971) Nr. 339.
[62]
Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, Frg. 14 [29], a.O. 8/3, 23.
[63]
Die fröhliche Wiss., a.O. 5/2, 305.
[64]
a.O. 117.
[65]
M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die mat. Wertethik (1966) 62.
[66]
a.O. 229f.
[67]
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenol. ... Husserliana 4, hg. W. Biemel (1952) 339.
[68]
Th. W. Adorno: Minima Moralia (61969) 226.
P. Menzer: Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik in den Jahren 1760 bis 1785. Kantstud. 2 (1898) 290–322; 3 (1899) 41–104. – R. d'Allones: Les inclinations 1 (Paris 1911). – W. G. Jacobs s. Anm. [54]. – H. Jensen: Motivation and the moral sense in F. Hutcheson's ethical theory (Den Haag 1971). – H. Reiner s. Anm. [40]. – K. Goldammer s. Anm. [9]. – M. Albrecht: Kants Antinomie der prakt. Vernunft (1978). – H. Arendt s. Anm. [8].