Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Pantragismus

Pantragismus 2930 10.24894/HWPh.2930 Ludger Lütkehaus
Ästhetik und Kunsttheorie Schulen, Strömungen und Positionen Weltgesetz Welttragik7 64
Pantragismus. Der Terminus ‹P.› wurde 1903 von A. Scheunert in die Hebbel-Forschung eingeführt, nachdem das Tragische im Anschluß an die Ästhetik und Metaphysik Schellings, Solgers und Hegels bzw. Schopenhauers von F. Th. Vischer als «Gesetz des Universums» [1], von Nietzsche als «Urphänomen» [2], von J. Bahnsen als «Weltgesetz» [3], von E. von Hartmann als «mikrokosmische Widerspiegelung des makrokosmischen Processes» [4] verstanden worden war und J. Volkelt von einer «Tragik des Weltgrundes» [5], L. Ziegler mit E. von Hartmann von einem «kosmotragischen» Gesetz [6] gesprochen hatten. Das von Hebbel selbst nicht verwendete Wort bezeichnet bei Scheunert ein auf das Drama zugeschnittenes, mit der «absoluten Philosophie» verwandtes System der Weltanschauung und Ästhetik [7]. Die pantragisch «symbolisierende Betrachtungsweise» [8] erblickt im Weltprozeß die Selbstbespiegelung der in die Vereinzelungen auseinandergefallenen, aber auf dem Wege der «Entindividualisierung» [9] wieder in die ursprüngliche Einheit zurückkehrenden «Idee». P. und «Evolutionsoptimismus» [10] sind bei Scheunert also keine unversöhnlichen Gegensätze. Der P. enthält vielmehr als «Synthese eines ethischen (Fichte), ästhetischen (Schelling) und logischen (Hegel) Pantheismus» eine dezidiert panlogische Komponente [11], die in letzter Instanz das Tragische aufhebt.
Dieses panlogisch erweiterte, versöhnende Verständnis von ‹P.› hat sich indes in der weiteren Begriffsgeschichte nicht durchgesetzt. Als P. wird hier in der Auseinandersetzung mit der Ästhetik und Metaphysik vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Tragik-Konzeption diskutiert, die im geschichtsübergreifenden oder transzendenten Sinn totalisiert ist. Wie M. Scheler, der das Tragische zwar als «universales Phänomen» [12] bezeichnet, gleichwohl die über das Wert- und Daseinsrelative hinausgehende Deutung E. von Hartmanns ablehnt [13], kritisiert K. Jaspers den P. von Hebbel, Bahnsen und M. de Unamuno[14] als eine tragische Metaphysik, welche die auf die Erscheinung beschränkte «Welttragik» zu einer Tragik des «Seinsgrundes» verabsolutiere [15]. Dieser Metaphysik wird ein offenes, nicht wissendes tragisches Wissen entgegengestellt, das sich nicht «zu einem P., welcher Art auch immer, fixiert» [16]. – Die neuere Ideologiekritik [17] faßt den P. als Form indirekter politischer und gesellschaftlicher Apologie.
[1]
F. Th. Vischer: Aesthetik oder Wiss. des Schönen 1 (1846) § 130.
[2]
F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1871). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari III/1, 139.
[3]
J. Bahnsen: Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhet. Gestalt des Metaphysischen (1877).
[4]
E. von Hartmann: Philos. des Schönen 2 (1887) 380.
[5]
J. Volkelt: Ästhetik des Tragischen (1897) 426.
[6]
L. Ziegler: Zur Met. des Tragischen (1902) 104.
[7]
A. Scheunert: Der P. als System der Weltanschauung und Ästhetik Fr. Hebbels (1903) 10.
[8]
a.O. 61.
[9]
173.
[10]
275.
[11]
61.
[12]
M. Scheler: Zum Phänomen des Tragischen (1914/15). Ges. Werke 3 (Bern 51972) 169.
[13]
a.O. 153; vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, a.O. 2 (Bern 51966) 575ff.
[14]
M. de Unamuno: Del sentimiento trájico de la vida ... (Madrid 1913).
[15]
K. Jaspers: Von der Wahrheit (21958) 955–958.
[16]
a.O. 957.
[17]
G. Lukács: Die Grablegung des alten Deutschland (1953) 77f.