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Ontōs on

Ontōs on 2866 10.24894/HWPh.2866 Helmut Meinhardt
Antike Philosophie Metaphysik vollkommen Seiendes ontos on (ὄντως ὄν) wirklich seiend Komparativ, ontologischer6 1205 mallon on (μᾶλλον ὄν)6 1205
Ontōs on (griech. ὄντως ὄν), wirklich seiend. Das griechische Adverb ὄντως, gebildet vom Partizip (des Infinitivs εἶναι) ὄν, seiend, ist eine Neubildung der attischen Sophistenzeit. Der erste Beleg findet sich beim Redner Antiphon (ca. 480–411 v.Chr.): «wenn auch der Anschein (εἰκότως) gegen mich spricht, ich aber in Wirklichkeit (ὄντως) den Mann nicht getötet habe» [1]. Ὄντως weist also schon im außerphilosophischen Gebrauch auf eine eigentliche Wirklichkeit, die im Gegensatz zu vordergründigem (täuschenden) Schein steht. Die Grunderfahrung Platons und der Grundgedanke seiner Ideenphilosophie ist eine solche Scheidung (nicht Trennung!) von sinnlich faßbarer, aber uneigentlicher Wirklichkeit und dem eigentlichen, nur dem Denken zugänglichen Idealbereich, von dem her das Sinnenfällige sich allererst begründen und verstehen läßt. Das zu Platons Zeit modische Wort ὄντως entsprach bestens seinen Intentionen, er übernimmt es, wie immer nicht als Terminus, wohl aber an zentraler Stelle, in seine Metaphysik: Das Sinnenfällige ist das «geringer Seiende» (ἧττον ... ὄν) [2], nur «das Abbild des Dortigen» (τῶν ἐκεῖ ὁμοίωμα) [3]; es bedarf zu seinem Sein und zu seiner Erkenntnis der Teilhabe an dem, was allein in vollem Sinne Sein genannt werden kann, an den Ideen. Die Ideen sind deshalb den Einzeldingen gegenüber das «Wahre» (ἀληθές) [4], das «wirklich Seiende» (ὄντως ὄν) [5]; sie stellen gegenüber dem Sinnenfälligen einen «ontologischen Komparativ» dar (so eine geläufige heutige Formulierung), es besteht ein Seinsgefälle zwischen ihnen und dem durch sie Begründeten. Freilich sind sie nicht schlicht das Höchste an Seinsvollkommenheit: Sie sind in sich gestuft, die jeweils allgemeinere Idee ist die inhaltsreichere und somit von größerer Seinsmächtigkeit [6]. Über (ἐπέκεινα) allem Sinnenfälligen und Idealen schließlich steht die selbst unbegründete, aber alles begründende Fülle der Seinsvollkommenheit, die «Idee des Guten» (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ) [7].
Der bekannte Satz des Aristoteles, daß «das Seiende in vielfacher Bedeutung ausgesagt wird» (τὸ ὄν ... λέγεται πολλαχῶς) [8] steht in der Wirkungsgeschichte des platonischen Gedankens vom óntōs on. Die Frage nach der Bedeutung der Aussage ‘seiendʼ und die Antworten darauf sind bei ihm entsprechend seiner fortentwickelten Ontologie differenzierter geworden, außerdem tritt die Reflexion über den sprachgegebenen Ausgangspunkt solcher Überlegungen hinzu, an entscheidender Stelle seines metaphysischen Denkens bleibt Aristoteles dennoch ‘Platonikerʼ: Unter den drei Seinstypen Materie, Form und konkret Einzelseiendes ist nicht etwa das Einzelseiende, sondern die Form (εἶδος) das «früher und in höherem Grade Seiende» (πρότερον καὶ μᾶλλον ὄν) [9]. Darüber hinaus dürfte die «kyriologische» [10] Zielrichtung des aristotelischen Fragens insgesamt (was ist das κυρίως λέγεσθαι, «der eigentliche Sinn einer Aussage» [11]?) auf dem Hintergrunde des platonischen Denkens von Seinsstufungen zu sehen sein. Die Vokabel ‹óntōs› freilich hat für Aristoteles in diesem Zusammenhang keine Bedeutung.
Das wird begreiflicherweise anders bei jener Erneuerung des Platonismus in der Spätantike, die sich selbst als den platonischen Texten in enger legitimer Interpretation verbunden verstand. Die Neuplatoniker systematisierten viele noch tastende Denkansätze Platons und verfestigten häufig seine freie Diktion zur Terminologie. Das gilt besonders für den neuplatonischen ‘Scholastikerʼ Proklos: In seinem Timaioskommentar liefert er, auf ältere Vorgänger verweisend, eine durchsystematisierte Stufung von Sein und Nichtsein mit Hilfe des Terminus ‹óntōs›: Der Bereich des Denkbaren (νοητόν) ist das óntōs on, derjenige der Seele das «nicht wirklich Seiende» (οὐκ ὄντως ὄν); «nicht wirklich nichtseiend» (οὐκ ὄντως οὐκ ὄν) ist dagegen das Sinnenfällige, «wirklich nichtseiend» (ὄντως οὐκὄν) die Materie [12]. Ein byzantinischer Scholiasthat zu dieser Proklos-Stelle ein instruktives Diagramm [13] beigetragen:
ein platonischer Zentralgedanke, bearbeitet von spätantiker Gelehrtendidaktik. Die Formulierung ‹óntōs on› hat danach keine Wortgeschichte mehr, das gemeinte Problem bleibt aber präsent in aller nachfolgenden «Metaphysica generalis», bis hin zur Gegenwart, etwa in Heideggers «ontologischer Differenz».
[1]
Antiphon, Tetralogie I, β 10; vgl. U. von Wilamowitz-Moellendorff: Euripides, Herakles II (1889) 163f.
[2]
Platon, Resp. IX, 585 b 9f.; vgl. Tim. 28 a.
[3]
Phaidros 250 a 6.
[4]
Phaidon 66 b 7. 67 b 1; Phaidros 247 c.
[5]
Phaidros 247 e 2f. 249 c 4; Resp. VI, 490 b 5.
[6]
Vgl. Platons Dialoge Parm. und Soph.
[7]
Resp. VI, 509 b.
[8]
Aristoteles, Met. 1026 a 33f. etpassim; vgl. H. Bonitz, Index Arist. (1870) 220 b 38ff.
[9]
Met. 1029 a 5ff.; vgl. 29ff.
[10]
So z.B. (mit Verweis zur Erläuterung auf J. G. Wächter) J. G. Hamann, Werke, hg. J. Nadler 2 (1950) 199; 3 (1951) 285.
[11]
Vgl. etwa Aristoteles, Cat. 2 a 5ff.; Met. 1015 a 13f.
[12]
Proclus Diad., In Plat. Tim. comm. 27 d, hg. E. Diehl 1 (1903) 233, 1ff.
[13]
Publ. mit Quellennachweis im Anhang der Ausg. von E. Diehl, a.O. 469.
N. Hartmann: Zur Lehre vom Eidos bei Platon und Arist. Kleinere Schr. 2 (1957) 129–164. – J. G. Deninger: ‘Wahres Seinʼ in der Philos. des Arist. (1961). – J. Stenzel: Stud. zur Entwicklung der plat. Dialektik von Sokrates zu Arist. (31961). – H. Meinhardt: Teilhabe bei Platon (1968). – F. W. Kohnke: Plato's Conception of τὸ οὐκ ὄντως ὄν. Phronesis 2 (1957) 32–40.