Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Paradigma, exemplar

Paradigma, exemplar 2932 10.24894/HWPh.2932 Thomas Rentsch
Wissenschaftstheorie und Methodenlehre paradeigma (παράδειγμα) Muster Modell exemplar Idee7 74f idea (ἰδέα)7 74f methexis (μέθεξις)7 75 Teilhabe7 75 pisteis apodeiktikai (πίστεις ἀποδεικτικαί)7 76 causa exemplaris7 77 figura paradigmatica7 77 Standards7 78 Revolution, wissenschaftliche7 79 Familienähnlichkeit7 79 Denkstil7 80
Paradigma, (lat.) exemplar (griech. παράδειγμα Beweis, Beispiel, Muster, Modell, Urbild). Neben der Linguistik (P. als Deklinations- oder Konjugationsmuster, zu dem analog auch andere Wörter derselben Klasse flektiert werden, aber auch ‹paradigmatische› im Gegensatz zu ‹syntagmatischen Beziehungen›) verwendet die Philosophie ‹P.› in folgenden Grundbedeutungen: 1. ‹P.› bezeichnet das Urbild seiner Abbilder im ontologischen Sinne (ohne geometrische Genauigkeitsvorstellungen); 2. es meint meßtheoretisch das Maß bzw. den Standard, wobei die Exaktheit entscheidend ist (das Urmeter als P.); 3. in der Sprachphilosophie kann semantisch von ‘P. des Sprachgebrauchsʼ die Rede sein; 4. nichtsemantisch kann ‹P.› ein prägnantes Beispiel, einen besonders charakteristischen Fall meinen (auch umgangssprachlich: ‘das P. eines klassischen Romansʼ); 5. benennt ‹P.› in der wissenschaftssoziologischen Verwendung eine dominierende wissenschaftliche Orientierung (‘das P. der Newtonschen Physikʼ).
Bei Platon läßt sich sowohl das Verständnis von ‹P.› als Fall eines Allgemeinen, als individuelle, partikulare und konkrete Instanz als auch im Sinne des Urbildes, Musters, Vorbildes, Standards, Maßes und Modells finden. Die letztere Verwendung ist die philosophisch wichtige und rückt ‹P.› ganz in den Kontext der Philosophie der Ideen (s.d.): ‹P.› erhält eine ebenso universale Bedeutung wie ἰδέα und εἶδος. Diese Tatsache hebt bereits Diogenes Laertios (III, 64) hervor. P. sind Urbilder innerweltlich erscheinender und sinnlich erfahrbarer Dinge: sie werden als ewig, ideal und immateriell, als bleibend und ermöglichend gedacht, während das, was gemäß ihnen gestaltet ist, veränderlich und vergänglich ist. Die Kernbedeutung des ‘ermöglichenden Mustersʼ gestattet Platon eine Verwendung von ‹P.›, die von ethischen bis zu theologischen und kosmogonischen Kontexten reicht. Im ‹Euthyphron› ist die Idee des Frommen das P., dem es sich in einer ethischen Lebensform gleichzugestalten gilt [1]. In ‹Phaidon› und ‹Politeia› sind die P. im Sinne erkenntnisermöglichender Instanzen verstanden [2]. Im ‹Politikos› läßt Platon den Gast aus Elea ein Verständnis des P. entwickeln, nachdem sich die Schwierigkeit der exemplarischen Bestimmung ethisch-politischer, unsinnlicher, «unkörperlicher» (τὰ ἀσώματα) Prädikate am Problem der noch mythisch gedachten, der Konkretheit ermangelnden Vorbildlichkeit des Herrschers und Königs gezeigt hat: «Schwer ... ist es, sich ohne P. eine wichtige Sache völlig klar zu machen» (χαλεπόν ... μὴ παραδείγμασι χρώμενον ἱκανῶς ἐνδείκνυσθαί τι τῶν μειζόνων). Eine Erläuterung des Wesens der P. muß dabei selbst paradigmatisch vorgehen: «Ein P. ... hat mir das P. selbst noch nötig gemacht» (Παραδείγματος ... αὖ μοι καὶ τὸ παράδειγμα αὐτὸ δεδέηκεν). Als P. für P. wählt Platon hier die Silben, die man den Schulkindern vorlegt und vorsagt, bis sie an ihnen die Buchstaben zu unterscheiden und wiederzuerkennen vermögen. Der Eleate definiert dann, «daß ein P. dann gegeben ist, wenn ein und dieselbe Sache in verschiedenen Kontexten richtig beurteilt und verglichen wird, und so ein einziges wahres Urteil über jeden der Kontexte ermöglicht» (... ὅτι παραδείγματός γ' ἐστὶ τότε γένεσις, ὁπόταν ὂν ταὐτὸν ἐν ἑτέρῳ διεσπασμένῳ δοξαζόμενον ὀρθῶς καὶ συναχθὲν περὶ ἐκάτερον ὡς συνάμφω μίαν ἀληθῆ δόξαν ἀποτελῇ) [2a]. Im ‹Parmenides› werden die «Begriffe gleichsam als Urbilder» interpretiert, die «dastehen in der Natur», während «die anderen Dinge aber diesen gleichen und Nachbilder sind» (τὰ μὲν εἴδη ταῦτα ὥσπερ παραδείγματα ἑστάναι ὲν τῇ φύσει, τὰ δὲ ἄλλα τούτοις ἐοικέναι καὶ εἶναι ὁμοιώματα ...), die im Verhältnis der Teilhabe (s.d.) zu ihnen stehen [3]. Im ‹Theaitet› sind sie ethisch als die Vorbilder des «Göttlichen», der größten Glückseligkeit wie auch des «ungöttlichen Elends», die «in der Welt dastehen» (παραδειγμάτων ... ἐν τῷ ὄντι ἐστώτων[4]), gedacht. In der Kosmogonie des ‹Timaios› blickt der Demiurg auf sie als die Vorbilder, denen gemäß er die Welt erzeugt [5], speziell wird die Ewigkeit das παράδειγμα der Zeit genannt [6]. Neuere Untersuchungen zur internen begriffsgeschichtlichen Entwicklung bei Platon [7] zeigen, daß sich seine Terminologie zum Ausdruck des Verhältnisses von konstitutiver Form zu konstituiertem Einzelphänomen von dem Gebrauch der Wortgruppe ἔχειν, ἐνεῖναι (ein ‘possessivesʼ Modell des ‘Habens von Eigenschaftenʼ) über das ‘partizipative Modellʼ der μέθεξις-Terminologie zunehmend in Richtung des paradigmatischen Modells der Vorbildlichkeit, Urbildlichkeit und des Standard-Charakters der idealen Formen mit der charakteristischen Wortgruppe παράδειγμα – εἰκών verschoben hat. Der Grund dieser Entwicklung einer paradigmatischen Ontologie[8], die schließlich die Partizipations-Terminologie ganz verdrängt, wird darin gesehen, daß das paradigmatische Konstitutionsverhältnis systematisch zur Abwehr der infiniten Regresse bei der reziproken Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Idee und Sinnending im Rahmen der Teilhabe-Konzeption diente. Das von Platon selbst im ‹Parmenides› [9] und das in der aristotelischen Argumentation gegen die Ideen mit dem ‘Dritten Menschenʼ [10] vorgetragene Regressus-Problem soll mit der Konzeption des P. vermieden werden: Die idealen Formen sind Exemplarursachen von Eigenschaften konkreter Entitäten, nicht von diesen selbst als Sinnendingen. So ist die Idee der Schönheit nicht Ursache der schönen Dinge, sondern P. für das Schön-sein von Dingen [11]. Diese systematische Entwicklung ist als die Wende in Platons metaphysischem Paradigmatismus bezeichnet worden [12], mit der er seine Konstitutionstheorie im Ansatz einer ontologisch-abbildlichen und auch einer ontologisch-partizipativ gedachten ‘objektivistischenʼ Konzeption entnimmt: Das ontologische Dependenzverhältnis des partizipativen Modells verschiebt sich in Richtung eines ‘pragmatischen Paradigmatismusʼ, in der die P. eine eindeutig kriteriale Funktion erhalten. P. ist eine Form demnach jeweils dann, wenn sie zur Beurteilung von Eigenschaften konkreter Gegenstände angewandt wird [13].
Aristoteles spricht zwar gelegentlich auch – abschätzig – von den Ideen als P. («Wenn man aber sagt, die Ideen seien P. und das andere nehme an ihnen teil, so sind das leere Worte und poetische Metaphern» [14]), seine spezifische Verwendung von ‹P.› steht aber im Kontext der Rhetorik und stellt einen begriffsgeschichtlichen Sonderfall dar. Während Platon die Bedeutungskonstitution durch P. lehrt – und diese Insistenz auf dem paradigmatischen Fundament unseres Wissens läßt sich bereits als Kritik an Aristoteles verstehen – ist dieser mit seiner deduktiven systematischen Grundstellung an festen Begriffen mit genauen Grenzen (ὅροι) orientiert. Aus diesem Grunde rückt das P. bei ihm ganz in den Kontext der Rhetorik. Bei ihm bezeichnet ‹P.› 1. das gesamte rhetorische Schlußverfahren dieses Namens, 2. einzelne Fälle in diesem Verfahren. Diese bilden gemeinsam das ganze P. In den ‹Analytica priora› bestimmt er den Status des P. im Rahmen von Argumentationen: es steht zwischen der Induktion (ἐπαγωγή) und dem apodiktischen Syllogismus [15]. «Ein P. liegt vor, wenn gilt, daß der obere Begriff dem mittleren zukommt, und zwar durch ein dem dritten [unteren] Ähnliches ... Man sieht also, daß sich das P. weder wie ein Teil zum Ganzen, noch wie das Ganze zu einem Teil verhält, sondern wie ein Teil zu einem Teil, wenn beides unter einem begriffen, und das eine davon bekannter ist. Und es unterscheidet sich von der Induktion dadurch, daß diese aus allem Unteilbaren [Einzelnen] zusammen den oberen Begriff für den mittleren nachwies und an den oberen keinen weiteren Schluß knüpfte, während das P. diese Verknüpfung wohl vornimmt und nicht aus allen Einzelfällen beweist» [16]. Die ‹Rhetorik› behandelt das P. mehrfach, etwa in folgendem Beispiel:
«Dionysios hat eine Leibwache gefordert.»
«Als Peisistratos eine Leibwache forderte,  hatte  er den Hintergedanken, sich zum Tyrannen zu machen. (Ebenso Theagenes in Megara.)»
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
«Dionysios hat den Hintergedanken, sich zum Tyrannen zu machen.» [17]
Das aristotelische P. behauptet die Ähnlichkeit eines neuen Falles mit bereits bekannten Fällen. Es beweist nicht aus allen Einzelfällen und liefert daher auch keine notwendige Folgerung. Aristoteles selbst bezeichnet es als deiktisches Verfahren, mit welchem sein Verwender den Zuhörern die einschlägigen Fälle zeigt und deren Ähnlichkeit vor Augen führt [18]. Im Kontext der aristotelischen Methodologie gehört das P. in die Taxonomie der für die rhetorischen Überzeugungsmittel wesentlichen Prinzipien, zählt neben dem Enthymem zu den πίστεις ἀποδεικτικαί[19] und läßt sich mit den in Rhet. II, 23 ausgeführten Denkformen (κοινοὶ τόποι) argumentativ verbinden [20].
Späthellenismus, Neuplatonismus und die gesamte mittelalterliche Rezeption greifen auf Platons P.-Begriff insbesondere des ‹Timaios› zurück. Philon von Alexandrien spricht von den unkörperlichen und gottähnlichen P. [21] der körperlichen Welt. Plotin akzentuiert schöpfungstheologisch «die Schönheit des P., der Idee, und ihre Herrlichkeit» [22] im Rahmen seiner Stufenontologie des transzendenten und weltkonstitutiven Über-Schönen. Ebenso bestimmt das urbildliche P. der Ewigkeit in Plotins Philosophie der Zeit das Abbild der erscheinenden Zeitlichkeit [23]. Die neuplatonische Verwendung bereitet damit die kosmologische, kosmogonische und ontotheologische Verwendung im Sinne des Exemplarismus vor, in dem das göttliche Urbild vom weltlichen, geschaffenen Abbild unterschieden wird. Calcidius übersetzt παράδειγμα im Rahmen des christlichen Neuplatonismus mit «exemplar» [24]. In der Verwendungsweise ‹Urbild› kommt dem P. in der mittelalterlichen Philosophie der Status einer causa exemplaris(s.d.) zu. Die Exemplarursächlichkeit konnte in der christlichen Metaphysik und scholastischen Theologie aristotelisierend als causa formalis extra rem – als Urbild des jeweiligen Gegenstandes im Geist Gottes – interpretiert werden. Bereits die teleologische Kosmogonie des ‹Timaios› legte auch ein Verständnis des P. im Sinne einer causa finalis(s.d.) nahe. ‹P.› erhält im theologischen Urbild-Abbild-Denken neben der Übersetzung ‹exemplar› eine Fülle von Synonyma (idea, forma, simulacrum, species intelligibilis, imago, figura, ratio, archetypus, auch exemplum) [25]. Die Übersetzung von ‹P.› mit ‹exemplar› konnte sich auch auf den 58. Brief Senecas stützen [26]. Die Grundbedeutung von ‹P.› als ‹exemplar› im Sinne von Musterformen im göttlichen Geist ist im Mittelalter durchgängig nachzuweisen [27]. Sie erhält bei Cusanus eine prägnante Akzentuierung. Er gebraucht zudem die Termini «paradigma» und «exemplar» im gleichen Kontext nebeneinander, so in seinem Löffelgleichnis: «Applicabo igitur ex hac coclearia arte symbolica paradigmata, ut sensibiliora fiant quae dixero ... Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar» («Ich will der Kunst des Löffelschnitzens symbolische P. entnehmen, damit das, was ich sage, anschaulicher wird ... Der Löffel hat außer der Idee unseres Geistes kein Urbild») [28]. Der Löffelidee, dem P. des Holzlöffels, kommt ein urbildlich-konstitutiver Status im Geist des Schnitzers zu. Damit rückt Cusanus die schöpferische Potenz des Menschen als dessen Gottähnlichkeit in den Blick: auch der Mensch verfügt über ursprüngliche Kreativität in der Gestalt von paradigmata, gemäß denen er freie Hervorbringungen ins Werk zu setzen vermag. Diese Einsicht in den konstruktiven Entwurfcharakter menschlichen Erkennens hält Cusanus auch im Blick auf die philosophische Reflexion selbst durch, wenn er ein immer wieder von ihm gebrauchtes geometrisches Modell des Universums in neuplatonisch-lichtmetaphysischer Perspektive als figura paradigmatica – kurz figura P – bezeichnet:
Die zwei einander durchdringenden Pyramiden stellen den Kosmos dar, ausgespannt zwischen der absoluten Einheit des göttlichen Lichtes (linke Basis) und der absoluten Andersheit und Finsternis des Nichts (rechte Basis); die Geschöpfe fallen zwischen diese Extreme des sich wechselweise durchdringenden metaphysischen Einen und Anderen. – In der Gestalt dieser Figur griff noch Leibniz in seiner Schrift von der Allmacht auf den christlichen Platonismus und sein P.-Verständnis zurück [30].
Als erster verwendete G. Ch. Lichtenberg – worauf H. Blumenberg hinwies [31] – den Begriff mit Bezug auf die Wissenschaftsgeschichte: «Ich glaube unter allen heuristischen Hebezeugen ist keins fruchtbarer als das, was ich paradigmata genannt habe» [32]. Vom «kopernikanischen System» heißt es, es sei «gleichsam das P., nach welchem man alle übrigen Entdeckungen deklinieren sollte» [33]. Auch in seinen ‹Geologisch-meteorologischen Phantasien› gebraucht Lichtenberg die Rede von den P. im Sinne grammatischer Schulbeispiele mit ihren Deklinationen als Metapher für grundlegende wissenschaftliche Orientierungen. Mit Bezug auf die Strahlenmessungen des Astronomen Mayer fordert er, daß «man das Verfahren der Astronomen bei Erweiterung ihrer Wissenschaft als das P. ansieht, in allen übrigen Teilen der Naturlehre danach zu deklinieren, und eine Geschichte der Astronomie in nuce als eine Haustafel in den physischen und chemischen Laboratoriis anzunageln» [34]. Das Lichtenbergsche Verständnis siedelt das P. zwischen Tatsachen und Gesetzen an. Nach J. P. Stern «these ‘paradigmsʼ would in themselves be actual parts of natural science (as grammatical paradigms are parts of natural language). And, by virtue of the exemplary way they exhibit method, they would represent a host of cognate phenomena» [35].
Nach A. Janik und S. Toulmin waren «Lichtenbergs Schriften ... auch die Quelle des ‘Paradigmaʼ-Konzepts, das in Wittgensteins späteren Erörterungen eine bedeutende Rolle spielte» [36]. In L. Wittgensteins Spätphilosophie sind P. begriffskonstitutive Muster oder Standards, die zu begrifflichen Unterscheidungen führen, deren Fälle nicht scharf unter das Schema der zweiwertiten Wahrheitsdefinitheit subsumiert werden können, und auf denen eine bestimmte Praxis beruht. Er verband dieses Verständnis gemäß R. S. Bluck mit einem expliziten systematischen Vorschlag zur Rekonstruktion von Platons P.-Begriff: «Plato called his Forms παραδείγματα, and he is taken to mean that they were patterns or standards of which objeets and acts in the sensible world are copies. But in what sense were they ‘standardsʼ? ... Wittgenstein once suggested to me that a Form may be to its homonymous instances as the Standard Pound is to a pound weight in a shop» [37]. P. T. Geach bestätigt diesen Rückbezug Wittgensteins auf Platon [38]. Die P. im Wittgensteinschen Sinne ermöglichen eine gemeinsame Praxis, insbesondere auch wahrheitsfähige Sätze. Sie gehören so zu den Voraussetzungen der Erfahrung: sie werden selbst nicht «durch die Erfahrung geprüft», sondern sie sind es, «womit die Erfahrung verglichen und beurteilt wird» [39]. Sie sind somit wie die ‘grammatischen Sätzeʼ zum apriorischen Gerüst unserer Orientierungen zu rechnen und bestimmen begrifflich Eigenschaften von Gegenständen der Erfahrung. In den ‹Philosophischen Untersuchungen› sind P. nichts Dargestelltes, sondern Mittel der Darstellung, etwas, womit in einem ‘Spielʼ, in einer Praxis verglichen wird. Beispiele Wittgensteins sind: Waagen, das Urmeter in Paris, die Fiktion eines ebensolchen Farbmusters ‘Ur-Sepiaʼ [40]. Der Vergleich mit dem P. legt fest, ob ein vorliegender Gegenstand zur Extension von einem Meter oder Sepia gehört oder nicht. Die Frage, ob das P. ‘stabilʼ genug ist, kann nur durch Aufweis beantwortet werden; in diesem erweist es sich – in seinem Gebrauch als Vergleichsobjekt – als P. Als Maßstab der Prüfung kann es nicht auf die gleiche Weise überprüft werden wie das mit ihm Verglichene. Es ist kein P. für sich, sondern stets für etwas anderes[41]. Insofern gehören P. zur Darstellungsform und sind wesenskonstitutiv: «Was zum Wesen gehört, lege ich unter den P. der Sprache nieder» [42]. Die P. von Farbwerten [43], von Zahlen [44] oder Buchstaben [45] sind Urbilder, insofern man sie paradigmatisch verwenden kann, «einprägsame Bilder», insofern wir sie «als P. ... benützen» [46]. Das P. dient «zur Beurteilung aller ähnlichen Situationen» [47], es ist nicht an seine Einführungssituation gebunden, sondern wird situationsinvariant weiterverwendet. P. können verlorengehen, vergessen werden [48], sich als unbrauchbar, unübersichtlich und nicht überzeugend erweisen [49]. – In den ‹Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik› will Wittgenstein dieses Verständnis der P. auf mathematische Beweise als Vorbilder ausdehnen; diese werden als Vergleichsobjekte oder Maßstäbe bezeichnet [50]; sie setzen «ein neues P. zu den P. der Sprache» [51]. Der Beweis «schafft» wie das P. «neue Zusammenhänge, und er schafft den Begriff dieser Zusammenhänge. (Er stellt nicht fest, daß sie da sind, sondern sie sind nicht da, ehe er sie nicht macht.)» [52] «Der Beweis ist ein neues P.» [53].
Den Gebrauch im Lichtenbergschen Sinne – der nach D. G. Cedarbaum über Wittgenstein zu Th. S. Kuhn gelangte [54] – finden wir in dessen Untersuchung über ‹Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen› (1962) und in der wissenschaftstheoretisch-wissenschaftsgeschichtlichen Anschlußdiskussion. Kuhn bestimmt P. als «allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen», «die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern» [55]. Die Rede von P. erhält so einen wissenschaftssoziologischen und historischen Sinn, den Kuhn an seinem Modell dreier Phasen der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung erläutert: In einer ‘vor-paradigmatischenʼ Phase herrscht unter den Wissenschaftlern Uneinigkeit über grundsätzliche Fragen und Orientierungen; pluralistisch konkurrieren verschiedene Projekte und Methodologien. Die zweite Phase ist von einem P. geprägt. Kuhn nennt sie auch ‘normaleʼ Phase, weil in ihr «anerkannte Beispiele für konkrete wissenschaftliche Praxis» dominieren, «Beispiele, die Gesetz, Theorie, Anwendung und Hilfsmittel einschließen» und die «Modelle abgeben, aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen» [56]. Schließlich treten in Kuhns Modell der paradigmatischen Phase paradigmeninterne ‘Anomalienʼ auf, Probleme, die im ‘herrschenden P.ʼ nicht lösbar sind. Diese Krise des alten P. führt zu einer ‘wissenschaftlichen Revolutionʼ, zu einem P.-Wechsel, während dem es durch ein neues P. ersetzt wird. So waren die «Umwandlungen der Paradigmata der physikalischen Optik» «wissenschaftliche Revolutionen» [57]. Kuhn will den P. Priorität vor gemeinsamen Regeln und Annahmen einräumen. Die Identifizierung eines P. bedeute nicht bereits eine gemeinsam geteilte Interpretation und ‘Rationalisierungʼ desselben, es herrsche auch bei dem «Fehlen einer Standardinterpretation» [58]. Zwischen den verschiedenen Problemen und Verfahren in einem P. unterstellt er Familienähnlichkeiten im Sinne Wittgensteins [59]. Die Wissenschaftsgeschichte zeige, daß Regeln erst dann ins Zentrum der Diskussion rückten, wenn ein P. in Zweifel gezogen wird [60]. Erst «das Ersetzen der Regeln durch Paradigmata» mache «die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Gebiete und Fachrichtungen» gerade während der ‘Normalphaseʼ «verständlich» [61]. Kuhn bezog zwar die Rede vom P. vom späten Wittgenstein, und seine Anwendung auf die Wissenschaftsgeschichte kommt der Verwendung bei Lichtenberg sehr nahe, in der Anschlußdiskussion wurde jedoch immer wieder auf die übergroße Vagheit des Begriffs hingewiesen. So differenzierte M. Masterman einundzwanzig verschiedene Bestimmungen von ‹P.› bei Kuhn [62]. In der gleichwohl außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte des Begriffs dokumentiert sich eine allgemeine holistische Wende in der empiristischen Wissenschaftstheorie, die bereits durch L. Flecks Begriff des «Denkstils» einer Forschergemeinschaft, später durch N. R. Hansons Begriff der «patterns of discovery» und S. Toulmins Rede von «ideals of natural order» vorbereitet wurde. Neben diesen Autoren nennt Kuhn u.a. auch Quine, Whorf und Piaget als seine Anreger [63].
Während die holistische Betrachtung ganzer Theorien systematisch mittlerweile weitgehend akzeptiert wird, läßt das Kuhnsche Konzept des P. – und insbesondere dessen Rezeption in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte – die Perspektive der vernünftigen Entwicklung der sich ablösenden P. selbst allerdings vermissen, so daß über dem Aspekt der wissenschaftlichen Revolution die Möglichkeit der rationalen Beurteilung eines Fortschritts in den Wissenschaften verlorenzugehen droht. W. Stegmüller hat versucht, unter Rückgriff auf Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit den Kuhnschen Begriff des P. systematisch zu präzisieren [64].
[1]
Platon: Euthyphr. 6 d–e; vgl. Lach. 191 e–192 b und Men. 77 a.
[2]
Phaed. 74 d–75 e; Resp. 476 c 6–7; 509 e–511 a; 514 a–516 e.
[2a]
Polit. 277 d–278 c; vgl. 285 d–286.
[3]
Parm. 132 d.
[4]
Theaet. 176 e.
[5]
Tim. 28 a–b.
[6]
Tim. 37 d–38 c.
[7]
Vgl. N. Fujisawa: Ἔχειν, Μετέχειν, and idioms of ‘paradeigmatismʼ in Plato's theory of forms. Phronesis 19 (1974) 30–58, mit Lit.
[8]
J. Derbolav: Platons Sprachphilos. im Krat. und in den späteren Schr. (1972).
[9]
Platon: Parm. 132 c–133 a.
[10]
Aristoteles: Met. A 9, 990 b 17; Soph. el. 22, 178 b 36–179 a 10.
[11]
Vgl. S. Waterlow: The third man's contrib. to Plato's paradigmatism. Mind 91 (1982) 339–357.
[12]
a.O. 355ff.
[13]
a.O.; vgl. Fujisawa, a.O. [7] 51–56.
[14]
Aristoteles: Met. A 9, 991 a 20–22; vgl. Met. M 4, 1079 b 24–26.
[15]
Vgl. Art. ‹Syllogistik, Syllogismus›.
[16]
Anal. pr. II, 24, 68 b–69 a.
[17]
Rhet. I, 2, 19; vgl. Rhet. II, 20, 3.
[18]
Anal. pr. II, 24, 68 b–69 a.
[19]
Rhet. II, 20; vgl. W. M. A. Grimaldi: Aristotle, Rhetoric I. A commentary (New York 1980) 353f.
[20]
Vgl. Grimaldi, a.O.
[21]
Philon: De opificio mundi 16. Opera, hg. L. Cohn/P. Wendland 1 (1896).
[22]
Plotin: Die geistige Schönheit. Schr., hg. R. Harder IIIa (1964) 54f. [Enn. V, 8, 8f.].
[23]
Ewigkeit und Zeit, a.O. IVa (1967) 306f. [Enn. III, 7, 1f.].
[24]
Timaeus a Calcidio transl. commentarioque instr., hg. J. H. Waszink, in: Corp. Plat. Medii Aevi (London/Leiden 1962) 49.
[25]
Vgl. Art. ‹Idee II› und ‹Platonismus (Mittelalter)›
[26]
Seneca: Ep. mor. 58, 18–22.
[27]
Vgl. Art. ‹Idee II› A 2. 3. 5 und B 1–4. 6 a. 7. 9.
[28]
Nicolaus Cusanus: Idiota de mente II. Philos.-theol. Schr., hg. L. Gabriel (Wien 1967) 3, 492f.
[29]
De coniecturis XI, a.O. 2, 44.
[30]
G. W. Leibniz: Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen (1670/71) § 5. Akad.-A. VI/1, 538; vgl. dazu J. Koch: Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, in: Veröff. der Arbeitsgem. für Forsch, des Landes Nordrh.-Westf., Geisteswiss., H. 16 (1956) 23. 28f.; W. Hübener: Scientia de aliquo et nihilo. Die hist. Voraussetzungen von Leibniz' Ontologiebegriff, in: Zum Geist der Prämoderne (1985) 84–100.
[31]
H. Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern. Arch. Begriffsgesch. 15 (1971) 161–214, dort 195–199.
[32]
G. Chr. Lichtenberg: Fragment. Bemerkungen über physikal. Gegenstände. Verm. Schr. 9 (1806) 152f.
[33]
G. Gamauf: Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorles. 1 (Wien/Triest 1808) 36, zit. nach Blumenberg, a.O. [31] 197.
[34]
Lichtenberg: Verm. Schr. 7 (1800/06) 203f.
[35]
J. P. Stern: Lichtenberg. A doctrine of scattered occasions (Bloomington 1959) 103.
[36]
A. Janik/S. Toulmin: Wittgensteins Wien (1984) 238, 367.
[37]
R. S. Bluck: Forms as Standards. Phronesis 2 (1956/57) 115–127.
[38]
a.O. 115 (Anm. 1).
[39]
L. Wittgenstein: Bem. über die Grundlagen der Math. VI, 22.
[40]
Philos. Unters. § 50; vgl. §§ 51. 55–57. 215. 300.
[41]
a.O. § 215f.
[42]
Grundl. der Math. I, 32.
[43]
a.O. I, 29. 105.
[44]
III, 7.
[45]
I, 41.
[46]
III, 9.
[47]
III, 23.
[48]
Philos. Unters. § 57.
[49]
Grundl. der Math. III, 14.
[50]
a.O. III, 24.
[51]
III, 31.
[52]
a.O.
[53]
III, 41.
[54]
D. G. Cedarbaum: Paradigms. Stud. Hist. Philos. Sci. 14, Nr. 3 (1983) 173–213.
[55]
Th. S. Kuhn: Die Struktur wiss. Revolutionen (1967) 11.
[56]
a.O. 28f.
[57]
31.
[58]
69.
[59]
70–73.
[60]
74f.
[61]
76ff.
[62]
M. Masterman: Die Natur eines P., in: I. Lakatos/A. Musgrave: Kritik und Erkenntnisfortschritt (1974) 59–88.
[63]
Kuhn, a.O. [55] 8f.
[64]
W. Stegmüller: Theorie und Erfahrung II/2: Theorienstrukturen und Theoriendynamik (1973) 195–207.
W. Goldschmidt: Le paradigme dans la dialectique plat. (Paris 1947). – R. S. Bluck s. Anm. [37]. – Th. S. Kuhn s. Anm. [55]. – F. Kambartel: Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus (21976) 214ff. – G. Buck: Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didakt. Induktion (21969). – D. Shapere: The paradigm concept. Science 172 (1971) 706–709. – D. Böhler: P.-Wechsel in analyt. Wiss.theorie? Z. allg. Wiss.theorie 2 (1972) 219–242. – F. Gillette: Between paradigms: the mood and its purpose (London 1973). – W. Stegmüller s. Anm. [64]. – N. Fujisawa s. Anm. [10]. – Th. S. Kuhn: Second thoughts on paradigms, in: F. Suppe: The structure of scient. theories (Urbana 1974). – M. Maruyama: Paradigmatology and its applic. to cross-disciplinary, cross-professional and cross-cultural communications. Dialectica 28 (1974) 135–196. – K. A. Henwood: Paradeigmata in Plato's later thought (Diss. Toronto 1975). – D. S. Daniel: On underst. Kuhn's clarification of the paradigm concept. Dialogue 19 (1976) 1–7. – L. A. Marcuschi: Die Methode des Beispiels. Unters. über die method. Funktion des Beispiels, insbes. bei L. Wittgenstein (1976) 49–62. – C. G. Luckhardt: Beyond knowledge: paradigms in Wittgenstein's later thought. Philos. phenomenol. Res. 39 (1978) 240–252. – W. J. Prior: Pannenides 132c–133a and the development of Plato's thought. Phronesis 24 (1979) 230–240. – Zur Kuhn-Debatte vgl. R. Welter: Bibliogr. zur Selbstthematisierung der Wiss., in: C. Burrichter (Hg.): Grundleg. der hist. Wiss.forsch. (1979) 227–231. – H. J. Brown: The paradigm and related notions. Diogenes 112 (1980) 111–136. – K. Bayertz: Wiss.theorie und P.-Begriff (1981). – S. Waterlow s. Anm. [11]. – D. G. Cedarbaum s. Anm. [54]. – W. J. Prior: The coneept of παράδειγμα in Plato's theory of forms. Apeiron 17 (1983) 33–42.