Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Normativismus

Normativismus 2791 10.24894/HWPh.2791 Ernst-Wolfgang Böckenförde
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Schulen, Strömungen und Positionen
Normativismus. Der Gebrauch des Ausdrucks ‹N.› diente (in vorwiegend polemischer Akzentuierung) in der rechtstheoretischen und rechtsmethodischen Diskussion zur Bezeichnung einer Richtung des Rechtsdenkens und der Rechtswissenschaft, die das Recht allein als einen gegenüber dem Tatsächlichen abgeschlossenen Komplex geltender Normen (i. S. erlassener Gesetzesregeln) begreift und die Aufgabe der Rechtswissenschaft nur darin sieht, diesen Normenkomplex unter Anwendung der Mittel der Logik zu analysieren, in seinem Aussagegehalt festzustellen und durch Rückführung auf allgemeinere rechtslogische Begriffe und Denkfiguren zu systematisieren. Eine besondere Ausprägung erhielt diese Richtung des Rechtsdenkens und der Rechtswissenschaft durch die Begriffsjurisprudenz, eine im 19. Jh. vor allem von Gerber, von Ihering, Windscheid und Laband vertretene methodische Richtung, die die Begriffe, Figuren und Formen des Rechts aus jeder sozialen und geschichtlichen Einbindung löste und ihnen eine quasi-kategoriale Eigenexistenz zusprach. Aufgabe der Rechtswissenschaft war es (nur), den ‘Stoffʼ des Rechts, d.h. die positiven Rechtsregeln, vermittels dieser Begriffe, Formen und Figuren logisch-systematisch zu ordnen, zu entfalten und handhabbar zu machen [1]. Dieser methodische N. wurde erkenntnistheoretisch unterbaut durch die besonders von G. Simmel und in der Marburger Schule des Neukantianismus durch H. Cohen und P. Natorp vertretene streng dualistische Auffassung über das Verhältnis von Sein und Sollen und das darauf gegründete Postulat der Methodenreinheit [2]. Die Fragen nach dem Zusammenhang von Recht und sozialer Wirklichkeit, nach dem Vorgang der Rechtsbildung und -fortbildung, nach Grund und Legitimation des Rechts wurden aus der ‘rein normativenʼ rechtswissenschaftlichen Betrachtung methodisch ausgeschlossen. Gleichwohl wurde eingeräumt, daß jedes Sollen letztlich nur aus einem Sein (Setzung, Willensakt) hervorgeht und die letzte Norm, die die Geltung der vorausgehenden Normen legitimiert, nicht eine wirkliche, geltende, sondern nur eine vorausgesetzte, hypothetische Norm sein kann [3]. Hauptvertreter des N. in diesem Sinn wurde H. Kelsen und die von ihm begründete, heute vor allem in Österreich einen maßgeblichen Einfluß ausübende Wiener Schule.
Eine wesentliche Grundlage des N. ist die Gleichsetzung von Recht und Gesetz. Gesetz und gesetzliche Regeln stellen für den N. nicht einen Versuch dar, Recht vollziehbar zu machen, sie sind das Recht. Die Beziehung von Gesetz und Recht (ebenso von Recht und Gerechtigkeit) ist damit aus dem Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft ausgesondert und in den Bereich von Rechtsethik und Rechtspolitik verwiesen; Rechtswissenschaft ist normative Gesetzeswissenschaft. Ausgeklammert bleibt für den N. ferner das Problem der Rechtsverwirklichung und der Vorgang der Rechtsbildung und -fortbildung. Erst und nur die fertige, bereits gesetzte und ‘geltendeʼ Norm ist Gegenstand rechtswissenschaftlicher Bearbeitung, und sie wird in dieser Bearbeitung auf sich gestellt, rein als Norm betrachtet, aus dem intentionalen Zusammenhang von Recht und Rechtsverwirklichung sowie von Recht und sozialer Lebenswirklichkeit gelöst (wenngleich der Zusammenhang als solcher nicht geleugnet wird). Der Ordnungszusammenhang der einzelnen Gesetzesnorm, in dem sie steht und aus dem sich ihr Geltungsumfang und -inhalt mitbestimmen, bleibt unberücksichtigt, soweit er nicht selbst in anderen Gesetzesnormen Eingang gefunden hat. Der N. reduziert jede konkrete Ordnung auf Gesetzesregeln; alles Recht und alle Ordnung wird zum «Inbegriff von Rechtsregeln» [4].
Die Kritik am N. hat sich vorwiegend an diesem Punkt, in der Auseinandersetzung um die rechtswissenschaftliche Interpretationsmethode, entzündet. Daneben ist sie auf der Ebene der Rechtstheorie und der Methode des Rechtsdenkens geführt worden. Hauptvertreter der Kritik waren die Freirechtsschule und die soziologische Jurisprudenz, sodann C. Schmitt und H. Heller[5]. Dem N. wurde schon in den 1920er Jahren der Dezisionismus als andere Art des Rechtsdenkens gegenübergestellt und dann das «konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken» [6] als eine Form institutionellen Rechtsdenkens.
In der rechtstheoretischen und rechtsmethodischen Diskussion der Gegenwart spielt der Begriff ‹N.› keine nennenswerte Rolle mehr; wieweit die Position des N. noch, über die Ausstrahlung und Nachwirkung der Wiener Schule hinaus, vertreten wird, läßt sich nicht abschließend beurteilen. Die rechtstheoretischen und -methodischen Absolutheitsansprüche, die die Diskussion der 1920er Jahre bestimmten, sind heute überwiegend der Einsicht gewichen, daß ein isolierter N. ebensowenig wie eine rein soziologische Rechtsbetrachtung der komplexen Realität gerecht wird, die das Recht zwischen Sein und Sollen und im Übergang von der Norm zur (normgeformten) Wirklichkeit darstellt. Die alten Streitpositionen sind indes nicht gänzlich verschwunden; sie sind, in einem eingegrenzteren Rahmen, in der Auseinandersetzung um die richtige(n) Interpretationsmethode(n) der Rechtswissenschaft, nicht zuletzt im Bereich des Verfassungsrechts, weiter wirksam [7].
[1]
C. F. Gerber: System des dtsch. Privatrechts (1848) 16; R. von Ihering: Ges. Abh. 1 (1881) 8–16; B. Windscheid: Lehrb. des Pandektenrechts 1 (71891) 51ff.; P. Laband: Das Staatsrecht des Dtsch. Reiches 1 (21888) VIf. XI.
[2]
G. Simmel: Einl. in die Moralwiss. 1 (41964) 1–84, bes. 8f.
[3]
H. Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (21923) VI. 8; Reine Rechtslehre (21960) 8. 51. 196–209.
[4]
C. Schmitt: Über die drei Arten des rechtswiss. Denkens (1934) 12.
[5]
H. Kantorowicz (Gnaeus Flavius): Der Kampf um die Rechtswiss. (1906); Rechtswiss. und Soziol., hg. Th. Würtenberger (1965); E. Ehrlich: Grundlegung der Soziol. des Rechts (1912); C. Schmitt: Gesetz und Urteil (1912); Polit. Theol. (1922) 28–31; H. Isay: Rechtsnorm und Entscheidung (1929); H. Heller: Staatslehre (Leiden 1934) 185.
[6]
Schmitt, a.O. [4] 7f.
[7]
Probleme der Verfassungsinterpretation, hg. R. Dreier/ F. Schwegmann (1976).
E. Kaufmann: Kritik der neukantischen Rechtsphilos. (1921). – C. Schmitt s. Anm. [4]. – H. Kelsen: Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe Z. Giacometti (1953) 142–162. – L. Legaz y Lacambra: Rechtsphilos. (dtsch. 1965) 114–142. – K. Larenz: Methodenlehre der Rechtswiss. (31975) 16–82.