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Personalismus

Personalismus Schulen, Strömungen und Positionen 5340 10.24894/HWPh.5340 RedaktionMichael Theunissen
(engl. personalism; frz. personnalisme; ital. personalismo)
I. – Der Ausdruck ‹P.› war ursprünglich allein als Bezeichnung für die Vorstellung von einem persönlichen Gott gebräuchlich. In dieser Bedeutung begegnet der Begriff schon 1799 an exponierter Stelle in Schleiermachers Entwurf einer Religionsphänomenologie in den Reden ‹Über die Religion›. Neben anderen Distinktionen trifft Schleiermacher eine Unterscheidung zwischen dem «P.» und der «ihm entgegengesetzten pantheistischen Vorstellungsart», wobei der P. – «die Idee von einer persönlichen Gottheit» – dem «Universum ... ein eigentümliches Bewußtsein beilegt und die andere (Vorstellungsart) nicht» [1].
Feuerbach nimmt das Gegensatzpaar ‹P./Pantheismus› wieder auf. Der personale Charakter (des christlichen) Gottes – als «P.» bzw. expliziter kritisch «Anthropotheismus» bezeichnet – wird nachgerade zum Schlüssel seiner Religionskritik. Gott ist eine Projektion des Menschen: «Die Persönlichkeit Gottes ist die von allen Bestimmungen und Begrenzungen der Natur befreite Persönlichkeit des Menschen». Der P. ist damit zugleich das theologische Fundament einer Auffassung vom «Wesen des Menschen», die dessen naturwüchsige Identität mit sich selbst zerstört und so für den anthropologischen Sachverhalt der Selbst-Entfremdung verantwortlich ist: «Der Pantheismus identifiziert den Menschen mit der Natur ..., der P. isoliert, separiert ihn von der Natur, macht ihn aus einem Teile zum Ganzen, zu einem absoluten Wesen für sich selbst» [2].
Personalistische Theologie bleibt auch nach Feuerbach präsent. So sagt E. Troeltsch: «Unsere Glaubenslehre ... ist personalistisch von oben bis unten» [3], und G. Gloege betont: «Wir können, wollen und dürfen hinter den theologischen P. nicht mehr zurück» [4]. Die Probleme und Aporien des P. bleiben zudem Gegenstand philosophischer Reflexion [5].
Redaktion
[1]
F. D. E. Schleiermacher: Über die Religion, hg. R. Otto (61967) 256–258.
[2]
L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Ges. Werke, hg. W. Schuffenhauer 5 (1973) 198f.
[3]
E. Troeltsch: Glaubenslehre (1925) 130; vgl. auch die Rückkehr K. Barths zur ‘Person Gottesʼ in seinem Spätwerk: Die kirchl. Dogmatik I/1 (1927, 71955) 143. 370.
[4]
G. Gloege: Der theolog. P. als dogmat. Problem. Kerygma Dogma 1 (1955) 23–41.
[5]
Vgl. G. Simmel: Die Persönlichkeit Gottes. Philosoph. Kultur (1911) 207–226.
Literaturhinweis. G. Gloege s. Anm. [4].
II. – Entsprechend der Heterogenität des sich selbst als P. vorstellenden oder (wie im Fall der dialogischen Philosophie) von außen so bezeichneten Denkens hat der in diesen Richtungen meist emphatische Begriff der Person verschiedene, z. T. sich ausschließende Bedeutungen. In dieser Vielfalt wirkt die Mehrschichtigkeit seiner Herkunft nach. Ursprünglich die Bezeichnung für die Maske des Schauspielers und dann für diesen selbst, zielte sein verallgemeinerter Gebrauch, der hierin liegenden Zweideutigkeit gemäß, schon in der vorchristlichen Antike einmal auf die soziale Rolle, die ein Individuum spielt, zum andern auf den individuellen Rollenträger. Der auf das geistbegabte Individuum abzielende Begriff, von Boethius definiert und von Thomas von Aquin aufgenommen, geht in den substantialistischen P. ein, der, maßgeblich von H. Lotze beeinflußt, sich besonders in Amerika ausbreitet (G. T. Ladd, J. Royce, B. P. Bowne, E. S. Brightman); der von der Rolle her konzipierte Begriff, ausgearbeitet von Augustin, Richard von S. Viktor und Duns Scotus, findet sich wieder im relationistischen, speziell dialogistischen P., dessen deutsche Version im Kreise der Linkshegelianer entsteht und den in Frankreich Ch. Renouvier begründet. Den ersteren arbeitet exemplarisch W. Stern aus, der für seine wesentlichsten Momente Individualität, Substantialität und Kausalität ausgibt [1]; den letzteren formuliert wegweisend D. F. Strauss, der die von M. Buber gegebene Definition [2] vorwegnimmt: «eine Person ist dies nur dadurch, daß sie andere von ihresgleichen sich gegenüber hat» [3]. Strebt das Substanzdenken nach Ausdehnung des Begriffs auf alles Seiende (J. Royce, W. Stern), so neigt das relationale Verständnis zu seiner Einengung auf die intime Sphäre der Zwiesprache. In eins mit der Radikalisierung des Gegensatzes von Person und Individuum verschärft diese Tendenz K. Löwith[4]. Wenn anknüpfend an ihn L. Binswanger[5], wohl als einziger, das «personale Mitsein» dem «liebenden Miteinandersein» gerade entgegensetzt, so deshalb, weil bei ihm der Begriff durch die noch schärfere Zuspitzung seines relationalen Sinnes ins Pejorative umschlägt: Person soll der eine für den anderen sein, sofern die totale Integration in die Beziehung ihn des Selbstseins beraubt und zum Mittel erniedrigt.
Am weitesten entfernt von solch einem extremen Relationalismus ist der Absolutismus, der die Person in der Autonomie und im Selbstzweckcharakter des Menschen sucht. Für ihn ist Personsein weder individuelles Fürsich-Sein noch soziales In-Beziehung-Sein, sondern das Sein des Menschen durch und aus sich selbst. So vornehmlich die Vertreter des katholischen P. Nach M. Scheler, der die Person als «konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens» bestimmt, hat sie «etwas von einer Totalität, die. sich selbst genügt», ein «absolutes Sein» [6]; P. Wust kennzeichnet Personalität, auch die menschliche, als «Aseität» [7], R. Guardini als «Selbstgehörigkeit» [8], E. Mounier als Sein «von absolutem Wert» [9]. Diese Absolutheit verträgt sich durchaus damit, daß z.B. Scheler die im «Kern» intime Person mit der Schale einer sozialen Schicht ausstatten und daß Mounier, Gegner des Kommunismus und des Kapitalismus gleichermaßen, sie, ähnlich wie N. Berdiajew, als Leitbild der heraufkommenden Zeit in die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit des absterbenden Bürgertums hineinstellen kann. Denn der autonom-autarken Personalität läßt sich, solange sie damit nicht gleichgesetzt wird, eine gewisse Relationalität zusprechen.
Wie der Anspruch Schelers, die kantische, in «Logonomie» zurückgefallene Autonomie der Person allererst zu sich selbst befreit zu haben [10], illustriert, versteht sich der absolutistische P. zunächst von Kant her. Faktisch entspringt er einer älteren Quelle: Ihm liegt der theologische, erstmals bei Tertullian auftretende Personbegriffzugrunde. Auf Trinität und Inkarnation angewandt, indiziert dieser ein Paradox: die Dreiheit der göttlichen Personen in der einen Natur Gottes und die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur in der Person Jesu. Durch seine anthropologische Applikation hat das Christentum den Menschen in neuer Weise personal begriffen: Als der trotz seiner Hinfälligkeit absolut geforderte, in aller Endlichkeit unendlich bedeutsame, in der Zeit sein ewiges Heil entscheidende Einzelne scheint nun auch der Mensch eine paradoxe Einheit von Gegensätzen zu verkörpern. Ihrem ursprünglichen Sinn zufolge, den man als die vom Dialog mit dem göttlichen Dichter ermöglichte Souveränität des Schauspielers gegenüber seinen weltlichen Rollen ebenfalls in die theatralische Situation hineinreflektiert, ist die personale Absolutheit nur ein Moment aus dieser Gegensatzeinheit, mag sie auch in ihrer Zugehörigkeit zum anderen Extrem radikaler Abhängigkeit weithin nicht mehr gewußt sein. Ihre authentische Bedeutung, im Anschluß an Hegel freigelegt von Kierkegaard, hat am klarsten M. Müller analysiert [11].
Dieser christliche Personbegriff ist der dem P. eigentümlichste; in einem nicht-personalistischen Denken taucht auch er nicht auf. Der relationale und der individual-substantiale sind hingegen jenseits des P. fortgebildet worden, jener am interessantesten in der amerikanischen Soziologie (T. Parsons u.a.), dieser am differenziertesten in der britischen sprachanalytischen Philosophie (A. J. Ayer, P. F. Strawson).
Michael Theunissen
[1]
W. Stern: Person und Sache 2 (31923) 5. 9; 3 (1924) 76.
[2]
M. Buber: Die Schr. über das dialog. Prinzip (1954) 65.
[3]
D. F. Strauss: Christl. Glaubenslehre 1 (1840) 497.
[4]
K. Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928, ND 1962).
[5]
L. Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschl. Daseins (1942, 31962).
[6]
M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die mat. Wertethik (41954) 400. 405. 482–574.
[7]
P. Wust: Naivität und Pietät (1925) 53; Die Dialektik des Geistes (1928).
[8]
R. Guardini: Welt und Person (31950) 99.
[9]
E. Mounier: Manifeste au service du personnalisme (Paris 1936) 64.
[10]
Scheler, a.O. [6] 383. 499.
[11]
M. Müller: Person und Funktion, Philos. Jb. 69 (1961/62) 371–404.
E. Mounier: Le personnalisme (Paris 121971). – J. Lacroix: Le personnalisme comme anti-idéologie (Paris 1972). – J. Auer: P. in der kath. Theol. Münchener theolog. Z. 16 (1965) 260–271. – R. Haskamp: Spekulat. und phänomenolog. P. Einflüsse J. G. Fichtes und R. Euckens auf M. Schelers Philos. der Person (1966). – M. Theunissen: Skept. Betrachtungen über den anthropolog. Personbegriff, in: Die Frage nach dem Menschen. Festschr. M. Müller (1966) 461–490. – B. Häring: P. in Philos. und Theol. (1968). – W. Seeger: Der Mensch und die Politik (1971). – M. Nédoncelle: Explorations personalistes (Paris 1970); Intersubjectivité et ontologie: Le défi personaliste (Löwen/Paris 1974). – P. Höltershinken: Anthropolog. Grundlagen personalist. Erziehungslehren. M. Buber, R. Guardini, P. Petersen (1970). – R. Benjamin: Notion de personne et personnalisme chrétien (Den Haag/Paris 1972). – G. W. Hunold: Ethik im Bannkreis der Sozialontologie. Eine theolog.-moralanthropolog. Kritik des P. (1974). – H. Leonardy: Liebe und Person. M. Schelers Versuch eines ‘phänomenolog.ʼ P. (1976). – L. D. Stitskin: Jewish philos. A study in personalism (Yeshiva 1976). – J. Hellman: E. Mounier and the new catholic left 1930–1950 (Toronto 1981). – A. Köpcke-Duttler: N. Berdiajew. Seine Philos. und sein Beitrag zu einer personalist. Pädagogik (1981).