Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Nicht-Ich

Nicht-Ich 2754 10.24894/HWPh.2754 Holger Jergius
Erkenntnistheorie ichlich Ich/Nicht-Ich
Nicht-Ich. Der Ausdruck ‹N.› stammt von J. G. Fichte. Er findet sich bereits 1793/94 in seinen ‹Eigene[n] Meditationen über Elementarphilosophie› [1] – hier bildet Fichte auch die Adjektive (ichlich) und ‹nichtichlich› [2] –, dann 1794 in der Aenesidemus-Rezension [3] und in den ‹Einige[n] Vorlesungen ueber die Bestimmung des Gelehrten›. In dieser Schrift bestimmt Fichte N. als das, «was als außer dem Ich befindlich gedacht, was von dem Ich unterschieden und ihm entgegengesetzt wird» [4]. Der Begriff spielt dann vor allem in der ‹Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre› (1794/95) eine zentrale Rolle. Auch in der zeitgenössischen Diskussion der ‹Wissenschaftslehre› ist er nachweisbar, insbesondere bei Schelling[4a]. Es war allerdings Fichtes Eigenart, sich auf keine Terminologie festzulegen, und in späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre hat er den Ausdruck ‹N.› vermieden.
Die Wissenschaftslehre wollte eine klarere und systematischere Darstellung der Transzendentalphilosophie geben, als dies Kant gelungen war, besonders die Unklarheiten, die sich aus dem Ding-an-sich-Problem ergeben hatten, bereinigen sowie darüber aufklären, wie es zu dem Streit zwischen Idealismus und Realismus kommen konnte. Hierbei ist ‹N.› ersichtlich ein Kunstausdruck. Im Grunde aber wurde er seiner unmittelbaren Verständlichkeit wegen geprägt, die er z.B. solchen Wörtern wie ‹Subjekt› und ‹Objekt› voraus hat. Die Unterscheidung Ich/N. nämlich liegt gemäß Fichtes Darlegungen allen anderen Unterscheidungen zugrunde. Durch sie kommt es erst zu einem Selbstbewußtsein gleichermaßen wie zu einem Weltbewußtsein. Der Gegensatz Ich/N. selbst aber ist unmittelbar evident: «N. [wird] vom Ich ... nicht durch Begriffe, sondern unmittelbar durch die Anschauung unterschieden» [5], allerdings nicht durch empirische Anschauung, denn man kann den Unterschied nicht etwa an Gegenständen lernen, sondern, um überhaupt Gegenstände setzen zu können, muß man die Unterscheidung schon gemacht haben [6]. Zur Evidenz dieses Unterschiedes kommt es mithin in apriorischer Anschauung. Das bedeutet: Der Unterschied ist gar nicht gegeben, es sei denn, er wird gemacht. Er beruht auf einem Handeln des Ich. Er ist nur, sofern das Ich sich ein N. entgegensetzt. Dieses Entgegensetzen aber ist eine notwendige Handlung des Ich, so wahr ich Bewußtsein habe, wenngleich dieses Handeln als solches im faktischen Bewußtsein gar nicht vorkommt, sondern erst durch Reflexion zu Bewußtsein gebracht wird. Zugleich aber ist die Entgegensetzung von Ich und N. eine unbedingte Handlung des Ich. Die Selbsterfahrung eines jeden, die Faktizität unseres Daseins, zeigt zwar, daß wir zu solcher Entgegensetzung genötigt sind, auf der andern Seite jedoch beruht ihre Möglichkeit auf Spontaneität. Denn nur dadurch, daß das Ich sich selbst schlechthin in Grenzen setzt, vermag es überhaupt für sich, als Ich, begrenzt zu werden. Aber auch nur dadurch, daß das Ich faktisch begrenzt wird, d.h. genötigt wird, sich selbst durch Entgegensetzung eines N. in Grenzen zu setzen, kommt es zu einem wirklichen Bewußtsein [7]. Dieses hat mithin einen inneren Widerstreit des Ich mit sich selbst zu seinem Grunde insofern, als eben das Ich sich durch Entgegensetzung eines N. setzt und es wiederum vermittels eines Nichtsetzens seiner selbst, durch Übertragung dessen, was es nicht in sich setzt, auf das N., schließlich ein ideales N. setzt, dem ein reales gegenübertritt. Aus diesem inneren Widerstreit des Ich entwickelt Fichte zum einen ein dynamisches Wechselverhältnis von Erkennen und Handeln, zum andern zeigt er, daß die erscheinende Welt, das empirische Selbstbewußtsein gleichermaßen wie dasjenige, was ihm gegeben ist, als Resultat eines dem Ich immanenten Vermittlungsprozesses von Ich und N. begriffen werden kann, und zwar eines Prozesses, der aufgrundder Form des Ich weder in theoretischer noch praktischer Hinsicht zu einem Abschluß kommen kann. In theoretischer Hinsicht nicht, weil dem Ich, sobald es auf sich selbst, sein Vorstellen, reflektiert, damit zwangsläufig ein unbestimmtes, unendliches N. gegenübertritt, in praktischer nicht, weil das handelnd-strebende Ich, das nach dieser frühen Konzeption Fichtes letztlich auf eine Überwindung des Gegensatzes von Ich und N. aus ist, wiederum vom vorstellenden bzw. erkennenden Ich abhängt, da es in seinem Handeln auf bestimmte (vorgestellte) Zwecke bezogen ist, mithin in dem Gegensatz von Ich und N. zugleich die Bedingung der Möglichkeit seines Handelns hat.
Korrespondierend zu diesem inneren Widerstreit des Ich zeigt sich zugleich das N. unter einem Doppelaspekt, nämlich einerseits als im Ich und vom Ich gesetztes, andererseits als absolutes N. Das Ich enthält in sich nur das Prinzip möglichen Lebens: «Soll ein ... wirkliches Leben möglich sein, so bedarf es dazu noch eines besonderen Anstoßes auf das Ich durch ein N. Der letzte Grund der Wirklichkeit für das Ich ist demnach ... eine ursprüngliche Wechselwirkung zwischen dem Ich und irgendeinem Etwas außer demselben, von welchem sich nichts weiter sagen läßt, als daß es dem Ich völlig entgegengesetzt sein muß» [8]. Daß das wahrhaft Absolute bezogen auf das in der Wissenschaftslehre angestrengte Räsonnement als ein absolutes Jenseits erscheint, war später auf Schellings und Hegels Kritik gestoßen [9]. Diese Kritik mochte mit dazu beigetragen haben, daß Fichte den Ausdruck (N.) wieder fallen ließ.
[1]
J. G. Fichte, Gesamt-A. II/3, 123.
[2]
ebda.
[3]
I/2, 47. 62.
[4]
I/3, 28.
[4a]
F. W. J. Schelling, Über die Mögl. einer Form der Philos. überhaupt. Hist.-krit. Ausg. I/1, bes. 281–285; Vom Ich als Prinzip der Philos. oder über das Unbedingte im menschl. Wissen, a.O. I/2, 109–116 (§ X); 117f. (§ XI).
[5]
Fichte, a.O. [1] II/3, 28.
[6]
I/2, 266f.
[7]
I/2, 390.
[8]
I/2, 411.
[9]
Schelling, Vom Ich ..., a.O. [4a]; G. W. F. Hegel, Ges. Werke, Akad.-A. 4, 42. 398.
O. Bensow: Zu Fichtes Lehre vom Nicht-Ich. Berner Stud. zur Philos. und ihrer Gesch. 12 (Bern 1898). – I. Schüssler: Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wiss.-Lehre (Diss. Köln 1969). – H. Radermacher: Fichtes Begriff des Absoluten (1970). – P. Baumanns: Fichtes ursprüngliches System (1972). – W. H. Schrader: Empirisches und absolutes Ich (1972).