Neustoizismus (frz. néostoïcisme, engl. neo-stoicism).
W. G. Tennemann überschreibt ein Kapitel seiner Philosophiegeschichte mit ‹Erneuerter Stoizismus›
[1]. Im übrigen scheint der Begriff ‹N.› im 19. Jh. nur selten und erst im 20. Jh. regelmäßig gebraucht zu werden. Von «novi Stoici» hingegen spricht bereits
J. Calvin[2]. ‹N.› bezeichnet die Wiederbelebung der stoischen Philosophie im späthumanistischen Denken des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jh., die vor allem mit dem Wirken des Niederländers
J. Lipsius (1547–1606) verknüpft ist. Die Rekonstruktion der antiken Stoa, vornehmlich aber der stoischen Ethik im Sinne einer autonomen Tugendhaltung menschlicher Selbstbehauptung unter Rückgriff auf
Seneca und
Epiktet, wie sie in Lipsius' drei Werken ‹De Constantia› (1584), ‹Manuductio ad Stoicam philosophiam› (1604) und ‹Physiologia Stoicorum› (1604) ausgeführt ist, versteht die stoische Philosophie als ein natürliches Vernunftsystem, das sich unter Verzicht auf den ursprünglichen Sensualismus der Stoa auf das Kriterium der «recta ratio» stützt
[2a], hierbei von direkten Ableitungen aus biblischen und theologischen Autoritäten absieht, doch stets bemüht ist, eine weitgehende Übereinstimmung von stoischer und christlicher Lehre nachzuweisen. Die Harmonisierung mit der christlichen Doktrin wird dadurch erleichtert, daß einerseits weitgehend die gemäßigte stoische Ethik Senecas zugrunde gelegt ist und andererseits gewisse Umdeutungen (aprioristische Herkunft der moralischen Begriffe, entschiedener Rationalismus, metaphysischer Dualismus) und forcierte Ausdeutungen (Unterordnung des Tugendbegriffs unter den Gottesbegriff in der Frage des höchsten Gutes, entscheidende Abschwächung der Apathie-Lehre, Verschmelzung von Fatum und Vorsehung) vorgenommen worden sind. Eine ausdrückliche Distanzierung von stoischen Thesen geschieht bei Lipsius lediglich in eher sekundären Fragen (Gottgleichheit des stoischen Weisen, Verwerfung des Mitleids, philosophischer Selbstmord). Aus dieser Sicht erscheint die antike Stoa als ein rationales System, das die Wahrheiten des Christentums weitgehend vorwegnimmt und das deshalb geeignet ist, den Menschen auf dem Wege der bloßen Vernunft zum christlichen Glauben zu führen. Man kann zudem darauf verweisen, daß bereits in der frühchristlichen patristischen Tradition Übereinstimmungen zwischen Stoa und Christentum bemerkt worden sind und namentlich die frühchristliche Ethik von der stoischen Ethik und Affektenlehre entscheidend beeinflußt worden ist
[3].
Historisch betrachtet, hängt die Entstehung und Verbreitung des N. mit der Ausbildung eines natürlichen Systems der Geisteswissenschaften (
Dilthey) zusammen, das im Bereich der sittlichen Lebensführung zu einer von Religion und Theologie losgelösten, autonomen Moral geführt hat. Hierbei wurde die Wiedererweckung der stoischen Ethik in Ländern wie den
Niederlanden und
Frankreich auch dadurch motiviert, daß dort damals Zeiten äußerster geistiger und materieller Unsicherheit herrschten, hervorgerufen durch die von Kriegen und Bürgerkriegen begleiteten Auseinandersetzungen
zwischen Katholizismus und Protestantismus, die Sehnsucht nach einem inneren Halt und der Bewältigung schwieriger Schicksalslagen aufkommen ließen
[4]. In der Tat bot gerade die Stoa eine philosophische Ethik, die, unabhängig von den dogmatischen Streitigkeiten der beiden Konfessionen, als natürliche Grundlage für eine verinnerlichte Moral von strenger Sittlichkeit akzeptiert und als geistiger Zufluchtsort vor den Widrigkeiten des äußeren Lebens gewählt werden konnte.
Der N. hat sich unter diesen Voraussetzungen in ganz Europa während der Barockepoche zu einer überaus populären Moralphilosophie entwickelt, die, wie in Lipsius' weitverbreiteter ‹Politik› (1589), auch die zeitgenössische politische Ethik beeinflußte. Die neben Lipsius wichtigsten europäischen Vertreter des N. waren der deutsche Humanist
K. Schoppe (Gaspar Scioppius, 1576–1649), dessen Schrift ‹Elementa philosophiae stoicae moralis› (1606) unter Anpassung an die christliche Lehre eine Systematisierung der stoischen Ethik, vornehmlich nach Seneca, enthielt, und der Franzose
G. du
Vair (1556–1621), der sich in seiner ‹Philosophie morale des Stoïques› (1599)
[5] vornehmlich auf Epiktet stützte und in seinem ‹Traité de la constance et consolation ès calamitéz publiques› (1595)
[6] dem Vorbild Lipsius' folgte. In Spanien hat außer
Fr. Sánchez de las
Brozas (1523?–1600) vor allem
Fr. de
Quevedo (1580–1645) in ‹La cuna y la sepultura para el conocimiento propio y desengaño de las cosas ajenas› (1634)
[7] und ‹Nombre, origen, intento, recomendación y descendencia de la doctrina estoica› (1635)
[8] die Wiederbelebung stoischen Denkens gefördert. In Italien sind neustoische Züge u.a. bei
V. Malvezzi (1595–1634) und
A. Mascardi (1591–1640) zu erkennen, in England namentlich bei
J. Hall (1574–1656) und in
Th. Gatakers (1574–1654) Schrift ‹De disciplina Stoica› (1652)
[9].
In der europäischen Dichtung der Spätrenaissance und des Barock, zumal in dem unter dem Einfluß der Tragödien Senecas entstehenden Trauerspiel, sind Welt- und Menschenauffassung vielfach durch neustoische Anschauungen (Fatumbegriff, stoische Affektpsychologie und Ethik) geprägt.