Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Philosophie (Abschnitt IV: Neuzeit)

Philosophie (Abschnitt IV: Neuzeit) 3071 10.24894/HWPh.3071-4Rainer SpechtHeinrich SchepersUlrich DierseWerner SchneidersOdo MarquardBernhard WaldenfelsGunter ScholtzKurt RöttgersWilhelm GoerdtGottfried GabrielFriedrich KambartelThomas RentschNorbert W. Bolz
IV. Neuzeit: A. Frankreich und England im 17. und frühen 18. Jh. 682; B. Leibniz 695; C. Französische Aufklärung 698; D. Deutsche Aufklärung 709; E. Von Kant bis zum Beginn des 20. Jh. 714; F. Die Einteilung der Philosophie von Kant bis zum Beginn des 20. Jh. 731; G. Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken 742; H. Hermeneutische Philosophie 752; I. Westlicher Marxismus 761; J. Russische und sowjet. Philosophie 775; K. Analyt. Philosophie und Wissenschaftstheorie 786; L. Strukturalismus, Diskursanalyse, Dekonstruktivismus 792.
IV. Neuzeit. – A. Frankreich und England im 17. und frühen 18. Jh. – 1. Descartes und Cartesianismus.Descartes' Begriff von Ph. oder Streben nach Weisheit weist auf verschiedene Weisheitsbegriffe zurück. M. de Montaigne, der das prekäre Unterfangen Ph. für unser Wissen, die Tugend aber für unser Handeln zuständig sein läßt, hält dennoch die Ph. für handlungsprägend, sofern sie Wissen von der Tugend ist [1]. Daß sie nicht falsch betrieben wird, ist also für die Praxis wichtig [2]. Bei P. Charron stehen Ph. und «sagesse» einander so nahe, daß als wahre Explikation von ‹Weisheit› eine stoische Explikation von ‹Ph.› dienen kann: vollkommene Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge [3]. Die Weisheit wird mit Kategorien der praktischen Ph. charakterisiert: höchstes Gut und Vollkommenheit des Verstandes. Zugleich wird sie Verstand und Willen zugeordnet: wahre Selbsterkenntnis und angemessenes Verhalten [4]. Bei M. Mersenne erscheint dagegen die Weisheit nicht als Ziel, sondern als mögliche Bestimmung von Ph. Denn bei ihm steht ‹Weisheit› für die Gesamtheit jener Wissenschaften, die ihren Gegenstand nicht sinnlich, sondern (wie Physik und Metaphysik) entsprechend seiner wahren Natur erfassen. Statt des skeptizistisch besetzten «sagesse» steht nun «sapience»: Sie läßt uns die Dinge so verkosten, wie sie sind [5] – eine theorieorientierte Bestimmung von «Weisheit».
Für R. Descartes, der zwischen Historie (als Sichern des schon Gefundenen) und Wissenschaft (als Fähigkeit zu selbständiger Problemlösung) unterscheidet [6], wird die menschliche Weisheit zur Gesamtheit der Wissenschaften, deren Einheit auf der Einheit der Methode beruht [7]. Denn Weisheit (die mehr ist als Klugheit in Geschäften [8]) ist die aus ersten Ursachen und unbezweifelbaren Prinzipien abgeleitete Erkenntnis des Gegenstandes der praktischen Wissenschaften Moral, Medizin und Mechanik (die alle anderen Wissenschaften zur Voraussetzung haben) [9] – natürlich gesehen als das höchste Gut des Menschen [10]. Hier ist die Weisheit also so praktisch wie bei Charron und so theoretisch wie bei Mersenne. Das bisher noch nicht gelungene Streben nach Weisheit heißt ‹Ph.› [11]. Ph. ist wie ein Baum mit der Wurzel Metaphysik, dem Stamm Physik und den Fruchtzweigen Medizin, Mechanik und vollkommenste Moral als höchste Stufe der Weisheit, die alle anderen Wissenschaften voraussetzt; diesen liefert die Ph. die Prinzipien [12]. Die Ph. besteht aus Metaphysik als der Lehre von den Prinzipien der Erkenntnis, von Gottes Existenz und wichtigsten Attributen, von der Unsterblichkeit der Seele und von unseren klaren und einfachen Notionen [13]. Zweitens aus Physik, die nicht beliebig spekulieren darf, sondern systematisch und logisch notwendig sein muß [14]. Sie behandelt die obersten Gesetze und Bausteine der Natur, das sichtbare Universum und die Erde mit ihren Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschenleibern [15]. Damit liefert sie die Grundlagen für den dritten Teil der Ph. und damit für die höchste Stufe der Weisheit, die vollkommenste Moral [16]. Weil die Ph. in theoretischer wie in praktischer Hinsicht zivilisierte Nationen von Wilden unterscheidet, ist sie das höchste Gut für den Staat [17]. Heute steht sie bei den besten Geistern in Verruf [18], weil die falschen Köpfe [19] sie mit den falschen Mitteln [20] betreiben. Ihre Verquickung mit der Theologie gab Anlaß zu Häresien und Kriegen [21]. Wer unter diesen Umständen philosophieren will, der muß zuerst eine provisorische Moral entwickeln, die ihn mit vorphilosophischen Entscheidungskriterien versieht, und am Beispiel der Mathematik eine bisher unbekannte Logik der Invention erlernen [22]. Die neue Ph., die jetzt entsteht (Heereboord feiert Descartes als «ph.ae exorientis Phosphorus» [23]), schenkt uns die Freude des Findens neuer Wahrheiten, verbessert unser Urteil, stimmt uns durch ihre Klarheit statt zu Streit zu Frieden und Eintracht und ermöglicht die allmähliche Vervollständigung unseres Wissens durch planvollen Erkenntnisfortschritt [24].
Zahlreiche cartesianische Erklärungen von ‹Ph.› übernehmen die cartesische Explikation oder bereichern sie mit Schulreminiszenzen. Die Stellung von «scientia» und «sapientia» ist schwankend. Die peripatetische Ph., die wie die Leute redet [25], ist für die Wissenschaften ohne Nutzen und veranlaßt Streit, während die wahre Ph. die Wissenschaften mit Prinzipien versieht und Frieden stiftet [26]. Während die übrigen Philosophen sich mit Sektennamen schmücken, sind Cartesianer damit zufrieden, vernünftige Philosophen zu sein [27]. Bei den Einteilungen ist der Status der Logik wechselnd. Sie kann als selbständige Wissenschaft neben Metaphysik, Physik und Moral erscheinen [28], aber auch als etwas, das mit Metaphysik identisch ist und das die kontemplativen und praktischen Wissenschaften mit ihren Gegenständen versieht [29]. Eine detaillierte Aufgliederung gibt F. Schuyl in ‹De veritate scientiarum›: Erste Ph. (Methodologie, natürliche Theologie und Leib-Seele-Lehre oder Theorie der «conditio humana») [30]; Physik (Lehre von Himmel und Erde, ausgehend von den ersten Elementen bis hin zum Zusammengesetzten, sowohl zur Aufdeckung der Geheimnisse der Natur als auch zu ihrer Nachahmung) [31]; praktische Wissenschaften (Medizin, Ethik und Jurisprudenz, Ökonomie und Politik) [32]; Clauberg läßt demgegenüber die Jurisprudenz der Politik so zugeordnet sein wie die Medizin der Physik [33]. Außerhalb des skizzierten Wissenschaftscorpus stehen bei Schuyl Offenbarungstheologie und Mathematik als Wissenschaften «von untrüglicher Wahrheit» [34]. Mehrere Charakterisierungen weisen auf den religiösen Weg des Cartesianismus hin. Nach L. de La Forge wurde Descartes von Gott gesandt, um uns durch einfache und fruchtbare Hypothesen das richtige Philosophieren zu lehren [35], und für Clauberg ist Ph., so wie es Platon lehrte, Betrachtung des Todes oder Trennung der Seele vom Leib; aus diesem Tod erwächst das Leben der Seele, die geistig ist; es erlischt aber wieder bei der Rückkehr zu fleischlichem Leben [36]. Spinozas Explikation hält sich in dem geschilderten Rahmen. Am Anfang der Ph., die nun more geometrico demonstriert wird, steht die Methodenlehre [37]. Ihr folgen Metaphysik [38], Physik [39] und praktische Ph. [40], darunter Politik [41], über die Politiker glücklicher geschrieben haben als Philosophen [42]. Wahre Philosophen suchen ihr Glück in Tugend und Gehorsam gegen die Natur [43], ihr einziger Wahrheitsprüfstein ist das natürliche Licht [44]. Sie wollen die Naturdinge und ihre Gesetze nach Maßgabe der Vernunft allein durch klare Begriffe denken [45]. Die Theologen (nicht mehr: die Peripatetiker) behindern den Zugang zur Ph. und die Freiheit des Philosophierens [46], obgleich Religion und Ph. ganz verschiedene Fundamente und Ziele haben [47]. Gegen diese Trennung von Religion und Ph. richtet sich H. de Boulainvillers Beweis ihrer natürlichen Verbundenheit [48]. Eine späte cartesianische Gliederung der Ph. findet sich bei S. Régis: Logik, Metaphysik, Physik (allgemeine: Kosmogonie und Astronomie; spezielle: Geologie, Chemie, Anatomie, Physiologie) und Moral [49].
Für eine verbreitete Strömung, die im 17. Jh. häufig als «ph.a sacra» bezeichnet wird, gelten als wichtigste Erkenntnisquellen die beiden Testamente («ph.a christiana») oder das speziell interpretierte Alte Testament («ph.a moysaica») [50], weil es ohne Offenbarung keine sichere Erkenntnis gibt [51]. Die auch in unvermuteten Zusammenhängen auftauchende [52] Überzeugung, daß Gott die alleinige Ursache ist, weist auf ältere Diskussionen zurück [53]. Ph.n wie die peripatetische, die Naturgegenstände zu Wirkursachen erklären, sind heidnisch und götzendienerisch, weil sie Geschöpfen göttliche Kraft zuschreiben [54]. Ihre Entlarvung erfolgt unter Titeln wie ‹De origine idololatriae› und ‹De origine erroris›. Malebranches ‹Recherche›, die fünf von sechs Büchern der Irrtumsbekämpfung widmet, gehört in diese Reihe. Die Strömung erscheint in S. Bassos ‹Philosophia naturalis adversus Aristotelem› [55], die Aristoteles als vorchristlichen Autor entschuldigt, aber christliche Philosophen, die heidnisch philosophieren, für unentschuldbar erklärt [56]. R. Fludd führt in der ‹Philosophia moysaica› die heidnische Ph. unmittelbar auf den Teufel zurück [57]. Der «ph.a sacra» folgen cartesianische wie nichtcartesianische Autoren, z.B. G. J. Vossius (‹De origine idololatriae›) [58], A. Heidanus (‹De origine erroris›) [59], Vallés, Casman, Danaeus[60], van Mey[61], Amerpoel (‹Cartesius mosaizans›) [62] und A. Victor, der an Malebranche vermittelt [63]. Dessen Titel ‹Méditations chrétiennes› ist wohl zu lesen wie ‹première philosophie chrétienne›. Für Cartesianer konnte diese Strömung anziehend sein, weil Gott nach Descartes die einzige physische Wirkursache ist und weil sich im Licht des cartesischen Mißtrauens gegen die Sinne die gegnerische peripatetische Ph. als Ph. der Sinnlichkeit und Sünde diskriminieren ließ [64].
Im Schnittfeld von Cartesianismus und Heiliger Ph. stehen späte Autoren wie Geulincx und Malebranche. Bei A. Geulincx bezeichnet ‹Ph.› fast immer scholastische, peripatetische oder heidnische Ph.n und ist nur selten positiv besetzt [65]. In einen Teil seiner Funktionen tritt ‹Metaphysik› als Name für eine Wissenschaft, die neben vernünftiger Theologie auch Autologie (Ichlehre) und Somatologie umfaßt, ferner die streng wissenschaftlichen Exkurse Mathematik, Logik und Ethik (die Somatologie oder Physik enthält, weil sie mit Hypothesen operieren muß, Vermischungen von Wissen und Nichtwissen, «Miszellen») [66]. Auch bei N. Malebranche ist ‹Ph.› – mit oder ohne Zusatz – ein heidnisch besetzter Ausdruck [67]; positive oder neutrale Verwendungen sind selten [68]. Ein Philosoph, der nicht lehrt, daß Gott alles tut, daß die Natur eine Chimäre ist und daß allein die universelle Vernunft uns belehrt, ist ein schlechter Philosoph [69]. Dagegen läßt uns die Ph., wenn sie angemessen betrieben wird, zur Gegenwart Gottes gelangen [70]. Als philosophische Disziplinen erscheinen solche nicht-historischen Disziplinen, die von notwendigen Wahrheiten handeln: Mathematik, Metaphysik sowie (größtenteils) Physik und Moral [71]. Das entspricht inhaltlich der Einteilung, für die sich auch Port-Royal entscheidet: vierteilige Logik, Physik, Moral und Metaphysik [72].
2. Skeptische und neuepikureische Autoren in Frankreich. – Der Gewißheitsrigorismus Descartes', der in seiner Schule zunehmend abgemildert wird, begegnet einer Welle skeptischer Entwürfe. Für P. D. Huet ist Ph. als Streben nach Weisheit eine Bemühung des Geistes zur Erkenntnis der Wahrheit durch eine Vernunft, die nichts gänzlich gewiß erkennen kann [73]. Auch B. Pascal sieht in der Ph. die Tätigkeit einer Vernunft, die dem, was sie sich vornimmt, nicht gewachsen ist und die bestenfalls zu einer Unwissenheit gelangt, die sich als solche erkennt [74]. «Cette belle philosophie», die noch immer nichts Gewisses gefunden hat [75], spaltet sich nach Maßgabe der drei Hauptbegierden in Sekten auf [76]. Ihre praktische Wirkung ist gering: Der größte Philosoph auf einer Planke über einem Abgrundempfindet Angst, auch wenn ihn seine Vernunft von seiner Sicherheit überzeugt hat [77]. Fast alle Philosophen werfen die Begriffe durcheinander [78], und wenn Descartes' Vereinfachungen stimmten, dann wäre die ganze Ph. nicht eine Stunde Mühe wert [79]. Philosophen zeigen nur, wie es nicht ist [80], ihr Elend erweist sich an der Religion. Sie haben Gott ohne Christus [81], aber eine solche Erkenntnis Gottes ist unfruchtbar und unnütz [82], denn sie erfaßt nur den Gott der Philosophen als Schöpfer der geometrischen Wahrheiten und der Ordnung der Elemente, aber nicht den lebendigen Gott [83].
Bei P. Bayle bezeichnet ‹Ph.›, inhaltlich gesehen, die Gesamtheit der vernünftigen Erkenntnisse, die die Natur der Dinge und die Pflichten der Tugend erklären [84]. Sie ist einerseits spekulative Ph. mit Physik (allgemeine: Prinzipien, Proprietäten und allgemeine Eigenschaften der Materie; spezielle: unbelebte und belebte Körper) [85], Mathematik (quadrivial gegliederte Quantitätslehre) [86] und Metaphysik (allgemeine: das Sein, seine Prinzipien, Proprietäten und Ursächlichkeiten; spezielle: Kategorien, Geist, Beweis der Existenz und Attribute Gottes) [87]. Die praktische Ph. besteht aus Logik, die die Verstandestätigkeit zur Wahrheit, und aus Moral, die die Willenstätigkeit zur Tugend hinlenkt, ferner aus Politik, Ökonomie und Monastik (Moral des Einzelnen) [88]. Bayle konzentriert sich auf innere Unstimmigkeiten und äußere Handicaps der theoretischen Ph., nicht zuletzt auf ihre unauflöslichen Grenzstreitigkeiten mit der Theologie [89], bei denen die Fürsten die Partei der Theologen ergreifen, damit die akademischen Spaltungen sich nicht auf den Staat erstrecken [90]. Das zwingt die Philosophen zu genauer Unterscheidung zwischen dem, was man sagt, und dem, was man nach außen hin verschweigt [91].
Die erfolgreichste dieser Richtungen begründet P. Gassendi, der den Epikureismus skeptizistisch transformiert. Er bezeichnet seine eigene Ph. als eklektizistisch [92] und frei von Sektenknechtschaft [93]. Für ihn bedeutet ‹Ph.›: die Weisheit lieben, bedenken und üben. Weisheit ist die Disposition des Geistes zu richtigen Meinungen über die Dinge (Streben nach Wahrheit oder Physik) [94] und zu richtigem Handeln im Leben (Streben nach Rechtschaffenheit oder Moral) [95]. Bisweilen wird die viergliedrige Dialektik, die in ihrer üblichen Form zu verwerfen ist, als eigener Hauptteil der Ph. betrachtet [96]; weil aber eine nützliche Dialektik nur aus wenigen «Canones» über Wortgebrauch und Kriterien besteht, kann man sie auch als Unterabteilung der Ph. oder als Beigabe zur Physik ansehen [97]. Physik[98] ist die Lehre von der körperlichen und geistigen Natur (Gott und die Seele – über Engel fehlen uns natürliche Informationen) [99]; über die Stellung der Mathematik zur Physik besteht kein Konsens [100]. Folgenreich ist Gassendis Überzeugung, daß uns Natur-Ph. im strengen Sinn versagt ist. Nun besitzen wir zwar über Naturgegenstände kein notwendiges («demonstratives») und allgemeines Wissen [101] (denn ihr Innerstes und ihre wahren Eigenschaften sind uns verborgen [102]), wohl aber sogenanntes Erfahrungs- oder Erscheinungswissen [103], das nicht auf Dialektik oder Autoritäten [104], sondern auf Historie und auf Beobachtungen der Erscheinungen beruht [105]. Durch das Zusammenwirken von Historie, unvollständiger Induktion und Hypothesen entsteht die «scientia experimentalis» oder «historica» [106], die nun die Stelle einer Natur-Ph. im strengen Sinn zu vertreten hat. Bei Frankreichs führendem Gassendisten F. Bernier zeigt sich die Unsicherheit gegenüber dem Ort der Logik an deren wechselnder Placierung [107]. Die Überschrift der theoretischen Ph. lautet nun: «Physik und Metaphysik» [108]. Die Moral oder Wissenschaft von der Erlangung der Seelenruhe wird wegen ihrer Praxisbezogenheit als Kunst (zu leben) charakterisiert [109]. An ihre Seite tritt die Physik, die Vermittlerin leiblicher Gesundheit als des anderen Teils der Glückseligkeit [110].
3. Ältere britische Autoren. – Während in Cambridge eine platonische Ph. entsteht, die für die intellektuelle Welt geöffnet ist, die die menschlichen Sinne nicht für eine hinreichende Erkenntnisquelle hält und im Hinweis auf mechanische Ursachen keine angemessene Erklärung natürlicher Phänomene sieht, beschäftigen sich Autoren im Umkreis Bacons, der die Methodenbedürftigkeit und Instrumentalität der Wissenschaften hervorhebt, mit Voraussetzungen des Friedens und theoretischen Bedingungen für die Erkenntnis der Natur. Bacon gliedert das menschliche Wissen entsprechend den Vermögen Erinnerung, Einbildungskraft und Vernunft in Historie, Poesie und Ph. [111]. Historie im allgemeinen ist erzählend, Naturhistorie induktiv [112]. Die Ph. erkennt durch das natürliche Licht, d.h. durch Sinne und Begriffe. Erste Ph. heißt die Lehre von den allgemeinen Prinzipien und Axiomen sowie von Quantität, Ähnlichkeit/Verschiedenheit, Möglichkeit u.a. [113], natürliche Theologie das nicht geoffenbarte Wissen über Gott, Seelen und Geister [114]. Die Natur-Ph. ist spekulativ, sofern sie Ursachen erforscht, und operativ, sofern sie Wirkungen hervorbringt [115]. Sie teilt sich in Physik als Lehre von Material- und Wirkursachen und Metaphysik als Lehre von Formen und Finalursachen [116]. Die Mathematik wird in ‹De dignitate› als Appendix der Physik verstanden [117], im ‹Advancement› aber der Ersten Ph. zugewiesen [118]. Operative Physik heißt Mechanik, operative Metaphysik natürliche Magie [119]. Die Ph. vom Menschen ist einerseits Ph. des Einzelnen oder Lehre von Leib, Seele und beider Vereinigung («condicio humana») [120], andererseits bürgerliche Ph. (Lehre von Verkehr, Handel und Regierung) [121]. Die Seelenlehre verzweigt sich in Verstandes-Ph. (Erfindungs-, Beurteilungs-, Erinnerungs- und Tradierungslehre) und in Willens-Ph. (Moral) [122].
Für Th. Hobbes ist Historie Faktenwissen, Ph. Konsequenzenwissen [123] oder durch Schlußfolgerung erworbenes Wissen von Ursachen durch Wirkungen bzw. von Wirkungen durch Ursachen [124], das in der Geometrie und bürgerlichen Ph. die wirklichen, in der Natur-Ph. bloß mögliche Ursachen erfaßt [125]. Der Zweck der Ph. ist die Nutzung vorhergesehener Wirkungen oder die Anwendung von Körpern auf Körper zur Wiederholung begriffener Wirkungen zum Nutzen des Menschen [126]. Der Nutzen der Ph. erweist sich an ihren Resultaten, der der Moral-Ph. allerdings an dem Unglück, das ihr bisheriger Zustand veranlaßt hat [127]. Der erste Hauptteil der Ph. ist nach ‹De corpore› die Logik, der zweite die Erste Ph. (Gegenstand: Grundbegriffe, die zu richtigen Definitionen befähigen) [128], der dritte die Bewegungs- und Größenlehre, der vierte die Physik als Lehre von den natürlichen Phänomenen. Es folgt die Ph. «de nomine» und «de cive» (Freiheitslehre, Staatslehre und politische Theologie).
J. Glanvill betont die Ungewißheit [129] und Fruchtlosigkeit [130] der bisherigen Ph., die nur langsam ihrer Morgendämmerung entwächst [131]. Glückliche Entdeckungen sind meist nicht der Ph., sondern dem Zufall zu danken; deswegen ist ein «Cursus philosophicus» «an impertinency in folio» [132]; am vertretbarsten ist noch die Ph. Descartes', aber «Sunbeams best commend themselves» [133]. Da die Royal Society erfolgreicher ist als alle Begriffs-Ph.n seit der Eröffnung von Aristoteles' Laden, wird die wahre Ph. auf der Beobachtung der sinnlichen Welt beruhen [134]. Ihr Ziel sollten praktische Verbesserungen sein [135], und die Güte ihrer Hypothesen bemißt sich an ihrer Erklärungsleistung [136]. Ein philosophischer Skeptizismus, der das behauptet, ist für die Theologie nicht schädlich [137]. Denn Real-Ph. ist Wissen von Gottes Werken [138] – die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, und die Ph. rühmt die Ehre der Himmel [139]. R. Hooke urteilt ähnlich über die Vergangenheit der Ph. Sie sollte den Menschen zu vollkommenem Wissen über Natur, Eigenschaften und Entstehung der Körper sowie zu ihrer nützlichen Verwendung befähigen, aber seit Anbeginn der Ph.-Geschichte hat es darin keine nennenswerte Verbesserung gegeben [140]. Doch H. Power schreibt im Blick auf die neue Wissenschaft, jetzt breche die Ph. so unaufhaltsam wie eine Springflut herein – eine großartige und unumstößliche Ph., die die Phänomene empirisch erfaßt, die von ihr deduzierten natürlichen Ursachen durch Kunst reproduziert und in der Mechanik untrügliche Beweise führt [141].
4. Gassendi-nahe britische Autoren. – Unabhängig von Hobbes' Gassendi-Rezeption hält sich eine Gruppe jüngerer Autoren, die den Atomismus epikureischer Provenienz und Gassendis Konzept der Experimental-Ph., zum Teil auch seine Rechtfertigungsmetaphysik und seine Formulierungen übernehmen. Neben Originaltexten sind ihnen Stanleys[142] und Charletons[143] englische Bearbeitungen, später auch Berniers ‹Abrégé› [144] zugänglich. W. Charleton teilt die Philosophen in die Sekten der Meisterverehrer (Aristoteliker, Scotisten, Lullisten und Anhänger des Trunkenboldes Paracelsus), Verteidiger der philosophischen Freiheit (Tycho, Kepler, Galilei, Scheiner, Harvey, vor allem Descartes), Erneuerer des alten Wissens (Ficino, Copernicus, Lucretius, Maignan, Mersenne, Gassendi) und Eklektiker (Fernel, Sennert) ein. Diese Vielfalt kommt von der Dunkelheit der Natur, der Unvollkommenheit unseres Verstandes und der Zügellosigkeit unserer Wißbegierde [145]. Die Ph., die sich an den philosophischen und genauen, nicht an den poetischen oder Zufallssinn der Wörter zu halten hat [146], hat als spekulative Disziplinen Metaphysik, Physiologie und Geometrie[147]. Die Metaphysik beruht auf angeborenen oder kongenialen Ideen (Gotteslehre), auf Offenbarung (vernünftige Seelen und Geister) und auf Winken der Sinne [148]. Die Physiologie nimmt ihre Methode von der Natur und ist ein Diskant der Vernunft über den «cantus firmus» der Sinne, denn sie kommentiert nur die Natur [149].
Th. Sydenham präzisiert für die Medizin den Gedanken der Experimental-Ph. in einer an Empiriker erinnernden Weise: Die ganze Ph. des Arztes besteht in Historie [150]. Philosophische Hypothesen verfälschen diese nur [151], nützen nicht und schaden oft [152]. Glückliche Entdeckungen entsprangen nicht philosophischer Spekulation, sondern dem Zufall oder der Beobachtung der Natur; aber eine Ph., die uns nicht lehrt, irgend etwas besser, schneller oder leichter zu tun, verdient ihren Namen nicht [153]. Weil wir die Natur nicht intuitiv, sondern nur mit Hilfe der Sinneserfahrung erkennen, wird nie ein Sterblicher zum Philosophen im erhabeneren Sinn des Worts [154]. Unsere Ausstattung reicht für natürliche Theologie und Moral-Ph., daneben allenfalls für Künste wie Medizin, Mathematik und Mechanik [155].
Nach R. Boyle ist Ph. (edler und umfassender als irgendein System) die Gesamtheit aller Künste, Disziplinen und Wissensgebiete, die die Vernunft mit natürlichen Mitteln erlangen kann [156]. Sie und die Offenbarung sind die beiden Instrumente unseres Wissens [157]. Boyle nennt an Disziplinen vor allem Logik, Metaphysik, Physiologie, Mathematik [158] und Moral-Ph., deren Beweise auf nur begrenzt zwingenden Gründen oder auf dem Zusammenfallen von Wahrscheinlichkeiten fußen und nicht den Ansprüchen philosophischer Theorie, wohl aber den Regeln der Klugheit und den Erfordernissen der Praxis genügen [159]. Beweise in der Metaphysik beruhen dagegen auf notwendigen Axiomen [160], nicht einmal die Offenbarung kann ihr widersprechen [161]. Aber den Experimentalphilosophen überzeugt bereits der Anblick der Phänomene von Gottes Existenz und Attributen [162], besonders wenn er die Finalursachen berücksichtigt, die die Experimental-Ph. nur dann außer acht lassen darf, wenn sie die Beachtung der Wirkursachen behindern [163]. Weil wir nicht die Natur der Dinge, sondern nur Phänomene und ihre Veränderungen (den Gegenstand der Naturhistorie) erblicken, ist Experimental-Ph. die wahre und solide Ph. der Natur. Sie ist nicht leicht [164], weil sie Begabung zu Experimenten verlangt [165], Umgang mit Handwerkern, Bauern und Kaufleuten erfordert [166], weil noch der unbedeutendste Gegenstand für sie wichtig werden kann [167], weil sie viel Geld verbraucht [168] und Geduld und Ausdauer auf die Probe stellt [169]. Man kann sie auch als mechanische Ph. [170], Teilchen-Ph. [171] oder Korpuskular-Ph. bezeichnen – ein Name, der Cartesianismus und Atomismus gleichermaßen charakterisiert; beide sind so miteinander verwandt, daß man sie als eine einzige Ph. ansehen darf [172]. Diese befaßt sich zwar mit dem allgemeinen Naturlauf, muß aber darüber hinaus genaue Rechenschaft über Einzelphänomene geben, um die sich der «lazy Aristotelian way» nicht kümmert [173]. Experimentalphilosophische Hypothesen sind nie unwiderruflich [174]. Schon weil in dieser forschungsfreudigen Zeit jeder Tag eine neue Entdeckung bringt [175], haben wir keine festen Standards für Ph.; sie ist etwas Wachsendes, das sich mit dem Wachstum des Wissens verändert [176] und dem Systeme leicht Gewalt antun [177]. Ziel der Experimental-Ph. ist die Erkenntnis und Beherrschung der Natur [178]. Sie kann menschliche Hände ersetzen, und ihre Erfindungen führen im Weltall und auf der Erde zu großen Veränderungen [179].
I. Newton erörtert das Verfahren der Experimental-Ph. Sie muß von den Phänomenen und nicht von Hypothesen her argumentieren [180]. Wie in der Mathematik muß in ihr die Analysis am Anfang stehen. Sie zieht induktive Schlußfolgerungen aus Experiment und Beobachtung und läßt, damit das induktive Argument nicht vorzeitig abbricht, nur solche Einwände zu, die auf Experimenten oder sonstigen Wahrheiten beruhen. Zwar sind induktive Argumente keine Beweise, aber wir haben keine besseren. Sie leiten uns von den besonderen Ursachen bis hin zur allgemeinsten [181]; insofern denkt die Natur-Ph. über Gott im Blick auf die Phänomene nach [182]. Ihre Vervollkommnung nützt auch der Moral-Ph., weil der Erweis der Macht und Güte der Erstursache unsere Pflichten gegen sie im Lichte der Natur erscheinen läßt [183].
Viele Überlegungen J. Lockes betreffen den schlechten Zustand der Ph. als Folge der eigennützigen Verwendung dunkler und vieldeutiger Wörter und des unbeirrbaren Festhaltens der Richtungen an ihren Thesen [184]. Deshalb hat die Ph. zu Frieden, Schutz und Freiheit und zur Verbesserung der nützlichen Künste nicht viel beigetragen [185], sondern die großen Wahrheiten von Recht und Theologie verdunkelt und Leben und Gesellschaft in Unordnung gebracht [186]. Wirkliche Ph. ist wahres Wissen über die Dinge [187], sie tritt nach Möglichkeit in Mode und Sprache ihres Landes auf und nimmt es mit den Wortbedeutungen genau [188]. Unsere kognitiven Fähigkeiten, die an Ideen und Wörter gebunden sind [189], reichen aus zur Erkenntnis der Existenz Gottes, zur Befriedigung unserer Bedürfnisse und zur klaren Erkenntnis unserer Pflicht [190]. Darauf beruht die natürliche Einteilung der Ph. in Natur-Ph., praktische Ph. und Semiotik oder Logik (Lehre von Zeichen, d.h. Wörtern und Ideen, und ihrem richtigen Gebrauch) [191]. Gegenstände der Natur-Ph. (die nur theoretisch ist) sind Wesen, Konstitution, Eigenschaften und Wirkungen von Geistern und Körpern [192]. Wir wissen aber über Körper und Geister nur wenig [193], und eine notwendige und allgemeine Ph. der Natur ist wahrscheinlich aus Mangel an vollkommenen und allgemeinen Ideen für uns nicht erreichbar [194]. Deshalb muß uns Erfahrung lehren, was uns Vernunft nicht lehren kann [195]. Wenn wir naturhistorisch verfahren, von merkmalreichen Ideen natürlicher Arten sowie von Experiment und Beobachtung ausgehen, dann gelangen wir zwar nicht zu Allgemeinheit und Notwendigkeit, wohl aber zu der nützlichen Experimental-Ph., die uns Bequemlichkeit, Gesundheit und Gewinn verschaffen kann [196] und deren Hypothesen zwar keine Gesetze, aber doch mnemotechnische und heuristische Hilfen sind [197]. Gegenstand der praktischen Ph. ist die Kunst des guten und nützlichen Gebrauches unserer Kräfte und Tätigkeiten [198]. Sie ist nicht weniger als die Mathematik eine demonstrative Wissenschaft, denn die Idee Gottes und unserer selbst ermöglicht die genaue Herleitung von Pflichten und Handlungsregeln [199].
5. Britische Autoren nach Locke. – A. A. C. Earl of Shaftesbury, der den Zustand der Zunft-Ph. häufig beklagt [200], erweitert den Begriff der Ph., indem er sie als Streben nach Glückseligkeit zu einer Angelegenheit aller Menschen erklärt [201], die Anstand, Gerechtigkeit und Schönheit vermittelt und nicht allein auf dem Kopf, sondern auch auf Herz und Entschlossenheit beruht[202]. Die Ph., die im ursprünglichen Sinne Meisterschaft in Leben und Verhalten ist [203], kann rhapsodisch oder trocken sein [204] (auch Schul-Ph. ist Ph., wenn sie Geist, Verstand und Verhalten verbessert [205]). Ihr wichtigster Gegenstand ist die Erkenntnis unserer selbst [206], diese dient als Voraussetzung für Moral und Politik [207]. Weil Ph. die würdigste Wissenschaft ist, konnte sie erst zuletzt entstehen [208]. Ph. braucht Freiheit [209]. Sie ist, weil sie über sich selbst und über alles andere urteilt, auch hinsichtlich der Religion der einzige Maßstab der Angemessenheit von Verhaltensweisen und Affektionen [210]. Die Experimental-Ph. erforscht viele äußerliche Dinge, die nichts mit unseren wirklichen Interessen zu schaffen haben, begnügt sich aber für die intellektuelle Welt mit ein paar metaphysischen Phrasen [211].
Kritische Überlegungen zur Ph., wie sie bei Shaftesbury im Spiel sind, finden einen lebhaften Ausdruck bei H. St. John Lord Bolingbroke. Philosophen sind unbelehrbar, «more fool-hardy than mariners»; sie halten ziellos am Gewohnten fest, verbessern das reale Wissen nicht und hinterlassen lediglich Phantastereien [212]. Zeit und Autorität befestigen metaphysische und theologische Absurditäten, und zu Pygmäen geschrumpfte geistige Riesen häufen statt Bergen von Wissen Maulwurfshügel und nennen die Konstruktion bloß eingebildeter materieller und geistiger Welten Physik und Metaphysik [213]. Der Anfang der Ph. war verstreut und unbedeutend, sie folgte dem Charakter und den Geschicken der Völker, die sie betrieben, und ihre Geschichte zeigt unsere ganze Unvollkommenheit [214]. Gegen diesen Angriff wendet sich u.a. E. Burke[215]. Auch A. Smith scheint sich seiner zu erinnern: Die ersten uns bekannten Philosophen traten in zivilisierten griechischen Gesellschaften auf (ob in Ägypten und Asien der Despotismus die Entstehung von Ph. verhinderte, wissen wir nicht) [216]. Weil Umwälzungen der Ph. in der literarischen Welt die bedeutendsten sind, ist ihre Historie besonders unterhaltend und lehrreich. Die Nähe der Ph. zur Phantasie ist nur natürlich: Sie überführt als Wissenschaft von den verknüpfenden Prinzipien das Chaos widerstreitender Erscheinungen in Ordnung, den Aufruhr der Einbildungskraft in Gelassenheit [217].
Bei G. Berkeley tritt die von Malebranche vermittelte «ph.a christiana» in ein von Lockes Kategorien geprägtes Milieu. Ph. ist Streben nach Weisheit und Wahrheit, führt aber erfahrungsgemäß zu größeren Zweifeln, als der gemeine Verstand sie kennt [218] – nicht wegen der Begrenztheit unserer Fähigkeiten, sondern infolge von Fehlern der Philosophen [219], und zwar zum Nachteil des Staates, der Religion und der Ansichten aller Leute [220]. Richtig betriebene Ph. ist Medizin für die Seele [221], Eigennutz, Falschheit, Autoritätsglaube und Unbeweglichkeit sind ihr fremd [222], Innovationen willkommen [223]. Sie erweitert den Geist – freilich weniger als das Christentum [224]. Die mechanische Ph. ermittelt aus Ideenverknüpfungen Gesetze und Methoden der Natur zur Erklärung der Phänomene, man kann aber die Natur nicht ganz mechanisch erklären [225] und darf sie schon gar nicht (wie einige Heiden und Philosophen) zum Urheber der natürlichen Wirkungen ernennen [226]. Der Behebung solcher Irrtümer gilt die Lehre von den Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, die in der 1. Auflage der ‹Principles› noch als «Teil I» bezeichnet wird. Ihr folgen im Gang der Ph. die Ph. des Geistes und die Moral, danach (als immaterialistischer Physikrest) Bewegungslehre und Mathematik [227].
Die Präzedenz der Moral-Ph., die sich bei Berkeley ankündigt, erscheint ausdrücklich bei F. Hutcheson, der «mit den Alten» unterscheidet: Rational-Ph. oder Logik, Natur-Ph. und Moral-Ph. (Tugend-, Affekten- und Naturrechtslehre). Weil die Moral-Ph. bei weitem das vorzüglichste Ziel hat, beansprucht sie die Herrschaft über die anderen Disziplinen [228]. Die Vereinigung von Geist-Ph. und Moral, auf die Berkeley hinzielt [229], ist charakteristisch. S. Johnson unterscheidet von der Philologie als Lehre von Wörtern und Zeichen [230] die nur für reifere Personen geeignete Ph. als Lehre von den bezeichneten Dingen [231], die sich in allgemeine (Metaphysik, Logik und Mathematik) und besondere Ph. (Natur-Ph. und Moral-Ph.) verzweigt. Moral-Ph. ist theoretisch (Pneumatologie und Theologie) oder praktisch (Ethik, Ökonomie und Politik) [232]. Ähnlich unterteilt Th. Reid: Wissenschaften gehören entweder zur Körper-Ph., die Eigentümlichkeiten der Körper und Naturgesetze erforscht, oder zur Geist-Ph. bzw. Pneumatologie, die die Natur und die Tätigkeiten der Geister erforscht [233]. Noch expliziter verfährt J. Beattie, der menschliches Wissen in dingorientierte Historie und Ph. und analogieorientierte Mathematik und Poesie unterteilt [234]. Ph. ist Wissen von der Natur, angewandt zu praktischen und nützlichen Zwecken [235], und zwar Körper-Ph. oder Geist-Ph. Diese heißt, sofern sie theoretisch ist, Pneumatologie (Theologie und Psychologie – denn wir haben kein Wissen von Engeln); und sofern sie praktisch ist, heißt sie Logik (zur Verbesserung unserer geistigen Vermögen – eine ähnliche Praxisierung der Logik wie bei Bacon und Bayle) oder Moral-Ph. (zur Verbesserung unserer sittlichen Vermögen) [236].
In dieselbe Richtung weist ein Detail von D. Humes Einteilung der Ph. (die uns nie weiter bringe als Erfahrung und Alltagswissen [237]) in Natur-Ph. (bzw. Experimental-Ph.) und Moral-Ph. [238]. Die Rolle der Experimental-Ph. ist nun so selbstverständlich, daß von einer Alternative zu ihr nicht mehr die Rede ist. Weil wir in der Natur-Ph. allenfalls durch eine einfachere Darstellung der Prinzipien die Grenzen jener Unwissenheit ein wenig hinausschieben können, der wir in der Moral-Ph. unablässig begegnen, ist das Ergebnis aller Ph. nur die Erfahrung unserer Schwäche und Blindheit [239]. Wenn sich die Moral-Ph. (wie bei Aristoteles, Malebranche und Locke) auf die menschliche Vernunft und die Prinzipien ihrer Tätigkeiten konzentriert, dann ist sie besonders schwierig, praxisfern und irrtumsanfällig; wenn sie sich aber (wie bei Cicero, La Bruyère und Addison) darauf konzentriert, daß der Mensch ein handelndes Wesen ist, dann ist sie leicht, nützlich und literarisch reizvoll. Weil der Mensch sowohl vernünftig als auch tätig ist, empfiehlt sich eine Mischung dieser beiden Zweige der Moral-Ph. (hinter denen sich Pneumatologie und Ethik verbergen) [240]. Der abstrakte Zweig wird auch als Metaphysik bezeichnet (die dadurch zu einem Teilgebiet der Moral-Ph. wird, während auf dem Kontinent die Pneumatologie meist als Teil der Metaphysik erscheint). Deren Kenntnis ist für Schriftsteller so wichtig wie die der Anatomie für bildende Künstler [241]. Sie muß schon deshalb betrieben werden, weil wahre Metaphysik das einzige Mittel gegen falsche ist [242]. Für die Lehre von der Vernunft ist durch die bloße geographische Aufnahme der Vermögen unseres Geistes schon viel erreicht (die Stelle ist wichtig, weil in ihr Naturhistorie in Abweichung vom Herkommen als «part of science» bzw. als «science» bezeichnet wird). Aber die Metaphysik kann wie die Astronomie vielleicht eines Tages über eine solche Geistgeographie hinausgelangen, indem sie die geheimen Triebfedern und Prinzipien der Handlungen des Menschen entdeckt (d.h. sich aus Historie in Ph. im strengen Sinne verwandelt) [243]. Die Ph. hat genau zu sprechen [244], und ihre Hypothesen dürfen nicht zu kompliziert sein [245]. Wahre Ph. ist akademische oder gemäßigt skeptische Ph.; grundsätzliche Überlegungen zu skeptischer Ph. bringt Enqu. I, 12. Das Betreiben der Ph., die vom Widerstreit der Argumente lebt und daher völlige Freiheit braucht [246], ist mühsam, gleicht der Jagd- und Spielleidenschaft und ist nur durch Neigung und Neugier zu erklären [247]. Toleranz gegenüber Philosophen ist für den Staat, der dazu neigt, ihre Freiheit einzuschränken [248], nicht schädlich, weil sie nicht fanatisch sind und weil die Leute sie ohnehin nicht verstehen [249].
Rainer Specht
[1]
M. de Montaigne: Essais I, 40. 26, hg. M. Rat (Paris 1962) 1, 283. 177.
[2]
Ess. I, 26. 30, a.O. 1, 173. 226; Ess. III, 8, a.O. 2, 367.
[3]
P. Charron: De la sagesse (Leiden o.J.) Préface (unpag.) 1. und 2. Seite.
[4]
a.O. 2. Seite.
[5]
M. Mersenne: La verité des sciences (Paris 1625) 49–51.
[6]
R. Descartes: Br. an Hogelande (8. 2. 1640). Oeuvres, hg. Ch. Adam/P. Tannery (Paris 1897–1913) [A/T] 3, 722f.; La recherche de la verité par la lumière nat. A/T 10, 503.
[7]
Regulae ad dir. ing., Reg. 1–3. A/T 10, 360ff.
[8]
Les principes de la philos., Préf. A/T 9/2, 2; vgl. Charron, a.O. [3] Préf. 2. Seite.
[9]
Princ., Préf., a.O. 2. 14.
[10]
a.O. 4; vgl. Charron, a.O.
[11]
Princ., Préf., a.O. 2. 5.
[12]
a.O. 14f.; Discours de la méthode. A/T 6, 21f.
[13]
Princ., Préf., a.O. 14.
[14]
Br. an Morus (5. 2.1649). A/T 5, 275; Br. an Huygens (1. 11. 1635) A/T 1, 331f.; Br. an Plempius (3. 10. 1637), a.O. 410f.; Br. an Mersenne (30. 8. 1640). A/T 3, 173; Gespräch mit Burman. A/T 5, 177; vgl. C. Clerselier: Praef. in Tract. de homine, notis perpetuis L. de La Force (Amsterdam 1677) fol. h2v.
[15]
Princ., Préf. A/T 9/2, 16.
[16]
a.O. 9. 14. 20; Br. an Chanut (26. 2. 1649). A/T 5, 291f.
[17]
Princ., Préf., a.O. 3.
[18]
a.O. 20.
[19]
Br. an Mersenne (26. 4. 1643). A/T 3, 649; Gespr. mit Burman. A/T 5, 177; Br. an Plempius (3. 10. 1637). A/T 1, 423f.; Reg. 2. A/T 10, 363.
[20]
Princ., Préf., a.O. 13.
[21]
Br. an Mersenne (15. 4. 1630). A/T 1, 143f.; Gespr. mit Burman. A/T 5, 176. 178.
[22]
Princ., Préf., a.O. 13f.
[23]
A. Heereboord: Ratio studiorum, Anh. zu: Philosophia naturalis (Leiden 1663) fol. R3v.
[24]
Descartes: Princ., Pref. A/T 9/2, 17–20.
[25]
Ch. Wittich: Annotationes ad R. Des-Cartes Meditationes, In sextam (Dordrecht 1688) 151 b.
[26]
C. ab Hogelande: Cogitationes (Leiden 1676) 216. 225.
[27]
J. de Raey: Br. an Clauberg, in: J. Clauberg: Opera (Amsterdam 1691) 1, 36.
[28]
P.-S. Régis: Système de la philos. (Paris 1690) Inhaltsübersicht.
[29]
De Raei in ‹Clavis universalis›, nach J. Bohatec: Die cartesian. Scholastik (1912, ND 1966) 76; auch A. Geulincx: Opera philos. (Den Haag 1891–93) 2, 139.
[30]
F. Schuyl: De veritate scientiarum (Leiden 1672) Anh. in: G. A. Lindeboom: Florentius Schuyl (Den Haag 1974) 6–20.
[31]
a.O. 21–23.
[32]
23–26.
[33]
Clauberg: Disp. Phys. 1, a.O. [27] 1, 53; die Stelle wandelt die cartes. Baummetapher ab.
[34]
Schuyl, a.O. [30] 26f.
[35]
L. de La Force: Comm. cv d, a.O. [14] 188 b.
[36]
Clauberg: Corporis et animae conjunctio 143, 13, a.O. [27] 1, 249; Exercitationes 54, 4. 7; 58, 9, a.O. 2, 681. 686.
[37]
B. de Spinoza: Tract. de int. emend. Opera, hg. C. Gebhardt (1925) 2, 1–40.
[38]
Ethica I, a.O. 2, 45–83.
[39]
Eth. II, a.O. 84–136.
[40]
Eth. III–V, a.O. 137–308.
[41]
Eth. IV, 32–37, a.O. 230–239; ferner beide ‹Tractatus›.
[42]
Tract. pol. I, a.O. 3, 274.
[43]
Ep. 19, a.O. 4, 93; Tract. theol.-pol. 6, a.O. 3, 87f.
[44]
Tract. theol.-pol. 13, a.O. 167; Ep. 13, a.O. 4, 146.
[45]
Cogit. metaph. 12, a.O. 1, 276; Tract. theol.-pol. 6, a.O. 3, 87f.; Princ. philos. II, 13, schol., a.O. 1, 201.
[46]
Ep. 30, a.O. 4, 166; auch Tract. theol.-pol., Praef., a.O. 3, 12.
[47]
Tract. theol.-pol. 14, a.O. 179; Praef., a.O. 10; Ep. 78, a.O. 4, 328.
[48]
H. de Boulainviller: Hist. de la relig. et de la philos. anc Oeuvres philos., hg. R. Simon 1 (Den Haag 1973) 307–313.
[49]
a.O. [28]; Prinzipien später altcartesian. Metaphysiken skizziert R. A. Watson: The downfall of Cartesianism (Den Haag 1966) 147 (App. I).
[50]
Wittich nennt beide in einem Atem: Consensus veritatis 2, 27 (Leiden 1682) 26.
[51]
Das deutet schon H. Regius an, vgl.: Brevis explicatio mentis humanae (Utrecht 1648) 7–9; dagegen wendet sich Wittich: Cons. ... 2, 27, a.O. 126.
[52]
Vgl. F. La Mothe Le Vayer: Oeuvres (Paris 1669) 15, 96–114, zit. nach R. H. Popkin: The hist. of scepticism from Erasmus to Descartes (Assen 1964) 94f.
[53]
Die mittelalterl. Tradierung Al-Ghazalis sowie Pierre d'Aillys und G. Biels In Sent. IV, 1, überliefert durch die Conimbricenses und Suárez.
[54]
Dies bleibt das große Thema bis hin zu Malebranche: Recherche VI/2, 3 und Berkeley: Principles § 150.
[55]
S. Basso: Philos. nat. adv. Arist. libri 12 [1621] (Amsterdam 1644).
[56]
Philos. nat. 2, 3, 7, a.O. 213f.
[57]
R. Fludd: Philos. moys. (Gouda 1638) fol. 5r. 14r. 15r. 16v. 21r.
[58]
G. J. Vossius: De Theologia gentili et Physiologia christiana sive de Origine ac Progressu Idololatriae (1668).
[59]
A. Heidanus: De orig. err. libri 8 (Amsterdam 1678).
[60]
Nach Wittich, a.O. [50].
[61]
Nach P. Bayle: Hist. und Crit. Wörterbuch, übers. J. Ch. Gottsched (1741–44) 3, 372 (Art. ‹Mey›).
[62]
Amerpoel: Cart. mos. (Löwen 1669); nach M. Gueroult: Malebranche (Paris 1955–59) 2, 251 in Malebranches Bibliothek.
[63]
S. H. Gouhier: La vocation de Malebranche (Paris 1926) 23; La philos. de Malebranche (Paris 21948) 279–292; die Textvergleiche, a.O. 411–420.
[64]
Exemplarisch Heidanus, a.O. [59] 1, 5, 5–7; 37–59.
[65]
Geulincx: Annot. ad Principia philosophiae 2, 2, 3, a.O. [29] 3, 440; Annot. ad Ethicam 1, 2, 2, a.O. 207. 221; positiv z.B.: Annot. ad Metaph. p. 193, sc. 7, a.O. 2, 295.
[66]
Metaphysica vera, Introd. 1, a.O. 2, 139.
[67]
N. Malebranche: Oeuvres compl. (Paris 1958–70) z.B. 1, 137; 2, 309. 324; 3, 219. 232; ohne Zusatz 1, 9f. 400. 487; 4, 111; 10, 34.
[68]
Vgl. 1, 62; 8, 632. 814; 12, 44. 133f.; 14, 35.
[69]
Rép. à M. Arnauld, a.O. 6, 74f.
[70]
Convers. chrét. 4, a.O. 4, 93f.
[71]
Recherche 1, 3, 2, a.O. 1, 63.
[72]
A. Arnauld/P. Nicole: La logique ou l'art de penser, hg. P. Clair/F. Girbal (Paris 1965) 24.
[73]
P. D. Huet: Traité philos. de la foiblesse de l'esprit humain I, § 1 (Amsterdam 1723, ND 1974) 12f.
[74]
B. Pascal: Pensées, Frg. Chevalier 185/Brunschvicg 374; 438/434.
[75]
189/73.
[76]
373/461.
[77]
104/82.
[78]
84/72.
[79]
192/79.
[80]
378/462.
[81]
379/463.
[82]
602/556.
[83]
a.O.; Mémorial. Oeuvres compl., hg. J. Chevalier (Paris 1954) 554.
[84]
P. Bayle: Systéme de la philos. Oeuvres diverses (Rotterdam 1725–31, ND 1964f.) 4, 201f.
[85]
a.O. 205.
[86]
ebda.
[87]
a.O. und Inhaltsverzeichnis.
[88]
a.O. 205f.
[89]
Art. ‹Aristoteles› X, a.O. [61] 1, 332 b.
[90]
Art. ‹Aristoteles› Text und X, a.O. 327. 332 b.
[91]
X, a.O.
[92]
P. Gassendi: Syntagma philos., lib. prooem. Opera (Lyon 1658, ND 1964) [Op.] 1, 29f.
[93]
Exercitationes paradoxicae I. Op. 3, 113 a.
[94]
Synt. philos., lib. prooem. Op. 1, la; Synt. philos. Epicuri, Prooem. Op. 3, 4 a; Exerc. parad. I. II. Op. 3, 106 a. 164 a.
[95]
Synt. philos., lib. prooem. Op. 1, 1 a. 3 b–4 c; Synt. philos., phys., Prooem. Op. 1, 130 b; Synt. philos. Epic. III, Prooem. und III, 5. Op. 3, 63 a. 68ab.
[96]
Synt. philos., lib. prooem. Op. 1, 4 a; Synt. log., Prooem. Op. 1, 31 a–33 a; Exerc. parad. II. Op. 3, 150 a–151 a. 164 a; In librum Herberti De veritate. Op. 3, 413 a; Br. an Ludwig von Valois (15. 8. 1642). Op. 6, 152ab.
[97]
Synt. philos. Epic., Prooem. Op. 3, 4 a.
[98]
Synt. philos., phys., Prooem. Op. 1, 125 a. 128 a.
[99]
Synt. philos., phys., Prooem. und I/IV. Op. 1, 130ab. 335 a; Synt. philos. Epic. II, Prooem. Op. 3, 11 a.
[100]
Synt. philos., lib. prooem. Op. 1, 27 b; Exerc. parad. I. Op. 3, 107 a.
[101]
Exerc. parad. II Op. 3, 192–210.
[102]
Synt. philos., phys., Prooem. Op. 1, 132 a; Exerc. parad. II. Op. 3, 207ab; Disquisitio metaphysica. Op. 3, 306 a.
[103]
Exerc. parad. II. Op. 3, 192 a.
[104]
Dialektik: vgl. a.O. [96] und [97]; Autoritäten: vgl. Br. an Ludwig von Val., a.O. [96] 156 a.
[105]
Exerc. parad. II. Op. 3, 192 a.
[106]
In lib. Herberti ..., a.O. [96] 413 a.
[107]
F. Bernier: Abrégé de la philos. de Gassendi (Paris 1678, 21684); in der Erstaufl. (1678) steht die Logik am Anfang des 3. Bandes (vor der Astronomie), in (21684) am Anfang von Band 1; dazu die Vorrede zu (1678) Bd. 1 [unpag.] 8.–10. Seite.
[108]
a.O. 1 (1678) 7.
[109]
3 (1678).
[110]
1 (1678) Vorrede und 3. Seite.
[111]
F. Bacon: The advancement of learning II. The works, hg. J. Spedding u.a. (London 1857–74, ND 1963) 3, 329; De dignitate et augmentis scientiarum II, 1, a.O. 1, 494.
[112]
De dign. II, 3, a.O. 500f.
[113]
Adv. II, a.O. 3, 346f. 352f.; De dign. III, 1, a.O. 1, 539–544.
[114]
Adv. II, a.O. 3, 349; De dign. III, 2, a.O. 1, 544–547.
[115]
Adv. II, a.O. 3, 351. 354; De dign. III, 3. 4, a.O. 1, 547–571, bes. 551.
[116]
Adv. II, a.O. 3, 352–354. 359; De dign. III, 4, a.O. 1, 549–571; vgl. Novum Organum II, 9, a.O. 235.
[117]
De dign. III, 6, a.O. 1, 576–578.
[118]
Adv. II, a.O. 3, 359.
[119]
Adv. II. a.O. 361f.; De dign. III, 5, a.O. 1, 571–575; ‹De Dignitate› hat keine operative Naturhistorie.
[120]
Vgl. Schuyl, a.O. [30] 18–20.
[121]
Bacon: Adv. II, a.O. 3, 445ff.; De dign. VIII, 1–3, a.O. 1, 745–828.
[122]
Adv. II. III, a.O. 3, 379–382; viel verzweigter De dign. IV, 3–VI, 4, a.O. 604–712.
[123]
Th. Hobbes: Leviathan I, 9. Engl. works, hg. W, Molesworth (London 1839–45) [EW] 3, 66; zu Hobbes' Ph.-Begriff vgl. M. A. Bertmann: Hobbes, philos. and method. Scientia. Rivista Scienza 108 (1973) 769–780.
[124]
De corpore 1, 1, 2. Opera philos. lat., hg. W. Molesworth (London 1839–45) [LW] 1, 2f.
[125]
Six lessons, Ep. dedic. EW 7, 184; Decameron 1, a.O. 71.
[126]
De corp. 1, 1, 6. LW 1, 6.
[127]
1, 1, 7, a.O.; vgl. De cive, Ep. dedic. LW 2, 137; aber auch De quadratura. LW 4, 487f.
[128]
De corp. 1, 5, 13. LW 1, 57; Examinatio et emendatio I. LW 4, 27: dazu Lev. I, a.O. [123] und Six less. II. EW 7, 222.
[129]
J. Glanvill: The vanity of dogmatizing (London 1661, ND 1970) 25. 27f. 149. 212.
[130]
a.O. 179. 236. 239.
[131]
187.
[132]
152.
[133]
250f.
[134]
Essays on several important subjects III (London 1676, ND 1979) 23. 37.
[135]
The vanity ..., a.O. 177. 179.
[136]
a.O. 57.
[137]
186f.
[138]
Ess. IV, a.O. 2. 34.
[139]
The vanity ..., a.O. 245f. 247f.
[140]
R. Hooke: The posthumous works (London 1705, ND 1970) 3.
[141]
Text in: H. Power: Experimental philos., zit. nach: M. Casaubon: A letter to Peter du Moulin (1669). Introd. D. G. Lougee (New York 1976) V.
[142]
Th. Stanley: The hist. of philos. (London 1655–62) The thirteenth part, containing the Epicurean Sect.
[143]
W. Charleton: Physiologia Epicuro-Gassendo-Charltoniana (London 1654, ND London 1966).
[144]
Bernier, a.O. [107].
[145]
Charleton, a.O. [143] 1–8.
[146]
a.O. 326.
[147]
18. 96.
[148]
18f.
[149]
18. 62.
[150]
Th. Sydenham: Opera universa (Leiden 1741) 504.
[151]
a.O. 14f. 386.
[152]
81–83.
[153]
80. 82f. 300.
[154]
504.
[155]
300; vgl. 153f.
[156]
R. Boyle: Christian virtuoso II. The works (London 1772, ND 1965f.) 6, 700.
[157]
a.O. 707.
[158]
Über ihre Rolle in der modernen Physik: Usefulness of mathematics to natural philos., a.O. 3, 425ff.
[159]
Reason and religion, a.O. 4, 182; vgl. Excellency of theology, a.O. 35f.
[160]
Reason ..., a.O. 182.
[161]
Christ. virt. II, a.O. 6, 711f.
[162]
Christ. virt. I, a.O. 5, 515f.; Usefulness of nat. philos., a.O. 2, 56.
[163]
Final causes. a.O. 5, 401. 444.
[164]
Usefulness of exp. nat. philos., a.O. 2, 5.
[165]
The scept. chymist, a.O. 1, 522.
[166]
Physiolog. ess.; a.O. 1, 310; Goods of mankind, a.O. 3, 449; Christ. virt. I, a.O. 5; 529; Excell. of theol., a.O. 4, 35f.
[167]
Efficiency of effluviums, a.O. 3, 677.
[168]
New experiments, a.O. 1, 6.
[169]
Defense. a.O. 1, 124; Physiolog. ess., a.O. 1, 304. 307.
[170]
Excell. of theol., a.O. 4, 70.
[171]
Origin of forms and qualities, a.O. 3, 75: Christ. virt. I, a.O. 5, 513.
[172]
Origin ..., a.O. 3, 5. 8; Physiolog. ess., a.O. 1, 355.
[173]
Origin ..., a.O. 3, 75; entspr.: Christ. virt. I, a.O. 5, 513.
[174]
Reason ..., a.O. 4, 182; Excell. of theol., a.O. 42.
[175]
Excell. of theol., a.O. 4, 55; Christ. virt. II, a.O. 6, 704. 709.
[176]
Christ. virt. II, a.O. 6, 708.
[177]
Physiolog. ess., a.O. 1, 301; Style of the Holy Scripture, a.O. 2, 287; Excell. of theol., a.O. 4, 55.
[178]
Physiolog. ess., a.O. 1, 310; Usefulness of exp. nat. philos. I, a.O. 2, 14–18f. 64; Usefulness of math. 3, 425; als Detail: Usefulness of nat. philos., a.O. 2, 64 und Usefulness of exp. nat. philos. II, a.O. 3, 402. 411.
[179]
Doing bj physical knowledge, a.O. 3, 457; Usefulness of nat. philos., a.O. 2, 65; Cosmical qualities, a.O. 3, 318.
[180]
I. Newton: Opticks III, query 28. Opera (London 1782) [Op.] 4, 237f.; qu. 31, a.O. 255f. 261; Princ. III, schol. gen., in: Principia Mathematica (31726) (Cambridge 1972) [PM] 764 (530).
[181]
Opt. III; qu 31. Op. 4, 263; Princ. III, reg. 4. PM 555 (389).
[182]
Princ. III schol. gen. PM 764 (529).
[183]
Opt. III. Op. 4, 264.
[184]
J. Locke: Ess. conc. human underst., hg. P. H. Nidditch (Oxford 1975), Ess. III, 10, 2, 6. 9, a.O. 493–496; vgl. auch: Epistle to the reader, a.O. 10; Ess. IV, 7, 11; 12, 4, a.O. 598–603. 641f.
[185]
Ess. III, 10, 9; IV, 12, 12, a.O. 495. 647.
[186]
III, 10, 12, a.O. 496.
[187]
Epistle ..., a.O. [184].
[188]
Ess. III, 9, 3. 15, a.O. 509. 516.
[189]
II, 1, 1; III, 1, 2f., a.O. 104. 402.
[190]
II, 13 12; IV, 12, 11, a.O. 302f. 646.
[191]
IV, 21, 1–5, a.O. 720f.
[192]
IV, 21, 2, a.O. 720.
[193]
IV. 3, 16, a.O. 547f.
[194]
IV, 3 26; 6, 13; 12, 10, a.O. 556f. 588. 645.
[195]
IV, 3, 6; 12, 9–11, a.O. 539–543. 644–646.
[196]
IV, 3, 26; 6, 13; 12, 10, a.O. 557f. 588. 645.
[197]
IV, 12, 13, a.O. 648.
[198]
IV, 21, 3, a.O. 720.
[199]
IV, 3, 18, a.O. 549.
[200]
A. A. C. Earl of Shaftesbury: Characteristicks of men, manners, opinions, times (London 1714, ND Farnborough 1968) 1, 122. 132; 2, 183–185; ähnlich S. Clarke: The wisdom of God, Sermon 141. The works (London 1783; ND 1978) 2, 166.
[201]
The moralists, a.O. 2, 439.
[202]
Misc. reflections 3, 1, a.O. 3, 161; E. Burke denkt im Grunde nicht anders, betont allerdings die Rolle der Experimentalmethode: A philos. inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful. Works (London 1887, ND 1975) 1, 128.
[203]
Misc. refl. 3, 1, a.O. 3, 159.
[204]
4, 1, a.O. 191.
[205]
Advice to an author, a.O. 1, 289f., auch 299.
[206]
a.O. 1, 286f. 297–299.
[207]
The moralists, a.O. 2, 185.
[208]
Misc. refl. 3, I, a.O. 3, 136f.
[209]
A letter conc. enthusiasm, a.O. 1, 19.
[210]
Advice ..., a.O. 1, 297f.; A letter ..., a.O. 43, auch 18.
[211]
Misc. refl. 3, 1, a.O. 3, 160; die Stelle wendet ein Lockesches Argument um: Ess. IV, 3, 30, a.O. [184] 561.
[212]
H. St. John, Lord Viscount of Bolingbroke: Some reflections on the folly and presumption of philosophers. Works (London 1754, ND 1968) 3f.
[213]
a.O. 5f.
[214]
14f.
[215]
E. Burke: A vindication of nat. soc., a.O. [203] 1, 3f.
[216]
A. Smith: Hist. of astronomy 3, in: Essays on philos. subjects (London 1795, ND 1982) 26f.; vgl. The theory of moral sentiments, hg. D. D. Raphael/A. L. Mac Fie (Oxford 1976) 164.
[217]
Hist. of astr. 2, a.O. 20f.
[218]
G. Berkeley: Philos. comm. 747. 859. The works, hg. A. A. Luce/T. E. Jessop (London 1949–57) 1, 91. 102; A treat. of the principles, Introd. § 1, a.O. 2, 25.
[219]
Princ., Introd. §§ 4. 6, a.O. 26f.
[220]
Siris 331, a.O. 5, 150f.
[221]
Alciphron 3, a.O. 3, 139.
[222]
117f. 139; Ale. 7, a.O. 3, 318.
[223]
Hylas and Philonous 3, a.O. 2, 243f.
[224]
Guardian-Essay 7, a.O. 7, 207f.
[225]
Siris 231f. 235. 249f., a.O. 5, 111f. 119; Br. an Johnson (25. 11. 1729), a.O. 2, 279.
[226]
Vgl. Hylas and Phil. 3, a.O. 2, 235; das Thema ist wichtig bei Malebranche, vgl. a.O. [69], aber auch bei Boyle, z.B.: A free inquiry into the vulgarly received notion of nature, a.O. [156] 5, 158ff.
[227]
Vgl. A. A. Luce: Berkeley's immaterialism (New York 1968) 9f.
[228]
F. Hutcheson: Philosophiae moralis institutio I, 1 (Glasgow 1745, ND 1969) 1; A short introd. to moral philos., Pref. (Glasgow 1747, ND 1969) i.
[229]
Luce, a.O. [227].
[230]
S. Johnson: Elementa philosophiae (Philadelphia 1752, New York 1969) X.
[231]
a.O. X. XIII.
[232]
XIII. XIX.
[233]
Th. Reid: Essays on the intellect. powers of man, Pref. Philos. works (Edinburgh 1895) 1, 217.
[234]
J. Beattie: Elements of moral science (Edinburgh 1790, ND New York 1976) I, 9f.
[235]
a.O. I, 11f.
[236]
I, 12–15.
[237]
D. Hume: Enquiries conc. human underst., hg. L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Oxford 1975), Enqu. I, 9, 113, a.O. 146.
[238]
A treat. of human nat., hg. L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Oxford 1978), Treat. I, 3, 2, a.O. 67; vgl. I, 3, 15; II, 1, 3, a.O. 175. 282; Enqu. I, 1, 8, a.O. 14; zu beider Asymmetrie: Treat. II, 2, 6, a.O. 366; auch Smith: The theory ..., a.O. [216] 313.
[239]
Enqu. I, 4, 26f. a.O. 30f.
[240]
I, 1, 1–4, a.O. 5–9.
[241]
I, 1, 5f, a.O. 9f.
[242]
I, 1, 6f., a.O. 11–13.
[243]
I, 1, 10, a.O. 15f.
[244]
Treat. II, 3, 3; 3, 11, a.O. 415. 459; auch Enqu. I, 1, 8; II, App. IV, 261f, a.O. 62. 313f.
[245]
Treat. II, 1, 3, a.O. 282; Enqu. II, App. II, 251, a.O. 299; vgl. Treat. I, 4, 3; III, 1, 1, a.O. 221f. 463.
[246]
Enqu. I, 11, 102; I, 8, 75, a.O. 132. 96.
[247]
Treat. I, 4, 7; II, 3, 10, a.O. 270. 451f.
[248]
Of the rise and progress of the arts and sciences. The philos. works, hg. T. H. Green/T. H. Grose 3. 4 (London 1882); Ess. moral, political and literary, a.O. 3, 187.
[249]
Enqu. I, 11, 114, a.O. [237] 147; The secptic, a.O. [248] 3, 222. 225; Treat. II, 3, 6, a.O. [238] 426.
B. Leibniz. – Für Leibniz ist Ph. als Haltung mit Cicero «studium sapientiae» [1] und gehört zu den Pflichten des Menschen, der danach zu streben hat, Gott, sich selbst und die Welt zu erkennen, die Wissenschaften zu betreiben, die zu seiner Vervollkommnung beitragen, insbesondere aber nach der Wissenschaft zu suchen, die ihm eine allgemeine Methode des Erkennens bietet [2]. Während Theologie, Jurisprudenz und Medizin auf Erhaltung und Mehrung von Glückseligkeit, Ehre und Gesundheit zielen, richten sich die Historia und die Ph. auf das Erkennen: auf das gedächtnisbedingte Erkennen die Historia, auf das vernunftbedingte die Ph. [3]. Insofern Erkennen konstitutiv zu jenen Zwecken gehört, ja, ihnen voransteht, liegt für Leibniz der Zweck der Ph. in der Mehrung von Macht und Glück des menschlichen Geschlechts [4].
Im Blick auf die damals aufbrechende Kluft zwischen Vernunft und Religion polemisiert Leibniz gegen den Mißbrauch der modernen, von Bacon, Galilei, Kepler, Gassendi und Descartes begründeten Ph. und ihre rein mechanistische und materialistische Grundlegung. Nur eine sich falsch bestimmende Ph. führe vom Glauben ab, warnt Leibniz mit Bacon, die wahre Ph. führe den Erkennenden zu Gott. Er fordert daher eine demonstrative Ph., die die Neuerer zum Verstummen bringt [5]. Gleichwohl will er die Ph., insbesondere die Metaphysik, vor einem Mißbrauch durch die Theologie bewahren [6]. Den Cartesianismus sieht er als das «Vorzimmer der wahren Ph.» an [7].
Da Leibniz keine umfassende Definition von Ph. gibt, muß auf die von ihm getroffenen Einteilungen zurückgegriffen werden. Seinen vielfältigen Ansätzen zu einer inhaltlichen Bestimmung des Begriffs ‹Ph.› ist gemeinsam, daß Ph. als Wissenschaft eine Gesamtheit von Sätzen ist. Leibniz geht vom Denken als einem Denken von Sätzen, von Wahrheiten aus [8]. Diese Sätze sind allgemein, universell und grundsätzlich unterschieden von den singulären Sätzen, mit denen es die Historia zu tun hat und die Sache des Gelehrten, nicht des Philosophen sind [9]. Man darf die singulären Sätze nicht mit den «verites de fait» verwechseln, die Leibniz den «verites de raison» gegenüberstellt, insofern diese lediglich auf den Satz vom Widerspruch, jene aber auch auf den Satz vom Grund bauen, beide aber allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Zwar stellt die Ph., als Gesamtheit der allgemeinen Sätze, insofern sie durch Vernunftschlüsse aus den beiden Prinzipien gewonnen werden, einen kontinuierlichen Körper mit fließenden Übergängen dar, einen Ozean, sagt er, dessen einzelne Teile wie die Weltmeere nur durch willkürliche Setzungen voneinander getrennt sind [10].
Leibniz formuliert dennoch, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen, und letztlich wohl im Blick auf seine «Scientia Generalis», die als eine demonstrative Enzyklopädie die «Elements de la Philosophie generale et de la thoologie naturelle» darstellen sollte [11], Kriterien für die Unterordnung der einzelnen, teils überkommenen, teils neu einzurichtenden Disziplinen unter einen allgemeinen Begriff von Ph. Er hält an der überlieferten Einteilung in theoretische und praktische Ph. fest, gliedert jedoch die theoretische in eine rationale Ph., die bloß den Satz vom Widerspruch braucht, der das Denkunmögliche, das Absurde, ausschließt, und in eine experimentale Ph., die auch den Satz vom Grunde, den Ausschluß des Unzuträglichen (inconveniens), hinzuzuziehen hat [12]. Die weitere Unterteilung richtet sich danach, ob man auf die Prädikate der Sätze schaut oder auf die Subjekte, d.h. auf die Attribute (oder Qualitäten) oder auf die Dinge, denen eben diese Attribute zukommen. Bezogen auf die Subjekte unterscheidet Leibniz im Zuge seiner monadologischen Konzeption die natürliche Theologie, die Gott als «substantia primitiva» zum Gegenstand hat, von der Pneumatologie, Pneumatik oder Psychologie, die sich mit den Monaden, mit den Geistern als den derivativen, aber originalen Substanzen beschäftigt; daneben steht der Teil der Ph., der sich mit den derivativen, zusammengesetzten Substanzen befaßt, mit den Lebewesen und Pflanzen und mit den ihnen zugehörigen Körpern, den «substantiata», sowohl mit den organischen als auch den anorganischen, seien es geregelte Gebilde, wie Salze, oder ungeregelte, wie bloßer Schutt. Diese Subjekte sind darüber hinaus als physikalische Phänomene Gegenstand der Experimental-Ph., die als «Eidographie» die drei Reiche (Mineralia, Vegetabilia, Animalia) erforscht bzw. als «Poiographie» die Attribute dieser Subjekte in Mathematik, Physik und Chemie behandelt, die sie schließlich als Kosmologie, Geographie, Uranologie und Astronomie in größere Zusammenhänge stellt [13]. So wird von Leibniz der gesamte Bereich der allgemeinen Sätze der damaligen Wissenschaft von der Natur einem umfassenden Begriff der theoretischen Ph. untergeordnet. Die praktische Ph. bestimmt Leibniz aus ihrem Zweck, aus der Vervollkommnung des Menschen: die Logica (utens), die Ethik, Politik und Ökonomie dienen der Vervollkommnung des Geistes, die Gymnastik und die Medizin derjenigen des Körpers. Es handelt sich hier nicht um die ausgeübte Gymnastik und um die praktische Medizin, sondern im Sinne der gegebenen allgemeinen Definition ausdrücklich um die allgemeinen Sätze dieser Disziplinen, und so gesehen ist es weniger befremdlich, ihnen als Teilgebilde der Ph. zu begegnen [14]. Sein eigenes System, das der prästabilierten Harmonie, so erklärt Leibniz ausdrücklich, sei kein «corps complet de Philosophie» [15].
Für den jungen Leibniz umfaßt Ph. die Metaphysik, Logik, Mathesis, Physik und die praktische Ph., deren Gegenstände das Seiende, der Geist, der Raum, der Körper bzw. der Staat (ens, mens, spatium, corpus, civitas) sind [16]. Gegen die von Locke erneuerte stoische Einteilung der Ph. in Physik, Ethik und Logik wendet später Leibniz ein, in voller Breite aufgefaßt könne jede dieser Disziplinen die beiden anderen mitumfassen, denn sie unterschieden sich lediglich durch die ihnen eigentümliche Art, dieselben Wahrheiten darzustellen. Während die Physik oder «Theorik» sie synthetisch, nach der Ordnung der Beweise darstelle, würden die Wahrheiten in der Ethik oder «Praktik» analytisch dargestellt, ausgehend von dem zu erreichenden Endzweck, wären die zu ihm führenden Mittel zu suchen; die Logik schließlich folge der Ordnung der in den Wahrheiten vorkommenden Begriffe [17]. Zum Zweck der Einordnung philosophischer Bücher in eine öffentliche Bibliothek schlägt Leibniz dennoch drei Hauptabteilungen vor: Logik mit Didaktik und Mnemonik, Metaphysik mit Pneumatik und natürlicher Theologie, praktische Ph. mit Ethik und Politik. In eine weitere Abteilung «Oeconomia publica» seien die Bücher zu stellen, die zur Ernährung des Menschen, zum Handel und zum Handwerk gehören. In einem anderen Bibliotheksplan unterscheidet Leibniz drei Ph.n: eine «ph.a intellectualis», die er bekanntermaßen in theoretische Ph. mit Logik, Metaphysik und Pneumatik und in praktische Ph. mit Ethik und Politik gliedert, hier aber absetzt von den mathematischen und physikalischen Disziplinen, die er als «ph.a rerum imaginationis» bzw. «ph.a rerum sensibilium» [18], letztere aber auch als «ph.a naturalis» [19] begreift.
Heinrich Schepers
[1]
Vgl. G. W. Leibniz: Praecognita ad Encyclopaediam sive Scientiam universalem. Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt (1875–90) [GP] 7, 46.
[2]
Opusc. et fragm. ined., hg. L. Couturat (Paris 1903, ND 1961) [COP] 517.
[3]
De fine scientiarum. Textes ined., hg. G. Grua (Paris 1948) 1, 240.
[4]
Hypothesis physica nova (1670/71?). Akad.-A. VI/2, 257.
[5]
Schreiben wahrscheinlich an den Hg. des ‹Journal des Savants›. GP 4, 343–349.
[6]
Autores consulendi, a.O. [3] 2, 548.
[7]
Br. an H. Fabri (Ende 1676). Akad.-A. II/1, 298.
[8]
a.O. [4] 284.
[9]
Br. an P. D. Huet (März 1679). Akad.-A. II/1, 465.
[10]
Nouveaux essais sur l'entendement humain. Akad.-A. VI/6, 523; COP 511f.
[11]
Br. anTh. Burnett (30. 10. 1710). GP 3, 321; Br. an N. Hartsoeker (7. 12. 1711), a.O. 530; Br. an A. Venus (15./25. 4. 1695). Akad.-A. I/11, 420f.
[12]
COP 525.
[13]
COP 524–527; Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667). Akad.-A. VI/1, 284–289.
[14]
Br. an Th. Burnett (1711. 2. 1697). GP 3, 193; an Burnett, a.O. [11]; COP 527.
[15]
Br. an G. F. des Billettes (4./14. 12. 1696). GP 7, 451.
[16]
Diss. de arte combinatoria (1666). Akad.-A. VI/1, 228f.; Demonstrationum catholicarum conspectus (1668–1669?), a.O. 494.
[17]
Nouv. ess., a.O. [10] 521–527.
[18]
Opera omn., hg. L. Dutens (Genf 1768) 5, 210. 213.
[19]
Propositiones quaedam physicae (1672?). Akad.-A. VI/3, 50.
Literaturhinweis. H. Schepers: Glück durch Wissen. Arch. Begriffsgesch. 26 (1982) 184–192.
C.Französische Aufklärung. – Wenn sich die Ph. des 18. Jh. in Frankreich auch in vielem an den englischen Empirismus (J. Locke) anschließt, so bildet sie doch einen durchaus eigenständigen Ph.-Begriff aus, mit dem sie sich dezidiert vom überlieferten Ph.-Begriff abheben und zu einer grundlegenden Neubestimmung der Ph. beitragen will. Sie findet dabei ihren Ausgang bei Autoren, die ihrerseits einen Neuanfang gesetzt hatten, wie Descartes, oder deren Ph. den Rahmen der akademischen Ph. sprengte, wie die Ph. Montaignes oder Bayles. Es ist aber nicht zu übersehen, daß im Unterricht zumeist eher traditionelle Ph.-Lehrbücher vorherrschten [1] und daß an einigen bedeutsamen Stellen Definitionen von Ph. gegeben werden, die sich kaum von der Überlieferung unterscheiden. So bestimmt d'Alembert in der ‹Encyclopédie› Ph. als eine auf der Vernunft (raison) beruhende Erforschung der Gründe und Ursachen von empirisch gegebenen Tatsachen, d.h. als Wissenschaft (science) schlechthin. Er unterscheidet damit, dem Sprachgebrauch Bacons und letztlich der Antike folgend, die Ph. von der Geschichte (histoire), die diese Tatsachen bloß sammelt und auf dem Gedächtnis (mémoire) beruht, und der Poesie, deren Organ die Einbildungskraft (imagination) ist. Die Ph. qua Wissenschaft umfaßt alle einzelnen Wissenschaften, wie Theologie, Logik, Moral, Mathematik und Physik [2].
Der Begriff der Ph. als auf Vernunft basierender Erforschung der Prinzipien alles Seienden konnte von der Aufklärung durchaus übernommen werden, zumal sie mit ‹Vernunft› eines ihrer Leitworte fand. In der Bestimmung der äußeren Zielsetzung der Ph. und der Aufgabe des Philosophen ging die Aufklärung aber weit über die historischen Vorgaben hinaus. Ausdrückliche inhaltliche Definitionen von Ph., wie z.B. «amour de la sagesse» werden demgegenüber marginal oder treten ganz zurück. Der neue Anspruch an die Ph. dokumentiert sich besonders im Artikel ‹Philosophe› der ‹Encyclopédie›, zeigt sich aber bereits bei Fontenelle, der sich bewußt von der Schulgelehrsamkeit absetzen und die Ph. auch jenen vermitteln will, die, wie etwa die «dames», noch nicht mit ihr bekannt sind: «J'ai voulu traiter la philosophie d'une manière qui ne fût point philosophique; j'ai tâché de l'amener à un point où elle ne fût, ni trop sèche pour les gens du monde, ni trop badine pour les savans», in einer mittleren Form «où la philosophie convînt à tout le monde» [3]. Die Ph. besteht nun darin, nicht nur das offen zutage Liegende zu erforschen, sondern auch Vermutungen über das zu machen, was die normalen Erkenntniskräfte übersteigt, um das Wissen so in das Unbekannte hinein zu erweitern. «Ainsi, les vrais philosophes passent leur vie à ne point croire ce qu'ils voient, et à tâcher de deviner ce qu'ils ne voient point.» Auf diese Weise hat die Ph. jetzt (mit Descartes) die lange verborgenen Bewegungsgesetze der Welt entdeckt und ist «bien mécanique» geworden [4]. Die Ph. darf jedoch nicht esoterisch werden. So läßt Fontenelle Anakreon gegen Aristoteles sagen: «La philosophie n'a affaire qu'aux hommes, et nullement au reste de l'univers ... Pour moi, je n'ai point été d'humeur à m'engager dans les spéculations; mais je suis sûr qu'il y a moins de philosophie dans beaucoup de livres qui font profession d'en parler, que dans quelques-unes de ces chansonettes que vous méprisez tant» [5]. Da die Ph. sich aber auf unbekanntes Terrain hinauswagt und oft nur mit Annahmen operiert, ist sie sich bewußt, die Wahrheit niemals ganz zu erlangen: «Pour ce qui regarde le fond de la philosophie, j'avoue que cela n'avance guère.» Wenn sie sie aber erreicht hat, so kann sie sie als solche nicht erkennen und wird also immer weiter auf der Suche bleiben [6].
In der Kritik an der von der Lebenspraxis des Menschen sich isolierenden herkömmlichen Ph. trifft sich Fontenelle mit den französischen Moralisten. Diese Ph. erreicht nach La Rochefoucauld ihr Ziel nicht; die von ihr gelehrten Tugenden entspringen der Eigenliebe der Philosophen [7]. «La philosophie triomphe aisément des maux passés et des maux à venir, mais les maux présents triomphent d'elle» [8]. Dies trifft sich mit der zeitgenössischen Kritik an der weltfernen Buchgelehrsamkeit und am scholastischen Pedanten [9]. Demgegenüber bemüht sich La Bruyère, das wahre Bild des Philosophen zu zeichnen: Er strebt nicht nach Ruhm und Ansehen, sondern beobachtet die Torheiten und Laster der Menschen, um sie zu bessern. Die wahre Ph. macht uns nicht über die Wechselfälle des Lebens erhaben, sondern lehrt uns, sie um unserer Nächsten und Freunde willen zu ertragen. Der Philosoph braucht das Urteil der Menge nicht [10]. Jedermann steht es an, sich in jener Ph., die in Unglücksfällen als Hilfe dient, zu üben [11].
Während diesem Ph.-Begriff zum Teil noch das stoische Ideal des unerschütterlichen Weisen zugrundeliegt, so sieht die Aufklärung eben darin das falsche Vorbild [12]. Die Ablehnung der trockenen Fachgelehrsamkeit teilt sie aber mit den Moralisten. Ph., besonders Moral-Ph., haben auch große Dichter und Politiker gelehrt und nicht so sehr jene «trois ou quatre mille philosophes, tous gens sans imagination», die bis auf Descartes das Feld beherrschten. Ph. soll durch Beredsamkeit volkstümlich werden und nicht weltfremde Spitzfindigkeiten lehren [13]. Durch Unparteilichkeit und Nüchternheit wird die Ph. nur «unproduktiv»: «Vielleicht machen erst Leidenschaft und Verstandesschärfe zusammen den echten Philosophen» [14]. Eine durch ihre Kälte erstarrte Ph. aber ist «eine veraltete Mode, die noch manche Liebhaber findet, so wie andre rote Strümpfe tragen der Welt zum Trotz» [15].
Im Sprachgebrauch des 18. Jh. hält sich aber noch lange die Vorstellung vom Philosophen als weltüberlegenem Weisen, manchmal auch dort, wo sonst praktische Wirksamkeit als Inhalt der Ph. gilt [16]. Auch für Voltaire kann die Ph. eine «consolatrice de la vie» sein [17]. In der Regel spielt dieser Aspekt des Ph.-Begriffs in der Aufklärung aber keine Rolle, und viele Beiträge zur Bestimmung des Philosophen distanzieren sich deutlich von dem der Welt und dem Umgang mit den Menschen entsagenden «sage insensible des stoïciens» [18]. Statt dessen wird jetzt an den Philosophen der Anspruch gestellt, Geselligkeit zu pflegen, seine Aufgaben in der Gesellschaft und Familie zu erfüllen und seine Weisheit auch anderen mitzuteilen [19]. Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Pflichten, die die Menschheit und Gesellschaft dem einzelnen vorschreiben: «voilà le principal but de la philosophie» [20]. Die von der Ph. unabtrennbare Redlichkeit (probité) macht den Philosophen zum «honnête homme», der «plein d'humanité», überall die Wahrheit und die Vernunft anstelle der Leidenschaft vertritt und sich in der Gesellschaft, «la seule divinité qu'il reconnaisse sur la terre», nützlich macht, «par une attention exacte à ses devoirs et par un désir sincère de n'en être pas un membre inutile ou embarassant» [21].
Das Ziel der Ph., nützliches Wissen zu verbreiten, läßt sich aber nur verwirklichen, wenn dieses Wissen nicht wie das der Metaphysik von der Sinneserfahrung abstrahiert, sondern auf Tatsachenbeobachtungen aufbaut und diese auf ihre Ursachen hin untersucht: «Le philosophe forme ses principes sur une infinité d'observations particulières; le peuple adopte le principe sans penser aux observations qui l'ont produit ...; mais le philosophe prend la maxime dès sa source» [22]. Erst durch die Orientierung an den empirischen Gegebenheiten sind unser Wissen erweitert und Fortschritte in der Physik erreicht worden. Daraus folgen die Gewißheit, aber auch die Grenze der Ph., die den Philosophen allen metaphysischen Spekulationen entsagen und dort nicht urteilen läßt, wo seine Mittel versagen. «L'esprit philosophique est donc un esprit d'observation et de justesse, qui rapporte tout à ses véritables principes» [23]. Das bedeutet, so Diderot, daß sich «Philosophie experimentelle» und «Philosophie rationelle», Erfahrung und Verstand, nicht wie Rivalen gegenüberstehen dürfen, sondern sich gegenseitig ergänzen und korrigieren sollen, um so Fortschritte zu erzielen [24]. Auch Buffon sieht in der genauen Beobachtung der Natur und der Generalisierung des Beobachteten durch die Ph. jene Methode, die sich von leeren Begriffen und Hypothesen lossagt und so die Fehler der vergangenen Natur-Ph. vermeidet [25]. Die Loslösung von der aristotelisch-scholastischen Ph. hat es, so Ch. Levesque, ermöglicht, daß Ph. und Naturforschung einander nützliche Dienste erweisen: «La philosophie devient plus utile en cessant d'être systématique» [26]. Turgot ist davon überzeugt, daß erst Galilei und Kepler die «fondements de la vraie philosophie» gelegt haben und daß erst Descartes die notwendige «révolution» in der Ph. durchgeführt hat [27]. Die durch Descartes und Newton erneuerte Ph. hat, so J. Terrasson, eine «Philosophie humaine» hervorgebracht, die die «vrais Principes des Sciences» legt und das «Siècle de la Philosophie & des Sciences exactes» herbeiführt [28]. Philosophen sind nicht mehr Schulgelehrte, sondern unterwerfen alles der kritischen Prüfung durch die Vernunft: «Un philosophe ... est un homme qui examine avant que de croire, & réfléchit avant que d'agir» [29].
Die Ph. hat sich aber nicht nur mit den exakten Wissenschaften verbündet; sie hat auch eine «union» mit den «Littérateurs» und «Mathématiciens» gebildet. Sie alle arbeiten an dem großen Werk des «bonheur de l'humanité» [30]. Damit ist die Ph. nicht mehr eine einzelne, von anderen Wissenschaften und der Literatur abgegrenzte Disziplin, sondern sie wirkt mit diesen zusammen an der gemeinsamen Aufgabe der Aufklärung und der Verbreitung der Vernunft. Häufig wird so statt von der Ph. vom «philosophischen Geist» gesprochen und dieser propagiert. «La philosophie est une science, l'esprit philosophique comprend toutes les sciences. ... [Il] est le résultat des sciences comparées: c'est pourquoi il ne vient ordinairement qu'à leur suite» [31]. Der philosophische Geist zeigt sich darin, daß er sich nicht bei Einzelheiten aufhält, sondern deren «principes généraux» finden will, «par ces grandes vues qui embrassent les rapports éloignés ...; il se forme ... des toutes vos vérités une seule et grande vérité qui devient comme le fil de tous les labyrinthes» [32]. Eine so begriffene Ph. beschäftigt sich nicht mit theologischen und metaphysischen Spekulationen; sie ist nichts anderes «que l'application de la raison aux différens objets sur lesquels elle peut s'exercer. Des élémens de philosophie doivent donc contenir les principes fondamentaux de toutes les connoissances humaines» [33]. Diderot formuliert die Aufgabe der so zur Grundlagenwissenschaft gewordenen Ph.: «Le magistrat rend la justice; le philosophe apprend au magistrat ce que c'est que le juste et l'injuste. Le militaire défend la patrie; le philosophe apprend au militaire ce que c'est qu'une patrie. Le prêtre recommande au peuple l'amour et le respect pour les dieux; le philosophe apprend au prêtre ce que c'est que les dieux. Le souverain commande à tous; le philosophe apprend au souverain quelle est l'origine et la limite de son autorité. Chaque homme a ses devoirs à remplir dans sa famille et dans la société; le philosophe apprend à chacun quels sont ces devoirs. L'homme est exposé à l'infortune et à la douleur, le philosophe apprend à l'homme à souffrir» [34]. Der Philosoph ist berufen, sich nicht auf sich selbst zu beschränken, sondern als «ami de l'humanite» tätig zu sein [35]. «A quoi donc sert la philosophie, si elle se tait? Ou parlez, ou renoncez au titre d'instituteur du genre humain» [36]. Die stoische Weitabgewandtheit widerspricht dem eigentlichen Zweck der Ph., die Menschen durch den Austausch von Ideen und «bienfaisance mutuelle» zu verbinden [37]; doch treffen sich beide, der Philosoph und der Stoiker, in der Überzeugung: «Je ne serai point esclave» [38].
Neben den Naturwissenschaften sind Moral und Politik das bevorzugte Anwendungsfeld der Ph. Sie kann ihren heilsamen Einfluß auf Gesetzgebung und Staatenlenkung ausüben und dadurch das Gemeinwohl (bien général) befördern und «ce but universel de toute philosophie, le plus grand bonheur du plus grand nombre d'individus» erreichen helfen. Dazu dienen nicht zuletzt die Erfindungen der «Sciences exactes» [39]. Die Ph. ist nützlich für die Politik, weil sie die Beweggründe der Menschen in der Gesellschaft, ihre Bedürfnisse und Interessen, erforscht. «En effet la philosophie est-elle autre chose que ... l'examen de ce qui est utile ou nuisible à la Société?» [40].
Du Marsais und Holbach haben diese Ausrichtung der Ph. auf das praktische Leben und Handeln eindringlich gefordert: Da die gegenwärtige Gesellschaft durch Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die Religion durch Aberglauben und Irrtümer gekennzeichnet sind, ist die Ph. aufgerufen, für das Glück des einzelnen und des ganzen Menschengeschlechts tätig zu werden und nicht mehr wie die bisherige Ph. unfruchtbare Systeme zu erdenken: «Le philosophe n'est en droit de s'estimer lui-même que lorsqu'il se rend utile en contribuant au bonheur de ses semblables.» Löst er sich aus den Fesseln der Vorurteile, wird der Philosoph innerlich frei; in der unbestechlichen und unparteiischen Wahrheitssuche ist er redlich und aufrichtig. In seinem Dienst an der Menschheit zieht er sich nicht wie der Stoiker selbstsüchtig zurück, sondern wirkt uneigennützig als «médecin du genre humain». Der Mensch hat nicht eine Ph. nötig, die ihn von der Wirklichkeit entfernt und das Heil im Übernatürlichen sucht, sondern eine «philosophie humaine, qui l'attire, qui le console, qui le soutienne». «En un mot le vrai philosophe est l'ami des hommes, l'ami de leur bien-être, l'ami de leurs plaisirs» [41]. Der Philosoph ist der «Apôtre de la raison & de la vérité», der Vorkämpfer der Tugend und Moral; er will Laster und Verderbtheiten, Aberglauben und Despotismus beseitigen. «Vérité, sagesse, raison, vertu, nature, sont des termes équivalens pour désigner ce qui est utile au genre humain». Der Philosoph erhebt sich nicht, den Göttern gleich, über die Menschen, er behandelt sie wie ein rücksichtsvoller Arzt die Kranken und mißt die Wahrheit daran, inwieweit sie nützlich ist. «Le philosophe n'en veut point aux hommes, il n'en veut qu'à leurs délires» [42]. Dazu gehören seine Selbsterkenntnis und die Einkehr in sich selbst, Ruhe und innerer Frieden, die durch das Gleichgewicht der Bedürfnisse und Wünsche erreicht werden. Dies leistet die praktische Ph., die die Anwendung der Erkenntnisse der spekulativen Ph. auf die Lebensführung ist [43].
Was Du Marsais/Holbach so in extenso formulierten, findet seine Bestätigung bei zahlreichen anderen Autoren. Wenn die Ph., so Robinet, die wahre Natur des Menschen erkennt, leitet sie daraus die Berechtigung ab, überall Irrtum, Unwissenheit und Aberglauben zu bekämpfen, wirkt sie für die Verbesserung der Sitten und befördert so das Glück der Menschen und das Wohl der Staaten: «C'est alors que l'observateur Philosophe s'élève à la sublime fonction d'Homme d'Etat & de Législateur» [44]. Die Kenntnis der Gesetze der moralischen Welt, der menschlichen «passions» und «facultés» verhilft nach Helvétius dem Philosophen dazu, die Rolle des Gesetzgebers und Erziehers der Menschheit einzunehmen und sie zu Tugend und Glück zu führen: «L'architecte de l'édifice moral, c'est le philosophe» [45].
Voltaire, bei dem sich nur beiläufige Bemerkungen zur Definition der Ph. finden, hebt um so stärker die Funktion der Ph. und des Philosophen hervor, mäßigend auf die Sitten einzuwirken («Les philosophes sont les médecins des âmes»), Toleranz statt Fanatismus zu verbreiten, auf allen Feldern bis hin etwa zur Sorge für Waisen und die Verbesserung der Landwirtschaft tätig zu sein, eine aufgeklärte Religion ohne Aberglauben und Dogmatismus zu errichten und damit auch die religiösen Bürgerkriege zu verhindern («C'est l'esprit philosophique qui a banni cette peste du monde») [46]. «Les vrais gens de lettres et les vrais philosophes ont beaucoup plus mérite du genre humain que les Orphée, les Hercule et les Thésée: car il est plus beau et plus difficile d'arracher des hommes civilisés à leur préjugés que de civiliser des hommes grossiers» [47]. Es ist deshalb im Interesse der Fürsten, daß die Zahl der Philosophen zu- und die der Fanatiker abnimmt, denn die Philosophen sind gute und ruhige Bürger, «les plus honnêtes gens du monde»; sie respektieren die Gesetze, haben kein spezielles Interesse für sich, sondern sprechen nur «en faveur de la raison et l'intérêt public» [48]; sie waren niemals, wie man ihnen vorwirft, gefährliche Aufrührer gegen Staat und Religion [49].
Wenn schließlich bei La Mettrie alle geistig-psychischen Funktionen mechanistisch erklärt werden, wird auch hier der (Moral-)Philosoph zum Arzt: «Le médecin est le seul philosophe, qui mérite de sa patrie»; man kann sein Leben in Ruhe an jener besten Ph., «celle des médecins», orientieren [50]. Da die Ph. nur theoretische Erkenntnisse liefert, nämlich die Gesetzmäßigkeiten der Natur erforscht («Ecrire en Philosophe, c'est enseigner le matérialisme»), kann und will sie keine praktischen Lehren geben. Sie hat deshalb nie einen schädlichen Einfluß auf die Moral und Religion und wird also nicht für den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährlich [51].
Wenn La Mettrie auch mit dieser strikten Trennung von theoretischer Ph. und praktischer Politik die Ausnahme bildet, sind doch die meisten Philosophen der Aufklärung mit ihm davon überzeugt, daß die Ph. sich nicht an die Menge oder zumindest nicht an die «canaille», «le bas peuple», wendet [52]. Da das Volk keine (philosophischen) Bücher liest [53], setzen die Philosophen ihre Hoffnung auf den Fürsten, den «roi philosophe» oder «prince philosophe» [54], dessen vornehmste Aufgabe es ist, das Volk aufzuklären [55]. «Les philosophes ont fait entendre aux rois les cris du peuple, et n'ont pas craint de leur parler de ses droits» [56]. Erst wenn die Ph. beim Herrscher keinen Erfolg hat, soll sie sich an das Volk bzw. an den lesenden und denkenden Teil desselben, «la partie mitoyenne d'une nation», wenden [57]. Immer wieder wird auch darauf hingewiesen, daß die Religionskritik der Ph. nicht destruktiv für Staat und Gesellschaft ist, sondern im Gegenteil der Fanatismus der Priester und ihr Sektengeist Unruhen hervorrufen [58]. So sieht Condorcet die Hauptaufgabe des Philosophen darin, den «nations et leurs chefs» vor Augen zu führen, daß der geheime Einfluß der «autorité sacerdotale» die Ruhe des Staates bedroht, die Moral untergräbt und die Menschen zu blinden Werkzeugen ihres Ehrgeizes macht. Der Philosoph wird dagegen die Sitten mäßigen, die Gesetze vereinfachen und alle Fesseln lockern, die die Freiheit und Aktivität der Bürger behindern [59]. Zwar halten viele Autoren die Religion für unverträglich mit der Ph., für andere steht aber eine vernünftige Religion, die im wesentlichen eine reine Moral lehrt, nicht im Widerspruch zur Ph.: «Non, sans doute, la philosophie n'est et ne peut être l'ennemie de Dieu ni des rois» [60]. «Le vrai philosophe, l'esprit sage et éclairé, n'attaque jamais la vraie religion» [61].
Bereits seit der Mitte des 18. Jh. konstatieren viele Zeitgenossen die Entstehung dieser jetzt oft so genannten ‘neuenʼ oder ‘modernenʼ Ph. und ihre starke Verbreitung in der öffentlichen Meinung [62]. «Tout est aujourd'hui philosophe, philosophique et philosophie en France» [63]. Häufig wird ‹Ph.› generell mit ‹Aufklärung› gleichgesetzt, und dem entspricht zum Teil ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl und Gruppenbewußtsein der «Philosophes». «Notre siècle s'est donc appelé par excellence le siècle de la philosophie» [64]. Voltaire stellt fest, daß die Philosophen die öffentliche Meinung beherrschen und sich deren Reich mehr und mehr ausdehnt [65].
Trotz aller Beteuerungen ihrer Ungefährlichkeit konnten die «philosophes» es nicht verhindern, daß sie heftig befehdet und des Atheismus oder zumindest der Irreligiosität, des Deismus, Materialismus, Skeptizismus (Pyrrhonismus), der Auflehnung gegen Staat, König und Gesetze beschuldigt wurden [66]. Für E. Fréron ist die Ph. jetzt «poussé à l'excès», und Diderots ‹Pensées sur l'interprétation de la nature› sind ihm Ausdruck einer «maladie, ou, pour mieux dire, la folie du jour» [67]. Ein Höhepunkt wird 1760 mit Palissots Satire auf die «philosophes», die unter dem Deckmantel der Ph. ihre eigennützigen Interessen verfolgen [68], erreicht: «Une secte impérieuse ... exerçait un despotisme rigoreux sur les sciences, les lettres, les arts & les mœurs. Armée du flambeau de la Philosophie, elle avait porté l'incendie dans les esprits, au lieu d'y répandre la lumière» [69]. Die Vorwürfe, die man gegen die Ph. erhebt, sind häufig dieselben, die diese gegen ihre Gegner wandte: Hochmut, Unduldsamkeit, Ehrgeiz und Sektenbildung, Parteigeist unter dem Vorwand der Sorge für das Gemeinwohl. «Il n'y avoit plus de fanatisme en France avant que la secte des Philosophes modernes fût formée» [70]. «La Philosophie de ce siècle n'est que la haine raisonnée de la vrai Sagesse;... que sous l'apparence du zèle, du bien public, elle forme & nourrit le coupable projèt de détruire toute autorité, & d'effacer tous les principes des obligations humaines» [71]. Häufig wird die Ph. generell bekämpft, nicht selten nimmt man aber für sich den Titel der «wahren Ph.» («qui puise ses principes dans l'Evangile» [72]) oder der «christlichen Ph.» [73] in Anspruch. Auf Seiten der Betroffenen verstärken solche Angriffe aber eher das Gefühl der Zusammengehörigkeit: «Que les philosophes soient unis, et ils triompheront de tout» [74].
Grundsätzliche Kritik an der Ph. übt Linguet: «Le Citoyen obéit sans raisonner ... Mais le Philosophe raisonneur qui discute, qui pèse les droits des Puissances, qui disserte sur les vertus & les vices, est trop lâche pour sçavoir obéir.» Die Ph. ist wie die Künste und anderen Wissenschaften das Kennzeichen einer degenerierenden Gesellschaft, des Despotismus, Luxus und Überflusses. Der «fanatisme philosophique» ist zwar nicht so furchtbar wie der religiöse, aber er behindert die unreflektierte Ausübung der Tugend. «La philosophie est fondée sur la plus incurable de toutes les maladies de l'esprit humain, sur un amour propre orgueilleux. C'est lui qui fit les premiers Sages» [75]. Die Ph. hat ihre Vorurteile wie der Aberglauben, und nichts ist gefährlicher als jene «secte» anzugreifen, deren Losungsworte «la raison & la liberté» sind [76].
Ähnliche Argumente hatte Rousseau gegen die Ph. angeführt. Die Reflexion des Menschen über seinen eigenen Zustand entfremdet ihn der naturgegebenen einfachen Sittlichkeit [77]. «Le goût des lettres, de la Philosophie et des beaux arts, anéantit l'amour de nos Premiers devoirs et de la véritable gloire ... [Il] relâche tous les liens d'estime et de bienveillance qui attachent les hommes à la société.» Die Ph. ist das Merkmal dafür, daß der Mensch die Unschuld der Tugend und des gesunden Menschenverstandes verloren hat. «La famille, la patrie deviennent pour lui des mots vuides de sens: il n'est ni parent, ni citoyen, ni homme; il est philosophe» [78]. Die Ph. hat ihre Quelle im Hochmut des Menschen, der nicht schlicht gläubig sein, sondern in die Geheimnisse Gottes und der Welt eindringen will. Entgegen ihrer prätendierten Nützlichkeit stiften Wissenschaften, Ph. und Künste mehr Schaden als Gutes [79], zumal ihre Grundsätze weniger wirksam sind als die der Religion und ihr Fanatismus trotz aller gegenteiligen Behauptungen der «partie philosophiste» nicht weniger unheilvoll als der religiöse ist. «L'indifférence philosophique ressemble à la tranquillité de l'Etat sous le despotisme; c'est la tranquillité de la mort» [80]. Weit davon entfernt, die von ihr gestellten Fragen beantworten zu können, führt die Ph. nur zu unnötigen Zweifeln und zum Skeptizismus [81] und bedeutet immer eine Deformierung der Natur, des natürlichen Instinkts, der das Gewissen ist [82]. «L'orgueilleux despotisme de la philosophie moderne a porté l'égoïsme de l'amour-propre à son dernier terme» [83].
Polemik und Streit um den wahren Ph.-Begriff trugen nicht wenig dazu bei, daß ‹Ph.› gegen Ende des 18. Jh. zu einem diffusen Schlagwort und zu einem von unterschiedlichsten Richtungen beanspruchten Modebegriff wurde: «Les folliculaires & les partisans du despotisme ont tant crie contre la Philosophie & contre les philosophes, que ce dernier terme roule aujourd'hui parmi le peuple, & en le mettant à toutes sauces. Or, dans chaque maison il y a quelqu'un qu'on appelle philosophe» [84]. Angesichts der Fülle antireligiöser Schriften möchte d'Alembert am liebsten auf den Titel ‹Philosoph› verzichten: «il y a trop de faquins qui le portent» [85]. Nicht selten spricht man vom Mißbrauch des Ph.-Begriffs, so daß Voltaire bekennt, «combien je suis éloigné de quelques philosophes modernes qui osent nier une intelligence suprême» [86]. Kennzeichnend für den vielfach abschätzigen Gebrauch von ‹Ph.› sind Neubildungen ihrer Gegner wie «philosophiste» [87], «la tourbe philosophesque» [88], «philosophisme» und «philosophaillerie» [89], «philosophailler» und «philosophesse» [90], «la philosophomanie» [91] u.a.
Unabhängig von den Auseinandersetzungen um die richtige Bestimmung des Ph.-Begriffs zeigen sich im späten 18. Jh. einige Stellungnahmen, die sich zum Anspruch der Ph. auf Aufklärung distanziert verhalten, ohne sich grundsätzlich ablehnend zu ihr zu äußern. Chamfort: «La philosophie, ainsi que la médecine, a beaucoup de drogues, très-peu de bon remèdes, et presque point de spécifiques». «La meilleure philosophie, relativement au monde, est d'allier ... le sarcasme de la gaîté avec l'indulgence du mépris» [92]. Für den Abbé Galiani wäre es die «erhabenste Ph.», wenn man mitten in der Betriebsamkeit der Welt stillstehen könnte [93].
In der Französischen Revolution wechseln die Stellungnahmen zur Ph. je nach Standpunkt des Autors und der aktuellen politischen Situation. Während Condorcet[94] und Marat[95] davon überzeugt sind, daß die Ph. einen maßgeblichen Anteil an der Entstehung der Revolution hat und andere die Ph. der Aufklärung jetzt im ganzen Volk verbreiten wollen [96], hält Sieyès eine Differenzierung der reinen Theorie der «philosophes», ohne ihr Recht schmälern zu wollen, da für nötig, wo sie in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll, wo die Ph. auf vielerlei Interessen trifft, auf die sie Rücksicht nehmen muß [97]. Robespierre aber muß dem Atheismus der «philosophes» widersprechen, da er den von ihm propagierten Glauben an das «Etre suprême» nicht zuläßt [98]. Die Gegner der Revolution machen für ihre Greuel nun bereits die Ph. verantwortlich. So ist für La Harpe, der einst Anhänger der «philosophes» gewesen war [99], die Ph. «du dix-huitième siècle», wie er sie zusammenfassend nennt, durch den Fanatismus und die Intoleranz der Revolutionäre kompromittiert. Diese ganze Ph. des Atheismus, des Hasses auf die legitime Autorität und der Verachtung aller Moral «était le chef-d'oeuvre de l'ignorance et de l'absurdité». «On a tant assassine, de nos jours, au nom de la liberté, de la république, de la philosophie!» [100]. Für Rivarol bedeutet der Anspruch der Ph., ein «peuple philosophe» zu bilden, Überheblichkeit und Mißachtung dieses Volkes: «Le vrai philosophe ... laisse la foi à la place de la science, et la crainte à la place de la raison» [101]. Wie die Revolution zeigt, hat der Rigorismus der Ph. furchtbare Wirkungen gehabt. Da die abstrakte Theorie zudem in der Praxis scheitern muß, sind die «philosophes ... plus anatomistes que médecins: ils dissèquent et ne guérissent pas» [102]. Gegen diese Anklagen, die um 1800 in der These von der Verschwörung der Ph. gegen Religion und Staat kulminieren [103], melden sich andere Autoren zu Wort, die die Ph. vor den Übeln der Revolution in Schutz nehmen [104]. Die Ph. der Restaurationszeit hindert dies aber nicht an ihrer grundsätzlichen Gegnerschaft gegen die aufklärerische Ph. Wenn die Ph. wesentlich eine, wie De Maistre meint, «puissance désorganisatrice» [105] ist, wird ihre erneute Bindung an die Religion notwendig. Chateaubriand: «Les conseils de l'Evangile forment le véritable philosophe, et ses préceptes le véritable citoyen» [106]. De Bonald wählt einen anderen Weg: Da die «Philosophie des modernes» atheistisch ist, weil sie alles erklären und regeln will ohne die Mitwirkung Gottes, da sie «tout ordre général et particulier» zerstört [107], findet der Mensch Halt und Stabilität nur in der Gesellschaft als dem Garanten seiner Selbsterhaltung und seines Glücks [108].
Entsprechend ihrem dezidiert antisystematischen Programm werden Einteilungen der Philosophie von der französischen Aufklärung nur selten aufgestellt. Perrault folgt in etwa dem seit der Stoa bekannten Dreierschema: «On divise aujourd'hui la Philosophie en quatre parties, la Logique, la Morale, la Physique, & la Métaphysique» [109]. D'Alembert zählt neben diesen zusätzlich Grammatik und Mathematik als selbständige Disziplinen auf [110], während bei den Ideologen (Destutt de Tracy) die Ideologie Basiswissenschaft wird, auf die Grammatik, Logik und der «Traité de la volonté et de ses effets» folgen [111]. In der ‹Encyclopédie› übernimmt d'Alembert Bacons Einteilung aller Erkenntnisvermögen in Gedächtnis (mémoire), Vernunft (raison) und Einbildungskraft (imagination). Diesen entsprechen die drei Hauptgebiete Geschichte (in der älteren Bedeutung), Philosophie (als Wissenschaft) und Poesie (mit Musik, Malerei usw.) [112].
Ulrich Dierse
[1]
Vgl. G. Dagoumer: Philosophia ad usum scholae accommodata 1–3 (Paris 1702–03), 1–6 (3Lyon 1757); A. Seguy: Philosophia ad usum scholarum accommodata (Paris 1762); vgl. D. Mornet: La pensée française au XVIIIe s. (Paris 1926) 191.
[2]
J. L. d'Alembert: Discours prélim., zu: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1 (Paris 1751) XVI. XLVIIff., frz./dtsch. hg. E. Köhler (21975) 90f.; E. de Jaucourt [oder D. Diderot?]: Art. ‹Philosophie›, in: Encycl., a.O. 12 (Neufchastel 1765) 512; vgl. F. Kambartel: Erfahrung und Struktur (1968) 61ff.
[3]
B. de Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes, Préf. Oeuvr. compl., hg. G.-B. Depping (Paris 1818, ND 1968) 2, 3.
[4]
1er soir, a.O. 10f.; vgl. dazu die Anm. von J. Ch. Gottsched in seiner Übersetzung von Fontenelle: Auserlesene Schriften (51760) 65.
[5]
Dialogues des morts I, 4 (entre Anacréon et Aristote). Oeuvr., a.O. 2, 179f.; vgl. V, 5 (entre Straton et Raphael d'Urbain), a.O. 238.
[6]
VI, 4 (entre le 3e faux Démétrius et Descartes), a.O. 251.
[7]
F. de La Rochefoucauld: Maxime 46. 54. 589. Oeuvr. compl., hg. L. Martin-Chauffier (Paris 1950) 250f. 341.
[8]
Maxime 22, a.O. 246.
[9]
Vgl. z.B. die anonyme Komödie ‹Les philosophes› (Den Haag 1742).
[10]
J. de La Bruyère: Les caractères ou les mœurs de ce siècle. Des ouvrages de l'esprit 34. Des jugements 68f. Oeuvr. compl., hg. J. Benda (Paris 1951) 95, 385f.; dtsch. hg. G. Hess (1940) 17, 304f.
[11]
De l'homme 132, a.O. 355; dtsch. 274.
[12]
Vgl. bereits L. C. de Vauvenargues: Maxime 145. Oeuvr., hg. D.-L. Gilbert (Paris 1857) 388; dtsch. in: F. Schalk (Hg.): Die franz. Moralisten (1973) 1, 118.
[13]
Maxime 279f. 406. 288. 295, a.O. 412f. 437. 415f.; dtsch., a.O. 134f. 136f.
[14]
Maxime 326. 335, a.O. 422. 424; dtsch., a.O. 141f.
[15]
Maxime 492, a.O. 446; dtsch., a.O. 160.
[16]
Vgl. G.-E. Du Châtelet: Discours sur le bonheur, hg. R. Mauzi (Paris 1961) 25.
[17]
Voltaire: Br. an Condorcet (11. 10. 1770); vgl. an de Verna (3. 7. 1764). Corresp., hg. Th. Besterman (Genf 1953–65) 77, 18; vgl. 55, 146.
[18]
C. Ch. Du Marsais(?): Le philosophe, in: Nouvelles libertés de penser (Amsterdam 1743) 173–204; in allen Fassungen (u.a. dem Art. ‹Philosophe› der Encycl. ... 5 [1765] 509–511) neu hg. H. Dieckmann: Le philosophe. Texts and interpret. (Saint-Louis 1948) zit. 60; zur Verfasserfrage vgl. A. W. Fairbairn: Du Marsais and ‹Le Philosophe›. Studies on Voltaire and the 18th cent. 87 (1972) 375–395.
[19]
R. de Bonneval: Progrès de l'éducation (Paris 1743) 158–164; J. B. d'Argens: Lettres mor. et crit. sur les différens états, et les diverses occupations des hommes (Amsterdam 1737) 131–139.
[20]
C. J. Boncerf: Le vrai philosophe, ou l'usage de la philos., relativement à la soc. civile, à la vérité & à la vertu (Paris 1762) 1f.; vgl. 102.
[21]
Le philosophe, in: Dieckmann, a.O. [18] 44. 46; vgl. 58.
[22]
a.O. 32. 34.
[23]
36. 42.
[24]
D. Diderot: Pensées sur l'interprét. de la nature. Oeuvr. compl., hg. J. Assézat/M. Tourneux (Paris 1875–77, ND 1966) 2, 20f.; dtsch.: Philos. Schr., hg. Th. Lücke (1967) 1, 430f.
[25]
G. L. L. de Buffon: Hist. naturelle 1 (1749). Oeuvr. philos., hg. J. Piveteau (Paris 1954) 23.
[26]
Ch. Levesque: L'homme pensant (Amsterdam 1729) 333–335.
[27]
A.-R.-J. Turgot: Oeuvr., hg. G. Schelle (Paris 1913–23) 1, 125.
[28]
J. Terrasson: La philosophie applicable à tous les objets de l'esprit et de la raison (Paris 1754) 1–3. 7ff. 29.
[29]
F. V. Toussaint: Les mœurs, nouv. éd. (Amsterdam 1749) 3.
[30]
F.-A.-A. Pluquet: De la sociabilité (Paris 1767) 1, VII–IX; vgl. Ch.-G. Lamoignon Malesherbes: Oeuvr. inéd., hg. N. L. Pissot (Paris 1808) 156. 160ff.; M.-J.-A. de Condorcet: Oeuvr., hg. A. Condorcet O'Connor/M. F. Arago (Paris 1847–49, ND 1968) 1, 448.
[31]
L.-R. de Caradeuc de La Chalotais: Essai d'éducation nationale ou plan d'études pour la jeunesse (o.O. 1763) 117; dtsch: Versuch über den Kinder-Unterricht (1771) 166f.
[32]
A. Guénard: En quoi consiste l'esprit philosophique? (1755), in: R. Descartes: Disc. de la meth., hg. L. Liard (Paris 1942) 183–190, zit. 188f.
[33]
D'Alembert: Essai sur les élémens de philos. (Paris 1805, ND 1965) 20. 31.
[34]
Diderot: Essai sur les règnes de Claude et Néron, a.O. [24] 3, 248 / dtsch., a.O. 2, 456f.
[35]
2, 390/2, 123.
[36]
3, 271/2, 476; vgl. 3, 176/2, 391.
[37]
3, 210/2, 422.
[38]
3, 250/2, 458.
[39]
F.-J. de Chastellux: De la félicité publ. (Amsterdam 1772) 2, 63. 67. 84f. 93f.
[40]
P.-H. Th. d'Holbach: La politique nat. (London 1773, ND 1971) 2, 118f.
[41]
Du Marsais /d'Holbach: Essai sur les préjugés (London 1770) 152–178, zit. 163. 168. 172. 175; vgl. 212ff.; dtsch., hg. W. Schröder (1972) 110–127, zit. 117. 120. 123. 125; vgl. 149–151.
[42]
a.O. 179–203, zit. 184. 196. 200/128–143, zit. 131. 138. 141; vgl. 246f. 284. 311/172. 197. 215.
[43]
200f. 286–296/142. 198–205.
[44]
J.-B.-R. Robinet: Dict. univ. des sciences morale, oconom., polit. et diplomat. 1 (London 1777) XXII. XLV. XLVII. XLIX (Disc. prélim.: De l'influence de la philos. sur les mœurs et la législation).
[45]
C.-A. Helvétius: De l'esprit II, 15; II, 24. Oeuvr. compl. (Paris 1795, ND 1967–69) 2, 250; 3, 125; De l'homme, Introd.; X, 10, a.O. 7, 2f.; 12, 135–138, zit. 138.
[46]
Voltaire: Oeuvr. compl., hg. L. Moland (Paris 1877–85) 8, 473; 23, 468; Briefe an d'Alembert (15. 2./9. 11. 1764); an Damilaville (1. 3. 1765). Corresp., a.O. [17] 54, 103; 56, 144; 57, 161.
[47]
Oeuvr., a.O. 24, 123.
[48]
Briefe an Helvétius (27. 10. 1760/15. 9. 1763). Corresp., a.O. 44, 95; 53, 28; Oeuvr., a.O. 22, 229; 23, 469f.
[49]
Oeuvr., a.O. 24, 122f.; 8, 469.
[50]
J. O. de La Mettrie: Oeuvr. philos. (Berlin/Paris 1796) 2, 172. 190; 3, 108; vgl. 3, 117.
[51]
a.O. 1, bes. 1. 7–15. 19–28. 38–54, zit. 15; dieser ‹Discours préliminaire aux œuvres› neu hg. in: A. Thomson: Materialism and society in the mid-eighteenth cent. (Genf/Paris 1981) 205. 209–215. 219–225. 232–242, zit. 215.
[52]
Voltaire: Br. an Colini (31. 7. 1775). Corresp., a.O. [17] 91, 137; vgl. d'Holbach: Système de la nature (Paris 1821, ND 1966) 2, 385; dtsch., hg. F.-G. Voigt (1960) 537; M. Grimm (u.a.): Corresp. litt., philos. et crit., hg. M. Tourneux (Paris 1877–82) 3, 328 (15. 1. 1757).
[53]
La Mettrie, a.O. [50] 1, 25; Thomson, a.O. [51] 223; Voltaire: Oeuvr., a.O. [46] 22, 126f.
[54]
a.O. 23, 470f.; Friedrich der Gr. als «roi des philosophes» oder «chef et modèle» der «philosophes»: d'Alembert: Oeuvr. compl. (Paris 1821, ND 1967) 5, 46. 116. 267. 295. 298. 306. 326. 344. 446. 460. 462; vgl. 5, 106. 110.
[55]
Diderot: Oeuvr., a.O. [24] 3, 209; Du Marsais /d'Holbach, a.O. [41] 79. 81f. 142–144. 218/61. 63. 103f. 153f.; Robinet, a.O. [44] LIIf.
[56]
Condorcet: Oeuvr., a.O. [30] 5, 336.
[57]
Du Marsais /d'Holbach, a.O. [41] 47. 170/40. 122.
[58]
a.O. 242f. 301f. / 170. 208f.; d'Holbach, a.O. [52] 2, 253f. / 519; Religionskr. Schr., hg. M. Naumann (1970) 68. 167. 418.
[59]
Condorcet: Vie de Voltaire. Oeuvr., a.O. [30] 4, 180–182; vgl. 6, 186ff. 229ff.
[60]
Voltaire: Oeuvr., a.O. [46] 29, 9; vgl. 23, 471; 20, 505; 29, 16f.; Br. an Servan (April 1766). Corresp., a.O. [17] 61, 30.
[61]
D'Alembert: Oeuvr. et corresp. inéd., hg. Ch. Henry (ND Genf 1967) 6; vgl. Br. an Friedrich den Gr. (30. 11. 1770). Oeuvr., a.O. [54] 5, 304.
[62]
R. L. d'Argenson: Journal et mémoires, hg. E. J. B. Rathery (Paris 1859–67) 6, 464 (3. 9. 1751); 7, 51 (18. 12. 1751); 8, 290 (9. 5. 1754); L. P. de Bachaumont: Mémoires secrets pour servir à l'hist. de la républ. des lettres (London 1780–1866, ND 1970) 1, 3 (avertissement); Ch. L. de Montesquieu: Mes pensées Nr. 446. 1226–1228. Oeuvr. compl., hg. R. Caillois (Paris 1949) 1, 1019. 1305–1307.
[63]
Grimm, a.O. [52] 7, 225 (Febr. 1767); vgl. aber 11, 495 (Juli 1777).
[64]
D'Alembert, a.O. [33] 9; Oeuvr., a.O. [54] 5, 242; Boncerf, a.O. [20] Préf.; Helvétius: De l'homme II, 19. Oeuvr., a.O. [45] 8, 86; P.-A. C. de Beaumarchais: Tarare (Paris 1790) 8. Oeuvr. compl. (Paris 1821) 2, 410; vgl. W. Krauss: Studien zur dtsch. und frz. Aufkl. (1963) bes. 12–18.
[65]
Voltaire: Br. an d'Alembert (8. 7. 1765). Corresp., a.O. [17] 58, 253.
[66]
Vgl. z.B. J. Soret: La religion vengée ou réfutation des auteurs impies (Paris 1757); Denesle: Les préjugés des anc. et nouv. philosophes sur la nature de l'âme humaine, ou examen du matéralisme (Paris 1765); I. Mirasson: Le philosophe redressé (Au-Bois-Valon 1765); D. Le Masson des Granges: Le philosophe moderne, ou l'incrédule condamné au tribunal de sa raison (En Normandie 1767); P. O. Pineault: La nouvelle philos. dévoilée, et pleinement convaincue de lèse-majesté divine & humaine au premier chef (Paris 1771); N.-S. Bergier: Examen du matérialisme ou réfutation du système de la nature (Paris 1771); R. de Bury: Hist. abrégée des philosophes et des femmes célèbres (Paris 1773); L. M. Chaudon: Anti-Dictionnaire philos. 1–2 (Avignon 41775); F.-X. Feller: Catéchisme philos. ou recueil d'observations propres à défendre la religion chrét. contre ses ennemis (Lüttich 1805).
[67]
E. Fréron, in: L'année littéraire Jg. 1754, vol. 1, p. 1.
[68]
Ch. Palissot de Montenoy: Les philosophes (Paris 1760).
[69]
Lettre de l'auteur de la comédie des philosophes au public, pour servir de préface à la pièce (o. O. 1760) 5.
[70]
S. F. de Genlis: La religion considérée comme l'unique base de la véritable philos. (Maastricht 1787) 191; vgl. 311ff.: «Des préjugés philosophiques».
[71]
A.-A. Lamourette: Pensées sur la philos. de l'incrédulité ou réflexions sur l'esprit et le dessein des philosophes irréligieux de ce siècle (Paris 1786) 229.
[72]
Genlis, a.O. [70] 310.
[73]
P. Sigorgne: Le philosophe chrétien, ou lettres sur la nécessité et la vérité de la religion (Avignon 1765); J. Pey: Le philosophe catéchiste, ou entretien sur la religion (Paris 1779).
[74]
Voltaire: Br. an Mme d'Epinay (20. 8. 1760). Corresp., a.O. [17] 43, 66; vgl. 41, 229. 232f.; 43, 68.
[75]
S.-N.-H. Linguet: Le fanatisme des philosophes (London/Abbeville 1762, 1764) 20. 16. 9.
[76]
Annales polit., civiles, et litt. du 18e s. 1 (London 1777) 249f.
[77]
J.-J. Rousseau: Discours sur ... l'inégalité. Oeuvr. compl., hg. G. Gagnebin/M. Raymond (Paris 1959ff.) 3, 156; vgl. 3, 138.
[78]
Narcisse, Préf., a.O. 2, 966f. 969.
[79]
Observations sur la réponse du roi de Pologne, a.O. 3, 41. 46. 55; vgl. 3, 27. 228.
[80]
Emile, a.O. 4, 632f.; vgl. 535.
[81]
a.O. 568f.
[82]
253. 483. 595. 601.
[83]
Rousseau juge de Jean-Jacques II. Oeuvr. (Paris 1826–27) 16, 351.
[84]
L.-S. Mercier: Tableau de Paris (Amsterdam 1782–88, ND 1979) 10, 23.
[85]
D'Alembert: Br. an Friedrich den Gr. (8. 6. 1770). Oeuvr., a.O. [54] 5, 294.
[86]
Voltaire: Br. an Mme Du Deffand (27. 1. 1766). Corresp., a.O. [17] 60, 58.
[87]
Fréron, a.O. [67] Jg. 1759, vol. 1, p. 290. 314; Rousseau: Oeuvr., a.O. [77] 4, 632.
[88]
Rousseau, a.O. 3, 212.
[89]
Linguet, a.O. [76] 2, 20; «philosophaillerie» auch bei F.-R. de Chateaubriand: Mémoires d'outre-tombe XI, 3 (Paris 1851) 1, 393.
[90]
L.-S. Mercier: Néologie ou vocab. de mots nouveaux (Paris an IX/1801) 2, 180.
[91]
Dières: La philosophomanie, poème (Rouen ca. 1760).
[92]
S.-R. N. Chamfort: Maximes générales. Oeuvr. compl., hg. P. R. Auguis (Paris 1824–25, ND 1968) 1, 342. 345; vgl. 1, 352. 354. 356. 368. 371; 3, 451–457.
[93]
F. Galiani: Br. an Suard (14. 7. 1770). Corresp., hg. L. Perey/G. Maugras 1 (Paris 1881) 194; dtsch., hg. W. Weigand (21914) 1, 114; vgl. 177f.
[94]
Condorcet: Oeuvr., a.O. [30] 6, 200.
[95]
J. P. Marat: L'ami du peuple (1790) 274f.
[96]
J.-M. Lequinio: Philos. du peuple (Paris 1796).
[97]
E. J. Sieyès: Was ist der dritte Stand? Polit. Schr., hg. E. Schmitt/R. Reichardt (1975) 119. 193f.
[98]
M. Robespierre: Rede vom 18 floréal an 2 (7. 5. 1794). Oeuvr. 10 (Paris 1967) 452–455.
[99]
J. F. de La Harpe: Le philosophe (1769). Oeuvr. (Paris 1821, ND 1968) 3, 254–262.
[100]
Du fanatisme dans la langue révolutionnaire (Paris 31797, an V) 2. 4. 86f., a.O. 5, 479. 481. 597.
[101]
A. Rivarol: Oeuvr. compl. (Paris 1808, ND 1968) 1, bes. 310f. 341f., zit. 334f.
[102]
Oeuvr. chois., hg. A. de Lescure (Paris o.J.) 1, 243; 2, 37. 87f. 352; vgl. 1, 235. 241f. 247.
[103]
Vgl. J. Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776–1945 (1976).
[104]
P.-L. Roederer: De la philos. moderne, et de la part qu'elle a eue à la révolution française (Paris an VIII); P. Granier: Lettre à M.***, sur la philos., dans ses rapports avec notre gouvernement (Paris an XI/1802); A. Morellet: Apologie de la philos. contre ceux qui l'accusent des maux de la révolution, in: Mélanges de litt. et de philos. 4 (Paris 1818) 308–332.
[105]
J. de Maistre: Considérations sur la France (Paris 1924) 56; dtsch. (1924) 61.
[106]
Chateaubriand: Le génie du christianisme IV, 6, 12, hg. M. Regnard (Paris 1978) 1072.
[107]
L. G. A. de Bonald: Oeuvr. compl. (Paris 1859) 3, 471; 1, 1060; vgl. 3, 29.
[108]
a.O. 1, 1128; vgl. R. Spaemann: Der Ursprung der Soziol. aus dem Geist der Restauration (1959) 25–38.
[109]
Ch. Perrault: Parallèle des anciens et des modernes (Paris 1688–97, ND 1964) 4, 125; vgl. dazu die EM. von H. R. Jauss zum ND, 46.
[110]
D'Alembert, a.O. [33].
[111]
A.-L.-C. Destutt de Tracy: Elémens d'idéologie, 1–4/5 (Paris 1804–15).
[112]
D'Alembert, a.O. [2]: «Système figuré des connoissances humaines».
J. P. Belin: Le mouvement philos. en France de 1748–1789 (Paris 1913). – M. Roustan: Les philosophes et la soc. franc. au XVIIIe s. (Paris 1911, ND 1970). – I. O. Wade: The ‘Philosopheʼ in the French drama of the 18th cent. (Princeton 1926, ND 1965). – F. Diaz: Filosofia e politica nel settecento francese (Turin 1962). – A. Vartanian: Le philosophe selon La Mettrie. Dix-huitième siècle 1 (1969) 161–178. – Ch. G. Stricklen jr.: The ‘philosopheʼs political mission. Studies on Voltaire and the 18th cent. 86 (1971) 137–227. – R. Reichardt: Reform und Revolution bei Condorcet (1973) 24–128. – J. Lough: Who were the ‘Philosophesʼ? in: Studies in eighteenth-cent. French lit., pres. to R. Nikiaus (Exeter 1975) 139–150. – A. Thomson: Le philosophe et la société. Studies on Voltaire and the 18th cent. 190 (1980) 273–284. – U. Dierse: Die nützliche Wahrheit. Begriffe und Motive der ‘philosophesʼ. Arch. Begriffsgesch. 26 (1982) 193–210. – H. U. Gumbrecht/R. Reichardt: Philosophe, Philosophie, in: Hb. polit.-soz. Grund begriffe in Frankreich 1680–1820, H. 3 (1985) 7–88.
D. Deutsche Aufklärung. – 1. Die Diskussion des Ph.-Begriffs in der Aufklärung, dem «philosophischen Jahrhundert», war in Deutschland, dem Land der Universitäten und damit der Schul-Ph., besonders lebhaft. Sie läßt sich in vier relativ deutlich unterscheidbare Phasen gliedern, die der Entwicklung der deutschen Aufklärung entsprechen: die Frühaufklärung (Thomasius und seine Generation), die erste, schulphilosophische Phase der Hochaufklärung (Wolff und seine Generation), die zweite, popularphilosophische Phase der Hochaufklärung (Reimarus, Mendelssohn u.a.), die Spätaufklärung (das Zeitalter Kants). Im allgemeinen fand die Selbstreflexion der Ph. noch im Rahmen des Begriffsfeldes ‹Gelehrsamkeit – Weisheit – Wissenschaft› statt. Dabei legte schon die Eindeutschung des Wortes ‹ph.a› als «Weltweisheit» nahe, Ph. eher als Weisheit denn als Suche nach Weisheit aufzufassen. Allerdings wandelte sich die Ausgangssituation für die Frage nach der Ph. im Laufe der Aufklärung: An ihrem Anfang ist der Ausgangspunkt die Gelehrsamkeit des 17. Jh., an ihrem Ende die moderne Naturwissenschaft. Gleichzeitig ändert sich das allgemeine Selbstbewußtsein der Ph.; an die Stelle der offensiven Selbstbehauptung gegenüber der Theologie tritt eine defensive Selbstreflexion mit Bezug auf die Wissenschaft.
2. Ch. Thomasius hat eine «nützliche» Weltweisheit erstrebt, zunächst in Form einer noch lateinischen Hof-Ph., dann in Form einer deutschsprachigen «bürgerlichen» Ph. für Menschen jederlei Standes und Geschlechts. Dabei bleibt er jedoch wie fast die gesamte deutsche Aufklärung der von ihm nur transformierten Schul-Ph. verhaftet, so daß man von der deutschen Aufklärungs-Ph. als einer «akademischen Weltweisheit» sprechen kann. Im Unterschied zu Leibniz, dem nur wenig älteren Schüler seines Vaters, verzichtet Thomasius einerseits auf eine Interpretation der Ph. als wissenschaftliche Prinzipienerkenntnis, andererseits betrachtet er sie aus der Sicht des damaligen Universitätsbetriebes als eine Dienstleistungsdisziplin für die sogenannten höheren Fakultäten. So heißt es zunächst in der ‹Philosophia aulica›: «Jam definio Philosophiam, quod sit habitus intellectualis instrumentalis ex lumine rationis Deum, creaturas et actiones hominum naturales et murales considerans, et in earum causas inquirens, in utilitatem generis humani» («Ich definiere die Ph. als ‘instrumentellenʼ Habitus des Verstandes, der mit dem Licht der Vernunft Gott, die Geschöpfe sowie die natürlichen und moralischen Handlungen der Menschen betrachtet und ihre Ursachen zum Nutzen des Menschengeschlechts erforscht») [1]. Die Bestimmung des Objekts der Ph. geschieht hier noch durch eine christliche Interpretation der «ciceronianischen» Formel von den göttlichen und menschlichen Dingen, aber die Spitze der Definition richtet sich mit Hilfe der alten Formel «ex lumine rationis» gegen die sogenannte «ph.a christiana» als verderbliche Vermischung von Ph. und Theologie. In der ‹Einleitung zur Vernunftlehre› wird die Ph. dann stärker auf eine kritisch-praktische Erkenntnis des Notwendigen und Nützlichen beschränkt. Die Gelehrtheit, von der Thomasius ausgeht, weil er die Weltweisheit als deren Teil begreift, ist «eine Erkäntnüß, durch welche ein Mensch geschickt gemacht wird das wahre von dem falschen, das gute von dem bösen wohl zu unterscheiden, und dessen gegründete wahre, oder nach Gelegenheit wahrscheinliche Ursachen zu geben, umb dadurch sein eigenes als auch anderer Menschen im gemeinen Leben und Wandel zeitliche und ewige Wohlfarth zu befördern» [2]. Die Gelehrtheit besteht nicht im Vielwissen, sondern im Wissen des Wesentlichen, und dieses ist oft nur mit begrenzter Gewißheit zu erkennen, außerdem beschränkt sich die auf bloßer Vernunft und Erfahrung beruhende Gelehrtheit im engeren Sinn, die Weltweisheit, auf die zeitliche Glückseligkeit. Zuletzt hat Thomasius dann die Erkenntnis der Wahrheit ausdrücklich der Erkenntnis des Guten untergeordnet; die Weisheit als lebendige Erkenntnis des wahren Guten und damit auch die Weltweisheit ist fast nur noch «philosophischer Glaube» (fides intellectualis) [3].
3. Im Thomasianismus, d.h. im Kreise von Thomasius' Schülern und Mitstreitern, wurden zwar sehr unterschiedliche Ph.-Definitionen gegeben, dennoch bleibt eine allgemeine Betonung der kritischen und praktischen Aspekte unverkennbar. Ph. ist eine «judicieuse» oder scharfsinnige Erkenntnis dessen, was nicht unmittelbar einsichtig ist, und sie ist keine «eitle Curiosität», sondern eine «scientia practica» oder eine lebendige Erkenntnis des wahrhaft Nützlichen. Ihr Gegenstand sind alle Dinge, soweit sie aus erfahrungsbegründeter Vernunft erkannt werden können, vor allem die sogenannten Qualitäten; dem Erkenntnistypus nach ist sie eine Wissenschaft, Weisheit oder Gelehrtheit. So heißt es bei J. F. Budde: «Philosophia ... est notitia rerum divinarum humanarumque, prout ductu rectae rationis cognosci possunt, ad veram hominum felicitatem aut acquirendam, aut conseruandam comparata» («Ph. ... ist die Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge, soweit sie unter Anleitung der rechten Vernunft erkannt werden können, die dazu dient, die wahre Glückseligkeit der Menschen zu erreichen oder zu bewahren») [4]. Sein Schüler J. G. Walch schließt sich dieser Definition an, hebt aber den prinzipiellen und kritischen Charakter der Ph. hervor [5]. Etwas allgemeiner hatte es schon bei A. Rüdiger geheißen: «Philosophia est cognitio veritatis ejus, quae non cuilibet statim manifesta, et omnibus tarnen perutilis est» («Ph. ist die Erkenntnis derjenigen Wahrheit, die nicht einem jeden sofort offenkundig und dennoch für alle von großem Nutzen ist») [6]. Später definiert Rüdiger, vielleicht schon gegen Wolff, die Ph. als eine Erkenntnis von Qualitäten und Quantitäten [7], womit er die Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Ph. im engeren Sinn und Mathematik legt.
In seiner zweiten Phase wendet sich der Thomasianismus nachdrücklich gegen Wolff und bekämpft auch dessen Definition der Ph. als mathematisch exakte Möglichkeitswissenschaft. An die Stelle des Möglichen soll das Wirkliche treten (vor allem das ewige Wirkliche), und dieses ist wesentlich keine Ausdehnungsgröße. Der Rüdiger-Schüler A. F. Hoffmann z.B. rechnet die Ph. zu den «judiciösen Wissenschaften» im Unterschied zu den Gedächtniswissenschaften. Sie ist «eine natürliche Erkändtniß verborgener Wahrheiten, von der Natur und Existenz solcher Dinge, welche nicht in der Willkühr der Menschen, sondern ausser derselben, dergestalt gegründet sind, daß sie natürlicher Weise niemahls völlig aufhören zu seyn» [8]. Genauer gesagt soll die Ph. die allgemeinen Naturen (im Unterschied zu den individuellen) und die Qualitäten (im Unterschied zu den Quantitäten) erforschen. An diese Definition schließt sich aufs engste sein Schüler Ch. A. Crusius an und behauptet, daß die Ph. im engeren Sinne, obwohl sie keineswegs immer auch die Gründe der Dinge erkennen könne, «eine gründliche Erkenntniß dererjenigen unveränderlichen Vernunftwahrheiten ist, welche in etwas anders als in Grössen der Ausdehnung bestehen» [9]. So kommt jedoch zunächst nur ein wesentlich negativer Begriff von Ph. zustande.
4. Ch. Wolff betont immer wieder den praktischen Nutzen der Ph., ihre instrumentale Funktion beim Erwerb von Glück durch Tugend, in gewisser Weise auch ihre kritische Funktion, besonders für die Wissenschaften bei der Analyse und Definition der Begriffe; aber er nimmt diese Perspektiven nicht in den Ph.-Begriff hinein. Sein Ph.-Begriff knüpft an die klassische Interpretation der Ph. als Prinzipien- oder Ursachenwissenschaft an, wobei er zugleich mit modernem Methodenbewußtsein auf eine Ph. als mathematisch exakte Wissenschaft drängt. Daraus ergibt sich seine Auffassung der Ph. als mathematisch gewisse Universal- und Fundamentalwissenschaft: eigentlich ist Ph. (im Gegensatz zu ihrer universitären Stellung) die höchste und einzige Wissenschaft. Vor allem aber wird die philosophische Erkenntnis als eine Erkenntnisart unter anderen in eine Theorie «de triplici cognitione humana» eingebaut und das Erkenntnisobjekt der Ph. nicht nur als Grund oder Ursache, sondern auch als das Mögliche oder die möglichen Dinge bestimmt.
Wolff unterscheidet zunächst drei Arten oder Stufen der Erkenntnis: die «cognitio historica» als Tatsachenerkenntnis, die «cognitio philosophica» als Grund- oder Ursachenerkenntnis, die «cognitio mathematica» als Größenerkenntnis. Auf diese Weise verknüpft er die an sich alte (hierarchische) Unterscheidung von Fakten- und Ursachenerkenntnis mit der an sich ebenfalls alten (modalen) Unterscheidung zwischen philosophischer und mathematischer Erkenntnis. Dann entwickelt er seine schon früher vorgeschlagene Definition der Ph. als Möglichkeitswissenschaft: «Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt» [10]. Anscheinend bedeutet das Mögliche hier, obwohl Wolff es meist nur im Sinne des logisch oder real Möglichen erklärt, letztlich eine metaphysische Möglichkeit, das mögliche Wesen einer Sache (potentia) als Grund ihrer Wirklichkeit (actus). Dadurch werden Möglichkeitswissenschaft und Ursachen- oder Prinzipienwissenschaft nahezu unmittelbar identisch. Ph. wird zum absoluten Wissen der letzten Bedingungen der Möglichkeit aller Wirklichkeit, der «ratio possibilium». Daher kann Wolff auch ohne Bedenken Gott als «philosophus absolute summus» bezeichnen [11].
5. In der Wolff-Schule im engeren wie im Wolffianismus im weiteren Sinn war Wolffs Definition der Ph. von Anfang an nicht sehr beliebt. Während die Einteilung der Erkenntnisarten weitgehend als unproblematisch galt, lag in der Bestimmung des Objekts der Ph. der Akzent schon früh auf den Ursachen, nicht auf den Möglichkeiten. Zwar wird die Definition der Ph. als Möglichkeitswissenschaft, z.B. bei J. P. Reusch[12], J. N. Frobesius[13] und anderen, wiederholt und sogar verteidigt, aber schon F. Ch. Baumeister vernachlässigt sie, obwohl er sie verteidigt, de facto und bringt sogar wieder das Glück als Zweck in die Ph.-Definition ein [14]. Auch P. Ahlwardt definiert die Ph. ganz im Stile des Thomasianismus [15], während M. Knutzen sich noch streng an Wolffs Definition hält [16]. – Mit der Entwicklung eines freieren Wolffianismus und dessen Übergang in die Popular-Ph. verschwindet Wolffs Ph.-Definition immer mehr. Während J. G. Darjes noch an der Definition der Ph. als Möglichkeitswissenschaft festzuhalten versucht [17], wird sie von seinem Schüler J. Ch. Eschenbach bereits ausdrücklich kritisiert [18]. Auch A. G. Baumgarten läßt sie bewußt fallen und zieht sich ähnlich wie Rüdiger auf eine gegen die Mathematisierung gerichtete Definition zurück. «Philosophia est scientia qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum» («Die Ph. ist die Wissenschaft von den ohne Glauben erkennbaren Qualitäten der Dinge») [19]. Sein Schüler G. F. Meier macht daraus eine «Wissenschaft der allgemeinern Beschaffenheiten der Dinge, in so ferne dieselben ohne Glauben können erkant werden», und verlangt nun wieder ausdrücklich eine allgemein verständliche Ph., die das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet [20].
6. Seit der Jahrhundertmitte machen sich im Wolffianismus verstärkt Auflösungserscheinungen bemerkbar, vor allem durch die Hinwendung zu einer neuen Popular-Ph.[s.d.], die nicht zuletzt eine Rückwendung zu wesentlichen Intentionen von Thomasius ist. Dabei wird Wolffs Ph.-Begriff oft als besonders hinderlich empfunden, zumindest muß die streng wissenschaftliche Ph. (Ph. der Schule) durch eine verständlichere und lebensnähere (Ph. für die Welt, Ph. der Welt) ergänzt werden. Schon J. Ch. Gottsched hatte die Ph. wieder auf eine menschliche Weisheit mit menschlichen Zwecken reduziert: «Die Weltweisheit nenne ich die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maße unserer Unvollkommenheit, erlangen und ausüben können» [21]. Ähnlich nimmt dann H. S. Reimarus den praktischen Zweck der Ph. wieder in deren Definition auf, obwohl er Wolffs Ph.-Definition gelten läßt und dessen Stufung der Erkenntnis (allerdings um die Stufe einer sogenannten «natürlichen Ph.» oder «philosophie du bon sens» erweitert) voraussetzt. Seine Konzeption der Ph. als «einer Wissenschaft aller beträchtlichen [d.h. theoretischen] und sittlichen Hauptwahrheiten, die in der Menschen Glückseligkeit einschlagen», begrenzt die Ph. wieder auf das menschliche Maß des Notwendigen und Nützlichen [22]. Demgegenüber fragt M. Mendelssohn schon nach dem Wissenschaftscharakter der Ph. «Die Mathematik ist eine Wissenschaft der Grössen (Quantitatum), und die Weltweisheit überhaupt eine Wissenschaft der Beschaffenheit (Qualitatum) der Dinge. Will man nicht eingestehen, daß die Weltweisheit das leiste, was von einer Wissenschaft gefordert wird; so setze man, die Weltweisheit ist eine auf Vernunft gegründete Erkenntnis der Beschaffenheiten» [23].
7. Die sich seit Mitte des Jahrhunderts entwickelnde Popular-Ph. setzt sich nahezu bruchlos bis in das letzte Viertel des Jahrhunderts, also in die Blütezeit Kants, fort. Allerdings scheint sich nun eine gewisse Unsicherheit über die Rolle der Ph. auszubreiten, die zweifellos auch mit der wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften zusammenhängt. So nennt J. G. H. Feder die Ph. zwar einerseits noch eine «Wissenschaft von allgemeinen und nützlichen Vernunftwahrheiten» [24], dann aber unterscheidet er eine Ph. im engeren und im weiteren Sinn. Einerseits kann jedes gründliche, klare und konsequente Denken ‹Ph.› heißen, andererseits geht es in der Ph. jedoch nur um die wichtigsten Erkenntnisse, vor allem solche der Natur und ihrer Gesetze. Die Ph. soll versuchen, «aus dem allgemeinen Stoffe der menschlichen Kenntnisse ein Ganzes zu machen, in welchem Licht und Ordnung herrschet» [25].
Werner Schneiders
[1]
Ch. Thomasius: Introd. ad ph.am aulicam (1688, 21702) 58.
[2]
Einl. zur Vernunftlehre (1691, ND 1968) 75f.
[3]
Vgl. Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit (1713) 1; Entwurf der Grundlehren (1699, ND 1979) 46.
[4]
J. F. Budde: Elementa ph.ae instrumentalis (1703, 31709) 4.
[5]
J. G. Walch: Philos. Lex. 2 (1726, 41775, ND 1968) 395.
[6]
A. Rüdiger: Philos. synthetica (1707) 3.
[7]
Philos. pragmatica (1729) 3.
[8]
A. F. Hoffmann: Vernunftlehre (1737) 13.
[9]
Ch. A. Crusius: Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschl. Erkenntnis (1747, ND 1965) 10f.
[10]
Ch. Wolff: Philos. rationalis sive logica I: Discursus praelim. de ph.a in genere (1728, 1740, ND 1983) 13.
[11]
Theol. naturalis I (1736, 21739, ND 1978) 244.
[12]
J. P. Reusch: Systema logicum (1734, 21741) 30, vgl. 23ff.
[13]
J. N. Frobesius: Systematis ph.ae Wolffiani delineatio (1734) 8, 14.
[14]
F. Ch. Baumeister: Philos. definitiva (1735, 1775); vgl. Institutiones ph.ae rationalis (1735, 51741) 12.
[15]
P. Ahlwardt: Gedanken von den Kräften des menschl. Verstandes (1741) 14.
[16]
M. Knutzen: Elementa ph.ae rationalis (1747) 4ff.
[17]
J. G. Darjes: Die lehrende Vernunftkunst (1737) §§ 1ff. 20; Via ad veritatem (1755) § IV; Weg zur Wahrheit (1776) 4ff.
[18]
J. Ch. Eschenbach: Logik oder Denkungswiss. (1756) 5ff.
[19]
A. G. Baumgarten: Acroasis logica (1761, ND 1973) 1; vgl. Philos. generalis (1770) 11.
[20]
G. F. Meier: Vernunftlehre (1752, 21762) 10.
[21]
J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit 1 (1733, 41743) 4.
[22]
H. S. Reimarus: Vernunftlehre (1756, ND 1979) 13, vgl. 10ff.
[23]
M. Mendelssohn: Abh. über die Evidenz in metaphys. Wiss.en (1764). Ges. Schr. 2 (1931, ND 1972) 286.
[24]
J. G. H. Feder: Grundriß der philos. Wiss.en (1767, 21769) 48.
[25]
Logik und Metaphysik (1769, 41774) 14.
H. Lüthje: Ch. Wolffs Ph.-Begriff. Kantstudien 30 (1925). – J. Ecole: La conception wolffienne de la philos. d'après le ‹Discursus praelim. de ph.a in genere›. Filosofia oggi 4 (1978). – W. Schneiders: Deus est philosophus absolute summus, in: W. Schneiders (Hg.): Stud. zum 18. Jh. 4: Ch. Wolff 1679–1754 (1983, 21986); Zwischen Welt und Weisheit. Studia leibn. 15 (1983); Der Ph.-Begriff des philos. Zeitalters, in: R. Vierhaus (Hg.): Wiss.en im Zeitalter der Aufkl. (1985); Akad. Weltweisheit, in: G. Sauder/J. Schlobach (Hg.): Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jh. 1 (1986).
E. Von Kant bis zum Beginn des 20. Jh. – 1. Mitte des 18. Jh. kann alles mögliche ‹Ph.› heißen: von der Ph. der Landwirtschaft über die Ph. der Geschichte bis zur Ph. des Spinnrockens [1]. Das legt den Umkehrschluß nahe: Ph. ist die Wissenschaft alles Möglichen. Das meinen Ch. Wolff – «philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt» [2] – und die Enzyklopädisten: Ph. ist «la science des possibles en tant que possibles» [3]. Die weitere Entwicklung steht im Zeichen der Erfahrung: daß Ph. als Wissenschaft nur des Möglichen – sobald es begriffsmetaphysisch nur mehr als Denkmögliches (Nichtwidersprüchliches) interpretiert ist – zu unwirklich (weltfremd) wird; und: daß darum nicht mehr die Ph. die Wissenschaft des Wirklichen sein zu können scheint, sondern daß dies immer ausschließlicher die sich aus der Ph. ausgliedernden und sich von der Ph. absetzenden modernen Wirklichkeitswissenschaften werden: die exakten Naturwissenschaften, die als Replik auf diese entstehenden Geisteswissenschaften und die Sozialwissenschaften, so daß durch diese ‘positivenʼ Wissenschaften die Ph. überflüssig zu werden droht. Durch den derart der Ph. «aufgezwungenen Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit» [4] entdeckt nun aber die Ph. seit 1781 zugleich – diesseits von Formalismus und Schwärmerei – neue Zentralaufgaben der Ph.: bei Kant die «Kritik» der Vernunft (vgl. E. 2.); im weiteren deutschen Idealismus das Pensum der Kompensation des Geltungsverlusts der Theologie durch Ph. als absolute Wissenschaft (E. 3); in der Ideologiekritik die zur Ph. gemachte Enttäuschung durch die Ph. (E. 4.); in Positivismus, Neukantianismus und verwandten Entwicklungen die Ernüchterung der Ph. zur Wissenschaftswissenschaft (E. 5.); schließlich die Pflicht der Ph. zur Rettung der philosophischen Diskussion der dabei verdrängten Probleme und ‘Lebensrätselʼ durch die Lebens-Ph. und Hermeneutik, die beginnende Phänomenologie und die beginnende Psychoanalyse (E. 6.).
[1]
Vgl. U. Dierse: Die nützliche Wahrheit. Begriffe und Motive der «philosophes». Arch. Begriffsgesch. 26 (1982) 193–210, bes. 204.
[2]
Ch. Wolff: Philosophia sive Logica, praemittitur discursus praelim. de ph.a in genere (1728) § 29. Ges. Werke, hg. J. Ecole u.a. II/1 (1983) 13.
[3]
Art. ‹Philosophie›, in: Encyclopédie ... (Neufchastel 1765) 12, 512.
[4]
H. Plessner: Die verspätete Nation (1935, 1959). Ges. Schr. 6 (1982) 169.
2. Beschränkung: Philosophie als Kritik.I. Kant kritisiert den Wirklichkeitsverlust der schulmäßigen Begriffsmetaphysik zunächst durch Ablehnung ihrer mathematischen Methode für die Ph.: Die Mathematik erzeugt – anders als die Ph. – ihre Gegenstände durch «Construction» ihrer Begriffe [1], während man in der Ph. «die Sache selbst vor Augen haben muß» [2]. Die Ph. braucht – um nicht weltfremd zu werden – Wirklichkeitsbezug ihrer apriorischen Begriffe: der Kategorien und Ideen bzw. Prinzipien. So bleibt zwar die zentrale und durchgängige Ph.-Definition Kants bemerkenswert konventionell: «Ph. ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft» [3]. Dennoch geht es Kant um eine «Revolution ihrer Denkart» [4]; denn er möchte «der Ph. ... auf eine dauerhafte Art eine ... vortheilhaftere Wendung geben» durch «Transcendental-Ph. ... welche eigentlich eine Critik der reinen Vernunft ist» [5]. Ph. wird Kritik als Prüfung der Wirklichkeitsbedeutung apriorischer, d.h. erfahrungsunabhängiger Begriffe: Legitim sind sie als «Bedingungen der Möglichkeit» wissenschaftlicher Erfahrung – «Ph. ... also für nicht aus Erfahrung» [6] – oder sittlicher Handlung – «Ph. ist die Gesetzgebung der Vernunft» [7] – oder notwendiger Beurteilung des Zweckmäßigen: des Schönen und Lebendigen [8] oder Religiösen [9]; denn: nur «so weit Begriffe a priori ihre Anwendung haben, so weit reicht ... die Ph.» [10], nur als für menschliche Verwirklichungen nötige Begriffe sind sie gerechtfertigt: Ph. als transzendentalphilosophische Kritik ist «Pragmatismus ohne pragmatistisches Pragma – ein Pragmatismus der Freiheit» [11]. In diesem Sinne antwortet die Ph. auf die Fragen: «1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen?» [12], d.h. zusammen: «Was ist der Mensch?» [13], dies zwecks menschlicher Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung; denn: «Alle Ph. ist 1. Autognosie 2. Autonomie. Wissenschaft und Weisheit» [14], oder genauer: «die formale Ph. heißt Logik, die materiale aber ... Physik» oder «Ethik» bzw. – als «reine Ph.» – «Metaphysik der Natur» oder «Metaphysik der Sitten» [15]. So ist «Ph. ... ein Erkenntnisakt, dessen Produkt ... nicht bloß auf Wissenschaft ..., sondern auch ... auf Weisheit abzielt» [16]: als «Weg zur Weisheit» [17]. Der späte Kant bestimmt die Ph. zunehmend von der Weisheit her: «Statt Sophus Weiser die Wissenschaft Ph.» [18]. «Ph. [ist] nach dem Buchstaben Liebe zur Weisheit» [19], mithin «Liebe des vernünftigen Wesens zu den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft» [20]. «Ph. (doctrina sapientiae) ist nicht eine Kunst von dem, was aus dem Menschen zu machen ist, sondern was er aus sich selbst machen soll (sapere aude)» [21]. Dabei ist Ph. «entweder als ein habitus zu philosophieren oder als ein Werk zu betrachten» [22] bzw. «als Lehrsystem» [23]; aber: Man kann «niemals ... Ph. ..., sondern ... nur philosophiren lernen» [24]; denn «eine Ph. ist ein Genieprodukt» [25]. Kant limitiert die Ph.: aus Begriffsmetaphysik – die zeitgenössisch die alte Ph. der «wissenschaftlichen Lebensweisheit» [26] verdrängt hat – wird bei Kant Kritik der Vernunft, die die reine Vernunft nur mehr als wissenschaftsermöglichend und weisheits-ermöglichend gelten läßt. Als Kritik ist Ph. «Wissenslehre» [27] plus «Weisheitsforschung» [28].
In der Folge wird die Ph. – im Anschluß an Kant oder ähnlich wie bei Kant – als reine Vernunftwissenschaft verstanden, die Kritik ist, oder als Kritik, die reine Vernunftwissenschaft ist. Als reine Vernunftwissenschaft bestimmen die Ph. beispielsweise K. L. Jakob – Ph. ist «Vernunftwissenschaft aus Begriffen» [29] – und J. F. Fries – Ph. ist die «Wissenschaft aus bloßen Begriffen» [30] – und C. G. Bardili – Ph. ist «erste Logik» [31] – und F. Bouterwek – Ph. ist «Apodiktik» [32]. Als Kritik radikalisieren die Ph. nachkantisch vor allem K. L. Reinhold – Ph. ist als «Elementar-Ph. ... Wissenschaft der gemeinschaftlichen Prinzipien aller besonderen philosophischen Wissenschaften» [33] – und S. Maimon – «ohne Ph. ist keine Wissenschaft überhaupt möglich, weil sie die Form einer Wissenschaft überhaupt a priori bestimmt» [34] – und S. Beck – Ph. ist als «Transzendental-Ph. ... eine Kunst, sich selbst zu verstehen» [35] – und W. T. Krug – «Ph. ist ... die Wissenschaft von der ursprünglichen Gesetzmäßigkeit der gesamten Tätigkeit unseres Geistes oder von der Urform des Ich» [36] – und auch noch J. F. Herbart: Aufgabe der Ph. ist es, «auf die Fundamente zu achten, dieselben der schärfsten Kritik zu unterwerfen, ob sie auch wirklich tauglich sind, ein Gebäude des Wissens zu tragen» [37]. Das bedeutet im großen und ganzen: Obwohl S. Maimon es noch 1798 «merkwürdig» findet, «daß nach der von dem Königsberger Philosophen bewirkten Revolution in der Ph.» seine philosophischen Nachfolger «bis jetzt nicht einmal in dem Begriffe von Ph. untereinander einig geworden sind» [38], sind dennoch Kants Definitionen der Ph. – als reine Vernunftwissenschaft, vor allem aber als Kritik – quasi irreversibel erfolgreich geworden.
[1]
I. Kant: Unters. über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürl. Theologie und der Moral (1764). Akad.-A. 2, 276ff.; KrV B 741, vgl. 740ff.; Op. post. (1796ff.). Akad.-A. 21, 136 u.ö.
[2]
Unters. ..., a.O. 279.
[3]
Logik (1800). Akad.-A. 9, 23; vgl. KrV B 865ff.
[4]
KrV B XIII.
[5]
Br. an M. Herz (undat. 1773). Akad.-A. 10, 144f.
[6]
Op. post., a.O. 21, 8.
[7]
Nachlaß, a.O. 16, 69; vgl. KrV B 868.
[8]
KU (1790). Akad.-A. 5, 165ff.
[9]
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793).
[10]
KU (1790). Akad.-A. 5, 174.
[11]
O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, romant. Natur-Ph., Psychoanalyse (1987) 86.
[12]
Kant: KrV B 833; vgl. Logik. Akad.-A. 25.
[13]
Logik, a.O.
[14]
Op. post., a.O. 21, 106.
[15]
Grundleg. zur Metaph. der Sitten (1785), a.O. 4, 387f.
[16]
Op. post., a.O. 21, 7.
[17]
Nachlaß, a.O. 16, 70.
[18]
Op. post., a.O. 21, 130.
[19]
a.O. 119.
[20]
120.
[21]
117.
[22]
80.
[23]
141.
[24]
KrV B 865.
[25]
Op. post. Akad.-A. 21, 140; vgl. dagegen: KU § 47, a.O. 5, 308ff.
[26]
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Ph. (1796), a.O. 8, 389.
[27]
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Ph. (1796), a.O. 8, 420.
[28]
a.O. 417.
[29]
K. L. Jakob: Grundriß der allg. Logik (1788) 6.
[30]
J. F. Fries: System der Logik (1811) 326.
[31]
C. G. Bardili: Grundriß der ersten Logik (1800) I.
[32]
F. Bouterwek: Idee einer Apodiktik, ein Beitrag zur menschl. Selbstverständigung (1799).
[33]
K. L. Reinhold: Über das Fundament des philos. Wissens (1791) XIV.
[34]
S. Maimon: Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens (1794). Ges. Werke, hg. V. Verra 5 (1970) 19.
[35]
S. Beck: Einzig mögl. Standpunkt, aus welchem die krit. Ph. beurteilt werden muß (1796) 137ff.
[36]
W. T. Krug: Fundamental-Ph. oder urwissenschaftl. Grundlehre (1803) 295.
[37]
J. F. Herbart: Einl. in die Ph. (1813) I. 2.
[38]
Maimon: Pragmat. Gesch. des Begriffs von Ph., und Beurteilung der neuern Methode zu philosophieren (1797), a.O. [34] 7, 374.
3. Überforderung: Philosophie als absolute Wissenschaft. – Gleichzeitig mit dem Fortschritt der positiven Wissenschaften wird die Schlüsselrolle der Theologie problematisch. Darum wird es – in dem der Ph. «aufgezwungenen Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit» [1] – gerade innerhalb der «verspäteten Nation» Deutsch land, die die politisch noch unentwickelte Freiheit kompensatorisch in der Kultur sucht [2], unwiderstehlich für die Ph., in die von der Theologie teilweise geräumte kulturelle Fundamentalstelle dem Anspruch nach einzutreten: Dabei wird im nachkantischen deutschen Idealismus die Ph. schließlich – sich überfordernd – zur absoluten Wissenschaft.
Das beginnt bei J. G. Fichte mit einer Absage an den Ausdruck Ph.: «so haben wir an unserm Theile diesen Namen [sc. Ph.] schon längst Preiß gegeben, und die Wissenschaft, welche ganz eigentlich die angezeigte Aufgabe» – als «Ph. ... den Grund aller Erfahrung anzugeben» [3] – «zu lösen hat, Wissenschaftslehre genannt» [4]. Die Ph. als Wissenschaftslehre ist «die Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt» [5]. Sie nimmt Ich und Welt nicht, wie sie «gegeben» sind, sondern wie sie – in einer notwendigen Tathandlungsfolge – entstehen: «Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Acts, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung» [6]. Wer Ph. als intellektuelle Anschauung – «träge» – verweigert, bleibt Dogmatist; wer sie – weltverbesserungswillig – als Aufgabe übernimmt, ist Idealist: «Was für eine Ph. man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist» [7]. Die Wissenschaftslehre erfaßt durch «intellectuelle Anschauung» als theoretische Ph. das, was die «Tathandlung» Ich «unbewußt» schon zustande gebracht hat, als praktische Ph. das, was sie bewußt noch zustande bringen muß, um das «Zeitalter» des «Stand[es] der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung» [8] zu erreichen. Darum ist «Ph. ... Erkenntniss, die sich selbst werden sieht, genetische Erkenntniss» [9], so daß gilt: «die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes» [10]. Der späte Fichte, der die Ph. als Ich-Geschichte mit der Gotteslehre verbindet und für den die Ph. die Welt so erfaßt, «wie Gott sie denken müsste» [11], charakterisiert schließlich als «das innigste Wesen des Organs zur Ph. ..., Sinn zu haben für den Sinn» [12]. Damit zielt die Ph. auf die intellektuelle Anschauung der vom «gemeinen Bewußtsein» vergessenen transzendentalen Geschichte des Ich und tut so esoterisch das, was die «schöne Kunst» exoterisch tut: «sie macht den transcendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen» [13]. Darum kann diese Art der Ph. ästhetisch gewendet werden; und es kann dann – angeregt durch philosophiebezügliche Ideen von J. W. Goethe und F. Schiller – der Fichteaner Novalis sagen: «Die Poesie ist der Held der Ph. Die Ph. erhebt die Poesie zum Grundsatz», denn «die Ph. ist eigentlich Heimweh – Trieb, überall zu Haus zu sein» [14].
Diese ästhetische Wende des Ph.-Begriffs kulminiert bei F. W. J. Schelling: «Der eigentliche Sinn, mit dem diese Art der Ph. aufgefaßt werden muß, ist also der ästhetische, und eben darum die Ph. der Kunst das wahre Organon der Ph.» [15] und «die Kunst das einzige wahre und ewige ... Document der Ph.» [16]. Dabei wird Fichtes Ansatz festgehalten und weitergeführt: «Die höchste Würde der Ph. besteht gerade darinn, daß sie alles von der menschlichen Freiheit erwartet» [17]. «Die Ph. wird genetisch» [18], sie hat «die Tendenz zum Geschichtlichen» [19]; denn die Ph. «konstruiert» – «depotenziert» zur Naturphilosophie – die «Entwicklung» [20], «Evolution» [21], «Geschichte der Natur» [22] und – «potenziert» zur Transzendental-Ph. – «die Geschichte unseres Geistes» [23]. «Die Ph. ist also eine Geschichte des Selbstbewußtseyns» [24], die Erinnerung an seine «transzendentale Vergangenheit» [25]: «Die Ph. ist ... für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Seyn gethan und gelitten hat» [26]. «Was wir Wissenschaft nennen, ist nur erst Streben nach dem Wiederbewußtwerden ...; aus welchem Grund ihr ... der Name Ph. beigelegt worden ist» [27]. Das ist historisierter Platonismus: «Die Ph. öffnet ... das Reich der Ideen» [28] und wird «System», indem sie die «Asystasie» so besiegt [29] wie Gott den «dunkle[n] Grund», d.h. das Chaos in sich selber [30]. «Es gibt keine Ph., als vom Standpunkt des Absoluten» [31]; aber «die wahre Objektivität der Ph. in ihrer Totalität ist nur die Kunst» [32], «denn die ästhetische Anschauung ... ist die objektiv gewordene intellektuelle» [33], die nicht gelehrt und gelernt werden kann [34]: Sie ist Sache des Genies. «Hier fängt die Ph. an, und wer nicht schon da ist ..., der bleibe auch entfernt» [35]: «die Ph. ist nothwendig ihrer Natur nach esoterisch, und braucht nicht geheim gehalten zu werden, sondern ist es vielmehr durch sich selbst» [36].
G. W. F. Hegel hat gegen dieses esoterische «Philosophiren» protestiert, «das sich zu gut für den Begriff und durch dessen Mangel für ein anschauendes und poetisches Denken hält» [37]: «Die Ph. ... muß sich hüten, erbaulich seyn zu wollen» [38] und – bereit zur «Anstrengung des Begriffs» [39] – «für alle» lernbar «Wissenschaft» werden mit «dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn» [40], wobei «das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist» [41] bzw. als «Enzyklopädie» [42]. Dabei ist die Ph. – als «denkende Betrachtung» [43] – «dem gesunden Menschenverstände» eine «verkehrte Welt» [44], denn sie zielt auf «die Idee oder das Absolute»: die Ph. ist «Wissenschaft desselben» [45], «Wissenschaft des absoluten Grundes aller Dinge» [46]; sie hat also «mit Kunst und Religion denselben Inhalt» in der Weise «de[s] Begriff[s]» [47] und zum «Endzweck ... Gott zu erkennen» [48]. So ist die Ph. «im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottesdienst» [49], «der Sonntag des Lebens» [50]. Dabei hat sie – im System, wo nicht der Anfang, sondern das Ganze das Wahre ist [51] – durch die die Negationen negierende «Dialektik» [52] den «Begriff des Geistes in seiner immanenten, notwendigen Entwicklung ... zu betrachten» [53], d.h. das Absolute geschichtlich zu begreifen: In «Logik», «Naturphilosophie» und «Ph. des Geistes» [54] muß sie zugleich «die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte» [55] akzeptieren, weil das Ziel der Ph. nicht ohne die Mittel zu haben ist [56]; darum gehört bei Hegel zur absoluten Wissenschaft des Absoluten, die die Ph. als Systemgeschichte «spekulativ» entwickelt, auch Ph. der Geschichte [57] und Geschichte der Ph. [58] und der philosophische Blick auf die historische Gegenwart, so «daß die Ph., weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen» [59] wird: «die Ph. [ist] ihre Zeit in Gedanken erfaßt» [60]. «Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Ph.» [61]. Sie «geht ... aus ihrem Zeitalter ... hervor;... um ... die Totalität, welche die Zeit zerrissen hat, zu erhalten» [62]; insofern ist «die Aufgabe der Ph. die Gegensätze aufzuheben» [63] und – als «die wahrhafte Theodicee» [64] – «Friede» zu schließen mit der Wirklichkeit durch «Erkenntniß» [65]. «Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Ph., denn das was ist, ist die Vernunft» [66]. Zum «Belehren, wie die Welt seyn soll ..., ... kommt ... ohnehin die Ph. immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsproceß vollendet und sich fertig gemacht hat. ...; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug» [67].
Daß so die Ph. nur «post festum» komme, haben der spätere Schelling[68] und K. Marx[69] kritisiert. Doch ehe die Konsequenz aus dieser Kritik gezogen wird, kommt es zunächst zu Versuchen, Hegels «Dialektik» durch Interpretationen der «Dialektik» als somatischer Gesprächskunst moderat aufzunehmen: beim späteren Schelling[70] und bei F. D. E. Schleiermacher[71]. Anders als Hegel hat vorher K. Ch. F. Krause Fichtes und Schellings Ansatz verbinden und überwinden wollen durch Ph. als «Wesenlehre» [72] und «Vereinwissenschaft» [73]. Schellings Ansatz wird im spekulativen Theismus I. H. Fichtes – Ph. soll «ein möglichst treues ... Nachbild des Weltzusammenhanges und der Stufenfolge der Dinge bieten, durch ‘Nachdenkenʼ sich annähernd dem Vorbilde, wie es im Denken des Schöpfergeistes entworfen ist» [74] – und Ch. H. Weisses – «Ph. ist ... die Kunst, Probleme zu stellen, die ... nicht in das außerphilosophische Bewußtseyn fallen, wie ... die Wissenschaft ..., die Probleme dieses Bewußtseyns zu lösen» [75] – ebenso fortgesetzt und modifiziert wie Hegels Ansatz bei den Rechtshegelianern K. Rosenkranz – Ph. hat «als allgemeine Wissenschaft ... alle übrigen Wissenschaften unter sich zur Einheit zu verbinden und als höchste Wissenschaft alle übrigen Wissenschaften zu leiten und ihrer Vollendung zuzuführen» [76] – und K. Fischer: Ph. ist «Selbsterkenntniß des menschlichen Geistes» [77]. Ähnlich definiert die Hegelrezeption in Frankreich, England, Italien: V. Cousin versteht «la philosophie» als «la reflexion en grand» [78], J. E. McTaggart bestimmt, in den Spuren von J. H. Stirling[79] gehend, Ph. als «the systematic study of the ultimate nature of reality» [80], und B. Croce charakterisiert gegen Hegels «Panlogismus» opponierend [81] – im Sinne eines späten Alt- und frühen Neuhegelianismus die Ph. essentiell als «filosofia dello spirito» [82]. Aber diese behutsamen Mäßigungen des Anspruchs der Ph., absolute Wissenschaft zu sein, bewahren diese nicht vor «dem revolutionären Bruch im Denken des 19. Jh.» [83], sondern verzögern allenfalls, was angesichts der absoluten Überforderung der Ph. nun fällig wird: die Enttäuschung.
[1]
Plessner, a.O. [4 zu 1.].
[2]
a.O. 82ff.
[3]
J. G. Fichte: Erste Einl. in die Wiss.lehre (1797). Akad.-A. I/4, 186.
[4]
a.O. 187.
[5]
Über den Begriff der Wiss.lehre oder der sog. Ph. (1794), a.O. I/2, 118.
[6]
Zweite Einl. in die Wiss.lehre (1797), a.O. I/4, 216.
[7]
a.O. [3] 195; vgl. F. W. J. Schelling: Philos. Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795). Sämmtl. Werke, hg. K. F. A. Schelling (1859–61) [SW] I/1, 308.
[8]
Grundzüge des gegenwärt. Zeitalters (1806). Sämmtl. Werke, hg. I. H. Fichte (1845/46) 7, 12.
[9]
Die Staatslehre (1813), a.O. 4, 379.
[10]
Grundlage der ges. Wiss.lehre (1794). Akad.-A. I/2 365.
[11]
Über das Wesen des Gelehrten (1805), a.O. [8] 6, 392.
[12]
Über das Verhältniß der Logik zur Ph. oder transc. Logik (1812). Nachgel. Werke, hg. I. H. Fichte (1834/35) 1, 137.
[13]
System der Sittenlehre (1798). Akad.-A. I/5, 307.
[14]
Novalis: Vorarbeiten zu verschied. Frg.sammlungen (1798). Schr., hg. P. Kluckhohn/R. Samuel (31977ff.) 2, 590; Das allg. Brouillon (1798/99), a.O. 3, 434.
[15]
Schelling: System des transz. Idealismus (1800). SW, a.O. [7] I/3, 351.
[16]
a.O. 627.
[17]
Philos. Br. ... SW I/1, 306.
[18]
Ideen zu einer Ph. der Natur (1797). SW I/2, 39.
[19]
Zur Gesch. der neueren Ph. (1827). SW I/10, 94.
[20]
Erster Entwurf eines Systems der Natur-Ph. (1799). SW I/3, 13.
[21]
Einl. zu dem Entwurf eines Systems der Natur-Ph. (1799). SW I/3, 287.
[22]
a.O. [20] 68.
[23]
Abh. zur Erläuterung des Idealismus der Wiss.lehre (1796/97). SW I/1, 383; vgl. 382.
[24]
a.O. [15] 399; vgl. 331. 398.
[25]
a.O. [19] 93.
[26]
a.O. 95.
[27]
Die Weltalter (1813). SW I/8, 201.
[28]
Vorles. über die Methode des akad. Studiums (1803). SW I/5, 275.
[29]
Erlanger Vorträge (1821–25). SW I/9, 209ff.
[30]
Philos. Unters. über das Wesen der menschl. Freiheit (1809). SW I/7, 357ff.
[31]
Darst. meines Systems der Ph. (1801). SW I/4, 115.
[32]
a.O. [28] 284.
[33]
a.O. [15] 625; vgl. 627.
[34]
Vgl. Fernere Darst. aus dem System der Ph. (1802). SW I/4, 351ff.
[35]
a.O. 361.
[36]
Bruno (1802). SW I/4, 232.
[37]
G. W. F. Hegel: Phänomenol. des Geistes. Akad.-A. 9 (1980) 47; vgl. W. Schneiders: Vom Welt weisen zum Gottverdammten. Über Hegel und sein Ph.-Verständnis, in: Ch. Jamme/G. Kurz (Hg.): Idealismus und Aufkl. (1988) 201–216.
[38]
a.O. 14.
[39]
41.
[40]
11.
[41]
21.
[42]
Encyclopädie der philos. Wiss.en (1817, 21828). Jub.ausg., hg. H. Glockner (1927–40) 8–10 (System der Ph. 1–3).
[43]
a.O. 8, 42.
[44]
Über das Wesen der philos. Kritik (1802). Akad.-A. 4, 125.
[45]
a.O. [42] 8, 60.
[46]
Texte zur philos. Propädeutik (1808ff.). Logik für die Unterklasse (1809/10). Fünf Manuskript-Frg., in: Nürnberger Schr., hg. J. Hoffmeister (1938); vgl. auch: F. Nicolin: Hegels Propädeut. Logik für die Unterklasse des Gymnasiums. Hegel-Stud. 3 (1965) 9–38, zit. 10.
[47]
Wiss. der Logik (1812/16). Akad.-A. 12, 236.
[48]
Solgers nachgel. Schr. und Br.wechsel (1828). Jub.ausg. 20, 169.
[49]
Vorles. über die Ästhetik (1818ff.). Jub.ausg. 12, 148.
[50]
Rede zum Antritt des philos. Lehramtes an der Univ. Berlin (Einl. der Vorles. über die Enzyklopädie der philos. Wiss.en), 22. Okt. 1818, in: Berliner Schr. 1818–1831, hg. J. Hoffmeister (1956) 3–21, zit. 16.
[51]
a.O. [37] 19.
[52]
a.O. 60; vgl. a.O. [42] 8, 189ff.
[53]
Frg. zur Ph. des Geistes, in: F. Nicolin: Ein Hegelsches Frg. zur Ph. des Geistes. Hegel-Stud. 1 (1961) 9–48, zit. 25.
[54]
a.O. [42] 8, 64ff.
[55]
a.O. [37] 25.
[56]
a.O.
[57]
Vorles. über die Ph. der Geschichte (1822ff). Jub.ausg. 11.
[58]
Vorles. über die Gesch. der Ph. (1805ff.). Jub.ausg. 17–19.
[59]
Grundlinien der Ph. des Rechts (1821). Jub.ausg. 7, 32.
[60]
a.O. 35.
[61]
Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Ph. (1801). Akad.-A. 4, 12.
[62]
a.O. 80f.
[63]
a.O. [49] 88.
[64]
a.O. [58] 19, 684.
[65]
a.O. [59] 36.
[66]
a.O. 35.
[67]
36f.
[68]
Schelling: Ph. der Offenbarung (1841ff). SW II/3, 91.
[69]
K. Marx: Die heilige Familie 6 (1845). MEW 2, 90f.
[70]
Schelling, a.O. [27] 201f.
[71]
Vgl. F. D. E. Schleiermacher: Dialektik (181 1ff), hg. R. Odebrecht (1942) 5.
[72]
K. Ch. F. Krause: Vorles. über das System der Ph. (1828) 27.
[73]
a.O. 467.
[74]
I. H. Fichte: Psychologie 1 (1864) XXIX.
[75]
Ch. H. Weisse: Grundzüge der Metaph. (1835) 20.
[76]
K. Rosenkranz: Wiss. der log. Idee 1 (1858) 29.
[77]
K. Fischer: Gesch. der neuern Ph. 1 (1852, 21865) 10.
[78]
V. Cousin: Cours de l'hist. de la philos. 1 (1841) 20.
[79]
J. H. Stirling: The Secret of Hegel (Edinburgh 1865, 21898).
[80]
J. E. McTaggart: An ontological Idealism, in: J. H. Muirhead (Hg.): Contemp. Brit. Philos. 1 (London/New York 1924) 251; vgl. Studies in the Hegelian dialectic (Cambridge 1896, 21922, ND New York 1964).
[81]
B. Croce: Lebendiges und Totes in Hegels Ph. [1906] (1909) 164.
[82]
Ästhetik als Wiss. vom Ausdruck und allg. Sprachwiss. (1902). Ges. Philos. Schr. I/1 (1920) LV.
[83]
K. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jh. (1939).
4. Enttäuschung: Philosophie als Ideologiekritik. – Die Ph. als absolute Wissenschaft wird alsbald ersetzt durch Ph. als absolute Enttäuschung durch die Ph., und dies gerade in Deutschland: Weil die «verspätete Nation» ihren Mangel an realer politischer Freiheit durch Erwartung an die Kultur [1] und – wegen der Schwierigkeiten der Theologie – durch absolute Erwartung an die absolute Kultur, die Ph., kompensiert, wird folgender Fortgang plausibel: Diese absolute Erwartung an die Ph. – die im deutschen Idealismus nicht nur zur Blüte, sondern auch zur Überforderung der Ph. führt – kann, weil nun alles von der Ph. erwartet wird, die Ph. nur enttäuschen. So bleibt der Ph. – bei ihrem «Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit» [2] – zunächst vor allem übrig, diese Enttäuschung durch die Ph. selber zur Ph. zu machen: als Ideologiekritik.
Das gelingt, indem entweder der insuffizienten absoluten Ph. eine suffiziente ganz andere Ph. oder indem der absoluten Ph. die – die Ph. determinierende oder negierende – wirkliche Wirklichkeit durch ideologiekritische Ph. entgegengesetzt wird.
Entweder also wird der insuffizienten absoluten Ph. eine suffiziente ganz andere Ph. entgegengesetzt. Das geschieht beim späten Schelling und bei A. Comte, die der «negativen Ph.» oder der «negativen» (destruktiven) «Metaphysik» eine «positive Ph.» oder «Philosophie positive» gegenüberstellen. Die «negative Ph.» – schreibt der späte Schelling – ist «negativ ..., weil es ihr nur um die Möglichkeit (das Was) zu thun ist, weil sie alles erkennt, wie es unabhängig von aller Existenz in reinen Gedanken ist ... Positiv dagegen ist diese; denn sie geht von der Existenz aus» [3]: die «positive Ph.» will nicht nur – «dialektisch» [4] – den möglichen, sondern – «geschichtlich» [5] – den wirklichen Gott, «der als ein selbst thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der der Herr des Seyns ist» [6]. Und Comte, der die Ph. als «le système général des conceptions humaines» definiert [7], bezeichnet die suffiziente Ph. als «Philosophie positive», weil «le mot positif ... indique l'une des plus éminentes propriétés de la vraie philosophie moderne ..., non à détruire, mais à organiser» [8]: Gegen die «école négative» [9] des «état métaphysique» [10] ermächtigt die «philosophie positive» den «esprit positif»: den «bon sens» und die «positiven» Wissenschaften einschließlich der «sociologie» mit ihren Fähigkeiten zum «voir pour prevoir» [11]. Die Ph. wird positiv als Ph. des positiven Gottes oder der positiven Wissenschaften. In diesen Zusammenhang gehört auch A. Schopenhauer, der als Inszenierer der «Welt als Vorstellung» den «Willen» begreift durch Ph., denn «Ph. [ist] das allgemeinste Wissen», d.h. «muß demnach eine Aussage in abstracto vom Wesen der gesammten Welt seyn» [12]. Er verteidigt diese «Ph. als freie Wahrheitsforschung» [13] gegen eine negative Ph.: «die Universitäts-Ph.» [14], die er auch «Katheder-Ph.» nennt [15]. Demgegenüber ist die «reine Ph. ... die Befriedigung jenes edelen Bedürfnisses, von mir das metaphysische genannt, welches der Menschheit, zu allen Zeiten, sich innig und lebhaft fühlbar macht» [16]. In ihrem Interesse rät er zum Bruch mit jener «seltsamen und unwürdigen Definition der Ph., die aber sogar noch Kant gibt ..., daß sie eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen wäre»; denn es «läßt eine wahre Ph. sich nicht herausspinnen aus bloßen, abstrakten Begriffen, sondern muß gegründet seyn auf Beobachtung und Erfahrung ... Sie muß, so gut wie Kunst und Poesie, ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Welt haben» [17]. Im übrigen: Im Unterschied zur Ph. fehlt der «Geschichte ... die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat» [18]; das hat J. Burckhardt aufgenommen – «Geschichte, d.h. das Koordinieren, ist Nicht.-Ph. und Ph., d.h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte» [19] –, der (sich selber als Nichtphilosoph verstehend, so trotzdem) ganz genau wußte, was Ph. ist: Es gibt eine Geschichte der Ph.-Begriffe jener, die sich selber dezidiert als Nichtphilosophen verstanden haben; sie ist leider noch ungeschrieben.
Darüber hinaus begibt sich die Ph. – enttäuscht von der absoluten Ph. und diese Enttäuschung zur Position der Ph. machend – auf den Weg der Selbstaufhebung im Namen der wirklichen Wirklichkeit und wird so – wie zuerst A. C. A. Eschenmayer das genannt hat – «Ph. in ihrem Übergang zur Nicht-Ph.», bei der «der letzte Schritt der Ph.» dann «der erste zur Nicht-Ph.» ist [20]. Diesem Vorgang präludiert und hilft die antispekulative Wende der Ph. zur Anthropologie, die entweder antitheologisch oder theologisch auftritt. Antitheologisch sucht L. Feuerbach – für den «die Ph. in einem entscheidenden, universalen Selbstenttäuschungsact begriffen ist» [21], durch den sie «die bisherige Mesalliance zwischen der Ph. und Theologie» [22] destruiert – die «neue», die «menschgewordene Ph.» [23]. «Die Ph. ist die Erkenntnis dessen, was ist» [24]. «Die Ph. hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nicht-Ph. zu beginnen» [25]. Darum stützt sich «die neue Ph. ... auf die Wahrheit der Liebe» [26] und «ist die offenherzig sinnliche Ph.» [27]. «Die neue Ph. ist die vollständige, die absolute, die widerspruchslose Auflösung der Theologie in die Anthropologie» [28]. «Die Ph. muß sich» darum «wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Ph. verbinden» [29], so daß gilt: «Die neue Ph. macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Ph. – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft» [30]. Ihr gegenüber war die alte Ph. Flucht des Menschen vor seiner Menschlichkeit. Das kann auch umgekehrt gesehen werden: Die alte – spekulative – Ph. ist Flucht des Menschen vor Gott. Darum tritt die Anthropologie gleichzeitig theologisch als Negation der Ph. auf, so bei J. Ch. A. Heinroth: Weil «die Ph. die Wissenschaft nicht ist, die uns das Höchste» – den wirklichen Gott – «erkennen lehrt» [31], gilt: «eines muß fallen, entweder die Versöhnungslehre oder die Ph.; denn beide begründen einen radikalen Widerspruch»; so droht «der Ph. der Todesstoß», und «der Hebel, welcher hiebei am besten anzuwenden ist ..., [ist] die Anthropologie» [32]. Das hat S. Kierkegaard radikalisiert: «In Griechenland, wie überhaupt in der Jugend der Ph., bestand die Schwierigkeit darin, das Abstrakte zu gewinnen, die Existenz zu verlassen ...; heute ist es umgekehrt schwierig, die Existenz zu erreichen» [33]. Darum vollzieht Kierkegaard «die Bewegung ... fort vom Philosophischen, Systematischen zum Einfältigen, das heißt Existenziellen», die «wesentlich die gleiche [ist] wie die vom Dichter zum religiösen Existieren» [34], also weg von der «Sünde: zu dichten» – bzw. zu spekulieren – «anstatt zu sein» [35], hin zum «vor Gott» existierenden «Einzelnen», den die Ph. durch «System» und als «Spekulation ... immer wieder vergißt» [36]. Diese religiös existentielle Negation der Ph. ist – in der Weise «philosophischer Brocken» und «unwissenschaftlicher Nachschrift» zu ihnen – selber Ph., sofern sie realisiert, «daß Philosophieren nicht heißt phantastisch zu phantastischen Wesen reden, sondern daß zu Existierenden geredet wird» [37]: Sie wird dann «christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung» [38], «psychologische Untersuchung in n-ter Potenz» [39], «Existenzmitteilung» des «religiösen Schriftstellers» [40]. Diese Ph. negiert die Ph. religiös im Namen der eschatologischen Wirklichkeit Gott. Gleichzeitig negiert die Ph., antireligiös, im Namen der eschatologischen Wirklichkeit Revolution, die Ph. bei K. Marx, für den Ph. «Kritik» ist, die auf «Realisierung der Ph.» drängt [41]: Die Welt soll philosophisch werden mit der «Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Ph., daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust» ist [42]. Dabei findet «die Ph. im Proletariat ihre materiellen, ... das Proletariat in der Ph. seine geistigen Waffen» [43]. «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern» [44] zwecks «Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Ph., ihr Herz das Proletariat. Die Ph. kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Ph.» [45] und kann «die Ph. nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen» und «die Ph. [nicht] verwirklichen ..., ohne sie aufzuheben» [46].
All diese ideologiekritisch zur Ph. gemachte Enttäuschung durch die absolute Ph. – einerseits (eschatologisch) im Namen des erlösenden Gottes, andererseits (eschatologisch) im Namen des revolutionären Menschen – wird schließlich ergänzt durch die zur Ph. gemachte Enttäuschung durch die absolute Ph. im Namen einer anti-eschatologischen Größe: der Natur des Willens zur Macht. Das geschieht durch F. Nietzsche: Für ihn ist Ph. «die wahrhaftigste aller Wissenschaften» [47], die «Kunst des Mißtrauens» [48]: «so viel Misstrauen, so viel Ph.» [49], aber nur dann, wenn Ph. «eine Wanderung im Verbotenen» [50] ist, um durch Denken des bisher zu denken Verbotenen den «Verdacht auf die Spitze zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um ‘Wahrheitʼ, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben ...» [51]. «Jede Kunst, jede Ph. darf als Heil- und Hülfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, ... die Betäubung von Kunst und Ph. verlangen» [52]. Die Ph. der Stärke entdeckt, die Ph. der Schwäche verdeckt den «Nihilismus», darum ist «das Feststellen ... von Thatbeständen ... grundverschieden von dem schöpferischen Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, Wollen, wie es im Wesen der Ph. liegt. Einen Sinn hineinlegen – diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch übrig, gesetzt daß kein Sinn darinliegt» [53]. Kurzum: «Ph. ist ... der geistigste Wille zur Macht» [54].
So macht die Enttäuschung durch die absolute Ph. die Ph. zur Kunst der Enttäuschung: zur im Namen der wirklichen Wirklichkeit durchgeführten Kritik bedingt notwendiger Zweckillusionen, zur Ideologiekritik. Aber die wirkliche Wirklichkeit selber – der wirklich erlösende Gott, der wirklich sinnliche und revolutionäre Mensch, die wirklich machtwillige Natur –, die die absolute Ph. negiert und statt dessen relative Ph.n in ihren Dienst nimmt, wird zugleich auf unheimliche Weise emphatisch zum Dementi der Rationalität der Wirklichkeit. Darum wird die Ph., will sie die Rationalität festhalten, zunächst zurückverwiesen auf Bestände, deren Rationalität – mangels emphatischer Masse – die Ideologiekritik überdauern.
[1]
Plessner, a.O. [4 zu 1.] 134ff.
[2]
a.O. 169.
[3]
Schelling: Ph. der Mythologie (1842ff.). SW II/1, 563.
[4]
a.O. 321ff.
[5]
571.
[6]
566.
[7]
A. Comte: Cours de philos. positive (1830ff., 51907) 1, XIII.
[8]
Discours sur l'esprit positif (1844), hg. I. Fetscher (1956) 86.
[9]
a.O. 140.
[10]
16.
[11]
34.
[12]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I (1819). Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher (2194650) [SW] 2, 98.
[13]
Über die Universitäts-Ph. Parerga und Paralip. 1 (1851). SW 5, 149.
[14]
a.O. 150ff.
[15]
149. 153f. u.a.
[16]
158.
[17]
Parerga und Paralip. II. SW 6, 9; Die Welt als Wille und Vorst. II (1844). SW 3, 199–204.
[18]
Die Welt ... II, a.O. 502.
[19]
J. Burckhardt: Weltgeschichtl. Betrachtungen (1868). Ges. Werke 4, hg. J. Oeri (Basel 1978) 2.
[20]
A. C. A. Eschenmayer: Die Ph. in ihrem Übergang zur Nicht-Ph. (1803) 29.
[21]
L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Ph. (1842). Sämtl. Werke, hg. W. Bolin/F. Jodl (1903–1911) [SW] 2, 241f.
[22]
a.O. 244.
[23]
Zur Beurteilung der Schrift ‹Das Wesen des Christentums› (1842). SW 7, 274f.
[24]
a.O. [21] 232.
[25]
a.O. 235.
[26]
Grundsätze der Ph. der Zukunft (1843). SW 2, 299.
[27]
a.O. 300.
[28]
315.
[29]
a.O. [21] 2, 244.
[30]
a.O. [26] 317.
[31]
J. Ch. A. Heinroth: Lehrb. der Anthropologie (1822, 21831) 511.
[32]
a.O. 518.
[33]
S. Kierkegaard: Abschließende Unwissenschaftl. Nachschr. zu den philos. Brocken (1846). Ges. Werke, hg. E. Hirsch (1950–69) [GW] 16/2, 34.
[34]
Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller (1851). GW 33, 115.
[35]
Die Krankheit zum Tode (1849). GW 24/25, 75.
[36]
a.O. [33] 16/1, 195.
[37]
a.O. 114.
[38]
Die Krankheit zum Tode (1849), a.O. [35] Untertitel.
[39]
a.O. 77.
[40]
a.O. [34] 28.
[41]
Marx: Aus der Doktordiss. (1840). Die Frühschr., hg. S. Landshut (1953) 16f.
[42]
a.O. 17.
[43]
Zur Kritik der Hegeischen Rechts-Ph., Einl. (1844). MEW 1, 391.
[44]
Thesen über Feuerbach 11 (1845), a.O. [41] 341.
[45]
a.O. [43].
[46]
a.O. 384.
[47]
F. Nietzsche: Unzeitgem. Betrachtungen 2 (1874). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) [GA] 3/1, 278.
[48]
Aus dem Vorreden-Material (1885–1888). GA 7/3, 207 (Nr. 196).
[49]
Die fröhl. Wiss. (1882/86). GA 5/2, 262.
[50]
Ecce homo (1888). GA 6/3, 256.
[51]
a.O. [49] 17.
[52]
Nietzsche contra Wagner (1888). GA 6/3, 423.
[53]
Nachgel. Frg., Herbst 1887 bis März 1888. GA 8/2, 23 (Nr. 48).
[54]
Jenseits von Gut und Böse (1886). GA 6/2, 16.
5. Ernüchterung: Philosophie als Wissenschaftswissenschaft. – Die Rationalität der Ph. überlebt – versuchsweise – die Ideologiekritik durch Bescheidenwerden. Die Ph. wendet sich erneut dem Faktum der positiven Wissenschaften zu, die als exakte Naturwissenschaften jetzt – unabhängig von der Ph. – auf immer weiteren Bereichen in immer schnellerem Fortschritt von Erfolg zu Erfolg eilen. In dem ihr «aufgezwungenen Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit» [1] wird die Ph. nun zur Ancilla scientiarum als Wissenschaftswissenschaft: teils als Wissenschaftssynthese, teils neukantianisch als Wissenschaftskritik, teils positivistisch durch Auflösung der Ph. in die Wissenschaft.
Dem Versuch der Ph., zur Wissenschaftssynthese zu werden, gehen im 19. Jh. – angesichts der Baisse der absoluten philosophischen Systeme des deutschen Idealismus – voraus und es begleiten ihn die Rückgriffe auf Ph.n vor dem deutschen Idealismus, die «zahlreichen Renaissancen vergangener Systeme» [2]: vor allem der Neoaristotelismus, Neoleibnizianismus, Neuthomismus. Auf Aristoteles greift A. Trendelenburg zurück und schreibt: «Erst im Gegensatz gegen die besondern Wissenschaften entsteht das Bewußtsein einer allgemeinen, welche wir Ph. nennen» [3], die die «Wissenschaft der Idee heissen mag» [4]; und: «ohne Empirie gibt es keine Durchdringung des Idealen und Realen, das Ziel aller Ph.» [5]. Noch bei F. Brentano – «die wahre Methode der Ph. ist keine andere als die der Naturwissenschaften» [6] – ist so die Ph., die trotz ihrer «Entmutigung» [7] «Zukunft» hat [8], vor allem «Kategorienlehre» [9]. Auf Thomas von Aquin greift nach der Jahrhundertmitte – ab 1879 päpstlich ermuntert – der Neuthomismus zurück. J. Kleutgen verteidigt die «Ph. der Vorzeit», d.h. jene «Ph., welche von den ersten Zeiten der Kirche bis in das 18. Jh. wenigstens auf den katholischen Schulen allgemein gelehrt, und ... für die heilige Wissenschaft benutzt wurde» [10], so daß schließlich J. Gredt definieren kann: «ph.a» ist «cognitio per ultimas causas procedens ex principiis naturali rationi per se notis», wobei «ph.a ... christiana ..., scholastica ..., perennis ... essentialiter eadem est» [11]. Auf Leibniz wird verschiedenartig zurückgegriffen. Für J. F. Herbart ist «alle Ph. ... die sämtliche Bearbeitung der Begriffe» [12]; «verbesserte Begriffe» sind «ihr Zielpunkt» [13], und «philosophische Einsicht ... beruht auf der Deutlichkeit der Begriffe und der Arbeitsamkeit, womit man die von ihnen geforderte Bewegung des Denkens vollzieht» [14]. B. Bolzano gibt «dieser Wissenschaft ..., welche uns andere Wissenschaften (eigentlich nur ihre Lehrbücher) darstellen lehret, im Deutschen den Namen Wissenschaftslehre» [15]; auch noch G. Frege bewegt sich in diesem Zusammenhang, wenn er betont, «wie leicht man durch die Sprache zu falschen Aussagen verleitet wird, und welchen Wert es daher für die Ph. haben muß, sich der Herrschaft der Sprache zu entziehen» durch «Begriffsschrift» [16]. Stärker ist vorher der «teleologische Idealismus» [17] von H. Lotze leibnizianisch inspiriert; die Ph. zeigt als «allgemeine Wissenschaft» [18], «daß Nichtgegebenes» – Geltendes – «in nothwendiger ergänzender Beziehung zu Gegebenem» – Wirklichen – «stehe» [19], daß also «in der Welt überhaupt Vernunft herrsche» und «nicht das Gleichgültige sei, sondern nur das durch seinen Wert bestimmte» [20]: Der Wert der Wirklichkeit trägt die Wirklichkeit der Wirklichkeit, so daß die Ph. «in dem, was sein soll, den Grund dessen [sucht], was ist» [21]. Für G. Th. Fechner ist Ph. als «Grundansicht» [22] – die «Tagesansicht» sein muß [23] – «die höchste Verallgemeinerung, einheitlichste Verknüpfung, letzte Analyse der Erfahrung», die «den weitgehendsten Schluß auf Grund der Erfahrung fordert» [24]: also eine Ph. «von unten». «Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam. Unter dem Carthago aber verstehe ich jene Ph., die sich über die Dinge stellt, ohne vom Grunde derselben zu ihrer Spitze aufgestiegen zu sein» [25]. Diese Rückgriffe auf ältere Ph.n verwandeln die Ph. des absoluten Systems schließlich in den Versuch, aus dem neuesten Stande der Wissenschaften ein zusammenfassendes Resultat zu erheben: als «Wissenschaftssynthese» durch «induktive Metaphysik». So hat dann W. Wundt – der die Ph. als reaktive Disziplin versteht, die den Wissenschaften nicht vorausgeht, sondern sie verarbeitet – definiert: Ph. ist «die allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat» [26], mit dem Ziel einer «die Bedürfnisse des Gemüthes befriedigenden Welt- und Lebensanschauung» [27]. Doch auch diese Legierung von Wissenschaftssynthese und System-Ph. bleibt zu unbescheiden. Darum werden, zur endgültigen Ernüchterung, zwei andere Ansätze erfolgreich.
Der eine einschlägige Haupttrend in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist der Neukantianismus: Angesichts des Fortschritts der positiven Wissenschaften – und der Gefahr ihrer «materialistischen» Deutung – wird Kants Definition der Ph. als «Kritik» der Wissenschaft wiederholt und aktualisiert, und zwar zunächst innerhalb der exakten Wissenschaften selber. So macht H. Helmholtz die Bedeutung Kants für die Naturwissenschaften geltend und nennt die Aufgabe, «die Quellen unseres Wissens und den Grad ihrer Berechtigung zu untersuchen, ein Geschäft, welches immer der Ph. verbleiben wird, und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen können» [28]. Für diesen – schon von J. B. Meyer geforderten [29] – neukantianischen «Kritizismus» hat O. Liebmann das Programm – «also muß auf Kant zurückgegangen werden» [30] – am brillantesten formuliert und dabei die Ph. definiert als «eine ... immer und überall fragende Gemütsverfassung, welche eben die des Philosophen ist», «jener echte esprit de corps, der unter den Philosophen, die ja ein corps d'esprit sein wollen ..., unbedingt notwendig ist» [31]. F. A. Lange betont: «die Ph. ist mehr als bloß dichtende Spekulation. Sie umfaßt auch die Logik, die Kritik, die Erkenntnistheorie» [32], wobei jedoch «der Mensen einer Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf» [33], den «Standpunkt des Ideals» [34]. A. Riehl bestimmt die Ph. als «Wissenschaft des Bewußtseins» [35] und «Kritik der Erkenntnis» [36]. «Die Führer der modernen Ph.», schreibt H. Cohen, «sind zugleich die vorzüglichsten Mitarbeiter und Schöpfer der mathematischen Naturwissenschaft. ... Aber dennoch ist es der tragische Charakter der neuern Ph., daß sie diesen ... Zusammenhang mit der ... Wissenschaft nicht zur klaren Darstellung bringt» [37], solange «der Ph. ... die transzendentale Methode abhanden gekommen» ist [38]. Durch Rekurs auf Kant findet sie – im Marburger Neukantianismus – diese Methode wieder und zur Wissenschaftskritik zurück, in der «die Wahrhaftigkeit ... zur Tugend der Ph.» [39] und die Ph. zur «Logik des Ursprungs» [40] wird: «Die Wissenschaft selbst und die Kultur überhaupt zum Verständnis ihrer Voraussetzungen zu bringen, das ist die Aufgabe der Ph. in allen ihren systematischen Gliedern» [41]. Das haben P. Natorp – «die letzte Einheit der Erkenntnis darzustellen [ist die] ... ganze und einzige Aufgabe» der Ph. [42] – und E. Cassirer bekräftigt, der «das Grundproblem der neueren Ph.» im «Erkenntnisproblem» sieht [43] und «Substanzbegriffe» durch «Funktionsbegriffe» ersetzen will [44]. Der südwestdeutsche Neukantianismus ergänzt das, indem W. Windelband, auf Lotze zurückgreifend, Wissenschaftskritik in Wert-Ph. verwandelt: «Ph. im systematischen ... Sinne [ist] nichts anderes ... als die kritische Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten. Die Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten: das bezeichnet die Gegenstände; die kritische Wissenschaft: das bezeichnet die Methode der Ph.» [45]. Dies bekräftigt H. Rickert, der die «Ph. als Wertwissenschaft» [46] und «universale Wissenschaft vom Weltganzen» [47] bestimmt. Weil die Ph. als Kritik in die Gefahr gerät, ständig die Messer zu wetzen, statt zu schneiden, endet der Neukantianismus in seiner Kritik: N. Hartmann hat mit ihm gebrochen, indem er seine Themen bewahrte, das wertphilosophische in seiner Wertethik [48], das erkenntniskritische in seiner Erkenntnismetaphysik durch die Überzeugung, daß «die kritische Erkenntnistheorie ... selbst metaphysisch gegründet» ist [49]: «alle Ph. [muß] notwendig Metaphysik sein» [50], die vor allem «die große Kunst der Aporetik» [51] zu beherrschen hat.
Der andere einschlägige Haupttrend in der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist der Positivismus: Angesichts des Fortschritts der positiven Wissenschaften – vor allem der Naturwissenschaften – soll die Ph. (dem Dreistadiengesetz von Comte entsprechend [52]) durch diese Wissenschaften ersetzt werden. Das führt teilweise zu einer materialistischen Weltsicht: Für L. Büchner kennt die Ph. nur noch «Kraft und Stoff» [53]. Teilweise führt es zum Empirismus: So favorisiert E. Laas den Positivismus als «diejenige Ph. ..., welche keine anderen Grundlagen anerkennt, als positive Thatsachen, d.h. äussere und innere Wahrnehmungen» [54]; einschlägig wird J. St. Mill rezipiert, der die Ph. selbst als «Logik» empirisiert und psychologisiert [55]. Teilweise wird der Positivismus zum Monismus: die Entwicklungslehre von Ch. Darwin – die ihre radikale philosophische Deutung durch die «synthetical philosophy» von H. Spencer[56] erhielt: «Philosophy is completely unified knowledge» [57] – hat vor allem E. Haeckel gefördert und popularisiert: Er sucht «die tiefere Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhanges der beobachteten Erscheinung ..., d.h. eben Ph.» [58], auf dem «Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Ph.» [59]. Daneben entsteht der Positivismus des Ökonomieprinzips, der Empiriokritizismus: R. Avenarius versteht «Ph. als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes» [60]; auch für E. Mach ist dieses «Streben nach Sparsamkeit» [61] das Geheimnis der Theorie: Dabei «gibt [es] keine Machsche Ph., sondern höchstens eine naturwissenschaftliche Methodologie und Erkenntnispsychologie» [62]; sie «führt nur zur Beseitigung falscher, den Naturforscher störender Probleme und überläßt der positiven Forschung das Weitere» [63]. Im Umkreis dieses Ansatzes wird die Rezeption des angelsächsischen Pragmatismus wichtig: «to have a philosophy is a matter of luxury», meint Ch. S. Peirce, wenn sie nicht pragmatisch verfährt, denn «a difficult question cannot be expected to reach solution until it takes some practical form» [64]; so ist auch für W. James «Ph. ... die erhabenste und zugleich die trivialste aller menschlichen Bestrebungen. ... Sie kann unsere Seele mit Mut erfüllen», indem «sie die Perspektive der Welt erweitert» [65]. Den erkenntnisökonomistisch-pragmatistischen Ansatz radikalisiert der «idealistische Positivismus» [66] von H. Vaihinger, der in seiner ‹Ph. des Als-ob› die «Logik» als «Technologie des Denkens» [67] zur «Grundlage eines ganzen Systems der Erkenntnistheorie» [68] macht, indem er das Denken als die Kunst begreift, durch «zweckmässige Einbildungen» [69] erfolgreich zu erkennen. Dabei legitimiert Vaihinger, der Nietzsche schätzte [70], die «Fiktionen» durch Rekurs auf das Leben als dessen Instrumente, just so, wie Mach die theoretischen Komplexitätsreduktionen durch Rekurs auf das Leben problematisierte: als Entfremdungen vom unmittelbaren Leben der «reinen Empfindungen» [71]. So wird der Positivismus schließlich latent zur indirekten Lebens-Ph.
Die Ernüchterung der Ph. zur Wissenschafts-Ph. entwickelt sich also unbefriedigend, wo sie die Ph. nur noch als Szientismus, als Gehilfin der exakten Naturwissenschaften gelten läßt. Dann rettet sie die Ph. zu Tode; denn sie übersieht, vergißt, verdrängt die philosophischen Probleme der menschlichen Lebenswelt. Das ruft nach Kompensation.
[1]
Plessner, a.O. [4 zu 1.].
[2]
H. Schnädelbach: Ph. in Deutschland 1831–1933 (1983) 122.
[3]
A. Trendelenburg: Log. Untersuchungen 1 (1840, 21862) 4.
[4]
a.O. 5.
[5]
Gesch. der Kategorienlehre (1846) 375.
[6]
F. Brentano: Über die Zukunft der Ph., hg. O. Kraus (1929) 137: 4. Habilitationsthese (1866).
[7]
a.O. 83ff. (1874).
[8]
Zukunft der Ph. (1893), a.O. 1ff.
[9]
Kategorienlehre, hg. A. Kastil (1933).
[10]
J. Kleutgen: Die Ph. der Vorzeit 1 (1860, 21878) 3.
[11]
J. Gredt: Elementa ph.ae aristotelico-thomisticae 1 (1901) 3f.
[12]
J. F. Herbart: Kurze Enzykl. der Ph. (1831). Sämtl. Werke, hg. K. Kehrbach/O. Flügel (1887–1912) 9, 325.
[13]
a.O. 317.
[14]
338.
[15]
B. Bolzano: Wiss.lehre 1 (1837) 6f.
[16]
G. Frege: Nachwort zu: Dialog mit Pünjer über Existenz (vor 1884). Schr. zur Logik und Sprach-Ph., hg. G. Gabriel (1971) 21f.
[17]
H. Lotze: Metaphysik (1841, 21884) 329.
[18]
a.O. 4.
[19]
a.O.
[20]
Seele und Seelenleben. Kl. Schr. 2 (1886) 174f.
[21]
a.O. [17] 604.
[22]
G. Th. Fechner: Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden (1861, 21907) 198.
[23]
Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht (1879).
[24]
a.O. [22] 222.
[25]
a.O. 228.
[26]
W. Wundt: System der Ph. 1 (1889, 41919) 9.
[27]
a.O. 1.
[28]
H. Helmholtz: Über das Sehen des Menschen (1855) 46f.
[29]
J. B. Meyer: Über den Sinn und Wert des Kritizismus. Dtsch. Museum 11 (1857) 401.
[30]
O. Liebmann: Kant und die Epigonen (1865, 1912) 204.
[31]
a.O. 17. 215.
[32]
F. A. Lange: Gesch. des Materialismus (1866), hg. A. Schmidt (1974) 984.
[33]
a.O. 987.
[34]
981ff.
[35]
A. Riehl: Über den Begriff und die Form der Ph. (1872) 87.
[36]
Der philos. Kritizismus und seine Bedeutung für die positiven Wiss.en 2 (1879) 2. 15.
[37]
H. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung (1871, 21885) 24.
[38]
a.O. 222.
[39]
Ethik des reinen Willens (1904) 482.
[40]
Logik der reinen Erkenntnis (1902) 33.
[41]
a.O. [39].
[42]
P. Natorp: Ph. Ihr Problem und ihre Probleme (1911) 26.
[43]
E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Ph. und Wiss. der neueren Zeit 1 (1906) V.
[44]
Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Unters. über die Grundfrage der Erkenntniskritik (1910).
[45]
W. Windelband: Was ist Ph.? (1882), in: Präludien 1 (1883, 41911) 29.
[46]
H. Rickert: Die Grenzen der naturwiss. Begriffsbildung (1902) 700.
[47]
System der Ph. 1 (1921) 21.
[48]
N. Hartmann: Ethik (1925).
[49]
Grundzüge einer Metaph. der Erkenntnis (1921, 31941) 5.
[50]
a.O. 8.
[51]
a.O.
[52]
Vgl. oben Abschn. 4.
[53]
L. Büchner: Kraft und Stoff (1855).
[54]
E. Laas: Idealismus und Positivismus. Erster allg. und grundlegender Teil (1879) 183.
[55]
J. St. Mill: A system of logic, ratiocinative and inductive (1843). Coll. works, hg. J. M. Robson u.a. 7. 8 (Toronto 1974).
[56]
H. Spencer: A system of synthetic philos. (London 1862, 1904, ND 1966).
[57]
First principles (1862, 61937) § 37.
[58]
E. Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständl. Stud. über monist. Ph. (1899, ND 1961) 5f.
[59]
a.O. 7.
[60]
R. Avenarius: Ph. als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes (1876).
[61]
E. Mach: Populärwissenschaftl. Vorlesungen (1896, 31903) 219.
[62]
Erkenntnis und Irrtum (1905) VII.
[63]
a.O. 13.
[64]
Ch. S. Peirce: Fraser's The works of G. Berkeley (1871). Coll. papers, hg. Ch. Hartshorne/P. Weiss (Cambridge, Mass. 1931–66) 8, 37f.; dtsch: Frazers Ausgabe der Werke von Georg Berkeley (1871). Schr. zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. K. O. Apel (21976) 135.
[65]
W. James: Der Pragmatismus [1906/07] (1908) 3.
[66]
H. Vaihinger: Die Ph. des Als-ob [geschr. ab 1876] (1911) XX.
[67]
a.O. XXI.
[68]
XV.
[69]
174.
[70]
771ff; vgl. Nietzsche als Philosoph (1902).
[71]
E. Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886).
6. Wiederkehr des Verdrängten: Lebensphilosophie. – Der der Ph. «aufgezwungene Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit» [1] macht sie zur Kritik, zum absoluten System, zur Ideologiekritik und schließlich zur Wissenschafts-Ph. Sobald aber für die Ph. die Wirklichkeit nur noch als exakte Wissenschaft gegeben ist, verliert sie den Sinn für die – geschichtliche – Lebenswelt, die jeder Mensch selber leben und verstehen muß. Darum wird die Ph. im 19. Jh. – im Gegenzug gegen ihre Wirklichkeitsverluste – zugleich kompensatorisch zur Lebens-Ph. und Hermeneutik. Dabei kann auf vorromantische und romantische Ansätze der Ph. zurückgegriffen werden.
So hat schon J. G. Hamann gegen die «Reinigungen» der Ph. in der Kritik Kants [2] die Ph. mit Sinn für Sprache und Geschichte geltend gemacht: «Ph. ohne Geschichte sind Grillen und Wortkram» [3]. Ph. (von den Griechen her) und das Gesetz der Juden fuhren gleicherweise zur Angewiesenheit des Lebens auf Offenbarung und Gnade: «das Amt der Ph. ist der leibhafte Moses, ein Orbil zum Glauben» [4], zum wirklichen Leben. J. G. Herder meinte: «Gemeiniglich ist der Philosoph alsdann am meisten Thier, wenn er am zuverläßigsten Gott seyn wollte» [5]. «Soll die Ph. den Menschen nützlich werden, so mache sie den Menschen zu ihrem Mittelpunkt» [6] in der bunten Fülle seines individuellen Lebens: «dieser Humanität nachzuforschen ist die ächte menschliche Ph.» [7]. F. H. Jacobi schrieb: «Philosophiren heißt sich nach allen Seiten hin besinnen» [8], d.h. «Daseyn zu enthüllen» [9], so «daß nur Entwickelung des Lebens Entwickelung der Wahrheit ist, beyde, Wahrheit und Leben, Eins und Dasselbe» [10]. Auf Jacobi beruft sich Schelling in seinen ‹Ideen zu einer Ph. der Natur› und behauptet, «daß, was ist und lebt, ... seines Lebens durch sein Leben sich bewußt wird» [11]; denn nur, «solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich was eine lebendige Natur ist so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe» [12], sonst kann die Ph. sie «nicht als lebendig haben», sondern nur «als todt» [13]. F. Schlegel betont: «Der Gegenstand der Ph. ist also das innere geistige Leben, und zwar in seiner ganzen Fülle ... Was aber die Form und Methode betrifft, so setzt die Ph. des Lebens nur das Leben voraus» [14]. «Man gelangt nicht zur Erkenntnis des Lebens als nur durchs Leben selbst, und dies ist die ... Bedingung, welche in aller Ph. gefordert und vorausgesetzt wird» [15]. Das alles präludiert dem «herrschenden Impuls in» W. Diltheys Ph., «das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen» [16].
Diese Lebensphilosophie kann quietistisch vertreten werden: Für Schopenhauer ist Ph. «Verneinung des Willens zum Leben» [17]; für E. von Hartmann besteht «das Prinzip der praktischen Ph. ... darin, die Zwecke des Unbewußten» – die historisch-asketische Selbstauslöschung des menschlichen Lebens – «zu Zwecken seines Bewußtseins zu machen» [18]. Die Lebens-Ph. kann aber auch aggressiv vertreten werden; so macht Nietzsche die Ph. – als «geistigste[r] Wille zur Macht» [19] – zur «Genealogie der Moral»: zur Rehabilitierung der «Herrenmoral» gegen die «Sklavenmoral» [20]. Das hat im 20. Jh. – vor allem durch sein antibürgerlich-gegenaufklärerisches Pathos – als Aufruf zum aggressiven Irrationalismus gewirkt. O. Spengler ernennt – im Namen der «Kultur» des Lebens – das «Problem der heutigen Zivilisation ... zu einer neuen Ph. der Zukunft, der Ph. der Zukunft, soweit aus dem metaphysisch erschöpften Boden des Abendlandes noch eine solche hervorgehen kann ...: zur Idee einer Morphologie der Weltgeschichte ..., zu einem Bilde des Lebens» [21]. Für L. Klages ist Ph. «Besinnung», aber entweder «flache» oder «tiefe» [22], so daß er Ph. gegen Ph. setzt: «die logozentrische mit der Grundgesinnung der Wissenschaft, die biozentrische mit der Grundgesinnung der Metaphysik» [23] des Lebens, dessen «Widersacher» der «Geist» ist. Auch A. Bäumler macht geltend: «Es gibt ein Kriterium der Wahrheit, das niemals übersehen werden darf: die Tiefe. ... Es gilt in der Ph. und in der Mythologie» [24]. Durch «Zerstörung der Vernunft» [25] überbietet das schließlich die nationalsozialistische Agitations-Ph., etwa bei A. Rosenberg: «Letzten Endes ist denn auch jede über eine formale Vernunftkritik hinausgehende Ph. weniger eine Erkenntnis, als ein Bekenntnis; ein ... rassisches Bekenntnis» [26] zur Selbstbehauptung der lebensstarken Herrenrasse um jeden Preis: durch Beherrschung und Ausrottung angeblich lebensfeindlicher Rassen.
Gegen diese antibürgerlich-gegenaufklärerische Tendenzmöglichkeit der Lebens-Ph. zum aggressiven bzw. revolutionären Irrationalismus hat die Lebens-Ph. sich – bis heute – zu schützen versucht, indem sie zur Hermeneutik wird. Diese wird entscheidend wichtig als Remedium gegen die Gefahr, daß Menschen sich im Streit um die alleinzulässige Auslegung des Heilsbuchs oder der Befreiungsgeschichte in hermeneutischen Bürgerkriegen – von den Konfessionskriegen bis zu den geschichtsphilosophischen Revolutionen – totschlagen. Die hermeneutische Kultur der Auslegungsvielfalt wird dann stricte dictu lebensrettend und bringt so das Stichwort des Lebens noch einmal ganz anders ins Spiel: als Liberalisierungsvokabel; denn das hermeneutische Reden und Reden lassen bzw. Lesen und Lesen lassen dient dem Leben und Leben lassen. So braucht für Schleiermacher die Ph. das Gespräch und darum die Hermeneutik. «Ph. ist die unmittelbare Beschäftigung mit den Prinzipien und dem Zusammenhang des Wissens» [27] und benötigt «Dialektik» «für die kunstmäßige Gesprächsführung im Gebiete des reinen Denkens» [28], die aus der «gleichzeitigen Mehrheit» der Philosophien «eine Einheit hervorzubringen» vermag [29]: «so ist die Hermeneutik» – die Kunst des (einander) Verstehens – «im Zusammenhang mit der Kunst zu denken philosophisch» [30]. W. Dilthey verbindet Lebens-Ph. und Hermeneutik, indem die Ph. «Einleitung in die Geisteswissenschaften» [31] d.h. «Kritik der historischen Vernunft» [32] wird durch «Anwendung des geschichtlichen Bewußtseins auf die Ph. und ihre Geschichte» [33]. «Man ist am Abschluß des metaphysischen Denkens ... und glaubt am Ende der wissenschaftlichen Ph. selbst zu sein. Dann entsteht die Lebens-Ph.» [34] als «Lebenswertung» [35] und «Leistung, die aus dem Bedürfnis ... nach Besinnung ... entspringt» [36], «dem Bedürfnis einer letzten Festigkeit der Stellung des Menschen zur Welt» [37] und nach Antworten auf die großen «Lebensrätsel» [38], die sich in «Typen der Weltanschauung» niederschlagen und ihrer «Ausbildung in den metaphysischen Systemen» [39]. Ph. – «Selbstbesinnung» [40] – wird «Hermeneutik» als «kunstmäßiges Verstehen» der «Lebensäußerungen» [41] mit dem Grundsatz: «hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen» [42]. Zwar: «Was das Leben sei, soll die Geschichte lehren», doch «diese ist auf das Leben angewiesen» [43], denn nur «Leben erfaßt hier Leben» [44]. Diese bürgerlich aufgeklärte, hermeneutisch liberalisierte Lebens-Ph. wird auch außerhalb der Diltheyschule fortentwickelt. R. Eucken verlangt die «Anerkennung» des «Zusammenhanges der Ph. mit dem Ganzen des Lebens» [45], denn «die Ph. bedarf jenes Lebens, ... das Leben bedarf der Ph.» [46]. H. Bergson plaziert die Ph. «au point de vue du sens commun» [47], denn «la philosophie n'est pas une synthèse des sciences particulières» [48], sondern «un acte simple» [49]: «intuition philosophique» des «élan vital» in der «durée réelle» [50]. G. Simmel, für den «das philosophische Denken das Persönliche versachlicht und das Sachliche verpersönlicht» [51], betont: «Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, ... so ist dieses vorläufige Verfahren doch ... manchen Fragen gegenüber unentbehrlich» [52]: so z.B. in der «Ph. des Geldes» für die Fragen «diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde» [53], für die Fragen nach seiner Lebensbedeutsamkeit. Im selben Jahr 1900, in dem dies geschrieben wurde, erscheinen zugleich die Initialschriften der modern erfolgreichsten Lebenswelt-Ph.n, der Phänomenologie und der Psychoanalyse. E. Husserl zeigt in seinen ‹Prolegomena zur reinen Logik›: «dem Philosophen ist es nicht genug, ... daß wir Gesetze als Formeln haben, ... sondern was das Wesen ... ist, will er zur Klarheit bringen» [54]: zunächst als – antipsychologistische – «Wesensforschung» [55] macht sich die Phänomenologie auf den Weg, zur Ph. der «Lebenswelt» zu werden. Gleichzeitig wird durch S. Freuds «Traumdeutung» [56] die Psychoanalyse – neopsychologistisch – zur geschichtlichen Lebenshermeneutik auch des nichtpathologisch Normalen und dadurch zur Ph.: «der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist ihr eröffnet» [57].
Odo Marquard
[1]
Plessner, a.O. [4 zu 1.].
[2]
J. G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft (1783). Sämtl. Werke, hg. J. Nadler (Wien 1949–57) 3, 284.
[3]
Br. an J. F. Hartknoch (23. 10. 1781). Br.wechsel, hg. A. Henkel (1959) 4, 342.
[4]
Wolken. Ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten (1761), a.O. [2] 2, 108.
[5]
J. G. Herder: Auch eine Ph. der Gesch. zur Bildung der Menschheit (1774). Werke, hg. B. Suphan (1877–1913) 5, 557.
[6]
Problem: wie die Ph. zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann (1765), a.O. 32, 52.
[7]
Ideen zur Ph. der Gesch. der Menschheit (1784ff.), a.O. 13, 161.
[8]
F. H. Jacobi: Fliegende Blätter. Werke, hg. F. Roth/F. Koppen (1812–25) 6, 225.
[9]
Br. an J. G. Hamann (16. 6. 1783), a.O. 1, 364.
[10]
Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers (1793), a.O. 281.
[11]
Schelling: Ideen zu einer Ph. der Natur (1797). SW, a.O. [7 zu 3.] 2, 52.
[12]
a.O. 47.
[13]
Darlegung des wahren Verhältnisses der Natur-Ph. zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806). SW 7, 17.
[14]
F. Schlegel: Ph. des Lebens (1828). Krit. Ausg., hg. E. Behler 10 (1969) 7.
[15]
Briefe an Frau Ch. von Stransky 2 (1911) 132ff.
[16]
W. Dilthey: Autobiographisches. Vorrede (1911). Ges. Schr. (1914ff.) [GS] 5, 4.
[17]
Schopenhauer, a.O. [12 zu 4.] 2, 317f.
[18]
E. von Hartmann: Ph. des Unbewußten (1869, 41872) 748.
[19]
Nietzsche, a.O. [54 zu 4.] 16.
[20]
Zur Genealogie der Moral (1887), a.O. 257f.; vgl. a.O. 218f.
[21]
O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (1918ff., 33–471923) 1, 6.
[22]
L. Klages: Der Geist als Widersacher der Seele 1 (1929) 121f.
[23]
a.O. 130.
[24]
A. Bäumler: Einl. zu: J. J. Bachofen: Der Mythos von Orient und Occident, hg. M. Schröter (1926, 21956) XC.
[25]
G. Lukács: Die Zerstörung der Vernunft (1954). Werke (1962–81) Bd. 9.
[26]
A. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jh. (1930, 541935) 118.
[27]
Schleiermacher, a.O. [71 zu 3.] 67.
[28]
a.O. 5.
[29]
81f.
[30]
Hermeneutik (1819), hg. H. Kimmerle (21974) 76.
[31]
Dilthey: Einl. in die Geisteswiss.en (1883). GS 1.
[32]
a.O. 1, 116.
[33]
Das geschichtl. Bewußtsein und die Weltanschauung. GS 8, 7.
[34]
Die Kultur der Gegenwart und die Ph. (1898). GS 8, 201.
[35]
Das Wesen der Ph. (1907). GS 5, 378.
[36]
a.O. 413.
[37]
415.
[38]
Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphys. Systemen (1911). GS 8, 80f. 140ff.
[39]
a.O. 73ff.
[40]
Vgl. Was Ph. sei (1886/87). GS 8, 188.
[41]
Der Aufbau der geschichtl. Welt in den Geisteswiss.en (1910). GS 7, 217.
[42]
a.O. [16] 5.
[43]
a.O. [41] 262.
[44]
a.O. 136.
[45]
R. Eucken: Gesch. und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart (1878); 3. Aufl. als: Geistige Strömungen der Gegenwart (1904) 64.
[46]
a.O. 100.
[47]
H. Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience (1889). Oeuvres. Edition du centenaire (Paris 1959) 145.
[48]
L'intuition philosophique (1911), a.O. 1360.
[49]
a.O. 1363.
[50]
1364.
[51]
G. Simmel: Hauptprobleme der Ph. (1910) 28.
[52]
Ph. des Geldes (1900). Ges. Werke 1 (71977) V.
[53]
a.O. VI.
[54]
E. Husserl: Log. Untersuchungen 1 (1900). Husserliana (1950ff.) 18, 255.
[55]
Ph. als strenge Wiss. (1910/11), a.O. 25, 36.
[56]
S. Freud: Die Traumdeutung (1900). Ges. Werke (1940ff.) Bde. 2. 3.
[57]
Selbstdarst. (1925), a.O. 14, 73.
H. Plessner s. Anm. [4 zu 1.]. – K. Löwith s. Anm. [83 zu 3.]. – G. Lukács s. Anm. [25 zu 6.]. – H. Lübbe: Polit. Ph. in Deutschland. Stud. zu ihrer Gesch. (1963, 21974). – J. Habermas: Erkenntnis und Interesse (1968, 21975). – K. Vorländer: Gesch. der Ph. III/1: Die Ph. in der 1. Hälfte des 19. Jh., neu bearb. L. Geldsetzer: (91975). – H. Schnädelbach s. Anm. [2 zu 5.]. – K. Ch. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die dtsch. Universitäts-Ph. zw. Idealismus und Positivismus (1986). – O. Marquard s. Anm. [11 zu 2.].
F. Die Einteilung der Philosophie von Kant bis zum Beginn des 20. Jh. – Für die Wandlungen des Ph.-Verständnisses von Kant bis zum Ende des 19. Jh. sind die Einteilungen der Ph. und das Verhältnis der Ph. zu den anderen Wissenschaften von großer Bedeutung. Während in der Schul-Ph. die aristotelisch-scholastische Einteilung vorherrschte [1], greift Kant auf die der Stoiker in Logik, Ethik und Physik zurück und bemerkt: «Diese Eintheilung ist der Natur der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern, als etwa nur das Princip derselben hinzu zu thun», und das heißt für Kant: die Logik behandelt die «Form des Verstandes und der Vernunft» und die «allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objecte»; die beiden materialen Teile der Ph. haben die Natur (Physik) oder die Freiheit (Ethik) zum Gegenstand. Diese beiden haben je einen apriorisch-rationalen und einen empirischen Teil und heißen «Metaphysik der Natur» (rationale Naturwissenschaft) und «Metaphysik der Sitten» (Moral) bzw. «historische Naturwissenschaft» (Naturbeschreibung, Naturgeschichte) und «praktische Anthropologie» [2]. Dies korrespondiert mit der Unterscheidung aller Erkenntnis in «rationale» (auf Begriffen beruhende) und «historische» (cognitio ex datis) [3]. Läßt man die Logik als bloß einleitende, aller materialen Erkenntnis vorangehende Disziplin außer acht, so entspricht die Aufteilung in Physik und Ethik auch der aristotelischen in theoretische und praktische Ph. Die Metaphysik der Sitten unterteilt sich weiter in Rechtslehre, die die bloße Legalität freier Handlungen, und Tugendlehre, die deren Moralität behandelt [4]. Die Kritik der Urteilskraft verbindet beide Zweige «der Ph. zu einem Ganzen» [5].
Während Kant noch überlieferte Einteilungskriterien benutzt, um in sie die Unterscheidung von rationaler und empirischer Erkenntnis einzuordnen, wird diese bei seinen direkten Nachfolgern oberstes Einteilungsprinzip. Ausgangspunkt ist jetzt nicht der Gegenstand, sondern die Quelle der Erkenntnis (Vernunft oder Erfahrung), und so gibt es (mit vielerlei Modifikationen) zuerst rationale und empirische Wissenschaften und dann erst eine Unterteilung nach verschiedenen Gegenständen [6]. Oder man differenziert nach den einzelnen geistigen Vermögen des Menschen (Vorstellungs-, Erkenntnis-, Begehrungs- und Gefühlsvermögen) und macht diese zur Grundlage der Klassifikation [7]. Damit wird die überlieferte Abgrenzung der Universitätsfächer durchbrochen, so daß diese nur noch unter Schwierigkeiten auf den neuen Wissenschaftstafeln unterzubringen sind. Teils bilden sie eine eigene Gruppe der «positiven» Disziplinen (Theologie, Jurisprudenz, Medizin u.a.) [8], teils werden sie in eine andere Wissenschaft eingegliedert (z.B. als Untergruppe der Anthropologie, welche wiederum eine empirische Wissenschaft ist [9]), oder sie werden den anderen Fächern, die «frei» genannt werden, als «gebundene» bzw. «gemischte» gegenübergestellt [10]. Wechselnd ist auch die Stellung von Ph. und Philologie: zum Teil werden auch sie in andere Gruppen eingegliedert; häufig bilden sie aber auch einen ersten, allen anderen («Real-»)Wissenschaften vorangehenden Teil der formalen, erkenntnisbegründenden Fächer [11]. Für die Ph. hängt dies auch davon ab, ob sie eher Wissen begründen oder auch selbst Wissensinhalte vermitteln soll.
Während die Kantianer eine ganz neue Einteilung der Ph. entwerfen, orientieren sich andere Autoren dieser Zeit eher an den überlieferten Schemata. F. Bouterwek rekurriert auf die Gliederung in Logik (diese wird jetzt zur «Apodiktik»), Physik und Ethik, hält aber auch die Zweiteilung in theoretische und praktische Ph. für brauchbar. Als neue Disziplin kommt bei ihm die Ästhetik hinzu [12]. G. E. Schulze appliziert die stoische Einteilung: Die Metaphysik als theoretische Ph. beruht auf dem «religiösen Gefühl», die Ethik als praktische Ph. auf dem moralischen und die Logik auf dem intellektuellen Gefühl. Hinzu tritt auch hier die Ästhetik, die das «Gefühl für die Schönheit ... bestimmt» [13]. Auch J. F. Fries hält die alte Dreiteilung noch für geeignet, wenn sie nur nach den Erfordernissen der neuen Zeit interpretiert wird: Die Logik wird um eine weitere vorbereitende Disziplin erweitert, die «Transcendental-Ph.» (Kritik der theoretischen und praktischen Vernunft und des Geschmacks) heißt. Die beiden materialen Hauptteile der Ph. (Physik oder «spekulative Ph.» und Ethik oder «praktische Ph.») bedürfen jeweils noch der «anthropologischen Vorkenntnisse», da für sie die «Kenntnis unser selbst» eine notwendige Vorbedingung ist [14]. Bei D. Th. A. Suabedissen avanciert die Anthropologie zu einer noch umfassenderen Disziplin: Sie enthält die Physiologie und die Psychologie mit Logik, Ethik und Ästhetik. Daneben steht die «Weltlehre» oder Kosmologie, die die Religions- und Natur-Ph. umfaßt. Außerdem kennt Suabedissen eine Einteilung in theoretische und praktische Ph., in der aber wieder Anthropologie und Kosmologie eine herausragende Stellung einnehmen [15]. Für J. F. Herbart ergeben sich aus der Bestimmung der Ph. als «Bearbeitung der Begriffe» auch deren Teile: Die Logik stellt klare und deutliche Begriffe auf; die Metaphysik ergänzt diese, damit sie auf die Wirklichkeit angewandt werden können. Sie ist darin Ontologie, aber auch «angewandte Metaphysik» mit den Unterabteilungen Psychologie, Natur-Ph., natürliche Theologie und philosophische Religionslehre. Schließlich fügt die Ästhetik (im weiteren Sinne, welche auch die Ethik umfaßt) nochmalige Ergänzungen hinzu, nämlich Urteile des Beifalls oder Mißfallens. Sie ist deshalb die praktische Ph. [16].
Schelling hat zwar keine eigentliche Einteilung der Ph. aufgestellt, aber die einzelnen Teile seines Systems von 1800 ausdrücklich nach den beiden «Grundwissenschaften» Natur-Ph. und Transzendental-Ph. geordnet. In ersterer wird das «Objektive als Erstes» angenommen und gefragt, «wie ein Subjektives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt». In der zweiten ist «das Subjektive» der Ausgangspunkt, und es wird gefragt, wie «das Objektive aus ihm entstehen» kann. Sie behandelt zunächst das «Wissen selbst» und ist insofern theoretische Ph. und dann, wie dieses Wissen in die «wirkliche Welt» durch «freies Handeln» übergeht (praktische Ph.). Wie beide Richtungen verbunden sind, obwohl sie als einander entgegengesetzte Tätigkeiten sich widersprechen, zeigt eine dritte, die produktive Tätigkeit, die das freie, bewußte Handeln mit dem bewußtlosen vereinigt. Dies manifestiert sich im Genie, und deshalb ist die Ph. der Kunst der «Schlußstein des ganzen Gewölbes» der Transzendental-Ph. [17]. Später hat Schelling eine solche Stufenfolge der Disziplinen der Ph. nicht mehr wiederholt. Er versucht vielmehr, die positiven Wissenschaften in den «Zusammenhang aller Wissenschaften» einzubeziehen. Er will, mit einem Diktum von Lichtenberg, ein «Abpflöcken der Felder der Wissenschaften» verhindern. In der Ph. als der «Wissenschaft der Wissenschaften» hat alles Wissen seine Voraussetzung, Quelle und Einheit; es erfährt in ihr seinen Ursprung, bevor es sich in die «Zweige» des «Baums der Erkenntniß... ausbreitet» [18]. Deshalb ergibt sich von der Ph. her der Aufbau des Organismus der positiven Wissenschaften Theologie, Medizin, Wissenschaft der Natur, der Geschichte und des Rechts. Die Ph. wird in ihnen «objektiv», erreicht aber «die wahre Objektivität ... in ihrer Totalität», nicht getrennt nach einzelnen Fakultäten, erst in der Kunst. Diese bildet auch hier den Abschluß des Systems des Wissens und muß das «nothwendige Ziel des Philosophen» sein [19].
Hegel ist wie Schelling, aber auch Kant und seine Nachfolger, der Auffassung, daß die Ph. den Wissenschaften ihre Prinzipien vorgibt und ihnen ihre Stelle im System des Wissens anweist, damit sie eine nicht nur äußere Ordnung bilden. Ihr wahrhaft wissenschaftlicher «Bestandteil» gehört der Ph. an; ihre «positive Seite», alles «Zufällige» und Empirische liegt außerhalb der Ph., weil es nicht «zu ihrem rationellen Grund und Anfang» gehört. Der Zusammenhang des Systems wird durch den Gang der Idee bestimmt. So ergeben sich drei Teile der Ph.: «I. die Logik, die Wissenschaft der Idee an und für sich, II. die Natur-Ph. als die Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein, III. die Ph. des Geistes, als der Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt.» Damit wird zugleich die notwendige Reihenfolge, der «Übergang» vom einen Teil in den anderen bezeichnet. Eine Einteilung, die die «besondern Teile oder Wissenschaften nebeneinander hinstellt», hätte das «Unrichtige», daß sie diese als in sich «ruhende» behandeln würde [20]. Wenn auch diese Dreigliederung an die antike Einteilung erinnert, so ist ihre inhaltliche Füllung doch verändert: Die Logik ist eine spekulative Logik und fällt «daher mit der Metaphysik zusammen» [21]. Die Natur-Ph. enthält Mechanik, Physik, Organik; die Ph. des Geistes behandelt die Erscheinungsformen des subjektiven Geistes (Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie), des objektiven Geistes (Recht, Moralität, Sittlichkeit) und des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Ph.). Hegel hat diesen Systementwurf bereits in seiner für die Schule bestimmten ‹Philosophischen Propädeutik› im wesentlichen ausgearbeitet [22]. Vorher, in seiner Jenaer Zeit, behandelt er Logik und Metaphysik noch getrennt voneinander, stellt auch Logik und Phänomenologie als Einleitungsdisziplinen dem eigentlichen System der Ph. voran [23]. Jedoch ist der Grundriß von Natur- und Geistes-Ph. hier schon erkennbar.
Von Hegels Schülern haben K. Rosenkranz und C. L. Michelet dessen Einteilung in den Grundzügen wiederholt [24]. Diese Gliederung findet sich aber auch, mit mehr oder minder großen Modifikationen, bei H. Ritter[25], K. Ph. Fischer[26], H. A. Oppermann[27], L. Noack[28] und H. M. Chalybäus[29]. Der spekulative Theismus (I. H. Fichte) dagegen nimmt seinen Ausgangspunkt beim «Selbsterkennen», um von da aus zum «Seinerkennen» (der Ontologie) und schließlich zum «Gotterkennen» (der spekulativen Theologie) fortzugehen. In diesen drei Stufen umschreibt «das Bewußtsein vollständig seinen philosophischen Cyklus» [30].
Die Junghegelianer zeigen wenig Interesse an einem Systementwurf der Ph. Nur L. Feuerbach gibt einige Andeutungen: «Die allen anderen Wissenschaften vorangehende, die erste, die allgemeine Wissenschaft ist ... einzig die Psychologie», die die Aufgabe hat, das «Ich zu decliniren» und es mit seinem «Gegensatz», «Leib» und «Fleisch» zu verbinden [31]. Daneben bleiben der Ph. noch die «drei Normwissenschaften – Logik, Ethik und Aesthetik» [32].
Ebenso wie bei Schelling und Hegel sind auch bei F. Schleiermacher alle Wissenschaften aus einem obersten Ursprung entwickelt, der die Voraussetzungen allen Wissens enthält. Sie werden in der Dialektik behandelt, die in einem «architektonischen Verfahren» die «Theorie der philosophischen Komposition» oder «Organisation der Wissenschaften als Einheit» aufstellt [33]. Sie nimmt ihren Anfang bei der höchsten Einheit des Wissens, die aber zugleich den obersten Gegensatz, den von Denken und Sein, Vernunft und Natur, enthält. Damit sind auch die beiden grundlegenden Zweige der Ph., Vernunft- und Naturlehre, konstituiert. Sie können jeweils begrifflich-spekulativ oder empirisch erforscht werden, so daß sich vier Hauptwissenschaften ergeben: die Ethik (oder Geschichtswissenschaft) und die Physik (oder Naturwissenschaft) und die Natur- und Geschichtskunde. Ethik und Physik sind dem Stoff nach unterschieden, der Form nach gleich; und ebenso sind Physik und Naturkunde einerseits, Ethik und Geschichtskunde andererseits dem Stoff nach gleich, der Form nach verschieden. Sie alle durchdringen sich gegenseitig [34].
Auch für K. Ch. F. Krause gilt, daß alle Wissenschaften aus einem höchsten Prinzip abzuleiten sind. Er kommt dabei aber zu verschiedenen Ergebnissen. Vom Gang des Erkennens her beginnt die Wissenschaft mit dem Selbstbewußtsein und richtet sich von da aus auf die Welt außer ihm. So ergeben sich ein «subjektiv-analytischer» und ein «objektiv-synthetischer» Teil der Wissenschaft. Von den Gegenständen des Erkennens her ergeben sich vier Teile: Natur-, Vernunft-, Menschheits- und Wissenschaft vom «göttlichen Urwesen». Nach der Erkenntnisquelle schließlich ist alle Wissenschaft entweder begriffliche oder empirische [35]. Die Ph. beschränkt sich auf die unbedingte, d.h. begriffliche Erkenntnis und stellt die Prinzipien aller untergeordneten Wissenschaften auf; sie wendet diese auf den Bereich des Sinnlichen an und konstituiert so den «organischen Gliedbau der ganzen Wissenschaft» [36]. Andererseits ist die Welt aber in die Bereiche der Natur und der Freiheit entzweit. Während die Mathematik die Natur als nach Größen geordnetes Ganzes betrachtet, hat die Ph. die freien Individuen und ihr «Beisammensein» zum Gegenstand; sie enthält also Staats-, Rechts- und Sittenlehre und betrachtet schließlich in der Kunst die Schönheit und Harmonie der ganzen Welt [37].
In den meisten bisher behandelten Einteilungen ist entweder die Dreigliederung in Logik, Physik, Ethik oder die Unterscheidung von rationaler und empirischer Erkenntnis oder eine Kombination von beiden erkennbar. Daneben gibt es aber auch Klassifikationen, die davon unabhängig sind und in denen die überlieferten Disziplinen der Ph. nur an untergeordneter Stelle vorkommen. Sie gewinnen in der Folgezeit an Gewicht. So geht J. Bentham von den «Eudaemonics», der Lehre vom «well-being», aus und gliedert von ihr her alle Wissenschaften bis in die kleinsten Verästelungen. Er führt für sie auch neue, gräzisierende Titel ein, z.B. die «somatoscopic», «body-regarding» Wissenschaften (Mathematik, Naturwissenschaften) und die «pneumatoscopic», «spirit-regarding» Disziplinen (Logik, Grammatik, Ethik, Ästhetik) [38]. S. T. Coleridge gliedert in reine Wissenschaften (Grammatik, Philologie, Logik, Mathematik als formale; Metaphysik, Ethik, Theologie als reale), gemischte (Mechanik, Optik, Astronomie) und angewandte (Naturwissenschaften und -geschichte, schöne und nützliche Künste). Den Abschluß bilden die biographischen und historischen Wissenschaften und die Lexikographie [39].
Während sich einige englische Autoren eher an den überlieferten Einteilungen orientieren [40], ist für W. Hamilton der erkennende Geist oder das Bewußtsein Ausgangs- und Gliederungsprinzip. Die drei Teile der Ph. werden demnach «psychology» genannt: «empirical psychology» oder Phänomenologie, die die «facts» (cognitions, feelings, will, desire) erforscht; «rational psychology» oder Nomologie, die Gesetze aufstellt (Logik, Ästhetik, Ethik und Politik); «inferential psychology» oder Ontologie, die nach dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele fragt [41]. G. Ramsay dagegen stellt neben die «mental sciences or sciences which treat of mind or spirit» (Metaphysik, Logik und «moral» Ph. incl. Politik, Recht, Theologie u.a.), die «physical sciences» und die «mathematics» [42].
Für A. Schopenhauer bildet der «Satz vom Grund» das Einteilungsprinzip. Er trennt so zuerst die Wissenschaften a priori, die nach dem «Grunde des Seyns» fragen (Mathematik, Logik) von den empirischen oder Wissenschaften a posteriori, die nach dem «Grunde des Werdens» fragen. Letztere enthalten die «Lehre von den Ursachen» (Mechanik, Physik, Chemie, Astronomie), die «Lehre von den Reizen» (Physiologie, Botanik, Zoologie, Pathologie u.a.) und die «Lehre von den Motiven» (Ethik, Psychologie, Recht, Geschichte). Die Ph., die den Satz vom Grund als solchen behandelt, steht außerhalb dieser Reihe und bildet den «Grundbaß aller Wissenschaften». Außerdem hat «jede Wissenschaft noch ihre specielle Ph.» (Ph. der Botanik, der Zoologie, der Geschichte usw.), die «zwischen ihrer speciellen Wissenschaft und der eigentlichen Ph.» vermittelt [43]. J. von Görres leitet alle Wissenschaften aus den drei Substanzen Gott, Geist und Natur ab, so daß sich Theologie, Pneumatologie und Physiologie ergeben, die sich in viele Unterdisziplinen verzweigen. Die Ph., in der der Geist sich selbst betrachtet, ist «das bildende Subject in allen Wissenschaften» [44].
Bei italienischen Autoren mischen sich häufig traditionelle mit neuen Elementen. J. Ventura übernimmt die Einteilung in Logik, Physik und Ethik, füllt sie jedoch mit neuen Inhalten [45]. In der weit ausgreifenden Klassifikation von G. de Pamphilis erscheinen die überlieferten Disziplinen, wenn auch zum Teil mit neuen Namen, innerhalb der Grundeinteilung in objektive, subjektive und subjektiv-objektive bzw. objektivsubjektive Wissenschaften [46]. V. Gioberti legt seiner Gliederung die ontologische Formel «L'ente crea le esistenze» («Das Sein erschafft das Existierende») zugrunde. Das Subjekt («Sein») verweist auf die idealen Wissenschaften Ph. und Theologie. Die Kopula («erschafft») zeigt die Vermittlung zwischen Sein und Existenz an, die Vorstellungen von Raum, Zeit, Wissen und Tugend, die in Arithmetik, Geometrie, Logik und Moral behandelt werden. Unter das Prädikat («Existenzen») fallen die erschaffenen Wirklichkeitsbereiche («Sensibilia»), und zwar physische (Naturwissenschaften) und geistige (Psychologie, Kosmologie, Ästhetik, Politik) [47]. A. Rosmini-Serbati unterscheidet zunächst zwischen formalem oder reinem Wissen (einzige Disziplin: die Wissenschaft von den Ideen, ideologia) und materialem oder angewandtem Wissen (alle anderen Disziplinen). Zwischen beiden vermittelt die Logik [48]. Später differenziert er die Ph. in Wissenschaften der Intuition (Ideologie, Logik), der Wahrnehmung (Psychologie, Kosmologie) und der Vernunft (Ontologie, natürliche Theologie und Deontologie mit Ethik, Pädagogik, Politik u.a.) [49]. Bei Autoren des späteren 19. Jh. haben die empirischen Wissenschaften, die bei Rosmini fast fehlen, zum Teil an Bedeutung gewonnen; doch sind deshalb Ph. und Theologie nicht vernachlässigt [50].
Französische Klassifikationen des frühen 19. Jh. orientieren sich zunächst noch an derjenigen der Ideologen [51]. Einen Neuanfang setzt V. Cousin, der die fünf Wissenschaftsgruppen auf der jeweiligen ihr zugrunde liegenden Idee basieren läßt: der Idee des Nützlichen (Mathematik, Physik, Industrie, politische Ökonomie), der Idee des Gerechten (bürgerliche Gesellschaft, Staat, Recht), des Schönen (Kunst), Gottes (Religion) und der «réflexion» (Ph.). In der Ph. als «culte des idées» kulminieren die anderen Ideen; in ihr werden die speziellen Wissenschaften reflektiert und begriffen [52]. – Im Positivismus erlangen die empirischen Wissenschaften eine dominierende Stellung. Die Metaphysik und alle nicht auf Erfahrung beruhenden Disziplinen werden aus der Ph. eliminiert. Die selbst positiv gewordene Ph. hat als Erkenntnistheorie noch wissenschaftsbegründende Funktion. Als solche soll sie den Prozeß der Positivierung der Wissenschaften begreifen und beschleunigen. Schon Saint-Simon läßt nur noch vier Phänomenbereiche und entsprechende Wissenschaftsklassen zu: die «phénomènes astronomiques, physiques, chimiques, physiologistes». So wie in der bisherigen Geschichte sich der Astronom gegenüber dem Astrologen und der Chemiker gegenüber dem Alchemisten durchsetzte, wird auch die Physiologie die alte Ph. (Moral und Metaphysik) verdrängen. Die sozialen Phänomene werden sich auf physiologische reduzieren [53]. Die vier Klassen faßt Saint-Simon auch unter dem Oberbegriff «physikalische Wissenschaften» zusammen und erweitert sie um Psychologie und die Lehren von den astronomischen und irdischen Körpern [54].
A. Comte führt diese Form der Einteilung weiter. Die Mathematik bildet (wie auch bei Saint-Simon) den Anfang, und es folgen: Astronomie, Physik, Chemie, Physiologie und «physique sociale» oder Soziologie. Diese Reihenfolge, die eine notwendige ist, da jede Wissenschaft auf der vorigen beruht und die folgende vorbereitet, beschreibt gleichzeitig den wissenschaftlichen Entwicklungsgang der Menschheit: Die Mathematik als abstrakteste, einfachste und allgemeinste Wissenschaft steht am Anfang der Geschichte, die Soziologie als die komplizierteste, schwierigste und konkreteste Lehre hat erst angefangen, wahrhaft Wissenschaft zu werden [55]. Die Grundlinien dieser Einteilung sind bei Comte trotz einiger Modifikationen auch später beibehalten: Die Physiologie heißt dann ‹Biologie›, auf die Soziologie folgt noch die Moral [56], die Mathematik wird zur Logik und besteht aus Arithmetik, Geometrie und Mechanik [57]. Zugleich wollte Comte mit dieser Klassifikation auch einen Unterrichtsplan entwerfen und, wie bereits Saint-Simon, die politische Reorganisation der Gesellschaft auf der Grundlage des Fortschritts der exakten Wissenschaften betreiben [58].
Mehrere Autoren haben die positivistische Wissenschaftssystematik, trotz mancher Kritik an Comte, weitergeführt. Spekulative Ph., Theologie u.a. bleiben ausgeschlossen, Logik und Mathematik behalten ihre Grundlagenfunktion [59]. Aber auch ohne Bezugnahme auf Comte führt die Verselbständigung von ehemals zur Ph. gehörenden Disziplinen zu der Frage, welche Teile ihr noch verbleiben. So weist man der Ph. die Aufgabe zu, unter Rückgriff auf Kant und als Korrektur an der idealistischen Verabsolutierung der Ph. «den Begriff der Wissenschaft, dessen Gültigkeit in jeder besonderen Wissenschaft vorausgesetzt wird, zu erklären und zu begründen». Damit soll die Ph. zwar «Grundwissenschaft» bleiben und ihre Trennung von den Einzelwissenschaften verhindert werden, aber nicht mehr in die Bereiche der Erfahrung, z.B. der Natur und Geschichte, eingreifen [60]. Die Anerkennung der Selbständigkeit der Naturwissenschaften unter Beibehaltung der Ph. als «allgemeiner Wissenschaft» führt bald zu der Überzeugung, daß es nur noch zwei «Grundwissenschaften» gebe, die «Natur-» und «Geisteswissenschaften», und in «diesen beiden Hauptstämmen ... das verzweigteste Wissen» beschlossen liege [61]. Die Ph. kann dabei aber an zwei Stellen auftreten: Einmal ist sie Grundlage (Logik und Methodologie oder Erkenntnistheorie) für alle Wissenschaften, zum anderen gehört sie als Lehre von der (im Unterschied zu den Naturwissenschaften) «inneren Erfahrung» zu den Geisteswissenschaften. Dies zeigt sich bei E. Zeller[62] und in W. Diltheys frühem (und später nicht mehr fortgeführten) Systementwurf. Dort geht die Logik als «Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis» allen Einzelwissenschaften voran, Psychologie und Anthropologie begründen die «Wissenschaften des Geistes», Ethik, Rechts-, Staats-, Religions-Ph. und Ästhetik sind ihre «realen» Teile [63]. Aber gleichzeitig heißen auch die «Wissenschaften der Außenwelt» hier noch «Natur-PA.», und so ist beim frühen Dilthey die alte Einteilung in Logik, Metaphysik und Ethik in der Gesamtheit der Ph. äußerlich noch erkennbar, wenn sie auch inhaltlich anders als früher ausgefüllt ist.
Dies gilt auch für H. Lotze. Wichtiger als die formale Gliederung der Ph. ist auch für ihn das Verhältnis zu den Einzelwissenschaften. Die Ph. soll nicht nur die Theorie des Erkennens und Wissens leisten, sondern auch die «unruhigen Fragen» nach dem Grund und Zusammenhang allen Seins thematisieren, die von den Wissenschaften vernachlässigt werden (müssen). «Die Ph. ist eine Mutter, die durch Undank ihrer Kinder gekränkt wird. Einst war sie alles in allem gewesen». Nach der Emanzipation ihrer «Töchter» verbleibt aber der Ph. die Aufgabe, die «alten schweren Rätsel» zu lösen (zu versuchen), «welche die Hoffnung auf Einheit des menschlichen Wissens festhielten» [64]. Die «Aufgaben der Ph.» sind deshalb auch nicht metaphysikfeindlich: Diese selbst untersucht das «Denknotwendige»; Natur-Ph. und Psychologie die Erfahrungstatsachen, Ethik und Ästhetik das Billigen und Werten der Tatsachen. Diese Dreiheit wird in der Religions-Ph. auf einen «einzigen höchsten Gesichtspunkt» zurückgeführt [65].
Zur gleichen Zeit ist aber für O. F. Gruppe der Bestand der Ph. nur «gesichert», wenn sie sich von Religion und Metaphysik trennt, von allem «Abrakadabra» der Spekulation «verschont bleibt» und ihren «Frieden mit der Wissenschaft», d.h. den Erfahrungswissenschaften, macht. Sie enthält dann noch die Erkenntnislogik, eine empirisch ausgerichtete Psychologie und Natur-Ph. und außerdem «Ästhetik, Sittenlehre und Geschichte der Ph.» [66]. Eine «Regentschaft über die Wissenschaften» beansprucht sie nicht mehr [67]. Auch L. Büchner lehnt eine solche «Papstgewalt» der Ph. ab [68] und sieht die Ph. als «Vermittlerin» unter den Einzelwissenschaften, da sie deren «allgemeinste Resultate» aufzeichnet und «zu einem gemeinschaftlichen Bau des Geistes zusammenträgt». Die verbleibenden Teile der Ph. sind ähnlich wie bei Gruppe die Logik, Psychologie, Ästhetik, Sittenlehre und Rechts-Ph. [69].
Der Aufstieg des Positivismus hatte auch in Frankreich nicht notwendig zur Folge, daß die Ph. aus dem Wissenschaftskanon ausschied. A.-M. Ampères Einteilung besteht aus zwei großen Gruppen, den «sciences cosmologiques» mit Mathematik, Physik, Naturwissenschaften und Medizin, und den «sciences noologiques» mit Ph., «sciences dialegmatiques» (Glossologie, Literatur, Pädagogik u.a.), «sciences ethnologiques» (Ethnologie, Archäologie, Geschichte u.a.) und «sciences politiques». In der 128 einzelne Disziplinen umfassenden Tabelle wird einer jeden streng deduzierend eine bestimmte Stelle angewiesen, so daß auch Leerstellen für künftig erst auszubildende Disziplinen auftreten, für die die Namen schon existieren [70]. Näher an der Wirklichkeit bleibt A. A. Cournot. Er kennt fünf Hauptgruppen, die «sciences mathématiques», «sciences physiques et cosmologiques», «sciences biologiques», «sciences noologiques et symboliques» (Logik, Ästhetik, natürliche Theologie, Ethik u.a.) und «sciences politiques et histoire proprement dite». Jede Gruppe hat neben dieser theoretischen eine praktisch-technische Seite (bei der Physik die Industrie, bei der Politik die Militär- und Finanzwissenschaft usw.) und, mit Ausnahme der Mathematik, eine kosmologisch-historische Seite (Astronomie als kosmologische Seite der Physik, die Geschichte der Politik und des Handels als historische Seite der Politik). Die Einzelwissenschaften sind zwar unabhängig von der Ph., und die Ph. kann sich auch nicht der exakten Wissenschaft anpassen. Trotzdem sind beide aufeinander bezogen. Die Ph. verliert sich ohne die Wissenschaft «dans des espaces imaginaires»; die Wissenschaft gibt ohne die Ph. den Konnex zu den «besoins de la vie» auf [71].
Damit ist, wie exemplarisch bei Lotze und Cournot erkennbar, der Prozeß bezeichnet, in dem Ph. und Wissenschaft auseinandertreten, ohne deshalb völlig getrennt zu verlaufen. ‹Ph.› und ‹Wissenschaft› sind jetzt nicht mehr synonym, sondern stehen in Konkurrenz zueinander, können sich aber auch gegenseitig ergänzen. Die folgenden (zahlreichen) Klassifikationen sind so in erster Linie Einteilungen der Wissenschaften, in denen die Ph. nicht mehr oder nur noch mit einzelnen ihrer früheren klassischen Disziplinen verstreut vertreten ist. Die Ph. hat ihren Anspruch, von sich aus die Gesamtheit des Wissens zu entwickeln, aufgegeben. Die Logik behält zwar ihre Funktion als Einleitungs- oder Grundlagenwissenschaft, steht aber als solche neben der Mathematik [72]. Bei anderen Autoren tritt isoliert z.B. die natürliche Theologie [73] oder die Ethik [74] neben die zahlreich vorkommenden Naturwissenschaften. Anstelle der Ph. haben häufig Biologie, Psychologie oder Soziologie eine dominierende Stellung inne. Die somit aus ihrer Schlüsselfunktion entlassene Ph. ist selbst Einzelwissenschaft geworden und bildet ihre eigene innere Gliederung zumeist ohne den Blick auf die übrigen Wissenschaften aus. Für Ch. Sécrétan gehören Metaphysik, Moral und Logik zur Ph. [75], für F. Brentano Metaphysik und Psychologie, aus der auch die «praktischen Wissenszweige» (Ethik, Logik, Ästhetik) «ihre wesentliche Nahrung» beziehen [76]. E. von Hartmann zählt Erkenntnislehre, Natur-Ph., Psychologie, Metaphysik, Axiologie, ethische Prinzipienlehre, Religions-Ph. und Ästhetik zum System der Ph. [77]. Nach H. Cohen gehören jedoch nur Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie dazu [78]; ähnlich für P. Natorp Logik/Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Religions-Ph. und Psychologie [79]. W. Wundt versucht noch einmal, den überlieferten Disziplinenkanon der Ph. zu einem kohärenten System zu vereinigen. Es besteht aus «Erkenntnislehre» (formale: Logik; reale: Geschichte und Theorie der Erkenntnis) und «Principienlehre» (allgemeine: Metaphysik; besondere: Ph. der Natur [Kosmologie, Biologie] und Ph. des Geistes [Ethik, Rechts-Ph., Ästhetik, Religions-Ph.]) [80]. Später werden noch Psychologie und Anthropologie hinzugefügt [81]. Das Verhältnis der Ph. zu den Einzelwissenschaften hat sich aber auch bei Wundt umgekehrt: Statt diese zu bestimmen, sollte die Ph. von ihnen ausgehen und deren Aufgabe weiterführen, indem sie deren «allgemeine Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System vereinigt». Dadurch würde sie selbst «wissenschaftliche Ph.» werden [82].
Ulrich Dierse
[1]
Vgl. Ch. Wolff: Philosophia rationalis sive Logica (31740) 55–114: De partibus ph.ae; J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der ges. Weltweisheit (1733–34) 1, 5ff.; 2, 4ff.
[2]
I. Kant: Grundleg. zur Metaph. der Sitten. Akad.-A. 4, 387f.; Metaphys. Anfangsgründe der Naturwiss., a.O. 467f.
[3]
KrV B 863f.
[4]
Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre. Akad.-A. 6, 214. 217f.; KU, Einl. II, a.O. 5, 174f.
[5]
KU, Einl. III, a.O. 176.
[6]
G. B. Jäsche: Idee zu einer systemat. Encyklopädie aller Wiss.en. Philos. Journal einer Gesellsch. teutscher Gelehrten 1 (1795) 327–372; Einl. zu einer Architektonik der Wiss.en (1816) 11f. 22f.; W. T. Krug: Versuch einer systemat. Enzyklopädie der Wiss.en (1796–1809) 1, 17 (mit Vorschaltung der Philologie); L. H. Jakob: Tabellarischer Abriß einer Encyklopädie aller Wiss.en und Künste (1800) Vorrede; C. Ch. E. Schmid: Allg. Encyklopädie und Methodol. der Wiss.en (1810) 81ff.; K. Ch. Hefter: Philos. Darst. eines Systems aller Wiss.en (1806) 277ff.; A. F. von Kronburg: Allg. Wiss.lehre (1825) 33ff.
[7]
K. H. Heydenreich: Encyclopäd. Einl. in das Studium der Ph. (1793); K. H. L. Pölitz: Encyklopädie der ges. philos. Wiss.en im Geist einer neutralen Ph. (1807/08) 1, 39.
[8]
Krug, a.O. [6]; Jakob, a.O. [6].
[9]
J. G. Kiesewetter: Lehrb. der Hodegetik (1811) 60ff.; vgl. Schmid, a.O. [6].
[10]
Krug: Versuch einer neuen Eintheilung der Wiss.en (1805) 30ff.
[11]
Vgl. Krug, a.O. [6].
[12]
F. Bouterwek: Lehrb. der philos. Vorkenntnisse (21820) 18–22; Lehrb. der philos. Wiss.en (31820) 1, 9–11.
[13]
G. E. Schulze: Enzyklopädie der philos. Wiss.en (1814) 9f.
[14]
J. F. Fries: System der Ph. als evidente Wiss. (1804) 31ff.
[15]
D. Th. A. Suabedissen: Zur Einl. in die Ph. (1827) 39–53.
[16]
J. F. Herbart: Lehrb. zur Einl. in die Ph. (1813), hg. K. Häntsch (1912) 50ff.; ähnlich R. Zimmermann: Philos. Propädeutik (31867).
[17]
F. W. J. Schelling: System des transz. Idealismus (1800). Sämmtl. Werke, hg. K. F. A. Schelling (1856–61) 3, 340–342. 346–349.
[18]
Vorles. über die Methode des akad. Studiums (1803), a.O. 5, 213. 231. 214f. 255.
[19]
a.O. 283f. 351.
[20]
G. W. F. Hegel: Enzyklopädie §§ 16. 18 (31830), hg. F. Nicolin/O. Pöggeler (1959) 49. 51.
[21]
§ 24, a.O. 58.
[22]
Nürnberger philos. Propädeutik. Jub.ausg., hg. H. Glockner 3 (31949) 168–227; Gutachten für I. Niethammer (1812), a.O. 305–310.
[23]
Jenenser Real-Ph., hg. J. Hoffmeister (1967); vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (1970) 18ff.; R. P. Horstmann: Jenaer Systemkonzeptionen, in: O. Pöggeler (Hg.): Hegel. Einf. in seine Ph. (1977) 43–58.
[24]
K. Rosenkranz: System der Wiss.en (1850); C. L. Michelet: Das System der Ph. als exacter Wiss. (1876–78).
[25]
H. Ritter: Encyklopädie der philos. Wiss.en (1862–64).
[26]
K. Ph. Fischer: Grundzüge des Systems der Ph. (1848–55).
[27]
H. A. Oppermann: Encyclopädie der Ph. (1844).
[28]
L. Noack: Propädeutik der Ph. (1854).
[29]
H. M. Chalybäus: Entwurf eines Systems der Wiss.lehre (1846) 73–75.
[30]
I. H. Fichte: Grundzüge zum System der Ph. (1833–46).
[31]
L. Feuerbach: Über den ‘Anfang der Ph.ʼ (1841). Sämtl. Werke, hg. W. Bolin/F. Jodl (1903–11, ND 1959) 2, 214.
[32]
Nach dem Bericht von W. Bolin: L. Feuerbach (1891) 65.
[33]
F. D. E. Schleiermacher: Dialektik (181 1ff.), hg. K. Odebrecht (1942, ND 1976) 459–461.
[34]
a.O.; Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Werke, hg. O. Braun/J. Bauer (21927/28) 2, 248. 496f. 535f.; vgl. H.-J. Birkner: Schleiermachers christl. Sittenlehre (1964) 30ff.; E. Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wiss.en bei Schleiermacher (1974); G. Scholtz: Die Ph. Schleiermachers (1984) 64ff.
[35]
K. Ch. F. Krause: Vorles. über das System der Ph. (1828); vgl. Abriss des Systems der Ph. (1883).
[36]
Vorles., a.O. 22–24.
[37]
Philos. Abhandlungen (1889) 22–38: Welches die Theile der Ph. sind.
[38]
J. Bentham: Chrestomathia (1816). Works, hg. J. Bowring (Edinburgh 1838–43) 8, nach 82.
[39]
S. T. Coleridge: Treatise on method, hg. A. D. Snyder (London 1934) XVIII, auch in: R. Collison: Encyclopedias (New York/London 1964) 243ff.
[40]
J. W. Lubbock: Remarks on the classification of the different branches of human knowledge (London 1838) 23ff.
[41]
W. Hamilton: Lectures on metaphysics and logic (London 1865–66) 1, 125.
[42]
G. Ramsay: A classification of the sci. in six tables (Edinburgh 1847).
[43]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorst. II, 1, 12. Sämtl. Werke, hg. J. Frauenstädt/A. Hübscher (2194650) 3, 139f.
[44]
J. von Görres: Vorträge über Encycl. und Methodol. des akad. Unterrichts [gehalten 1842] (1891) 20–23.
[45]
J. Ventura: De methodo philosophandi (Rom 1828).
[46]
G. de Pamphilis: Genographia dello scibile (Neapel 1829).
[47]
V. Gioberti: Introd. allo studio della filos. (Capolago 1849–50) 3, 12ff.; vgl. K. Werner: Die ital. Ph. des 19. Jh. 2 (1885) 143ff.
[48]
A. Rosmini-Serbati: Nuovo saggio sull'origine dell'idee. Opere edite e inedite. Ed. naz. 5 (Rom 1934) 273f.
[49]
Sistema filosofico, a.O. 2 (1934) 285.
[50]
G. Peyretti: Istituzioni di filos. teoretica (Rom 1874) 317ff.; C. Cantoni: Corso elementare di filos. (Mailand 1870, 121901) 8ff.; S. Corleo: Il sistema della filos. univ. (Rom 1879) 289ff.; ein Rekurs auf F. Bacon bei A. Valdarnini: Principio intendimento e storia della classificazione delle umane conoscenze secondo F. Bacone (Florenz 1870).
[51]
P. F. Lancelin: Introd. à l'analyse des sci. (Paris an IX–XI/1801–03).
[52]
V. Cousin: Cours de l'hist. de la philos. moderne II/1: Introd. à l'hist. de la philos. Nouv. éd. (Paris 1847) 5–17.
[53]
C.-H. de Saint-Simon: Lettres d'un habitant de Genève (1802). Oeuvres de Saint-Simon et d'Enfantin (Paris 1865–78, ND 1963/64) 15, 36. 38–41.
[54]
Memoire sur la sci. de l'homme, a.O. 40, 88.
[55]
A. Comte: Cours de philos. positive 1 (Paris 1830, 51892) vor 1.
[56]
Catéchisme positiviste (1852), hg. P.-F. Pécaut (Paris o.J.) 98.
[57]
Synthèse subjective 1 (Paris 1856) 55; vgl. P. Laffitte: Cours de philos. première 2 (Paris 1894) 253ff.
[58]
Discours sur l'esprit positif (Paris 1844); Cours ..., a.O. [55].
[59]
E. de Roberty: La sociologie (Paris 1881); L. Bourdeau: Théorie des sci. (Paris 1882) (hier statt der Soziologie die «Praxéologie» am Ende); E. Goblot: Essai sur la classification des sci. (Paris 1898).
[60]
F. Harms: Prolegomena zur Ph. (1852) Vif.
[61]
A. L. Kym: Die Weltanschauungen und deren Consequenzen (1854) 12. 14; zu Harms und Kym vgl. K. Ch. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus (1986) 131–136.
[62]
E. Zeller: Über die Aufgabe der Ph. und ihre Stellung zu den übrigen Wiss.en (1868). Vorträge und Abhandlungen 2 (1877) 445–466.
[63]
W. Dilthey: Grundriss der Logik und des Systems der philos. Wiss.en (1865). Ges. Schr. 20 [im Druck]; vgl. E. W. Orth: Dilthey und Lotze. Zur Wandlung des Ph.-Begriffs im 19. Jh. Dilthey-Jb. 2 (1984) 154–158.
[64]
H. Lotze: Mikrokosmus (1856–64, 4188488) 3, 228f.; vgl. Orth, a.O. 140–154 und Einl. zu Orth (Hg.): Dilthey und der Wandel des Ph.-Begriffs seit dem 19. Jh. (1984) bes. 15f.
[65]
Grundzüge der Logik und Enzykl. der Ph. (51912) 100–102.
[66]
O. F. Gruppe: Gegenwart und Zukunft der Ph. in Deutschland (1855) 263ff. 272. 274f.
[67]
Wendepunkt der Ph. im 19. Jh. (1834) 1.
[68]
L. Büchner: Am Sterbelager des Jh. (1898) 97ff.
[69]
Aus Natur und Wiss. (1862) 234f.
[70]
A.-M. Ampère: Essai sur la philos. des sci. (Paris 1834–43); kosmolog. und noolog. Wiss. auch bei J. Duval-Jouve: Traité de logique ou essai sur la théorie des sci. (Paris 21855) 382ff.
[71]
A. A. Cournot: Essai sur les fondements de nos connaissances (1851). Oeuvr. compl. 2 (Paris 1975) 381. 399ff.
[72]
Z.B. bei H. Spencer: The classifications of the sci. Essays 3 (London 31878) 9–32; R. de La Grasserie: De la classification objective et subjective des arts, de la litt. et des sci. (Paris 1893); A. Bain: Logic 1 (London 1879) 25ff.; Ch. Renouvier: Essais de critique gén. 2: Traité de psychol. rationelle (Paris 1859, nouv. ed. 1912) 142–177.
[73]
W. Whewell: The philos. of the inductive sci. (London 21847, ND 1967) 2, 113–118; H. M. Stanley: On the classification of the sci. Mind 9 (1884) 265–274.
[74]
W. D. Wilson: An elementary treatise of logic (New York/London 1856); A. Naville: Nouvelle classification des sci. (Paris 1888, 21901) 179ff.: Moral als Teil der «canonique» oder «sciences des règles d'action».
[75]
Ch. Secrétan: Précis élémentaire de philos. (Lausanne 1868) 12f.
[76]
F. Brentano: Was ist Ph.? (1901), in: Religion und Ph. (1954) 90.
[77]
E. von Hartmann: System der Ph. im Grundriß 1–8 (1907–09).
[78]
H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (1902); Ethik des reinen Willens (1904); Ästhetik des reinen Gefühls (1912); Psychologie nicht mehr erschienen; vgl. H. Holzhey: Einl. zu: Logik. Werke 6 (1977) VII*.
[79]
P. Natorp: Philos. Propädeutik (1903, 51927) 11f.; Ph., ihr Problem und ihre Probleme (1911).
[80]
W. Wundt: System der Ph. (1889) 33ff.; vgl. Ueber die Eintheilung der Wiss.en. Philos. Studien 5 (1886) 1–55.
[81]
Einl. in die Ph. (41906) 79ff.
[82]
System der Ph., a.O. [80] 21.
R. Flint: Philosophy as scientia scientiarum and a hist. of classifications of the sci. (Edinburgh/London 1904, ND 1972). – B. M. Kedrow: Klassifizierung der Wiss.en (1975/76). – U. Dierse: Enzyklopädie (1977).
G. Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken. – Phänomenologie und Existenzphilosophie zeichnen sich in besonderem Maße aus durch eine starke Verklammerung von Methodik und Thematik. Wo diese Klammer erhalten bleibt, erwächst der Anspruch auf eine neuartige Verwirklichung, eine Selbstverwandlung oder auch auf eine Überwindung der herkömmlichen Ph. Wo die Klammer sich lockert, werden phänomenologisches Schauen und existentielles Denken zu bloßen Komponenten, Korrektiven oder Proömien anderer, meist traditioneller Formen der Ph., und im äußersten Falle bleibt nicht viel mehr zurück als eine Reihe vager Forschungsmaximen und Lebensimpulse. Die verschiedenen Formen der Erneuerung haben in Husserls Phänomenologie und Kierkegaards Existenzdenken ihre getrennten Anfänge, doch wachsen beide immer mehr zusammen zu einem Spannungsfeld, das keine säuberliche Abgrenzung zuläßt.
Die Parole «Zu den Sachen selbst!», die E. Husserl um die Jahrhundertwende ausgibt, weist hin auf den Versuch, Eigenart und Vielfalt der Erfahrung einem unvoreingenommenen und unverstellten Blick zu öffnen und so die Tradition philosophischer Radikalität zu erneuern. Hierzu empfiehlt er eine «philosophische ἐποχή», die alle vorgegebenen Lehrinhalte suspendiert und damit von allen «faktischen philosophischen Richtungen» und «Standpunktsphilosophen» abrückt [1]. Maßgebend sind für Husserl wie für seine positivistischen Zeitgenossen die strengen Anforderungen der Wissenschaften, doch werden diese überboten durch einen umfassenden Vernunftanspruch, der deren «Positivität» hinter sich läßt [2]. Die «reine Phänomenologie» versteht sich als «Wissenschaft von ‘Phänomenenʼ» [3]; orientiert an der «Idee absoluter Erkenntnis», wird sie zur «ersten aller Philosophien» und ist so «die unabläßliche Vorbedingung für jede Metaphysik und sonstige Wissenschaft – ‘die als Wissenschaft wird auftreten könnenʼ» [4].
‹Ph. als strenge Wissenschaft› lautet daher der Titel der Programmschrift von 1911. «Wissenschaftliche Ph.» steht hier gegen eine Weltanschauungs-Ph., die der persönlichen Erfahrung, Bildung und Weisheit dient und sich auf praktische, zeitliche Ziele verlegt, während sie selber im überpersönlichen Zusammenwirken von Forschergenerationen an zeitlosen Zielen arbeitet und Tiefsinn durch Klarheit und Deutlichkeit ersetzt [5]. Die Geschichte ist für das theoretische Denken nur Motivationsfeld, nicht Gegenstand: «Nicht von den Ph.n, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb der Forschung ausgehen» [6]. Auf der anderen Seite steht das Zerrbild einer Ph. als empirischer Wissenschaft, welche Geltungsansprüche in Naturprozessen gründen läßt. Eine wahre «Ph. von unten» [7] beginnt mit den strukturalen Gegebenheiten der Erfahrung und nicht mit Konstruktionen. Indem sie aufklärt, statt zu erklären, gewinnt die Ph. eine völlig neue Dimension und Methode der Erkenntnis [8]. In diesem Sinne ist sie «Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den wahren Ursprüngen, von den ῥιζώματα πάντων» [9]. Husserl erneuert die alte Idee der Ph. als Grund- und Gesamtwissenschaft, indem er auf letzter Begründung, absoluter Selbstverantwortung und universaler Selbstbesinnung beharrt [10].
Diese Idee bleibt verbindlich, auch wenn die Ph. im Spätwerk Husserls mehr und mehr in die Geschichte verwickelt wird. Diagnostisch gesehen verquickt sich die Krise der Ph. mit der Krisis der europäischen Wissenschaft und der europäischen Kultur [11]. Dies nötigt zur historischen Rückbesinnung. Die Idee strenger Wissenschaft verwandelt sich in eine «Zweckidee» [12], die Phänomenologie rückt ein in eine Geschichte der Vernunft, als deren «Endstiftung» sie einen neuartigen Anfang setzt [13]. Dabei verbindet sich ihre theoretische Universalität mit einer universal interessierten Praxis, und die Philosophen werden zu «Funktionären der Menschheit» [14].
Innerhalb der phänomenologischen Bewegung scheiden sich die Geister an der Frage, wie das Programm wahrzumachen ist. Für Husserl selbst führt der Weg in die Ursprungssphäre eines reinen Bewußtseins, das keine Realität außer sich hat. In der transzendentalen Phänomenologie vollendet sich die Ph., auch Metaphysik ist fortan nur noch möglich als «transzendentale Metaphysik» [15]. Die frühen Phänomenologen des Münchener und Göttinger Kreises sind Husserl hierin nicht gefolgt. Für A. Pfänder ist die Phänomenologie letzten Endes nur Grundlage der Ph., nicht diese selber, da sie uns nur das Bewußtsein von der Wirklichkeit vermittelt [16]. Im übrigen überwiegt die Konzeption von der Phänomenologie als einer Wesenslehre, wie A. Reinach sie exemplarisch entwickelt hat [17]. Bei M. Geiger, H. Conrad-Martius und R. Ingarden wird diese ontologische Phänomenologie auf verschiedene Weise ergänzt durch Erkenntnistheorie und Metaphysik [18]. Bei anderen Autoren wie E. Stein und D. von Hildebrand geht die Phänomenologie am Ende auf in einer thomistisch oder augustinisch gestimmten «ph.a perennis» [19].
Eine radikalere Umformung der Husserlschen Konzeption begegnet uns bei M. Scheler. In seiner magistralen Überschau über die deutsche Ph. der Gegenwart begrüßt er die Phänomenologie als eine «Sach-Ph.», die sich von «Standpunkt- und Schul-Ph.n» absetzt [20]. Doch lockert er das Junktim von Ph. und Wissenschaft, indem er der Ph. innerhalb einer Skala von Wissensformen, Lebensweisen und Weltauffassungen einen genuinen Ort zuweist. In seinem Aufsatz ‹Vom Wesen der Ph.› (1917) definiert er die philosophische Geisteshaltung als einen Akt liebender Teilnahme am Wesenhaften aller möglichen Dinge [21], allerdings einer Teilnahme durch Erkenntnis, die eine unmittelbare «Erlebnis-Ph.» ausschließt [22]. Da das Sein nicht in seinem Erkanntsein aufgeht, öffnet sich ein weiterer Weg höherer Teilnahme. Die Ph. ist daher zwar «Königin der Wissenschaften», zugleich aber «Magd des Glaubens» (nicht der Theologie!). In terminologischer Abhebung von Husserl [23] wird unterschieden zwischen natürlicher Weltanschauung, die sich auf partikuläre Umwelten beschränkt, wissenschaftlicher Weltauffassung, die auf eine allgemeine menschliche Umwelt ausgreift, und einer philosophischen Weltanschauung, die sich auf ein absolutes Sein richtet.
In der späteren Trichotomie der Wissensformen [24] tritt die Ph. in mehreren Gestalten auf. Über das Leistungs- und Herrschaftswissen der positiven Wissenschaften erhebt sich das Wesens- oder Bildungswissen der Ersten Ph., die es mit Seinsweisen und Wesensstrukturen zu tun hat und sich weitgehend mit Husserls eidetischer Phänomenologie deckt. Darüber wölbt sich das Erlösungs- oder Heilswissen der Metaphysik, die sich dem absoluten Sein zuwendet. Das entscheidende Sprungbrett ist die philosophische Anthropologie, die bei H. Plessner fortentwickelt und bei A. Gehlen zu einer «empirischen Ph.» neutralisiert wird [25]. Der Weg in die Ph. läuft über eine Ausschaltung des triebhaft praktischen Verhaltens und teilt sich später in den apollinischen Weg der «phänomenologischen Reduktion», auf dem wir uns vom Dasein zum reinen Wassein der Welt erheben, und den einer «dionysischen Reduktion», mit der wir uns in ein «vorreales Leben» versenken [26]. Die Phänomenologie berührt sich hier mit der Lebensphilosophie.
Bei M. Heidegger drängt nicht nur die Phänomenologie, sondern auch die Ph. über sich selbst hinaus. Gleich zu Anfang radikalisiert sich die Ph. zur «Urwissenschaft als vor-theoretischer Wissenschaft» [26a]. In der Folge verschmelzen Husserlsche, Kierkegaardsche und Diltheysche Motive zu einer Konzeption, die Altes in ein neues Licht rückt. «Ph. ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens allen philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt» [27]. In dieser Definition verweist Ontologie auf das Grundthema der Ph., Phänomenologie bezeichnet die Behandlungsart, und Hermeneutik bezieht sich auf das Dasein als Horizont und Fundament jeglicher Ontologie. Heidegger folgt Husserl, indem er die Maxime «Zu den Sachen selbst!» aufgreift und die Phänomenologie als richtungs- und standpunktfreie «Wissenschaft von den Phänomenen» versteht [28]. Er weicht von Husserl ab, indem er die Sachen selbst nicht mehr in einer Phänomenologie des Bewußtseins sucht, sondern in einer «Phänomenologie des Daseins» [29], die der Ausarbeitung der Seinsfrage dient. Rückblickend deutet Heidegger diese anfängliche «hermeneutische Phänomenologie» als den Versuch, «das Wesen der Phänomenologie ursprünglicher zu denken, um sie auf diese Weise eigens in ihre Zugehörigkeit zur abendländischen Ph. zurückzufügen» [30]. Die weitere Besinnung auf eine Seinsgeschichte hat zur Folge, daß Heidegger nicht nur auf den Titel ‹Phänomenologie› verzichtet [31], sondern schon bald von der Ph. insgesamt abrückt. Diese erscheint als ein Unternehmen, das erst mit Sokrates und Platon einsetzt, sich als Metaphysik und Humanismus darstellt und mit der Technisierung der Wissenschaften seine Vollendung erreicht. Dieses Ende schafft Raum für ein künftiges Denken, das Ungedachtes denkt, «was zu denken nicht mehr Sache der Ph. sein kann» [32]. Allerdings spricht Heidegger auch wohl von einem «künftigen Wesen der Ph.» als einem «Entsprechen, das den Zuspruch des Seins des Seienden zur Sprache bringt» [33].
Im Umkreis Heideggers fehlt es nicht an Versuchen, transzendentale und hermeneutische Phänomenologie zusammenzuführen, so etwa bei O. Becker, L. Landgrebe und W. Szilasi. Letzterer betont vor allem den philosophischen Charakter, der den Wissenschaften selber zukommt, und setzt die Ph. ein als «Grenzwache gegen das Nichtwißbare» [34]. E. Fink schließlich, der einstige Wortführer Husserls, strebt über Husserl und Heidegger hinaus, indem er die Phänomenologie seinsbegrifflich auslegt und die Seinsfrage selber noch auf einen kosmologischen Hintergrundstellt [35].
Die Denkweise, die man seit den ausgehenden zwanziger Jahren als Existenz-Ph. zu bezeichnen pflegt, findet ihren unumwundenen Ausdruck bei K. Jaspers. In seinem philosophischen Erstlingswerk ‹Psychologie der Weltanschauungen› (1919) behilft er sich noch mit dem schroffen Gegensatz zwischen «prophetischer Ph.», die eine Weltanschauung gibt, und einer «Weltanschauungspsychologie», die alle Weltanschauungen versteht. Diese Mischung von Religion, Ph. und Wissenschaft gibt der Autor bald auf [36]. Bei seiner eigenen Orientierung wird die Phänomenologie Husserls lediglich gestreift. Methodisch würdigt Jaspers zwar die Methode einer «psychologischen Deskription», doch in der «Ph. als strenger Wissenschaft» erblickt er einen «Verrat an der Ph.», den sie mit anderen Formen der «Professoren-Ph.» wie Idealismus, Positivismus und Neukantianismus teilt [37]. Jaspers' eigenes Denken, das in seinem Hauptwerk ‹Ph.› (1932) seine umfassende Gestalt gefunden hat, zehrt einerseits von dem krisenhaften Denken Kierkegaards und Nietzsches, andererseits vom kritischen Denken Kants. Zunächst übernimmt Jaspers den Titel einer «Existenzphilosophie» [38], doch geschieht dies nicht im Sinne eines «Existentialismus», der sich auf die Existenz beschränkt [39], sondern im Sinne eines Denkens, das sich im Medium der Existenz bewegt. «Daß sie die Existenz nicht in sich einschließt, wird daher der Prüfstein aller Existenz-Ph.» [40]. Thematisch läuft die Ph. über die drei Etappen von Weltorientierung, Existenzerhellung und Metaphysik. Methodisch präsentiert sie sich als ein dreifaches Transzendieren, das über alles Gegenständliche hinauszielt, indem es das Sein in Schwebe bringt, an die Freiheit des Einzelnen appelliert und die Transzendenz beschwört. Philosophieren ist ursprünglich ein «in allem Transzendieren gegenwärtiges Denken» und kein «aussagendes Philosophieren», keine Ph. [41]. Im weitesten Sinne ist daher alles Philosophieren Existenzerhellung [42]. Doch dieses erwächst nicht nur aus dem Dasein, sondern steht im Bunde mit der Sachkunde der Wissenschaften, die es übersteigt, und lebt im Widerstreit mit den Wahrheitsansprüchen der Religion, die es in einen philosophischen Glauben und eine Auslegung von Chiffren zurücknimmt [43].
Späterhin verschiebt sich der Akzent auf eine Bipolarität von Vernunft und Existenz. Die Existenzerhellung wird ergänzt durch eine vage umrissene «philosophische Logik» [44], die eine «Selbsterhellung der Vernunft» erwirken soll [45]. Jaspers bekennt sich zu einer «ewigen Ph.», die neu auf den Weg zu bringen ist [46]. Den Titel «Existenz-Ph.» lehnt er nun als irreführend ab [47] und spricht sich aus für eine «Ph. der Vernunft» [48]. Als «systematische Klärung unseres Grundwissens» [49] kehrt die Ph. in vertraute Bahnen zurück. Der Abstand zu einer christlichen Existenz-Ph., wie P. Wust sie unter französischem Einfluß entwickelt [50], verringert sich.
In den Zwischenkriegsjahren bilden sich in den romanischen Ländern besondere Spielarten der Existenz-Ph., die vielfach auf den direkten Einfluß Kierkegaards und Nietzsches, teilweise auch auf Einwirkungen des amerikanischen Pragmatismus zurückgehen. Zumal in Frankreich entsteht ein spezifisches Amalgam aus Phänomenologie und Existenz-Ph., das durch Bergsons Lebens-Ph. und Hegel-Marxsches Geschichtsdenken angereichert wird und sich bei Grenzgängern wie J. Wahl, V. Jankélevitch oder E. Mounier mit spiritualistischen und personalistischen Tendenzen verbindet. Der neuartige Charakter dieser Ph. bekundet sich weniger in expliziten Abgrenzungen und Umbestimmungen als vielmehr in einem besonderen Denk- und Schreibstil, der die etablierte Universitäts-Ph. nachhaltig verändert und zu einer größeren Durchlässigkeit von Ph. und Nicht-Ph. führt. Die traditionelle Sezierkunst der Moralisten spielt dabei ebenso eine Rolle wie die öffentliche Figur des Homme de lettres, so daß die philosophische Reflexion weit ins Politische hineinreicht und bei A. Camus, J.-P. Sartre, S. de Beauvoir, G. Marcel und A. Malraux auch im literarischen Schaffen seinen Niederschlag findet.
In Spanien hatte schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs der Dichter, Essayist und Philosoph M. de Unamuno eine Ph. des tragischen Lebensgefühls entwickelt [51], die den leibhaftigen Menschen, seinen Lebensdrang und sein Unsterblichkeitsverlangen in den Mittelpunkt rückt, die Schranken wissenschaftlicher Disziplin durchbricht und – ähnlich wie später Scheler – Metaphysik als «metantrópica» versteht [52]. Verwandten Geistes sind zwei russische Emigranten, die zu den Wegbereitern der Existenz-Ph. in Frankreich gehören. Der eine, L. Schestow, setzt der Einsicht der Vernunft die Absurdität des Lebens entgegen, indem er Kierkegaard gegen Husserl stellt [53]. Der andere, N. Berdjajew, verficht eine prophetische, aus sozialen und religiösen Quellen gespeiste Ph. der Freiheit, indem er Anregungen von Jaspers, Heidegger, Scheler und Buber aufgreift und sie mit russischen Geschichtsvisionen verschmilzt. Dabei unterscheidet er Kierkegaards Philosophieren, das selbst Existieren ist, von einer objektiven «Ph. des Existierens» und stellt, ohne terminologische Strenge, der «Existenz-Ph.» eines Jaspers und Heidegger seine «existentielle Ph.» entgegen [54].
Doch der wichtigste Vorläufer der französischen Phänomenologie und Existenz-Ph. ist G. Marcel, dessen philosophische Anfänge bis an die Schwelle des Ersten Weltkriegs zurückreichen und zunächst ohne Bezugnahme auf Husserl und Kierkegaard Gedankengut des deutschen und angelsächsischen Idealismus verarbeiten. Nachträglich charakterisiert er sein Denken selber als «konkrete Ph.» [55]. Einem objektiven, unpersönlichen, systematisch geschlossenen Denken setzt er mit Blondel ein «denkendes Denken» entgegen, ein «Philosophieren hie et nunc», das auf der Suche bleibt und nichts ist als «in Denken verwandelte Erfahrung» [56]. Diese Ph., die in Tagebuchaufzeichnungen und im Drama ihre genuine Form findet, stellt sich dar als «Metakritik», die auf eine «Metaproblematik» ausgeht, nämlich darauf, «der menschlichen Erfahrung ihr ontologisches Gerüst wiederzugeben», und die sich in «konkreten Annäherungen» an das «ontologische Geheimnis» herantastet [57]. Anfangs bezeichnet Marcel diese Versuche schlichtweg als «Metaphysik» [58]; in den dreißiger Jahren legt ei einige als phänomenologisch deklarierte Studien vor, doch bleibt «Phänomenologie» für ihn bloße Vorstufe für eine ontologische oder metaphysische Besinnung; in den vierziger Jahren übernimmt er vorübergehend das Etikett eines «christlichen Existentialismus», um dieses alsbald gegen den Titel eines «christlichen Sokratismus» oder «Neosokratismus» einzutauschen [59].
Die Bezeichnung ‹Existentialismus›, die im Frankreich der vierziger Jahre und etwas eher noch in Italien um sich greift, bezeichnet kaum mehr als einen vorübergehenden Krisenherd. Zur Charakterisierung des derart etikettierten Denkens reicht sie bei weitem nicht aus. und kaum einer der Betroffenen hat sich auf die Dauer mit dieser Bezeichnung abgefunden. N. Abbagnano, der als der Urheber des italienischen Existentialismus gilt [60], sucht einen Mittelweg zwischen ‘negativemʼ und ‘ontologischemʼ oder ‘theologischemʼ Existentialismus, indem er den Möglichkeitscharakter der Existenz betont und von daher eine konkrete, kategorial gefestigte «Ph. der Möglichkeiten» entwickelt [61]. SelbstCamus, der in seinem ‹Mythos des Sisyphos› (1942) eine «sensibilité absurde» zu wecken sucht, wendet sich dort gegen den «philosophischen Selbstmord» sowohl derer, die – wie Husserl – an die Vernunft glauben, wie derer, die – wie die Existenzphilosophen – an ihr verzweifeln. Was er selber anbietet, ist allerdings mehr eine Haltung als eine ausdrückliche Ph.: «wenn die Revolte eine Ph. begründen könnte, so wäre es eine Ph. der Grenzen, des kalkulierten Nichtwissens und des Risikos» [62]. Zur eigentlichen Verquickung von Phänomenologie und Existenz-Ph. kommt es erst bei Sartre und Merleau-Ponty, so daß man hier von einer «phénoménologie existentielle» sprechen kann: die Phänomenologie wird zur Methode, die in den Dienst einer beherrschenden Problematik tritt, nämlich der Problematik der Existenz [63]. Allerdings trifft auch diese Charakterisierung in beiden Fällen nur vorübergehend zu.
J.-P. Sartre spricht über die Ph., die er praktiziert, fast nur beiläufig. Ohne viel Umstände schmiedet er aus vorliegenden Denkformen seine Werkzeuge und Waffen. Das gilt für die phänomenologische Psychologie des Frühwerks, für die phänomenologische Ontologie in ‹L'être et le néant›, für die anthropologische Vermählung von Marxismus und Existentialismus in der ‹Critique de la raison dialectique› wie schließlich auch für die spätere Hermeneutik des Flaubert-Buchs. Wie ein rotes Band läuft durch das Gesamtwerk eine Ph. der Freiheit. So sehr Sartre in seinen Bewußtseins- und Existenzanalysen Husserl und Heidegger nacheifert, der schroffe Gegensatz zwischen der Spontaneität eines sinnsetzenden Bewußtseins und der Trägheit sinnfremder Dinge wirft die Existenz immerfort auf sich selbst zurück, die Ph. der Existenz steht auf schwankendem Boden. Scheint sie zunächst auf dem Wege einer «reinigenden Reflexion» einen Zufluchtsort zu finden, der sie der Nutzlosigkeit allen Tuns entreißt [64], so tendiert sie in der Folgezeit dahin, in der direkten Aktion ihr Heil zu suchen, sei es in einer individuellen Wahlhandlung, die sich auf die Menschheit verpflichtet [65], sei es in einer revolutionären Tat, die eine freie Gesellschaft schaffen soll. Die «neue Ph.», die hier angeboten wird, schillert zwischen einer «Ph. der Revolution», einer «Ph. für Revolutionäre» und einer «revolutionären Ph.», die bereits Handeln ist[66]. Der Existentialismus droht sich aufzulösen in einen «marxisme vécu».
Erst die Adaption der marxistischen Theorie schafft eine gewisse Distanz. Im Rahmen dieser Theorie verwandelt sich die Ph. in einen historischen Plural; als «Totalisierung des zeitgenössischen Wissens» wird sie zum «Kulturmedium», zum «Emanzipationsmittel» usw., und in diesem Sinne ist jede Ph. praktisch; erfüllt sie diese Rolle nicht mehr, so sinkt sie herab zur Ideologie, einem «parasitären Wissen am Saum des Wissens» [67]. Damit ist das Verhältnis von Existentialismus und Marxismus bereits umschrieben, allerdings noch nicht ganz. Der Marxismus ist die Ph. unserer Zeit, doch ist er so erstarrt, daß er des belebenden Ferments des Existentialismus und auch der Vermittlung der Humanwissenschaften bedarf, um sich in eine «konkrete Anthropologie» zu verwandeln [68] und die Dialektik als «Logik der Freiheit» zu handhaben [69]. Außerdem winkt jenseits des Regimes der Knappheit ein Reich und eine «Ph. der Freiheit», von der wir uns noch keinen Begriff machen können [70]. Dieser utopische Überschuß erlaubt es Sartre, in späten Jahren nochmals seinen «Existentialismus» gegen eine marxistische «Ph. der Macht» auszuspielen [71], die Kampfmoral durch eine dialogische «Moral des Wir» zu überbieten – und nochmals eine radikal neue Ph. anzuvisieren [72]. Deutlicher als diese Endvisionen sind Sartres schriftstellerische Rückbetrachtungen. Ph. erscheint nun als der Versuch, mit begrifflichen Mitteln so nahe wie möglich ans konkret Allgemeine heranzukommen; als Reflexion ist sie «der tote Punkt der Praxis», weil sie der Praxis gleichzeitig nach- und zuvorkommt; die «densité concrète du vécu» erreicht sie immer nur indirekt [73]. Woran Sartre gegenüber allen seinsgeschichtlichen und Strukturalistischen Versuchungen festhält, das ist eine entschiedene Anthropozentrik: «Das Feld der Ph. ist der Mensch» [74].
In gewisser Hinsicht ist M. Merleau-Ponty der Antipode Sartres. Während dieser den Bruch mit der Wirklichkeit forciert, betont jener das leibliche Eingebundensein in die Welt [75]. In gleichzeitiger Anknüpfung an den späten Husserl und an Heidegger entwickelt Merleau-Ponty eine phänomenologische Ph., die nicht bloßer Reflex einer vorgängigen Wahrheit ist, sondern – gleich der Kunst – «Realisierung von Wahrheit»; ihre Suche richtet sich auf den Sinn von Welt und Geschichte in statu nascendi, und so spiegelt sich in ihrer eigenen Unvollendetheit die Unfertigkeit der Welt [76]. Eine «radikale Reflexion» verlagert das Zentrum der Ph. von einer autonomen Subjektivität an den Ort, wo unsere Reflexion ständig neu entspringt [77], und so verwirklicht sich die Ph., indem sie sich als getrennte aufhebt [78]. Es gibt keine «reine Ph.», die Ph. ist überall, selbst in den sog. Tatsachen; doch ist eine solche konkrete Ph. keine «glückliche Ph.», die im Vorhandenen zu Hause wäre [79], vielmehr ist sie eine «kämpferische Ph.», die den Positivismus der Nicht-Ph. befehdet [80]; sie ist die «Utopie eines Besitzes auf Distanz» [81]. Dabei «antizipiert die Erfahrung eine Ph., sowie die Ph. nichts anderes ist als aufgehellte Erfahrung» [82]. In einer Wissenschaft verkörpert sich bereits eine «implizite Ph.», etwa eine «Ph. der Gestalt» oder eine «Ph. der Struktur», die es kritisch zu entfalten gilt [83]. Die Ph. beansprucht gegenüber den Wissenschaften keinen eigenen Bereich, sondern nur eine bestimmte Bewußtseinsweise: «Die Ph. ist kein bestimmtes Wissen, sie ist die Wachsamkeit, die uns hindert, die Quelle jeglichen Wissens zu vergessen» [84]. In seinen letzten Schriften betont Merleau-Ponty mehr und mehr den Schatten des Ungedachten, den das philosophische Denken um sich verbreitet [85], und selber entwickelt er ein fragendes Denken: Die Ph. sucht den «Kontakt mit dem rohen Sein» und trachtet danach, «unsere Einfügung in das Sein» zu vertiefen [86]. Doch die Ontologie, die sich hier abzeichnet, bleibt eine Art von «negativer Ph.»; als «indirekte Ontologie» sucht sie das Sein in den Seienden und nirgends sonst [87].
Auf andere Weise radikalisiert sich die Phänomenologie bei E. Levinas, wobei sie mit jüdischen Traditionen verschmilzt. Unter den Leitbegriffen «Totalite» und «Infini» entfaltet Levinas eine Kritik an der abendländischen Ph., sofern diese sich als Ontologie darstellt, d.h. als der Versuch, das Andere auf das Selbe zurückzuführen und alles einer Totalität einzuordnen. Gegen die Ph. der Macht, der Ungerechtigkeit, des Krieges, die daraus resultiert und die auch noch in Heideggers Seinsdenken als «Ph. des Neutrums» fortlebt [88], setzt Levinas die Erfahrung des Andern, an der die Totalität zerbricht. Husserls phänomenologische Methode wird hier eingesetzt als Mittel, um unter ethischem Blickwinkel zu einer «metaphysischen Äußerlichkeit» zurückzufinden, die in ihrer Unendlichkeit alle Intentionen übersteigt[89]. Diese Metaphysik sucht ihren Weg im «face-à-face» der irdischen Existenz, fern von einer «Ph. der Transzendenz» wie von einer «Ph. der Immanenz» [90]. Dieser Bruch mit einer Totalität der Vernunft weist zurück auf das dialogische Denken, das F. Rosenzweig im ‹Stern der Erlösung› (1921) entwickelt hat, und er findet seinen Widerhall in J. Derridas Dekonstruktion des abendländischen «Logozentrismus» [91]. In seinem späteren Werk strebt Levinas auch noch über diese Metaphysik hinaus. Der philosophische Diskurs erfüllt seine Aufgabe nur, wenn er in dauernder Absage (Dédit) das (Aus-)Gesagte (Dit) auf das lebendige Sagen (Dire) zurückführt und so über jegliches Sein hinauszielt [92]. In ihren religiösen Aspirationen verbindet sich die Ph. mit einem «Prophetismus» der Zeugenschaft [93].
Bei P. Ricœur laufen viele Wege der Phänomenologie und der Existenz-Ph. zusammen und verbinden sich mit der älteren Tradition einer Reflexions-Ph. wie auch mit neueren strukturalistischen und sprachanalytischen Strömungen zu einer Art von hermeneutischer Phänomenologie. Die Konzeption der Ph. wird damit äußerst vielschichtig. Unter dem Einfluß von Husserl einerseits, G. Marcel und Jaspers andererseits sucht Ricœur in seiner großangelegten «Ph. des Wollens» nach einer «Ph. des Menschen», die eine lebendige Spannung aufrechterhält zwischen der Objektivität des intentionalen Bewußtseins, dem Geheimnis der Inkarnation und einer möglichen Partizipation am Sein. Deskriptive Phänomenologie ist in diesem Sinne «la ligne de crête qui sépare l'effusion romantique et l'intellectualisme sans profondeur» [94]. Methodisch unterscheidet Ricœur zwischen den Quellen der Ph. und ihrem eigenen Ausgangspunkt; nur in letzterem Sinne bedeutet Ph. einen radikalen Anfang [95]. Wenn daher die Ph. des Wollens in der Frage nach der Schuld den Weg eidetischer Beschreibung verläßt und in den Bereich der Symbole gerät, so schließt dies nicht aus, daß sich eine philosophische Hermeneutik etabliert in Form einer Ph., die von Symbolen ausgeht und sich von ihnen leiten und beleben läßt [96]. Diese Möglichkeit besteht nicht nur für die «restaurative Hermeneutik» der Religionsphänomenologie, sondern auch für die «destruktive Hermeneutik» Freuds, die in ihrer «Anti-Phänomenologie» die Evidenz des Bewußtseins untergräbt und nur noch ein Bewußtwerden auf Umwegen zuläßt [97]. Die Besinnung auf die Symbole weitet sich schließlich aus zu einer Ph. der Sprache, die sich dem Sprachdenken des späten Heidegger annähert. Der philosophische Diskurs behält eine bestimmte Eigenständigkeit, doch geschieht dies in belebendem Austausch mit der Poesie [98]. Um diesen Gedanken kreist auch die phänomenologische Ästhetik und «Poetik» von M. Dufrenne[99]. Eine Ph. der Sprache wird zur Ph. selbst, «en tant qu'elle pense le rapport de l'être à l'être-dit» [100]. Bei alldem hält Ricœur methodisch fest an einer wechselseitigen Ergänzung und Korrektur von Phänomenologie und Hermeneutik [101].
Ein Thema, mit dem Husserls späte Phänomenologie über alle existenzphilosophischen Einbrüche hinweg bis in die Gegenwart hineinwirkt, ist das der Lebenswelt. Dieses Thema, das die philosophische Reflexion in ein Geflecht von Alltagserfahrung, sozialen Beziehungen und wissenschaftlichen Konstruktionen verwickelt [102], bildet einen wichtigen Schwerpunkt im Denken von A. Gurwitsch und A. Schütz, den beiden Emigranten, die in den USA bis in die Sozialwissenschaften hinein einen nachhaltigen Einfluß ausüben konnten. A. Gurwitsch hält mit Husserl und gegen alle anthropologische und historische Aufweichung an der «Bewußtseins-Ph.» als erster Ph. fest [103], doch läßt er in die strukturalen Analysen des Bewußtseinsfeldes wichtige Gliederungsprinzipien der Gestalttheorie einfließen, die Türe zur wissenschaftlichen Forschung bleibt weit geöffnet [104]. A. Schütz läßt sich stärker noch auf eine Analyse der vielfältigen Erfahrungsweisen und Sinnbereiche ein, indem er sich bewußt im Vorfeld einer «phänomenologischen Psychologie» und einer «Ontologie der Lebenswelt» aufhält und Motive von H. Bergson, W. James und G. H. Mead in seine Beschreibungen des sozialen Alltags einbezieht. Doch Ph. bedeutet auch für ihn reine Theorie, in der wir uns als «unbeteiligte Beobachter» der Sorge des Lebens entheben [105]. Diese Zurückhaltung schwindet bei Autoren, die Husserls ‹Krisis› mit den Augen von Marx lesen, wie etwa E. Paci. Die Ph. wird hier zur «Wissenschaft einer offenen Totalität», die in die wissenschaftliche Forschung und die politisch-ökonomische Praxis als leitende Vorstellung und kritische Triebkraft eingelassen ist [106]. Die Attraktion, die Husserls und Heideggers Ideen auch in marxistisch geprägten Ländern Osteuropas ausüben [107], beruht auf der Erwartung, daß den Gedanken als solchen eine Widerstands- und Veränderungskraft innewohnt.
Bernhard Waldenfels
[1]
E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenolog. Ph. 1 (1913). Husserliana [Hua.] 3 (Den Haag 1950) 40f. 46.
[2]
Phänomenolog. Psychol. Hua. 9 (1962) 345, Anm.
[3]
Ideen ... 1. Hua. 3, 3.
[4]
a.O. 8; vgl. Erste Ph. (1923/24). Hua. 7/8 (1956/59).
[5]
Ph. als strenge Wiss. [1910/11] (1965) 55ff.
[6]
a.O. 71.
[7]
48.
[8]
Die Idee der Phänomenol. Hua. 2 (1950) 58. 24.
[9]
a.O. [5] 71.
[10]
Vgl. Nachwort, in: Ideen ... 3. Hua 5 (1952) 138–162; Schlußwort, in: Formale und transz. Logik (1929). Hua. 17 (1974) 296–298; in diesem Sinne G. Funke: Phänomenologie. Metaphysik oder Methode? (1966).
[11]
Die Krisis der europ. Wiss.en. Hua. 6 (1954) 1ff. 314ff.
[12]
Cartes. Medit. I. Hua. 1 (21963) 48ff.
[13]
a.O. [11] 74. 274.
[14]
a.O. 15.
[15]
Cartes. Medit. V, § 61. Hua. 1, 171; vgl. §§ 60–64, a.O. 166–183.
[16]
A. Pfänder: Ph. auf phänomenolog. Grundlage (1973), 149.
[17]
A. Reinach: Was ist Ph.? (1951).
[18]
Vgl. H. Conrad-Martius: Die transz. und die ontolog. Phänomenol., in: H. L. van Breda/J. Taminiaux (Hg.): E. Husserl 1859–1959. Recueil commémoratif (Den Haag 1959); ferner: Schr. zur Ph. (1963) 15ff.; M. Geiger: Die Wirklichkeit der Wiss.en und die Metaphysik (1930); R. Ingarden: Der Streit um die Existenz der Welt 1 (1964) § 5.
[19]
Vgl. E. Stein: Endliches und ewiges Sein (1950); D. von Hildebrand: Was ist Ph.? (1976).
[20]
Vgl. M. Scheler: Die Dtsch. Ph. der Gegenwart (1952). Ges. Werke 7 (1973) 265f. 327.
[21]
Vom Ewigen im Menschen (1921), a.O. 5 (1954) 68.
[22]
a.O. 85.
[23]
74–78.
[24]
Vgl. ‹Philos. Weltanschauung› und ‹Die Formen des Wissens und die Bildung›. Ges. Werke 9 (1976).
[25]
Vgl. A. Gehlen: Anthropolog. Forschung (1961) 25.
[26]
Vgl. E. Avé-Lallemant: Die phänomenolog. Reduktion in der Ph. M. Schelers, in: P. Good (Hg.): Max Scheler im Gegenwartsgeschehen (1975) 170; dazu Scheler, a.O. [21] 69. 86; Philos. Weltanschauung (1928). Ges. Werke 9, 83.
[26a]
Zur Bestimmung der Ph. (Vorlesungen von 1919). Ges.-Ausg. 56/57 (1987) 95ff.
[27]
M. Heidegger: Sein und Zeit (101963) 38.
[28]
a.O. 27f.
[29]
37; vgl. dazu F. W. von Herrmann: Der Begriff der Phänomenol. bei Husserl und Heidegger (1981).
[30]
Unterwegs zur Sprache (1959) 95.
[31]
Vgl. allerdings: Mein Weg zur Phänomenol., in: Zur Sache des Denkens (1969); vgl. Vorwort, zu: W. J. Richardson: Heidegger, through phenomenology to thought (1963).
[32]
Das Ende der Ph. und die Aufgabe des Denkens, in: Zur Sache des Denkens (1969) 71; vgl. zuvor schon: Platons Lehre von der Wahrheit, mit einem Brief über den ‘Humanismusʼ (21954) bes. 48f. 55f. 105f. 119; Einl., zu: Was ist Metaphysik? (71955) 9; vgl. auch O. Pöggeler: Der Denkweg M. Heideggers (1963) 184f.
[33]
Was ist das – die Ph.? (1956) 42. 46.
[34]
W. Szilasi: Wiss. als Ph. (1945) 96.
[35]
Vgl. E. Fink: Sein, Wahrheit, Welt (1958).
[36]
Vgl. aber noch K. Jaspers: Ph. 1 (31956) 321; dazu das nachträgl. Vorwort zu: Psychopathologie der Weltanschauungen (51960).
[37]
Nachwort (1955) zu meiner ‹Ph.› (1933), in: Ph. 1 (21956) XVII; Die geist. Situation der Zeit (31953) 142; Rechenschaft und Ausblick (1958) 386f.; Philos. Autobiographie (1977) 23. 92–94. Die genannten Schriften enthalten die wichtigsten Zeugnisse für Jaspers' Selbsteinschätzung.
[38]
Vgl. erstmals: Die geist. Situation der Zeit (1931).
[39]
Vernunft und Existenz (1960) 66; Von der Wahrheit (21958) 165.
[40]
Ph. 1, a.O. [36] 27.
[41]
a.O. 39.
[42]
32.
[43]
327. 294ff.; vgl. auch: Ph. als Wiss., in: Rechenschaft und Ausblick.
[44]
Vgl. Von der Wahrh. (21958).
[45]
Vern. und Exist, a.O. [39] 66. 131ff.
[46]
Ph. 1, a.O. [36] Vorwort XXIII.
[47]
Vern. und Exist., a.O. [39] 128. 153, Anm. 1; Existenz-Ph. (31964) Nachwort zur 2. Aufl.
[48]
Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit (1950) 50.
[49]
Ph. 1, a.O. [36] Nachwort XXXV.
[50]
P. Wust: Ungewißheit und Wagnis (1937); Der Mensch und die Ph. (1946).
[51]
M. de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida (Madrid 31928) vgl. bes. das Schlußkapitel über Don Quijote.
[52]
a.O. 308; vgl. Scheler, a.O. [26] 83.
[53]
Vgl. Schestows Nachruf auf Husserl (1938); nähere Lit.angaben bei H. Dahn: Grundzüge des russ. Denkens (1979).
[54]
N. Berdjajew: Das Ich und die Welt der Objekte (1951) 72f. 91; frz. Cinq méditations sur l'existence (Paris 1936); weitere Lit.angaben bei Dahn, a.O.
[55]
G. Marcel: Du refus à l'invocation (Paris 1940) 21. 62ff.; vgl. dazu J. Wahl: Vers le concret (Paris 1932).
[56]
a.O. 39.
[57]
Etre et avoir 1 (1968) 128. 144ff.
[58]
Vgl. Journal métaphys. (1927).
[59]
Detaillierte Angaben bei H. Spiegelberg: The Phenomenol. movement (Den Haag 1960, 31982) 454–462.
[60]
N. Abbagnano: La struttura dell'esistenza (Turin 1939); vgl. dazu W. Röd: Der Charakter der Existenz-Ph. in Italien. Z. philos. Forsch. 12 (1958) 263ff.
[61]
Vgl. Introd. all'esistenzialismo (Mailand 1942); Possibilità et libertà (Turin 1956).
[62]
Vgl. A. Camus: Essais (Paris 1965) 693; zur Selbsteinschätzung seines Frühwerks und zur Distanzierung von Sartres Existentialismus vgl. a.O. 1424ff.
[63]
P. Ricœur: Phénoménologie existentielle, in: Encycl. franc. 19 (Paris 1957) 19. 10. 8; engl. in: Husserl (Evanston 1967).
[64]
Vgl. bereits J.-P. Sartre: La transcendance de l'ego (Paris 1965) Conclusion; Esquisse d'une théorie des émotions (Paris 1939) 55. 62; dann: L'être et le néant (Paris 1943) 206ff. 670. 721f.
[65]
Vgl. L'existentialisme est un humanisme (Paris 1946).
[66]
Vgl. Matérialisme et révolution, in: Situations III (Paris 1949) 176ff.
[67]
Questions de méthode, in: Critique de la raison dial. (Paris 1960) 15–18.
[68]
a.O. 59.
[69]
156.
[70]
32.
[71]
Vgl. Situations X (Paris 1976) 192f.
[72]
Vgl. das Interview mit Sartre in: Obliques No. 18–19 (Paris 1979) 14f.; näheres dazu bei B. Waldenfels: Phänomenol. in Frankreich (1983) Kap. II, 6.
[73]
Situations IX (Paris 1972) 67–69.
[74]
a.O. 83.
[75]
Vgl. P. Tévenaz: De Husserl à Merleau-Ponty (Neuchâtel 1966).
[76]
M. Merleau-Ponty: Phénoménol. de la perception (Paris 1945) Prof. XVf.
[77]
a.O. 75f.
[78]
520; Sens et non-sens (Paris 1948) 236f.
[79]
Partout et nulle part, in: Signes (Paris 1960) bes. 163. 198.
[80]
Le visible et l'invisible (Paris 1964) 320.
[81]
Eloge de la philos. (Paris 1953) 79.
[82]
a.O. [76] 77; vgl. dazu A. de Waelhens: La philos. et les expériences nat. (Den Haag 1961).
[83]
a.O. 62; La structure du comportement (Paris 21949) 142f. 147; Merleau-Ponty verarbeitet hier Anregungen, die er von A. Gurwitsch empfangen hat.
[84]
Le philosophe et la sociologie, in: Signes, a.O. [79] 138.
[85]
Vgl. Le philosophe et son ombre, a.O. 225f.
[86]
a.O. 31. 155.
[87]
a.O. [80] 233.
[88]
E. Levinas: Totalité et infini (Den Haag 1961) 12–18. 274f.
[89]
a.O. Préf.
[90]
23.
[91]
Vgl. J. Derrida: L'écriture et la différence (Paris 1967) 117ff.
[92]
Levinas: Autrement qu'être ou au-delà de l'essence (Den Haag 1974) bes. Kap. VI.
[93]
a.O. 190ff.; vgl. auch Th. de Boer: Tussen filosofie en profetie (Baarn 1976); S. Strasser: Jenseits von Sein und Zeit (Den Haag 1978).
[94]
P. Ricœur: La volontaire et l'involontaire (Paris 1950) 20.
[95]
Finitude et culpabilité 1 (Paris 1960) 24.
[96]
Fin. et culp. 2 (Paris 1960) 323ff.
[97]
De l'interpretation (Paris 1965) 412.
[98]
La métaphore vive (Paris 1975) 325.
[99]
Vgl. u.a. M. Dufrenne: Le poétique (Paris 1963).
[100]
Ricœur, a.O. [98] 385.
[101]
Phénoménologie et herméneutique, in: E. W. Orth (Hg.): Phänomenolog. Forsch. 1: Phänomenol. heute (1975).
[102]
Vgl. schon J. Patočka: Le monde naturel comme problème philos. [1936] (Den Haag 1976); ferner die frühe Schrift von A. Gurwitsch: Mitmenschl. Begegnungen in der Milieuwelt [1931] (1977).
[103]
Vgl. Gurwitsch: Phenomenol. and the theory of sci. (Evanston 1974) 10ff. 154ff.; ähnlich Funke, a.O. [10].
[104]
Vgl. vor allem: Das Bewußtseinsfeld (1975).
[105]
A. Schütz: Gesammelte Aufs. 1 (1971) bes. 284.
[106]
E. Paci: Funzione delle scienze e significato dell'uomo (Mailand 1963) bes. 295. 459ff.
[107]
Vgl. B. Waldenfels u.a. (Hg.): Phänomenol. und Marxismus 1–4 (1977–79).
M. Müller: Existenz-Ph. im geistigen Leben der Gegenwart (1949, 31964). – H. Spiegelberg s. Anm. [59]. – O. Pöggeler s. Anm. [32]. – F. Zimmermann: Einf. in die Existenz-Ph. (1977). – W. Janke: Existenz-Ph. (1982). – F. Fellmann: Gelebte Ph. in Deutschland (1983). – B. Waldenfels s. Anm. [72].
H. Hermeneutische Philosophie. – Ob man die Begriffe ‹hermeneutische Ph.› und ‹philosophische Hermeneutik› zu unterscheiden bemüht ist (O. F. Bollnow[1]) oder sie – wie zumeist üblich – synonym verwendet, so besteht doch heute weitgehend Einigkeit darüber, daß mit diesen Begriffen ein eigener Bereich der Ph. bezeichnet ist, der sich von den Spielarten des Marxismus einerseits und der angelsächsischen Sprachanalyse und Wissenschaftstheorie andererseits abhebt (K.-O. Apel, O. Pöggeler[2]). Beheimatet ist diese Ph. in Europa, genauer: «the primary sources ... are largely in German» (R. E. Palmer[3]). Es ist diese philosophische Richtung, die das Zustandekommen eines ‹Historischen Wörterbuches der Philosophie› ermöglicht hat.
Die Zusammenstellung der Begriffe ‹Hermeneutik› und ‹Ph.› ist nicht gänzlich neu. Denn die Aristotelische ‹Hermeneutik›, eine Aussagenlogik, war Teil des ‹Organon› [4]. Am Beginn der Neuzeit nannte J. C. Dannhauer die «media hermeneutica», die Kunstregeln des Verstehens von Texten, zusammenfassend die «philosophica» [5]. Bei J. F. Buddeus ist Hermeneutik als Auslegungslehre ein Teil der «Philosophia instrumentalis» [6], und die Logiken der Aufklärung führen im Anhang oft eine Hermeneutik mit [7]. Aber hier liegen gerade nicht die Wurzeln der neueren ‹hermeneutischen Ph.›. Denn wie in den Bereichen Theologie, Jurisprudenz und Philologie ist auch im Kontext der Logik Hermeneutik nur eine Hilfsdisziplin. ‘Philosophischʼ kann sie in der Frühneuzeit und in der Aufklärung nur insofern heißen, als sie nicht auf die speziellen Probleme einer der oberen Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz) zugeschnitten ist. Auch noch bei Schleiermacher ist die Hermeneutik eine bloße «technische» Hilfswissenschaft im Rahmen eines philosophischen Systems, wenngleich sie darin nun eine große Bedeutung hat [8]. Die Hermeneutik ist nicht im engeren Sinne philosophisch oder gar der Kern der Ph., und die Ph. insgesamt nicht hermeneutisch. Erst die Krise der Ph. im Verlauf des 19. Jh. bereitete den Boden, auf dem hermeneutische Ph. möglich und nötig wurde.
W. Dilthey, der als erster Klassiker der hermeneutischen Ph. gilt, hat diese Krise aufgedeckt: Durch die Herrschaft der Naturwissenschaft verlor die Ph. ihren Wissenschaftscharakter, und durch das historische Bewußtsein löste sich ein verbindlicher Ph.-Begriff auf. In seinen Überlegungen zu Wesen und Begriff der Ph. versucht Dilthey, diese Situation zu bewältigen [9]. Da es für das moderne Bewußtsein nicht die Ph., sondern sehr verschiedene Ph.n gibt, kann das Wesen der Ph. nicht mehr vom Standpunkt einer bestimmten Systematik her definiert werden. Um der Objektivität, um der Sache der Ph. willen, sieht Dilthey sich gezwungen, geschichtlich zu verfahren: Es gilt zu erkennen, was in der Geschichte ‹Ph.› genannt wurde und noch genannt wird [10]. Daraus ergibt sich ein mehr formaler Vorbegriff der Ph.: Sie ist «das sich entwickelnde Bewußtsein über das, was der Mensch denkend, bildend und handelnd tut» [11]. Näher betrachtet zeigt die Ph. – ähnlich wie schon bei Schleiermacher[12] – ein «Doppelgesicht», einen Januskopf: Sie blickt – nach Dilthey – einerseits in die Richtung der Religion und ist darin Metaphysik, andererseits blickt sie auf das positive Wissen und erstrebt wie dieses Allgemeingültigkeit [13]. Durch dieses ihr Doppelwesen gerät sie in der Moderne in einen tragischen Konflikt. Schon der Kritizismus zeigte die innere Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft, und das historische Bewußtsein erkennt ihre menschlichen Bedingungen und Motive. Positives, allgemeingültiges Wissen eignet andererseits nur den Naturwissenschaften. So ist die Ph. auseinandergerissen und darin tendenziell zugrunde gegangen: Metaphysik ist keine Wissenschaft, sondern nur «Weltanschauung»; und die modernen Naturwissenschaften sind keine Ph., sie lassen die «Lebensrätsel» ohne Antwort [14].
Dilthey zeigt der Ph. ihre neue Aufgabe, indem er die beiden Seiten des entzweiten Bewußtseins ausdrücklich zum Gegenstand macht. Er wendet sich erstens den empirischen Wissenschaften zu, um diesen eine «Theorie des Wissens» und des wissenschaftlichen Zusammenhangs zu geben. Seine Arbeit gilt hier den Geisteswissenschaften, die der Positivismus aus dem Blick verlor. Für sie erstrebt er eine «Grundlegung» (Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre) [15]; gegenüber Husserl hat er diese Arbeit als seine systematische Ph. betont [16]. Er wendet sich zweitens in seiner «Ph. der Ph.» ausdrücklich den metaphysischen Systemen zu und zeigt ihre Genese und Funktion: Sie sind «Ausdruck» konkreten, individuellen und geschichtlichen «Lebens» und zugleich dessen Bewältigung und die Antwort auf die ewigen Lebensrätsel [17]. Sie sind «Auslegungen» und «Interpretationen der Wirklichkeit» [18]. Die drei prinzipiellen Grundstellungen des metaphysischen Denkens, die «Typen» Naturalismus sowie subjektiver und objektiver Idealismus, lassen sich zwar wissenschaftlich weder bestätigen noch widerlegen noch einem übergeordneten System integrieren (Hegel) – sie stehen (ähnlich wie die positiven Religionen in Lessings Ringparabel) konkurrierend nebeneinander –, aber der mehr intuitive Blick erkennt, daß sie in verschiedener Form sich der Wahrheit nähern und das unergründliche Leben spiegeln.
Darin zeigt sich die gemeinsame Basis, die Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften und seine Ph. der Metaphysik trägt und zusammenhält: seine Lebens-Ph., der Ausgang vom Leben, das sich ausdrückt, objektiviert und reflektiert. «Der Grundgedanke meiner Ph. ist, daß bisher noch niemals die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit» [19]. Diese Erfahrung erschließt sich im «Erleben» und in der «Selbstbesinnung», die hinter die Abstraktionen der Wissenschaften zurückgreifend deren Bedingung, den «Lebenszusammenhang» erhellt [20]. «Die Ph., so verstanden, ist die Wissenschaft des Wirklichen» [21]. Dilthey hat seine Lebens-Ph. in keine geschlossene systematische Gestalt gebracht. Seine Einsicht führte ihn dahin, das Leben nicht in Begriffen konstruieren oder erklären zu wollen. «Die Wirklichkeit selbst kann in letzter Instanz nicht logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden. In jeder Realität, die uns als solche gegeben ist, ist ihrer Natur nach etwas Unaussprechliches, Unerkennbares» [22]. Verstanden wird das Leben nur durch das Verstehen seiner geschichtlichen Objektivationen. Dadurch ist die Ph. Diltheys eine «indirekte Ph. des Lebens im Medium der Geschichte» (G. Misch[23]) oder eben eine «hermeneutische Ph.», die den Zugang zu Welt und Leben im Verständnis des «objektiven Geistes» findet (O. F. Bollnow[24]).
Während Dilthey noch formell an dem Gedanken einer systematischen Ph. festhält, verwirft sein Freund P. Yorck von Wartenburg die Idee eines philosophischen Lehrgebäudes zusammen mit der Metaphysik, in der er nur die «Äternisierung eines Bewußtseinsmoments», eine Abstraktion sieht [25]: «Bei der inneren Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins ist eine von der Historie abgesonderte Systematik methodologisch inadaequat» [26]. «Die Nicht-Vergeschichtlichung des Philosophierens erscheint mir in methodischer Beziehung als ein metaphysischer Rest» [27]. Die auch von Dilthey formulierte Einsicht in die Geschichtlichkeit, d.h. in die geschichtliche Bedingtheit, Zufälligkeit und Endlichkeit des Menschen zwingt dazu, alle Ph. als «Lebensmanifestation» [28] ganz in den Fluß der wirklichen Geschichte zurückzustellen. Ph. wird zur Selbstreflexion des konkreten geschichtlich bedingten Lebens, zur Verständigung des zeitlichen, übergängigen Daseins über sich selbst, in der ständigen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Alle Ph. hat laut Yorck als Motiv «das totale und radikale Erkennenwollen» [29]. Deshalb skizziert er den Gedanken einer «kritischen Ph.», die sich alle Prätentionen auf ewige Wahrheiten versagt. Ihr Gewißheitsfundament liegt in der Beschränkung auf die Gegebenheiten des geschichtlichen Selbstbewußtseins, nicht in der Anwendung festgelegter Regeln. «Empirisch in ihrem Ausgangspunkte, ist sie experimentell in ihrer Methode» [30]. – In den suchenden und programmatischen Gedanken Diltheys und Yorcks liegen fast alle Ansatzpunkte für das, was heute als «hermeneutische Ph.» gilt. Deren gemeinsame Kennzeichen sind bei der Weite dieses Begriffs am leichtesten durch Negationen bestimmbar Die Idee in sich selbst gegründeten Wissens, die Suche nach dem absoluten Anfang und Ende der Ph. und die Überzeugung von der Möglichkeit eines geschichtstranszendenten Standpunktes sind in dieser Ph. aufgegeben.
Auch F. Nietzsche wird als Wegbereiter der hermeneutischen Ph. genannt, und mit einigem Recht. Denn auch er unterzog mit dem Blick aufs geschichtliche Werden und die Bedingtheit der menschlichen Vernunft alle «metaphysische Ph.» einer radikalen Kritik und konzipierte eine «historische Ph.», die vom «Mangel an historischem Sinn», dem «Erbfehler aller Philosophen», befreit und die die Einsicht lehrt, daß weder der Mensch noch sein Erkenntnisvermögen oder die Welt etwas «Gleichbleibendes» jenseits der Geschichte sind: «Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: so wie es keine absoluten Wahrheiten giebt. – Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.» Die «historische Ph.», «die allerjüngste aller philosophischen Methoden», analysiert philosophische Problemstellungen als Ergebnisse von vitalen Lebensvorgängen [31]: «Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Ph. bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen ist» [32]. Wie Dilthey bezieht auch Nietzsche die Begriffe ‹Auslegung› und ‹Interpretation› nicht nur auf Texte, sondern auf das Dasein und die Welt und erkennt im Auslegen – darin Heidegger antizipierend – einen Wesenszug des Daseins. Die Frage, ob «nicht alles Dasein essentiell auslegendes Dasein ist», führt ihn zur Überzeugung, daß es nicht eine Welt und eine Wissenschaft von ihr, sondern nur unendlich viele «Welt-Interpretationen» gibt: «Die Welt ist uns ... noch einmal ‘unendlichʼ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst» [33]. Diesen Gedanken wendet Nietzsche kritisch gegen den Mechanismus, der nur eine mögliche, und zwar «eine der dümmsten» Welt-Interpretationen darstellt [34], und gegen den Positivismus, der sich auf Tatsachen beruft: «Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ‘es giebt nur Thatsachenʼ, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ‘an sichʼ feststellen ...» Was hinter den Interpretationen steht, so erklärt Nietzsche in seiner Spätphilosophie, ist der Wille zur Macht: «Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht ...» [35]. Daß für Nietzsche alle Interpretationen Fälschungen im Dienste des organischen Lebens sind und er seine eigene Ph. auch nur als eine mögliche Interpretation verstehen kann, gehört zu den bewußten Paradoxien dieser Ph. und zu den Schwierigkeiten, die Nietzsches Anregungen nur in verwandelter Form haben wirksam werden lassen.
Mit der Relativierung der Metaphysiken zu bloßen Deutungsmöglichkeiten der Welt trat bei Dilthey das «Leben» in seiner Vieldeutigkeit und Dunkelheit ins Bewußtsein, als Rätsel. Das Verstehen seiner Objektivationen, darunter der Ph., war deshalb zugleich ein Blick in das «geheimnisvolle unergründliche Antlitz des Lebens mit dem lachenden Munde und den schwermütig blickenden Augen» [36]. Die Verklammerung der Frage nach der Bedeutung der geschichtlich vorgegebenen Ph. mit der Frage nach der Bedeutung des Lebens macht M. Heidegger zum Prinzip, und er akzentuiert dabei die zweite: Alle Aneignung der philosophischen Tradition verlangt die «radikale und klare Ausbildung der hermeneutischen Situation als der Zeitigung der philosophischen Problematik selbst» [37]. Bereits seine Vorlesung ‹Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles› (1921/22) führt deshalb zur Explikation der Faktizität der (menschlichen) Existenz in ihrer «Ruinanz und Fraglichkeit». Ph. ist «prinzipielles Erkennen, das in seinem Vollzug seine eigene Faktizität betrifft» [38]. Da im Vollzug eines ernsten, leidenschaftlichen philosophischen Fragens – und nur in ihm – sich die Geschichte der Ph. und zugleich die Existenz erschließen, wird für Heidegger die Trennung von systematischem und historischem Aspekt sinnlos: «Das Sein des (historisch) Geschichtlichen und der Sinn des Historischen erwachsen nun allererst und sind im Vollzuge prinzipiellen Erkennens. Im Philosophieren gibt es keine Geschichte der Ph. und im Historischen des faktischen (philosophierenden) Lebens gibt es keine überzeitliche An-sich-Problematik und Systematik philosophischer Fragen» [39]. Dabei löst allerdings Heidegger den Diltheyschen Gedanken des «objektiven Geistes» auf; Ph. vollzieht sich nicht mehr über den Umweg des Fremdverstehens, sondern wird zum unmittelbaren Sich-Selbst-Verstehen, zur «Hermeneutik der Faktizität» [40]. In ‹Sein und Zeit› (1927), der ausgereiften Gestalt dieses Ansatzes, erkennt Heideggers «hermeneutische» Ph. im Verstehen und Auslegen «Existenzialien», Konstituentien des menschlichen Daseins [41]. Indem die hermeneutische Ph. nun als «Fundamentalontologie», als neue Prima Philosophia auftritt, konnte man in ihr den eigentlichen Beginn einer wirklich philosophischen Hermeneutik sehen [42]. – Mag man beim frühen oder erst beim späten Heidegger (s.u.) den Durchbruch zum hermeneutischen Philosophieren erkennen, so hat Heidegger jedenfalls wesentlich dazu beigetragen, daß für eine ganze Generation von Philosophen (u.a. H. Heimsoeth, J. Ritter, H.-G. Gadamer, P. Ricœur) systematisches und historisches Denken, Ph. und Geschichte der Ph. sich nicht verselbständigten und in Deutschland folglich diese Bereiche institutionell auch nicht voneinander getrennt wurden.
Diltheys Schüler haben die Einengung der Ph. auf die Existenzanalyse nicht mitvollzogen. G. Misch fand in Heideggers Fundamentalontologie erneut die vergebliche Suche nach einem festen Fundament und die Gefahr einer abstrakten Systematik. Auf das «Sein» abzielend, verliere Heidegger das konkrete geschichtliche «Leben» wieder aus den Augen [43]. H. Nohl distanzierte sich auch von Dilthey, wo dieser der Existenz-Ph. zu sehr den Weg gebahnt hatte. Die Einsicht in die Vergänglichkeit des Lebens und in die Relativität aller Erkenntnis dürfe nicht übersehen lassen, daß unser Zeitbewußtsein etwas «Zeitüberlegenes» zur Voraussetzung habe und daß es im Menschen auch eine «wesentliche Lebensrichtung auf ein Unbedingtes» gebe (ähnlich später H. Jonas[44]). Deshalb geht die Dilthey-Schule andere Wege: a) Statt einer «Destruktion der Metaphysik» (Heidegger) sucht sie die fortgehende Auseinandersetzung mit der gesamten philosophischen Tradition und bringt die Motive von Diltheys Lebens-Ph. in eine systematische Form, b) Anstelle der Konzentration auf die Existenz nimmt sie tendenziell alles Wissen vom Menschen auf und durchtränkt es mit Ph. Diese Ph. prätendiert nicht, eine «strenge Wissenschaft» (Husserl) neben anderen solchen Wissenschaften zu werden. Vielmehr betreibt sie ihr Geschäft gemeinsam mit den einzelnen Geisteswissenschaften, vermehrt deren Sachgehalt und reflektiert ihre Methoden; dadurch gewinnt sie auf diese Wissenschaften großen Einfluß, auf Geschichts-, Literatur-, Kunst-, Religions- und Sozialwissenschaften.
Ph. gilt als «geistig-geschichtliche Wirklichkeit» [45], d.h. sie gilt im Anschluß an Dilthey als Form des objektiven Geistes. Deshalb ist jede Ph. eingebettet in ihren historischen und kulturellen Kontext. H. Nohls ‹Einführung in die Ph.› ist eine Einleitung in die historisch bedeutsamen Problemstellungen [46]. Bei B. Groethuysen ist Selbstbesinnung ein existenzieller Dialog mit der Geschichte der Metaphysik im Hinblick auf deren Verhältnis zum Leben [47]. G. Misch zeigt – den überkommenen «Europazentrismus» meidend [48] –, wie in Indien, China und Griechenland sich gesondert philosophische Entwicklungsreihen ergaben, die in den jeweiligen Kulturen verwurzelt sind und sich gleichwohl systematisch ergänzen [49]. Dabei betont aber Misch stärker als Dilthey das unableitbar Neue, das mit der Ph. in die Geschichte tritt. Ph. muß als den Geist befreiende Macht und nicht bloß als «Ausdruck» geschichtlichen Lebens begriffen werden [50]. Zu diesem verhält Ph. sich paradox: «in ihm über ihm» [51]. Gerade durch die Doppelheit, die schon Dilthey im Begriff ‹Ph.› erkannt hatte, wird sie der Wirklichkeit gerecht: Ph. ist einerseits Metaphysik, andererseits Aufklärung, genauso wie das Leben einerseits unergründlich und unbestimmt, andererseits bestimmt und gedankenmäßig ist. Misch hat diese Explikation einer Diltheyschen Gedankenfigur auf die antike Ph. zurückbezogen (peras – apeiron) [52].
Da die traditionelle Logik nur auf die Naturwissenschaften zugeschnitten schien, hatte schon Dilthey sie im Hinblick auf die Geisteswissenschaften umzuformen begonnen und war vom «ganzen», nämlich dem fühlend-wollend-vorstellenden Menschen und von den Bewegungen des Lebens ausgegangen [53]. Misch führt dies zu einer «hermeneutischen Logik» fort, die das Verhältnis von Sprache und innegewordenem Leben ausmißt [54]. Sie kann bestimmt werden als eine «von innen heraus sich erweiternde transzendentale Logik» [55]. Auch H. Lipps hat – in Auseinandersetzung mit Heidegger – eine Logik solchen Typs entworfen [56]. Hingegen antizipiert E. Rothackers ‹Logik und Systematik der Geisteswissenschaften› (1926) schon zum Teil die Einsicht Th. S. Kuhns: Wissenschaftstheorie und -methodologie können nicht ohne Wissenschaftsgeschichte betrieben werden; wissenschaftliche Methoden sind abhängig von leitenden Fragestellungen und Weltbildern, von «Weltanschauungen» [57].
Dilthey hatte gesagt, der Mensch erkenne sich nur in seiner Geschichte [58]. Gleichzeitig hatte er ergänzend eine psychologische bzw. anthropologische Theorie der menschlichen Natur skizziert [59]. Deshalb hat die von ihm angeregte philosophische Anthropologie zwei Stränge. Für B. Groethuysen ist sie «Selbstbesinnung, ein immer erneuter Versuch des Menschen, sich selbst zu fassen». Diese Selbsterkenntnis muß durchgeführt werden als Reflexion der Selbstinterpretationen, die der Mensch sich in den geschichtlichen Gestalten Ph., Religion und Kunst gab (vgl. M. Landmann[60]). Die für Groethuysen leitende Überzeugung einer «Zentrierung des Lebens in sich selbst», die Individualisierung [61], liegt ähnlich den Forschungen G. Mischs zur Geschichte der Autobiographie zugrunde [62]. Fällt hier philosophische Anthropologie mit Geistesgeschichte zusammen [63], so versucht andererseits H. Plessner die spezifische Natürlichkeit des sich geschichtlich ausdrückenden, objektivierenden und sich dadurch selbst verstehenden Menschen ergänzend aufzuklären: «Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen ... auf Grund einer Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks» [64]. Plessners «phänomenologische Deskription» des «Ausdruckslebens» berührt sich hier mit Mischs Logik und Theorie des Wissens; beide arbeiten dem entgegen, was inzwischen als «Erkenntnisanthropologie» größere Aktualität hat [65]. Durch die Verknüpfung des Verstehens der geschichtlichen Welt mit einer «offenen» Anthropologie zu einer «hermeneutischen Ph.» führt O. F. Bollnow die Intention Diltheys systematisch fort [66].
Heidegger hatte in den dreißiger Jahren seinen Versuch, die Ph. auf eine «Fundamentalontologie» zu gründen, aufgegeben. Sein Philosophieren vollzog sich jetzt wesentlich als Auslegung von philosophischen und dichterischen Texten. Deshalb konnte gesagt werden, erst jetzt sei seine Ph. wirklich hermeneutisch geworden, wenngleich Heidegger den Begriff der Hermeneutik nun mied [67]. H.-G. Gadamer schließt seine «philosophische Hermeneutik» dem Begriff nach an das Denken des frühen, der Sache nach aber überwiegend an das Philosophieren des späteren Heidegger an. Dieser war – in einer «Kehre» – nicht mehr von der Existenz, sondern vom «Sein» ausgegangen, das sich schicksalhaft offenbare und entziehe. Als Ort jener Offenbarung der Wahrheit galt Heidegger wesentlich die Kunst und die Sprache, die Sprache als das «Haus des Seins und die Behausung des Menschenwesens» [68]. Dies macht Gadamer für eine Ph. fruchtbar, die – mit kritischer Spitze gegen Aufklärung und moderne Methodologie – den Geisteswissenschaften zu einem angemessenen Selbstverständnis verhelfen will. Kern dieser Ph. ist eine Ontologie der Sprache, da in der Sprache – allen Wissenschaften voraus – vorgängig Welt und Selbst erschlossen und beide vermittelt sind [69]. Dies in der Sprache sich ereignende Verständnis gilt es in Ph. und in den Geisteswissenschaften weiterzugeben und zu vertiefen. Gadamer ist überzeugt, «daß alles Denken der Ph. ein Weiterdenken ursprünglicher Welterfahrung ist und die Begriffs- und Anschauungskraft der Sprache zu Ende zu denken sucht, in der wir leben» [70]. Ph. und Geisteswissenschaften nehmen teil an einem unabschließbaren «Wahrheitsgeschehen», in welchem der Interpret mehr Medium als Subjekt ist.
Trotz seiner nachdrücklichen Kritik an Dilthey [71] hat Gadamer manche Linien ausgezogen, die bei Dilthey angedeutet waren; schon dieser hatte z.B. gesagt, die «Auslegung der Welt», wie sie in Religion, Poesie und Metaphysik geschehe, «setzt schon in der Sprache ein» [72]. Aber bei Gadamer ist – anders als bei Dilthey – die Hermeneutik keine Methodenlehre mehr, sondern sucht das Sein des Menschen aufzuklären. Und deshalb ist sie weit mehr als «ein universaler Aspekt der Ph.» [73], sie ist (wie bei Heidegger) Fundamental-Ph. Erst durch Gadamers «philosophische Hermeneutik» hat dieser Begriff eine größere Verbreitung gefunden; zugleich hat diese Ph. aber auch heftige Kritik provoziert: Man argumentiert gegen eine «hermeneutische» Ph., die nur eine «vernehmende Vernunft» kenne und einen «Sprachidealismus» verkünde (H. Albert, J. Habermas[74]). Und man kritisiert eine «philosophische» Hermeneutik, welche sich von jedweder Methodologie distanziere und dadurch in den Geisteswissenschaften der Willkür den Weg ebne (E. Betti, E. D. Hirsch, Th. M. Seebohm[75]).
P. Ricœur hat die Anstöße Heideggers zu einer «hermeneutischen Ph.» weiterentwickelt, die gerade Wahrheit und Methoden verknüpfen und die «Hypostasierung» der Sprache zur «absoluten Wesenheit» vermeiden will. Da die Existenz des Menschen immer interpretierte Existenz und deshalb für eine phänomenologische Beschreibung unzugänglich ist, muß der Phänomenologie eine Hermeneutik «aufgepfropft» werden, muß Ph. hermeneutisch verfahren: Sie reflektiert die sprachlichen Symbolgestalten, in denen sich die Existenz nur mittelbar kundgibt. Dabei eignet sich Ricœurs Ph. die konkurrierenden Interpretationen der Psychoanalyse, der Religionsphänomenologie und der Ph. an, schränkt deren jeweiligen Totalitätsanspruch ein und fragt nach ihrem gemeinsamen Grund. Was sich unscharf in dieser «gebrochenen Ontologie» andeutet, ist die Existenz als Wunsch nach dem Sein, das Selbst in seiner Endlichkeil und Abhängigkeit [76]. – Was bei Ricœur als Problem der Ph. erscheint, daß alle systematischen Aussagen nui mögliche Interpretationen sind, nutzt R. Rorty für eine «Kritik der Ph.», d.h. der traditionellen «fundamentalistischen Erkenntnistheorie»: Ph. muß aufhören, am Anspruch auf «Wahrheit» festzuhalten, sie muß zur «Hermeneutik» werden und als solche das Gespräch zwischen den verschiedenen Diskursen in Gang halten und der Bildung («edification») dienen [77].
Hermeneutische Ph. entstand, als das reine, transzendentale Bewußtsein kein tragfähiger Boden der Ph. mehr war. Deshalb bezeichnete Dilthey ja seine Arbeit als Kritik nicht der reinen, sondern der historischen, endlichen Vernunft [78]. Ricœur trug weitergehend auch den Selbsttäuschungen der endlichen Vernunft Rechnung und rezipierte deshalb Psychoanalyse und Ideologiekritik. Das tun in anderer Weise auch K.-O. Apel und J. Habermas: Die hermeneutischen Wissenschaften, die Geisteswissenschaften, dienen einem ebensolchen vitalen Erkenntnisinteresse wie die Naturwissenschaften, nämlich der Verständigung über Handlungsziele. Da aber alle Verständigung durch naturhafte Zwänge gestört ist, bedarf das hermeneutische Verfahren der Ergänzung durch nomologische Erklärung und Ideologiekritik [79]. Allerdings setzt die Einsicht in die Verblendung ein Gegenbild, das Ideal einer unverzerrten Kommunikation voraus: Apel findet es – im Ausgang von J. Royce – in der idealen «Interpretations-» oder «Kommunikationsgemeinschaft», die als transzendentale Bedingung und regulative Idee allen sinnvollen Sprechens, Handelns und Verstehens fungiert [80]. Hermeneutische Ph. wird hier umgeformt in eine «transzendentale Hermeneutik», in eine Transzendental-Ph., die jenseits der geschichtlichen Bedingtheit «durch transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit des Verstehens so etwas wie einen kartesischen Punkt der Letztbegründung von Ph. erreicht» [81].
Was heute ‹hermeneutische Ph.›, ‹philosophische Hermeneutik› oder kurz ‹Hermeneutik› genannt wird, ist alles andere als eine einheitliche ‘Schuleʼ. Sehr heterogene Ph.n werden heute jenen Richtungstiteln subsumiert, wie Nietzsches Perspektivismus, Heideggers Fundamentalontologie, E. Bettis Methodenlehre der Geisteswissenschaften oder auch E. Cassirers Grundlegung der Kulturwissenschaften, die in den Kultursphären, den «symbolischen Formen», spezifische «Auslegungen» der Welt erkennt [82]. Deshalb hat man mit gutem Recht auch diejenige Ph. dem Bereich der hermeneutischen Ph. zugeordnet, die im Anschluß an Aristoteles und Hegel die Brüche und Kontinuitäten zwischen dem Denken der Vergangenheit und dem der Gegenwart reflektiert und die so an die Stelle der gedanklich konstruierten Systemeinheit den geschichtlichen Zusammenhang selbst bringt. Gemeint ist die «Idee von Ph. ..., für die Ph. im Wandel ihrer geschichtlichen Positionen und in der Entgegensetzung von Richtungen und Schulen sich als perennierende Ph. fortschreitend entfaltet» [83].
Gunter Scholtz
[1]
O. F. Bollnow: Festrede zu W. Diltheys 150. Geb. Dilthey-Jb. 2 (1984) 49f.
[2]
K.-O. Apel: Transformation der Ph. 1. 2 (1973) bes. 1, (Einl.) 9ff.; 2, (Teil 1) 7ff.; O. Pöggeler (Hg.): Hermeneutische Ph. (1972) 9f.
[3]
R. E. Palmer: Hermeneutics. Interpret. theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer (Evanston 1969) XIII.
[4]
Aristoteles: De int.
[5]
H.-E. Jaeger: Stud. zur Frühgesch. der Hermeneutik. Arch. Begriffsgesch. 18 (1974) 35–84, zit. 47.
[6]
J. F. Buddeus: Elementa ph.ae instrumentalis seu institutionum ph.ae eclecticae I (61727) pars II, cap. I.
[7]
Jaeger, a.O. [5]; W. Hübener: Schleiermacher und die hermeneut. Trad. Schleiermacher-Arch. 1/1 [Internat. Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984] (1985) 561–574.
[8]
F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik, hg. H. Kimmerle (21974) 80. 159; Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. O. Braun (21927) 356; Dialektik. Sämmtl. Werke [SW] III/4, 2, hg. L. Jonas (1839) 260f.
[9]
W. Dilthey: Das Wesen der Ph. (1907). Ges. Schr. [GS] 5 (1957) 339ff.; Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Ph. der Ph. GS 8 (1960).
[10]
Wesen der Ph., a.O. 364; Weltanschauungsl., a.O. 208.
[11]
Weltanschauungsl., a.O. 32. 38.
[12]
Schleiermacher: Gesch. der Ph. SW III/4, 1, hg. H. Ritter (1839) 146.
[13]
Dilthey: Wesen der Ph., a.O. [9] 404; Weltanschauungsl., a.O. [9] 209.
[14]
Weltanschauungsl., a.O. 140f.
[15]
Vgl. bes.: Grundlegung der Wiss.en vom Menschen, der Ges. und der Gesch. GS 19, hg. H. Johach/F. Rodi (1982).
[16]
F. Rodi/H.-U. Lessing (Hg.): Materialien zur Ph. W. Diltheys (1984) 110ff.
[17]
Dilthey: Weltanschauungsl., a.O. [9] 208.
[18]
Wesen der Ph., a.O. [9] 353. 379; Weltanschauungsl., a.O. [9] 82.
[19]
a.O. 171.
[20]
188f.
[21]
172.
[22]
174.
[23]
G. Misch: Lebens-Ph. und Phänomenol. (21931, ND 1967) 67; Vom Lebens- und Gedankenkreis W. Diltheys (1947).
[24]
Bollnow, a.O. [1].
[25]
Graf P. Yorck von Wartenburg: Bewußtseinsstellung und Gesch., hg. I. Fetscher (1956) 44; Fragment von 1891, bei K. Gründer: Zur Ph. des Grafen Paul Yorck von Wartenburg (1970) 340f.
[26]
Br.wechsel zwischen W. Dilthey und dem Grafen P. Yorck von Wartenburg 1877–1897 (1923) 69. 251.
[27]
a.O. 69.
[28]
250; vgl. Fragment von 1891, a.O. [25] 340.
[29]
Bewußtseinsstellung, a.O. [25] 33.
[30]
a.O. 38.
[31]
F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (21886) I, 1f. Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari [GA] IV/2 (1967) 19–21.
[32]
Die fröhl. Wiss. (21887) Vorrede 2. GA V/2 (1973) 16.
[33]
Aph. 374, a.O. 308f.
[34]
a.O. Aph. 373, a.O. 307f.
[35]
(Der Wille zur Macht) Nachgel. Frg. (1886/87). GA VIII/1 (1974) 323; vgl. 137f.; dazu J. Figl: Interpretation als philos. Prinzip. F. Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß (1982).
[36]
Dilthey: Weltanschauungsl., a.O. [9] 226.
[37]
M. Heidegger: Phänomenolog. Interpr. zu Arist; Einf. in die phänomenolog. Forsch. Ges.ausg. II/61 (1985) 2f.
[38]
a.O. 112; vgl. 56ff.
[39]
111.
[40]
Vgl. zu Heideggers bisher unveröff. Vorles. ‹Ontologie/Hermeneutik der Faktizität› (1923) die Beiträge von H.-G. Gadamer, F. Hogemann, Ch. Jamme, Th. Kisiel, O. Pöggeler, F. Rodi, in: Dilthey-Jb. 4 (1986–87); die Publikation der Vorles. demnächst in Ges.ausg. II/62.
[41]
Sein und Zeit (1927) §§ 31f.
[42]
H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode (1960) 249; vgl. Art. ‹Hermeneutik›, in: Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 1067.
[43]
Misch: Lebens-Ph., a.O. [23] 41. 47.
[44]
H. Nohl: Einf. in die Ph. (31947) 67ff.; H. Jonas: Wandel und Bestand (1970).
[45]
B. Groethuysen: Der Weg zur Ph. (Rez. zu G. Misch). Neue Jb. Wiss. Jugendbildung 3 (1927) 578f.; vgl. E. Spranger: Aufgaben der Ph. in der Gegenwart (1953). Ges. Schr. 5 (1969) 320–327.
[46]
Nohl, a.O. [44].
[47]
B. Groethuysen: Das Leben und die Weltanschauung, in: M. Frischeisen-Köhler (Hg.): Weltanschauung (1911) 53–77; Mythes et portraits (Paris 1947); dtsch.: Unter den Brücken der Metaphysik (1968).
[48]
a.O. [45] 581.
[49]
Misch: Der Weg in die Ph. (1926, 21950).
[50]
Lebens-Ph., a.O. [23] 17f. 25ff.
[51]
a.O. 17.
[52]
50ff.; J. König: G. Misch als Philosoph. Nachr. Akad. Wiss.en Göttingen, Phil.-hist. Kl. (1967) bes. 154ff. 202ff.; F. Rodi: Dilthey, die Phänomenol. und G. Misch, in: E. W. Orth (Hg.): Dilthey und die Ph. der Gegenwart (1985) 125–155.
[53]
Dilthey: Ideen über beschreib. und zerglied. Psychol. (1854). GS 5 (1957) bes. 200ff.; Der Aufbau der geschichtl. Welt in den Geisteswiss.en. GS 7 (1958) 3–69. 228ff.; a.O. [15] bes. 110ff. 307ff.
[54]
König, a.O. [52] 219ff.; O. F. Bollnow: Stud. zur Hermeneutik 2 (1983): Zur hermeneut. Logik von Georg Misch und Hans Lipps; Rodi, a.O. [52]; vgl. Art. ‹Logik, hermeneutische›, in: Hist. Wb. Philos. 5 (1980) 414f.
[55]
Misch: Lebens-Ph., a.O. [23] 33.
[56]
H. Lipps: Unters. zu einer hermeneut. Logik (21959); vgl. Bollnow, a.O. [54].
[57]
E. Rothacker: Log. und Syst. der Geisteswiss.en (1926) bes. 139ff.; vgl. Einl. in die Geisteswiss.en (1920) Vorwort.
[58]
Dilthey: Der Aufbau ..., a.O. [53] 279; Weltanschauungsl., a.O. [9] 226.
[59]
F. Rodi: Morphologie und Hermeneutik (1969) 92ff.; H.-U. Lessing: Die Idee einer Kritik der hist. Vernunft (1984) 168ff.
[60]
B. Groethuysen: Philos. Anthropol., in: A. Baeumler/M. Schröter (Hg.): Hb. der Ph. 3 (1931, sep. ND 1969) 3ff.; M. Landmann: Philos. Anthropologie. Menschl. Selbstdeutung in Gesch. und Gegenwart (21964).
[61]
H. Böhringer: B. Groethuysen (1978) bes. 149f.
[62]
G. Misch: Gesch. der Autobiographie 1/1 (31949) 5f.
[63]
H.-J. Schoeps: Was ist der Mensch? Philos. Anthropol. als Geistesgesch. der neuesten Zeit (1960).
[64]
H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Ges. Schr. 4 (1981) 60.
[65]
Apel, a.O. [2] 2, bes. 9ff. 96ff.
[66]
O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (1941, 61980); Das Verstehen (1949); Die Lebens-Ph. (1958); Ph. der Erkenntnis (1970); Das Doppelgesicht der Wahrheit (1975).
[67]
O. Pöggeler: Heidegger und die hermeneut. Ph. (1983) 66; Heidegger und die hermeneut. Theologie, in: E. Jüngel u.a. (Hg.): Verifikationen. Festschr. für G. Ebeling (1982) 480; Der Denkweg M. Heideggers (21983).
[68]
M. Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ‘Humanismusʼ (1947) 115.
[69]
Gadamer, a.O. [42] Teil III.
[70]
Ph. und Hermeneutik (1976), in: Kl. Schr. 4 (1977) 257.
[71]
a.O. [42] 205ff.; vgl. Dilthey tra romanticismo e positivismo, in: F. Bianco (Hg.): Dilthey e il pensiero del nove-cento (Mailand 1985) 24–41; F. Rodi: Hermeneutics and the meaning of life: A critique of Gadamer's interpret. of Dilthey, in: H. J. Silverman/D. Ihde (Hg.): Hermeneutics and deconstruction (New York 1980) 82–90.
[72]
Dilthey: Weltanschauungsl., a.O. [9] 82.
[73]
Gadamer, a.O. [42] 451.
[74]
H. Albert: Traktat über krit. Vernunft (1968) 134ff.; Plädoyer für krit. Rationalismus (1971) 106ff.; J. Habermas: Zur Logik der Sozialwiss.en (1970) 251–284; vgl. die Beitr. in: Hermeneutik und Ideologiekritik (1971).
[75]
E. Betti: Die Hermeneutik als allg. Methodik der Geisteswiss.en (1962); E. D. Hirsch: Validity in interpretation (New Haven 1967); Th. M. Seebohm: Zur Kritik der hermeneut. Vernunft (1972).
[76]
P. Ricœur: Le conflit des interprétations. Essais d'herméneutique (Paris 1969); dtsch.: Hermeneutik und Strukturalismus (1973); Finitude et culpabilité II: La symbolique du mal (Paris 1960); dtsch: Symbolik des Bösen (1971).
[77]
R. Rorty: Philosophy and the mirror of nature (Princeton, N.J. 1979); dtsch. Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Ph. (1981) bes. 343ff.
[78]
P. Krausser: Kritik der endlichen Vernunft (1968).
[79]
Apel, a.O. [2]; J. Habermas: Erkenntnis und Interesse (1968) bes. 221f.
[80]
a.O. bes. Bd. 2, Teil II.
[81]
1, 62.
[82]
E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwiss.en (1961) 20; vgl. z.B. G. Forni: Studi di ermeneutica. Schleiermacher, Dilthey, Cassirer (Bologna 1985).
[83]
J. Ritter: Hist. Wb. Philos. 1 (1971) VII; Metaphysik und Politik (1969), darin bes. 34ff.: Aristoteles und die Vorsokratiker (1954); K. Gründer: Reflexion der Kontinuitäten (1982).
R. E. Palmer s. Anm. [3]. – V. Warnach (Hg.): Hermeneutik als Weg heutiger Wiss. (Salzburg 1971). – O. Pöggeler (Hg.) s. Anm. [2]. – H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hg.): Seminar: Philos. Hermeneutik (1976) [Lit.!]; Seminar: Die Hermeneutik und die Wiss.en (1978) [Lit.!]. – J. Bleicher: Contemp. Hermen. (London/Boston 1980). – R. J. Howard: Three faces of Hermen. (Berkeley 1981). – H. Birus (Hg.): Hermeneut. Positionen (1982). – U. Nassen (Hg.): Klassiker der Hermeneutik (1982). – F. Rodi (Hg.): Dilthey-Jb. 1ff (1983ff). – W. Orth (Hg.): Dilthey und der Wandel des Ph.-Begriffs seit dem 19. Jh. (1984); s. Anm. [52].
I.Westlicher Marxismus. – 1. Der Beginn einer Sonderentwicklung des Ph.-Begriffs innerhalb des Marxismus setzt 1919 ein. Der seither sich entwickelnde «westliche Marxismus» [1] ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er das philosophische Element in der Manischen Theorie erneut hervorhebt und eigens reflektiert, zumal Marx selbst ja die «Verwirklichung» und «Aufhebung» der Ph. postuliert hatte. Noch bevor die philosophischen Frühschriften von Marx bekannt geworden waren, zwang die 11. Feuerbach-These zu einer Stellungnahme in der Frage der Existenzberechtigung einer separaten, als Disziplin organisierten, weltinterpretierenden Ph. im Angesicht der mit der Oktoberrevolution begonnenen Veränderung der Welt.
G. Lukács, der 1918 von der bürgerlichen Ph. zum Marxismus gefunden hatte, charakterisiert das Verhältnis von Ph. und Marxismus erstmals in seinem Aufsatz ‹Taktik und Ethik› (1919) folgendermaßen: Die Marxsche Theorie der Gesellschaft sei der Ort des «Bewußtwerdens der Gesellschaft» [2]. Mit dieser Figur der Reflexion trennt sich die Marxsche Theorie von aller utopischen Sozial-Ph., die noch eine «unüberbrückbare Scheidung» zwischen dem philosophischen Gedanken über die Wirklichkeit und dieser selbst gezogen hatte. Gleichwohl hört die Marxsche Theorie nicht auf, Ph. zu sein. Sondern: «... Marx ... übernahm unverändert das größte Erbe der Hegeischen Ph.: den Gedanken der Entwicklung» [3]. Durch die «philosophische Unbildung seiner Nachfolger» sei dieser Zusammenhang der Marxschen Theorie mit der philosophischen Tradition verschüttet worden. Die klassische bürgerliche Ph. wußte jedoch noch nicht, was für ein wichtiges Instrument sie mit der in ihrem Rahmen entwickelten dialektischen Methode in ihren Händen hielt. Erst das Proletariat hat dieses in der Praxis der Klassenkämpfe entdeckt. Indem Marx den progressiven Teil der Hegeischen Methode übernahm, spaltete er zugleich die reaktionären Teile dieser Ph. ab. Im vom Marxismus geschaffenen Klassenbewußtsein erwachten somit die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zum Bewußtsein. Das Proletariat vollendet nach Lukács die Ph. Jedoch reicht diese erste Vollendung der Ph. nicht aus: In Welt-Krisen-Situationen wird etwas erforderlich, das Lukács «Bewußtsein des Klassenbewußtseins» nennt, «das Bewußtsein der weltgeschichtlichen Berufung des Klassenkampfs des Proletariats». In dieser geschichtsphilosophischen Überhöhung des Klassenkampfes kommt ein dritter Begriff von Ph. bei Lukács zum Ausdruck, der sich über den Begriff der Utopisten und denjenigen der dialektischen Tradition erhebt: die «neue, die Welt revolutionierende und sie abermals aufbauende Ph.» [4]. Dieser dritte Ph.-Begriff ist aber identisch mit dem der Marxschen Theorie. Daher kann Lukács dann auch als marxistischen Grundsatz erklären, daß «die Entwicklung der Gesellschaft von dem ... Geist geleitet wird» [5]. Der welt-revolutionierenden Ph. von Marx gebührt daher – vermittelt durch das Klassenbewußtsein des Proletariats – die geistige Führung. Diese nunmehr allein legitime Sorte von Ph. steht aber auch in der Gegenwart einer Vielzahl von bürgerlichen Ph.n entgegen, die diesen Reflexionsgang des Geistes nicht mitvollziehen können [6]. Zwar sind auch sie vielfach vom Gedanken einer Totalität der Entwicklung bestimmt, aber indem diese Ph. sich so totalisierend zu den Ergebnissen der Einzelwissenschaften bloß verhält, wie diese zur Realität in ihrer Vielfalt, reproduziert die bürgerliche Ph. nur die «Verdinglichung» des Bewußtseins auf einer zweiten Stufe, anstatt sie aufzuheben [7].
Stärker noch als für Lukács, der Marxismus als historische Notwendigkeit und Ph. als kulturelle Selbstverständlichkeit annahm, wurde «Marxismus und Ph.» für K. Korsch zur bestimmenden Thematik, so auch der Titel seiner Schrift von 1923. Schon 1922 hatte Korsch hervorgehoben, daß der Marxismus im Sinne der bürgerlichen Wissenschaftstheorie keine Wissenschaft sei, auch nicht die Wissenschaft Ph. [8]. Der Marxismus setze nicht an die Stelle der bisherigen, nämlich bürgerlichen Ph. eine andere, neue, nämlich marxistische Ph. Marxismus ist in diesem Sinne nicht Ph., sondern Kritik der Ph., aber wiederum auch nicht reine, philosophische Kritik bisheriger Ph. (was ja immer schon zum Ph.-Begriff gehört hatte), sondern Kritik der Ph. «im innigsten Zusammenhang mit jenem praktischen Befreiungskampf der Arbeiterklasse, als dessen bloßen theoretischen Ausdruck sie sich empfindet und bezeichnet» [9]. Damit sind allerdings nicht sämtliche Brücken abgerissen; es gibt vielmehr nach Korsch zwischen materialistischer Geschichtsauffassung und dem, was man klassisch ‹Ph.› nannte: eine Gleichartigkeit. «Als kritische Widerlegung und Überwindung der ... bürgerlichen Ph.» bleibt der Marxismus mit einer Seite seines Wesens «selbst noch ... Ph.». Mit der anderen Seite allerdings überschreitet er den «bürgerlichen ... Ph.-Horizont» [10]. Darüber hinaus findet Korsch im Werk von Marx etwas, das philosophischer ist «als alle sogenannte ... Ph.», welche die moderne bürgerliche Epoche vorgebracht hat. «Die bürgerlichen Ph.-Professoren versicherten sich gegenseitig, daß der Marxismus einen eigenen philosophischen Gehalt nicht besäße – und glaubten damit etwas Großes gegen ihn gesagt zu haben. Die orthodoxen Marxisten ihrerseits versicherten sich ebenfalls gegenseitig, daß ihr Marxismus seinem Wesen nach mit der Ph. nichts zu tun habe – und glaubten damit etwas Großes für ihn zu sagen» [11]. Das eigentlich philosophische Element am Marxismus bleibt dem bürgerlichen Ph.-Betrieb unsichtbar, und zwar aus verschiedenen Gründen. Die institutionalisierte Ph. ignoriert, daß «der Ideengehalt einer Ph.» auch unter anderen Formen als den eigentlichen Ph.n fortleben kann, z.B. in einer gesellschaftlichen Praxis [12]. Die Ph. begreift ferner ihre Geschichte als eine sich in sich fortzeugende Entwicklung, als die Geschichte von Ideen, die immer unter sich bleiben. Diese beiden Einsichtshindernisse beruhen auf einer Abstraktion davon, daß Ph. in die Wirklichkeit involviert, selbst ein Teil von ihr ist, so daß Teile der Wirklichkeit philosophisch sind und Teile der Ph. ganz und gar unphilosophisch. Diese Dialektik von Ph. und Wirklichkeit bleibt der bürgerlichen Ph. der nachhegelschen Ära verschlossen. Nach Marx wird diese Dialektik zu einer Dialektik von Ph. und revolutionärer gesellschaftlicher Praxis. So sind die «revolutionäre Klassenbewegung des Proletariats» und «die materialistische Ph. des Marxismus» als Momente «eines einheitlichen geschichtlichen Entwicklungsprozesses» zu begreifen [13]. «Für den modernen dialektischen Materialismus ist es wesentlich, daß er solche geistigen Gebilde, wie die Ph. und jede andere Ideologie, vor allem einmal als Wirklichkeiten theoretisch auffaßt und praktisch behandelt» [14]. Damit stellt sich aber die schwierige Situation her, daß erst mit Transzendierung des bürgerlichen Standpunkts eine «Ph. des Marxismus» thematisch werden kann, zugleich aber als separat philosophische aufgelöst ist in die geschichtliche Entwicklung. In diesem Sinne wollten Marx und Engels keine neue Ph. (auch nicht eine für das Proletariat parteiliche Ph.) entwerfen, sondern sie wollten jede Form von Ph. aufheben. Der Begriff der Aufhebung von Ph. ist nicht ihre «bloße Beiseiteschiebung» [15], sondern der allmähliche, revolutionäre Prozeß ihrer Verwirklichung als gesellschaftsverändernde Praxis. Daher konvergiert geradezu eine bloße Negierung des philosophischen Gehalts des Marxismus mit einem Vergessen von dessen revolutionärem Gehalt. Wo aber das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis lebt, da sind der praktisch-revolutionäre und der kritisch-philosophische Gehalt des Marxismus zugleich präsent. Damit ist die 11. Feuerbach-These von Marx keine Absage an die Ph., sondern nur eine Absage an eine solche Theorie, «die nicht zugleich Praxis ist, und zwar wirkliche, irdisch diesseitige, menschlich sinnliche Praxis ...» [16]. Dadurch wächst der Ph., die sich auf diese revolutionäre Praxis einläßt, eine wichtige Aufgabe zu: Sie muß «als revolutionäre wissenschaftliche Kritik und agitatorische Arbeit» vor der Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat und «als organisierende wissenschaftliche Arbeit und ideologische Diktatur» nach ihrer Machtergreifung als «philosophische Aktion» an ihrer eigenen Verwirklichung mitwirken [17]. Diejenigen, die die Ph. in ihrer gegenwärtigen Phase der historischen Entwicklung als eine im Kern bürgerliche Einrichtung abschaffen und an ihre Stelle einen (unphilosophischen) wissenschaftlichen Sozialismus setzen wollen, können sich bei ihrem Bemühen auf Bucharins Theorie des historischen Materialismus (dtsch. 1922) berufen. Aber nach Korschs Auffassung ist das ein folgenreiches Mißverständnis. Denn man kann den legitimen Gehalt des philosophischen Arguments nicht folgenlos abschaffen; aufheben aber kann man ihn nur in seiner Verwirklichung in der revolutionären Praxis. Im Maße ihrer Verwirklichung, d.h. indem in der Revolution die Ph. zur Wirklichkeit wird, in dem Maße wird sie aufhören, ein separates Dasein zu führen. Die Ph. wird absterben, wie der Staat absterben wird in einer kommunistischen Gesellschaft [18].
E. Bloch war Philosoph, ehe er Marxist wurde [19]. Als er sich dann mit Lukács' ‹Geschichte und Klassenbewußtsein› auseinandersetzt, hebt er den philosophischen, genauer hegelianischen Schwerpunkt dieses Buchs positiv hervor: «Zwar wird es das Buch nicht ganz leicht haben, seine guten Leser zu finden. Die Russen etwa, welche philosophisch handeln, aber denken wie die ungebildeten Hunde, werden sogar einen Abfall darin wittern. Von den Revisionisten unendlich verschieden, sind sie doch in fast gleicher Weise vom philosophischen Erbe abgetrieben, und manche ihrer werden sagen, Marx habe nicht Hegel dazu auf die Füße gestellt, damit Lukács Marx wieder auf den Kopf stelle» [20]. So hält Bloch auch nach seinem Übergang zum Marxismus an der elementaren Bedeutung der Ph., speziell der klassischen deutschen Ph. für die marxistische Theorie fest; und er tut dieses wohl wissend um das Spannungsverhältnis, in dem sich beide befinden. Das Verhältnis von (Kritik der) Ökonomie und Ph. bei Marx bestimmt Bloch so, daß Ökonomie die Basiswissenschaft, Ph. aber die «notwendige Zusammenhangsorientierung des Kultur- und Naturbewußtseins» ist [21]. Ph. in diesem Kontext läßt freilich ihren Begriff nicht unberührt: Sie ist vielmehr auf Praxis bezogen. So fallen «Ph.» und «Verwirklichung der Ph.» bei Bloch tendenziell zusammen. «Es gibt keine konkrete Praxis mehr ohne jenes Totum des Blicks, das Ph. heißt. Und es gibt keine Ph. mehr ohne jenen Bezug auf Praxis, der Herstellung der klassenlosen Gesellschaft heißt, das ist, Aufhebung der menschlichen Entfremdung und der Verdinglichung» [22]. Die 11. Feuerbach-These interpretiert Bloch in dem Sinne, daß Marx sich in ihr keineswegs gegen die Ph. und ihren Fortbestand ausgesprochen habe. Marx spreche sich vielmehr gegen die bisherige, nur-interpretierende Ph. aus. Daß diese bisher so kontemplativ gewesen sei, habe seine bestimmten, historisch-sozialen Gründe. Es gehöre aber nicht zu ihrem Begriff, sondern zu einer historisch kontingenten Deformation, durch die das Denken der politischen Praxis entfremdet worden sei. Während also Ph. seit jeher das «Bewußtsein des Totum» wachhält und in ihr die «Einheit des Wissens» als Idee jenseits aller Spezialisierungen der Wissenschaften bestimmend ist, kommt für die «marxistisch dastehende Ph.» zu diesen zu erhaltenden Bestimmungen hinzu, daß «sie die mächtige Stimme des Wohin und Wozu kenntlich macht, die finale Stimme, ohne die die Einheit erstarrt ... Ph. steht an der Front. Sie steht wissend aktiv an der Front des jetzigen Umwandlungsprozesses, der ein Teil des Weltprozesses selber ist. Mit dem Neuen, dem Novum als einer bisher noch kaum erforschten Hauptkategorie und mit konkreter Utopie als einer Gegenstandsbestimmtheit, Realitätsbestimmtheit» [23]. Ph. ist «Generalstab des Erwartens» [24]. Gemäß Bloch soll Ph. nach Marx eine sein, deren Hauptgegenstand die Zukunft, das Wohin des Werdens ist. Dem Versuch, diese bislang unerschlossene Dimension in den Blick zu nehmen, ist Blochs Hauptwerk ‹Das Prinzip Hoffnung› (1954) gewidmet: «Ph. wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie wird kein Wissen mehr haben. Und die neue Ph. wie sie durch Marx eröffnet wurde, ist dasselbe wie die Ph. des Neuen ...» [25]. Daß die neue Ph. eine der Zukunft ist, bedeutet jedoch kein Ende ihres Bezugs zur Vergangenheit. Sofern Vergangenheit lebendig ist, enthält gerade sie eine Fracht unerfüllter Hoffnungen. Die Zukunft der Vergangenheit als Thema gehört mit zu dem, was die «universale materielle Tendenzwissenschaft» Ph. [26] zu bedenken hätte: «Das Grundthema der Ph., die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene, noch ungelungene Heimat ...» [27]. Auf sie bezieht sie sich aber nun nicht mehr kontemplativ, sondern «in Begriff und Praxis» [28]. Der Satz der 11. These über Feuerbach ist demnach nicht so zu verstehen, «gleich als wäre er – amerikanische Kulturbarbarei» [29]. Nicht die «Abdankung der Ph.» formuliert er nach Bloch, sondern ihren «höchsten Triumph» [30]. Eine nicht mehr nur-interpretierende Ph. wird propagiert, nicht aber etwa keine. Nicht einmal ein allgemeines Verdikt gegen alle bisherige nur-interpretierende Ph. meint Bloch aus der These ableiten zu können. Die neue, «aktive Ph.» von Marx wende sich angeblich nur gegen die kontemplative Ph. der Hegel-Epigonen, gegen eine Art von «Nicht-Ph.» also. Die Kritik der 11. These gilt nur einer «die Welt lediglich antiquarisch interpretierende[n], sie bezieht sich nicht auf eine die Welt revolutionär verändernde» Ph. [31]. «Das schlechthin Neue in der marxistischen Ph. besteht in der radikalen Veränderung ihrer Grundlage, in ihrem proletarisch-revolutionären Auftrag; aber das schlechthin Neue besteht nicht darin, daß die einzige zur konkreten Weltveränderung fähige und bestimmte Ph. keine – Ph. mehr wäre» [32]. Damit durchstreicht Bloch mit aller Entschiedenheit das durch Engels bei der Edition der Thesen hinzugesetzte «aber» zwischen den zwei Satzteilen der Feuerbach-These. Vielmehr reformuliert Bloch die marxistische Ph. durch die Finalisierung: Sie interpretiere die Welt, um sie zu verändern [33].
Noch einen Schritt weiter in der Interpretation der 11. Feuerbach-These geht M. Raphael, wenn er gar nicht mehr diskutiert, ob dies eine Forderung nach Abschaffung der Ph. sei, sondern nur noch, ob dies die Forderung sei, die Theorie aus der Ph. auszuschalten. Auch diese Frage wird verneint. Es gehe in dieser These, deren Ph.-Immanenz außer Frage steht, um die «Aufforderung an die Theorie, sich vor der Praxis, aus der sie entstanden ist, zu legitimieren durch Veränderung und Umwälzung der ursprünglichen Praxis» [34]. Im übrigen thematisiert die ‹Theorie des geistigen Schaffens› (zuerst 1934) nicht eigens die Ph., sondern betreibt sie schlicht, indem sie speziell diejenigen auf der Arbeitsteilung beruhenden gesellschaftlichen Abstraktionen untersucht, denen eine Trennung von Theorie und Praxis zu verdanken ist. Darin gleicht diesem Ansatz derjenige A. Sohn-Rethels. Auch er lehnt eine «Ph. von Intellektuellen für Intellektuelle» ab, indem er sie kurzerhand als «Ph. herrschender Klassen mit Geistesmonopol» meint entlarven zu können [35]. Zugrunde liegt dieser Ph. eine «Selbstauslöschung der Gesellschaft im Bewußtsein der Beteiligten» und infolgedessen die Fiktion einer Ursprünglichkeit des reinen Verstandes. Bei Sohn-Rethel steht außer Frage, daß der Marxismus eine Ph. sei; er ist «die erste Ph. für die Arbeiterklasse» [36]. Da diese nun die Fiktion einer Unmittelbarkeit des Verstandes zur ursprünglichen Wahrheit aufgegeben hat und sich statt dessen die «Frage nach der Wahrheit aus der Geschichte der Menschheit vorgeben läßt», hat mit dem Marxismus die Ph. aufgehört, Prima Philosophia sein zu wollen: sie ist zur «ultima philosophia» geworden [37]. Diese ist «Anamnesis der Genese» der Tauschabstraktion [38], die am Grunde sowohl der Trennung von Kopfarbeit und Handarbeit steht, wie auch derjenigen von Sein und Bewußtsein der klassischen bürgerlichen Ph.
L. Kofler spricht der Ph. vertrauensvoll die Macht zu, unserem «Schicksal» einerseits Ausdruck zu verleihen, andererseits in es einzugreifen; letzteres wiederum entweder, «um den Menschen an dieses Schicksal zu ketten» oder um ihn zu befreien [39]. Kofler meint, daß weder der empirische, noch der spekulative Anspruch der traditionellen philosophischen Systeme den Herausforderungen der Gegenwart in diesem Sinne gerecht zu werden vermöchte, sondern allein die Dialektik. G. Anders nennt seine Ph. eine «Gelegenheits-Ph.» [40], ja aus «philosophischer Skrupelhaftigkeit» scheut er sich – zweideutig genug –, sie überhaupt Ph. zu nennen [41]. So stellt er einerseits die Frage, wie Ph. überhaupt möglich sei, andererseits mokiert er sich über Philosophen, die über Ph. philosophieren, statt «über das Wasser, das uns bis zum Munde steht» [42]. Er hält die Leidenschaft für das Singulare, die «haecceitates», für den Impetus der Ph. [43]. Der wahre Philosoph ist daher für Anders derjenige, der auf etwas lossteuert in seinem Denken, unbekümmert, ob das noch Ph. sei; der wahre Philosoph interessiert sich in diesem Sinne nicht für die Ph. [44].
Als M. Horkheimer 1940 nach der «gesellschaftlichen Funktion der Ph.» fragte [45], da stellte er einerseits die Diffusität der Definitionen von Ph. und der gesellschaftlichen Erwartungen an sie fest, betonte aber andererseits als Konstanz des Ph.-Begriffs im Wandel der Jahrhunderte ihren gesellschaftskritischen Impetus. «Der Widerstand der Ph. gegen die Realität rührt aus ihren immanenten Prinzipien her» [46]. Es ist insbesondere der Begriff von Freiheit, der die Ph. mit den real bestehenden Zwängen in eine fundamentale Spannung bringt. Daher gibt es für die Ph. im jeweiligen gesellschaftlichen Gefüge keinen sicheren Ort ihrer Betätigung, denn: «Diese Lebensordnung mit ihrer Welthierarchie ist für die Ph. selbst ein Problem» [47]. Geradezu apodiktisch erklärt Horkheimer: «Die wahre gesellschaftliche Funktion der Ph. liegt in der Kritik des Bestehenden» [48]. Damit die Menschen sich nicht an die Einseitigkeit der bestehenden Zustände und Orientierungen verlieren, kultiviert die Ph. das kritische, das dialektische Denken. «Ph. ist der methodische beharrliche Versuch, Vernunft in die Welt zu bringen ...» [49]. Auch wenn sie selbst sich nur selten direkt gesellschaftskritisch äußert, macht ihr Einspruch gegen das gesellschaftlich sanktionierte Denken sie für dieses unbequem, ärgerlich und nutzlos. Kritik, die die Ph. ist, bezieht sich auf die «herrschenden Ideen, Handlungsweisen und gesellschaftlichen Verhältnisse» [50]. «Heute jedenfalls hat die gesamte historische Dynamik die Ph. in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Wirklichkeit gestellt und die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Mittelpunkt der Ph.» [51]. Das Moment der Sperrigkeit des Philosophischen gegenüber der Wirklichkeit wird in späteren Jahren von Horkheimer noch forciert. Nun erscheint es bereits als ein Argument gegen eine bestimmte Ph., daß sie sich populär, pädadogisch verwenden läßt. «Es gibt keine Definition der Ph. Ihre Definition ist identisch mit der expliziten Darstellung dessen, was sie zu sagen hat» [52]. Nun kann Ph. nicht mehr als der Versuch gelten, Vernunft in die Welt zu bringen, weil der Vernunftbegriff sich nicht mehr affirmativ verwenden läßt. Seit der ‹Dialektik der Aufklärung› (1947) ist die Verrücktheit der Vernunft selbst bekannt, Ph. muß unter diesem Aspekt zur «Selbstkritik der Vernunft» werden. Sie gilt nun nicht mehr als Synthese von Erkenntnisbemühungen, als Grundwissenschaft oder Fachwissenschaft, sondern ist «die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit» [53]. In der Selbstkritik der Vernunft wird die Sprachlichkeit des Denkens wichtiges Thema; der sprachliche Ausdruck muß durch Ph. (und Kunst) dazu befähigt werden, das Leiden der Menschen zu reflektieren. «Ph. ist die bewußte Anstrengung, all unsere Erkenntnis und Einsicht zu einer sprachlichen Struktur zu verknüpfen, in der die Dinge bei ihrem rechten Namen genannt werden» [54]. Angesichts der großen Ideen der Zivilisation ist die Ph. erstens deren Kritik, insoweit sie einen Absolutheitsanspruch mit sich führen, zweitens aber die Rettung ihres Inhalts vor der Wirklichkeit. «Ph. konfrontiert das Bestehende in seinem historischen Zusammenhang mit dem Anspruch seiner begrifflichen Prinzipien, um die Beziehung zwischen beiden zu kritisieren und so über sie hinauszugehen» [55]. Keineswegs negiert sie daher abstrakt das Bestehende, sei es die Realität oder deren Ideologie, vielmehr: «Ph. ist bewahrend und kritisch zugleich» [56]. Dadurch wird sie zum «Eingedenken und Gewissen der Menschheit» [57]. Tatsächlich aber versagt die Ph. oft an diesem Anspruch an sie und wird bloß affirmativ; «... deshalb sind die wahren Philosophen heute gegen die Ph.» [58]. Auch in der Ph. ist die Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit Anlaß zu kritischer Negation. «Kritik, Bewußtsein der Differenz, war stets die Kraft des philosophischen Gedankens, der sich als das Wesen der Wirklichkeit und zugleich als deren Gegensatz erfährt, von der er handelt» [59]. So ist Ph. nie ganz in der Gegenwart beheimatet, sie entzieht sich der Zweckrationalität und dem Willen zur Beherrschung. In der kritischen Differenz zur Gegenwart versucht sie, deren Wahrheit zu artikulieren. Wie die Kunst und die Umgangsformen ist sie – im Sinne ihrer Gegenwart – nie ganz vernünftig: «Sie bilden die Seele des gesellschaftlichen Lebens und sind zugleich ihm fremd» [60]. Zuweilen steigert Horkheimer die Idee der Fremdheit von Ph. und Wirklichkeit in einem Maße, daß er jede Artikulation philosophischen Denkens für vergeblich, ja für albern hält: «Wenn es um die Wahrheit geht, ist nur das Schweigen nicht unbeherrscht, jedes Wort ist redselige Klage, stets unangebracht» [61].
Th. W. Adorno unterstellt bereits in seiner Antrittsvorlesung ‹Die Aktualität der Ph.› von 1931, «daß die Ph. heute faktisch zu nichts anderem diene, als die Wirklichkeit zu verhüllen und ihren gegenwärtigen Zustand zu verewigen. Vor aller Antwort ist solche Funktion in der Frage gelegen ...» [62]. Fragen wie diejenige (Heideggers) nach dem Sinn von Sein führten entweder zu «formaler Unverbindlichkeit» oder zu beliebigen weltanschaulichen Standpunkten [63]. Später erklärt Adorno sogar: «Ph., die sich noch als total, als System aufwürfe, würde zum Wahnsystem» [64]. Dagegen fordert er eine «Konzentration der philosophischen Fragen auf konkrete innerhistorische Komplexe» [65]; deren Ausführung wäre zugleich radikale Kritik des philosophischen Status quo. Solche «philosophische Deutung» wäre negativ, konkret und dialektisch. Sie will «Schlüssel ... konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt» [66]. Ph. wird wieder zur – von der Phantasie geleiteten – Ars inveniendi; eine ihrer legitimen Gestalten ist der Essay, Versuch, im kleinen in die Wirklichkeit einzudringen, statt daran zu scheitern, ihre Totalität zu erzeugen oder zu begreifen. Später schwindet für Adorno auch noch diese Zuversicht: «Ph., die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward», beginnt die ‹Negative Dialektik›. Folgerichtig will Adorno nicht mehr den Abschied von der Philosophie als Interpretation der Welt, als «Besinnung» [67] und Hinwendung zu ihrer Veränderung; denn der Augenblick der Verwirklichung der Ph. «läßt nicht theoretisch sich prolongieren» [68]. «Bloß Sturheit ... könnte diese Möglichkeit noch so unterstellen wie Marx» [69]. Der Fortbestand von Leid und Angst «nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Ph.» [70]. Nachdem die Ph. die Versprechen von Versöhnung oder Heil nicht einhielt, bleibt ihr nichts als Selbstkritik; denn «vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Übergang verhieß» [71]. Adorno strebt aber Veränderung der Ph. nicht durch Überbietung der großen Geste an, ja er will der «trostlosen Kette der Ph.n» [72] nicht eine neue hinzufügen; Ph. verändert sich durch das Interesse am Unbegriffenen: «Ph. hat ... ihr wahres Interesse ... beim Begriffslosen Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde ...» [73]. Daher definiert Adorno ‹Ph.› in einer paradoxen Formulierung «als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert» [74]. An anderer Stelle lautet die Begründung für diese Enthaltsamkeit anders: Ph. ist nicht mehr des Absoluten mächtig, ja muß sich den Gedanken an das Absolute «verbieten, um ihn nicht zu verraten» [75]. Denn die Gewalt realer Zusammenhänge schlägt bis «tief in die philosophischen Argumentationszusammenhänge hinein» durch [76]. Daher ist auch, nach einem berühmten Wort von Adorno «Ph. wesentlich nicht referierbar» [77]. Der Widerspruch zwischen unverzichtbarem Anspruch der Ph. und der Unmöglichkeit einer entsprechenden Praxis der Ph. führt bei Adorno zur Idee einer negativen Dialektik, einer negativen Ph. [78]. In seinem philosophischen Hauptwerk beschreibt Adorno die persistente Obsoletheit großer Ph.: «Ph., die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward» [79]. Dies ist auch eine Variante der 11. Feuerbach-These, eine ent-eschatologisierte. Sie äußert sich als radikale Kritik der selbstproduzierten Hoffnung auf Verwirklichung und Generalisierung der Ph. Daneben aber erinnert sie an das Uneingelöste jener Hoffnung auf das Paradies in einem Zustand der Fortdauer des Leids und der Furcht. Ihr «Lebensnerv» aber ist der «Widerstand gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal ist» [80]. Sie ist heute befreit von der Wahnvorstellung, System sein zu sollen, was immer nur Apologie des Bestehenden war, und nennt das Wahnsystem der Realität selbst beim Namen. Ph. ist nötig – lautet die Antwort auf die selbstgestellte Frage «Wozu noch Philosophie?» – «als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei's auch machtloser Versuch des Gedanken, seiner selbst mächtig zu bleiben ...» [81].
In seinem frühen Aufsatz ‹Über konkrete Ph.› von 1929 [82] geht H. Marcuse von einem an Heidegger angelehnten Ph.-Begriff aus. Danach ist philosophische Erkenntnis das «Sichtbarmachen von Wahrheit» [83], wobei unter Wahrheit eine die Existenz des Menschen betreffende Wahrheit zu verstehen sei. «Die Sorge um die menschliche Existenz und ihre Wahrheit macht die Ph. im tiefsten Sinne zur ‘praktischen Wissenschaftʼ, sie führt auch ... die Ph. hinein in die konkrete Bedrängnis der menschlichen Existenz» [84]. Je größer die «existentielle Krisis» einer Zeit ist, desto mehr bewährt sich Ph. darin als «echte Ph.», daß sie ihre Wahrheiten existentiell auffaßt und für das «gleichzeitige Dasein» notwendig werden möchte [85]. Ph. gewinnt vor dem Hintergrundder «existentiellen Not des gegenwärtigen Daseins», die Marcuse als Struktur des Kapitalismus diagnostiziert, die Verantwortung und «Pflicht zur Bekümmerung um diese Existenz» [86]. «So kann das edelste Desiderat allen Philosophierens: die Einheit von Theorie und Praxis, Wirklichkeit werden» [87]. Diesem Prozeß des «Konkretwerdens der Ph.» geht es darum, das Dasein «in Wahrheit des Existierens zu bringen» [88]. Letztlich hat die konkrete Ph. nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, in die Not der Existenz einzugreifen. «So steht notwendig am Ende jeder echten konkreten Ph. die öffentliche Tat» [89]. Ph. soll – so beschließt Marcuse seine Überlegungen – «die Führung» übernehmen [90]. Später modifiziert Marcuse diese Position. Nun gehört die Tat nicht mehr zur Ph., Ph. gehört vielmehr zur Sphäre des Ideologischen [91]. Mit der Praxis ist sie dadurch verbunden, daß sie erstens die Wirklichkeit an ihren Möglichkeiten mißt und dadurch «wahrhaft therapeutisch» wirkt, daß zweitens alle ihre Urteile zwangsläufig Werturteile enthalten [92]. Der Marxschen Forderung nach Aufhebung der Ph. stellt sich Marcuse folgendermaßen: «Wenn die Vernunft ... verwirklicht worden ist, dann ist auch die Ph. gegenstandslos» [93]. Zunächst aber ist die marxistische Theorie seit Marx die gültige Form des philosophischen Interesses: «Neben dieser Theorie gibt es nicht noch eine Ph.» [94]. War es zuvor das Ideal der Ph., die Ph. aus Sorge um den Menschen zu verwirklichen, so geht dieses Bemühen seit Marx «in das praktische Ziel der kämpfenden Menschheit ein» [95]. Allerdings ist die Veränderung der Realität «nicht Sache der Ph.» [96], denn nunmehr kritisiert Marcuse, was er früher propagiert hatte, «jene pseudophilosophische Konkretheit, die sich von oben zu den gesellschaftlichen Kämpfen herabläßt» [97]. Mit Marx aber beginnt eine «wesentlich andere Gestalt von Wahrheit, die in den Begriffen der Ph. nicht interpretiert werden kann» [98]. Alle Begriffe von Marx, selbst wo sie philosophischer Herkunft sind, fungieren nun nicht mehr als philosophische Begriffe, «selbst die Marxschen Frühschriften sind nicht philosophisch. Sie drücken die Negation der Ph. aus ...» [99].
[1]
Der Begriff ‹westlicher Marxismus› wurde 1927 von M. Werner (d.i. A. Schifrin) als Gegenbegriff zu ‹Sowjetmarxismus› eingeführt, um Positionen wie die von Lukács zu kennzeichnen, vgl. M. Werner: Sowjetmarxismus. Die Gesellschaft 2 (1927) 42–67, bes. 61.
[2]
G. Lukács: Das Problem geistiger Führung und die geistigen Arbeiter (1919). Werke 2 (1968) 57.
[3]
a.O. 58.
[4]
60.
[5]
a.O.
[6]
Gesch. und Klassenbewußtsein (1923), a.O. [2] 285ff. 297ff.
[7]
a.O. 286; vgl. Die Erkenntnistheorie Lenins und die Probleme der modernen Ph., in: Schr. zu Ideologie und Politik (1967) 474ff.; vgl. L. A. Arato/P. Breines: The young Lukács and the origins of Western Marxism (New York 1979); Festschr. zum 80. Geb. von G. Lukács, hg. F. Benseler (1965).
[8]
K. Korsch: Marxismus und Ph. (1923, n1966) 138.
[9]
a.O. 139.
[10]
147.
[11]
76.
[12]
81.
[13]
88.
[14]
112.
[15]
117.
[16]
133.
[17]
135f.
[18]
Vgl. G. Bammel in seinem ‹Vorwort› zu ‹Marxismus und Philosophie›, in: Zur Aktualität von K. Korsch, hg. M. Buckmiller (1981) 68–88, bes. 73.
[19]
Die frühe Ph. Blochs behandelt A. Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Frühwerk von E. Bloch (1982).
[20]
E. Bloch: Aktualität und Utopie (1923). Ges.ausg. (1959–78) 10, 601.
[21]
Ad Pädagogica; Zur parteiischen Weisheit: Universität, Marxismus, Ph. (1949), a.O. 277.
[22]
a.O. 277f.; vgl. Über den Begriff Weisheit (1953), a.O. 391.
[23]
a.O. 287.
[24]
Tübinger Einl. in die Ph. Ges.ausg. 13, 300.
[25]
Das Prinzip Hoffnung. Ges.ausg. 5/1, 5.
[26]
Was ist Ph., als suchend und versucherisch? (1955), a.O. [20] 400.
[27]
a.O. [25] 8.
[28]
a.O. 17.
[29]
320.
[30]
322.
[31]
325.
[32]
326.
[33]
a.O. [26] 399; W. Hudson: The Marxist philos. of E. Bloch (London 1982); B. Schmidt: Seminar: Zur Ph. E. Blochs (1982); H. G. Bütow: Ph. und Ges. im Denken E. Blochs (1963); D. Howard: Marxisme et philos. concrète: situation de Bloch, in: G. Raulet (Hg.): Utopie – Marxisme selon E. Bloch. Festschr. Bloch (Paris 1976) 36–53.
[34]
M. Raphael: Theorie des geist. Schaffens auf marxist. Grundlage (21974) 24.
[35]
A. Sohn-Rethel: Warenform und Denkform (1961, 1978) 104.
[36]
a.O.
[37]
a.O. 8.
[38]
139.
[39]
L. Kofler: Ende der Ph. (1961) 3.
[40]
G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 2 (1980) 10.
[41]
a.O. 415.
[42]
418.
[43]
a.O. 1 (51980) 12.
[44]
a.O. 14.
[45]
M. Horkheimer: Krit. Theorie, hg. A. Schmidt (21972) 2, 292–312.
[46]
a.O. 296.
[47]
300.
[48]
304.
[49]
307.
[50]
310.
[51]
308.
[52]
Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1974) 155.
[53]
M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Dial. der Aufkl. (1947, 1969) 260.
[54]
Horkheimer, a.O. [52] 167.
[55]
a.O. 170.
[56]
Sozial-philos. Studien (1972) 95.
[57]
a.O. [52] 173.
[58]
Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, hg. W. Brede (1974) 86.
[59]
a.O. [56] 93.
[60]
105.
[61]
a.O. [58] 10; vgl. 85f.
[62]
Th. W. Adorno: Die Aktualität der Ph. (1931). Ges. Schr., hg. R. Tiedemann 1 (1973) 325.
[63]
a.O. 337.
[64]
Eingriffe (1963) 13.
[65]
a.O. [62] 339.
[66]
a.O. 340.
[67]
a.O. [64] 23.
[68]
Neg. Dial. (1966) 13.
[69]
a.O. [64] 23.
[70]
a.O. 24.
[71]
a.O. [68] 13.
[72]
a.O. [64] 18.
[73]
a.O. [68] 17f.
[74]
Skoteinos oder Wie zu lesen sei. Ges. Schr. 5 (1971) 336.
[75]
a.O. [64] 14.
[76]
a.O. 18.
[77]
a.O. [68] 42.
[78]
a.O. [64] 14.
[79]
a.O. [68] 15.
[80]
a.O. 13.
[81]
a.O. [64] 17.
[82]
H. Marcuse: Über konkr. Ph. (1929). Schr. 1 (1978) 385–406.
[83]
a.O. 385.
[84]
387f.
[85]
395.
[86]
396.
[87]
397.
[88]
a.O.
[89]
405.
[90]
406.
[91]
Der eindimensionale Mensch (1970) 213.
[92]
a.O. 142.
[93]
Ph. und krit. Theorie (1937). Schr. 3 (1979) 228.
[94]
a.O. 234.
[95]
a.O.
[96]
a.O. 238.
[97]
a.O.
[98]
Vernunft und Revolution (21976) 229.
[99]
a.O.; vgl. H. Jansohn: H. Marcuse (21974) bes. 137ff.
2. Die eigene italienische Entwicklung des Ph.-Begriffs innerhalb des Marxismus beginnt mit A. Labriola. Nach ihm ist der Marxismus weit davon entfernt, «eine vollständige und umfassende Lehre der gesamten historischen Phasen ... und gleichzeitig Anleitung zum politischen Handeln zu werden» [1]. Wenn also der Marxismus sich selbst noch kritisch weiterentwickeln wird, so gibt es doch einen unwandelbaren philosophischen Kern der Marxschen Lehre, nämlich die «Ph. der Praxis» [2]. Grundannahme dieser Ph. ist es, daß jeder Gedanke Resultat einer Arbeit unter bestimmten gesellschaftlichen, historischen Produktionsbedingungen ist. Damit aber ist das Denken letztlich abhängig von der «Selbstbewegung der Dinge» [3]. Die Ph. der Praxis ist diejenige Ph., die sich mit den Dingen entwickelt, die konkret ist, weil sie mit den Dingen wächst, es ist die Ph., «die den Dingen immanent ist, über die sie philosophiert» [4]. Im Gegensatz zu dieser an die Engelssche Konzeption erinnernde Version entwickelte G. Gentile eine am frühen Marx orientierte Ph. der Praxis, die erstmals in Italien die Feuerbach-Thesen präsentierte. Für Gentile bedeutete Ph. der Praxis den Versuch einer Verbindung von (Hegelscher) Dialektik und (Feuerbachschem) Materialismus. Die Materie selbst in ihrer Dialektik ist Praxis; aber insofern sie Dialektik ist, ist sie mehr als bloße Materie, ihr tätiges Prinzip ist Geist, wodurch die Marxsche Konzeption widersprüchlich wird [5]. Die Problematik einer Ph. der Praxis wird sowohl von Labriola als auch von Gentile auf die erkenntnistheoretische Problematik einer Dialektik von Subjekt und Objekt eingeschränkt. Dem folgt auch R. Mondolfo[6]. Er konstruiert geradezu einen Gegensatz von Ph. der Praxis und Materialismus, so daß der Terminus ‹historischer Materialismus› ihm ganz unpassend erscheinen will [7]. Die wechselseitige Verweisung von Denken und Praxis bei Marx führt Mondolfo zu folgender Paraphrase der 11. Feuerbach-These: «Man kann nicht verändern, ohne zu interpretieren; und andererseits kann nur derjenige richtig interpretieren, der verändern und handeln will» [8].
A. Gramsci knüpft an Labriolas Überzeugung an, die Ph. der Praxis sei eine «unabhängige und originale Ph., die die Elemente einer weiteren Entwicklung in sich trage, um von einer Interpretation der Geschichte zu einer allgemeinen Ph. zu werden» [9]. Er unterscheidet die Ph. der Praxis (Marxismus) einerseits von der professionellen Ph. der Berufsphilosophen, andererseits von der Ph. des Volkes, die in seiner Praxis als normierendes Element kollektiven Handelns enthalten ist. Wenn er auch zunächst beweisen möchte, «daß alle Menschen ... ‘Philosophenʼ sind» [10], so ist für ihn diese Ph. doch eine, die sich nicht selbst zum Thema macht, der also das Moment kritischer Reflexion fehlt, das allein gewährleisten kann, daß die Elemente der Ph. untereinander widerspruchsfrei sind. Die Systeme der Berufsphilosophen sind zwar möglicherweise in sich widerspruchsfrei, sie stehen jedoch im Widerspruch zu ihrer eigenen historischen Situierung und zu ihrer eigenen Praxis. Philosophische Praxis ist immer eine Art von politischer Praxis. Die Ph. einer Zeit ist daher das Insgesamt theoretischer und praktischer Orientierung einer Zeit, das allein durch die Ph. der Praxis und die in ihr enthaltene kritische Reflexion zu einer handlungsermächtigenden Widerspruchsfreiheit geführt werden kann. Ph. ist also nicht nur identisch mit Politik (als Praxis nämlich), sie ist auch identisch mit Geschichte (als Einheit von Theorie und Praxis nämlich). Geschichte und Ph. bilden – wie Gramsci sich ausdrückt – einen «Block» [11]. Ph. der Praxis ist diese Ph. daher im doppelten Sinne: Erstens ist sie eine Ph. über die Praxis und für die Praxis; zweitens ist sie eine Ph., die von ihrer eigenen ‘politischenʼ Praxis her denkt. Die 11. Feuerbach-These versteht Gramsci daher so, daß die geforderte «Veränderung» identisch ist mit der in der Ph. der Praxis propagierten und zugleich begonnenen philosophischen Praxis der Einheit von Theorie und Praxis; bloße Interpretation wäre der widerspruchsvolle Versuch, die politische Praxis des Philosophierens zu verdrängen. Die Marxsche Theorie ist daher zugleich Ph. (der Praxis) und radikaler Bruch mit aller Ph. (die sich als separate, politikexempte Institution isoliert). Dieses Sich-Wissen-im-Widerspruch, das die Ph. der Praxis ist, stellt zugleich das theoretische und praktische Prinzip der gesellschaftlichen Aufhebung der Ph. dar. Denn wenn der Widerspruch, den die Ph. der Praxis als ihre eigene historische Situation kritisiert, verschwunden ist, dann ist damit auch die Ph. der Praxis aufgehoben [12].
M. Merleau-Ponty, der sich intensiv mit der Eigenart des «westlichen Marxismus» beschäftigte [13], sah in ihm ein signifikantes Zerbrechen der Einheit von Ph. und Politik. Die Nicht-Ph. von Marx, die dialektisch zugunsten revolutionärer Praxis aufzuhebende Ph. wurde verdrängt von einer Rolle der Ph. als Sündenbock [14]. Merleau-Ponty sieht diese Scheidung von Ph. und Politik für unvermeidbar an, und er reklamiert daher Marx als einen Klassiker der Ph. Marxist in der Ph. ist man dann genau in dem Sinne und in dem Maße, wie man z.B. Cartesianer ist. Von Klassenkämpfen, Proletariat usw. zu reden, wird hiermit zu einer «façon de parler» innerhalb der Ph. Für Merleau-Ponty ist diese Interpretation aber keine Verharmlosung des Marxismus, denn Ph. ist für ihn etwas ganz anderes als das folgenlose Teilen von Meinungen und Positionen. Gerade daß der Marxismus eine Ph. der Praxis, des historisch Objektiven ist, macht ihn als Ph. attraktiv [15]. Näher wird Marx als «Existenzphilosoph» charakterisiert, weil seine Ph. sich als separate Ph. in ein konkretes, situationsbezogenes Denken aufzuheben strebt, das Marx mit dem Begriff «Kritik» belegte [16]. L. Althusser hat seinen Ph.-Begriff zwischen 1966 und 1974 entscheidend modifiziert. Verstand er zunächst unter Ph. die «Theorie theoretischer Praxis», d.h. eine Theorie, in der sich wissenschaftliche und philosophische Theoriebildung als eine Sorte von Praxis darstellte [17], so formulierte er 1972 [18], Ph. sei die «Politik in der Theorie». Damit zog er einen radikalen Trennungsstrich zwischen den wahrheitsfähigen Wissenschaften auf der einen Seite und der Ph. auf der anderen Seite, in der immer nur Positionen bezogen, aber niemals kommuniziert würde, keine Verständigung möglich sei, sondern immer nur Kampf, Abgrenzung und Positionsbehauptung. Daher habe Ph. im Grunde auch keine Geschichte wie die anderen Wissenschaften, in denen sich ein Erkenntnisfortschritt vollzöge. Diese Interpretation von Ph. als Politik wird 1974 [19] dahingehend präzisiert, daß sich in den politischen Strategien auf dem «Kampfplatz» (von Althusser zitierte Kantische Metaphorik) der Ph. immer der Klassenkampf zwischen Herrschenden und Beherrschten, Ausbeutern und Ausgebeuteten abspiele; in den philosophischen Positionskämpfen erscheint dieser «Klassenkampf in der Theorie» als der Antagonismus zwischen Idealismus und Materialismus.
Sowohl die These Merleau-Pontys, daß der Marxismus nichts mehr sei als eine interessante Ph. unter vielen, als auch die entgegengesetzte Althussers, daß die Marxsche Theorie im Kern alles andere sei als Ph., wird von H. Lefebvre bestritten [20]. Denn einerseits gehören der Einschnitt, den Althusser zwischen die Ph. und Marx legt (markiert durch die 11. Feuerbach-These), und der Anspruch der Ursprünglichkeit des philosophischen Gedankens zur Realisierung von Wahrheit seit eh und je zum Begriff von Ph.: Ph.-Geschichte ist das Kontinuum der Brüche, sei das zu Realisierende nun das gute Leben, das Glück oder die Freiheit; andererseits gibt es eine starke methodische, thematische und begriffliche Kontinuität der zeitgenössischen Ph. zu Marx hin. Daß Marx in Mißinterpretation der bisherigen Ph. diese für bloß spekulativ-interpretierend erklärte und von der Ph. eine Veränderung der Welt forderte, veränderte nach Lefebvre den Ph.-Begriff kaum. Veränderung hatten Ph.n – jede auf ihre Art – immer schon gewollt. Marx ist kein absoluter Neuanfang, sondern steht in einer allgemeinen Bewegung kritischen Denkens und der Ph. [21]. Marx verabschiedet nicht die Ph. oder sich von ihr, sondern erschließt ihr neue Gegenstandsbereiche: die gesellschaftliche Praxis. Das ist Kritik der Ph. als genuine Form des Philosophierens: Selbstkritik der Ph. [22]. Noch in dieser Kritik hält sich das typisch philosophische Abzielen auf Allgemeinheit. Ph. der Praxis wird sie als globale und totale Ph. eines Werdens, das Sein und Erkennen umfaßt. Auch wenn Marx den Rahmen der herkömmlichen Ph. sprengt, integrieren sich doch die Bruchstücke der Sprengung als ein neues Denken. Zwischen der sich selbst von den Sozial- und Humanwissenschaften isolierenden Affirmation (Hegel) und der Demission der Ph. (Positivismus) bestimmt Marx ihren wissenschaftlichen Ort neu als Kritik (z.B. der politischen Ökonomie). Zwar ist dieser Marxismus nach Lefebvre aus der Ph. hervorgegangen und aufs engste mit ihr verbunden, in seinen Ergebnissen wendet er sich jedoch gegen die bestehende Ph. [23]. Ph. als solche ist überwiegend kontemplativ, auch wenn sie an der Idee der Totalität des Menschen festhält. So paraphrasiert Lefebvre die 11. Feuerbach-These: «Die Philosophen haben den homo sapiens entdeckt und den homo faber ignoriert. Marx hat den homo faber entdeckt und seine Implikationen und Erfordernisse bestimmt. Für ihn hört der homo faber indes nicht auf, sapiens zu sein» [24]. Die Ph. kann als einseitige, philosophische Tätigkeit die Totalität des Menschen nicht realisieren, sie bleibt abstrakt und ineffektiv. «Der historische Materialismus vollendet die Ph., indem er sie aufhebt. ... Die dreifache Forderung der Ph. (Wirksamkeit, Wahrheit, Universalität des Denkens) läßt sich auf der Ebene der Ph. nicht erfüllen» [25]. In der Gegenwart hängt die Krise der marxistischen Ph. zusammen mit einer Krise des Marxismus allgemein auf der einen Seite und einer Krise der Ph. auf der anderen Seite. War es schon problematisch, die Ph. von der Totalität menschlicher Bedürfnisse und Aktivitäten zu separieren, da sie sich ja inhaltlich auf eben diese Totalität bezieht, so ist die heute eingetretene Spezialisierung innerhalb der Ph. eine deutliche Krisenerscheinung [26]. «Vielleicht werden wir die Ph. aus dieser ‘Kriseʼ zutiefst verändert hervorgehen sehen» [27]. «Inzwischen werden wir weiterhin nicht recht wissen, was Ph. ist» [28]. In seinem Werk ‹Meta-Ph.› entwickelt Lefebvre die Krise der Ph. in elf «Aporien» der heutigen Ph., die anleiten sollen zu einer «Kritik der Ph.» [29], denn «die Ph. ist zur geistigen Distraktion oder zur ideologisch-politischen Rechtfertigung geworden» [30]. Daraus leitet Lefebvre aber keinen Appell zur Veränderung der Ph. ab. Ph. sei vielmehr eine notwendige Begleiterscheinung der historischen Entwicklung des «Akkumulationsprozesses»; für diesen ist es unabdingbar, daß es Philosophen gibt, die die Welt verschieden interpretieren. Am Ende dieses Prozesses sind die Fragen der Ph. nicht beantwortet, sondern es sind sowohl die Fragen als auch die möglichen Antworten überflüssig geworden, up-to-date allein die Veränderung der Welt. Das ist eine Tatsache, die Marx am Ende des Industrialisierungsprozesses nüchtern diagnostizierte, nicht aber – wie man ihn mißverstanden hat – postulierte [31]. Die begonnene Aufhebung der Ph. in die Praxis des «totalen» Menschen hebe auch alle Widersprüchlichkeiten bisheriger Ph. in einer «virtuellen Einheit» auf [32].
[1]
A. Labriola: Discorrendo di socialismo e di filos., in: La concezione materialistica della storia (Bari 21969) 190, übers. nach G. Roth: Gramscis Ph. der Praxis (1972) 17.
[2]
a.O. 204.
[3]
216.
[4]
a.O.
[5]
G. Gentile: La filos. della prassi, in: La filos. di Marx. Opere 28 (Florenz 1959) 61–165.
[6]
R. Mondolfo: Il materialismo storico in F. Engels (Florenz 1952); Umanismo di Marx (Turin 1969) 9.
[7]
Mat. ..., a.O. 135, Anm.; das führt dann bei ihm auch zu einer relativen Entgegensetzung von Engels (Materialismus) und Marx (Ph. der Praxis): a.O. 3f.
[8]
Sulle orme di Marx (Bologna 31923) 2, 224.
[9]
A. Gramsci: Ph. der Praxis (1967) 185.
[10]
a.O. 130.
[11]
148.
[12]
197. 199.
[13]
M. Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik (1974) 39–72.
[14]
Signes (Paris 1960) 13.
[15]
Sens et non-sens (Paris 51966) 221–241.
[16]
a.O. 237.
[17]
L. Althusser: Für Marx [1965] (1968) 106.
[18]
Lenin und die Ph. (1972); Zum Verhältnis Althussers zur Sowjet-Ph. vgl. T. Nemeth: Althussers Anti-Humanism and Soviet philos. Studies Soviet thought 21 (1980) 363–385.
[19]
Elemente der Selbstkritik [1974] (1975).
[20]
H. Lefebvre: Une pensée devenue monde (Paris 1980) 83ff.
[21]
a.O. 98.
[22]
104.
[23]
Meta-Ph. [1965] (1975) 24.
[24]
a.O. 25.
[25]
Der dialekt. Materialismus (1966) 57.
[26]
Probleme des Marxismus, heute (1965) 21.
[27]
a.O. 26.
[28]
29.
[29]
a.O. [23] 54.
[30]
a.O. 21.
[31]
326.
[32]
328.
3. Denkt man an die Entstehungsbedingungen des westlichen Marxismus in den zwanziger Jahren als bloße Differenz zum Sowjetmarxismus und als Eigenständigkeit ihm gegenüber, so darf man auch den jugoslawischen Marxismus um die ‘Praxisʼ-Gruppe dieser Strömung zuordnen. P. Vranicki parallelisiert die Begriffe ‹Revolution› und ‹Ph.›, weil es in beiden um den ganzen Menschen gehe und jedes ernsthafte, d.h. radikale philosophische Denken «Revolution in sich trägt» [1]. Revolution und Ph. decken das Wesen des Menschen auf und eröffnen «neue Horizonte zur Selbstverwirklichung» [2]. «Der Arbeitsplatz der Ph. ist immer die gesamte Geschichte und der historische Mensch ...» [3]. Auch M. Markovic betont die Anthropozentrik und Totalisierung der Ph. [4]. Aufhebung der Ph. kann daher nur heißen Aufhebung ihrer Isolierung von der gesellschaftlichen Praxis, wie sie in der Klassengesellschaft besteht. Daher gilt für Markovic als drittes Definiens von Ph.: «Kritisches gesellschaftliches Selbstbewußtsein» [5]. Nach einer solchen, anthropozentrischen, synthetischen und kritischen Ph. besteht ein echter, stets wachsender gesellschaftlicher Bedarf [6]. M. Kangrga bestimmt die Möglichkeit von Ph. von dem Noch-nicht-Seienden und seinem Bedenken her [7]. Zu diesem Sachverhalt kann die Ph. sich – wie traditionell – in eine theoretisch-abstrakte oder bloß wünschende Beziehung setzen, oder aber in eine konkret-praktische und kritisch-revolutionäre. Letzteres tut die Marxsche Ph. Aber genau dadurch, daß die Marxsche Theorie noch nicht Wirklichkeit wurde, bleibt diese Ph. einstweilen noch Ph., ist als Ph. noch nicht aufgehoben [8].
Kurt Röttgers
[1]
P. Vranicki: Mensch und Gesch. (1969) 42.
[2]
a.O. 44.
[3]
51.
[4]
M. Marković: Dialektik der Praxis (1968) 8.
[5]
a.O. 11.
[6]
16.
[7]
M. Kangrga: The meaning of Marx's philos., in: M. Marković/G. Petrović (Hg.): Praxis (Dordrecht 1979) 45–61.
[8]
a.O. 50.
G. Petrović: Revolutionäre Praxis (1969). – J. Habermas: Lit. bericht zur philos. Diskussion um Marx und den Marxismus; Ergänzende bibliograph. Notiz, in: Theorie und Praxis (41971). – H. H. Holz: Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus (1972). – G. Roth: Gramscis Ph. der Praxis (1972). – F. Cassano (Hg.): Marxismo e filos. in Italia. 1958–1971 (Bari 1973). – P. Vranicki: Gesch. des Marxismus (1972/74). – Is Marxism a philos.? J. Philosophy 71 (1974). – G. Labica: Le statut marxiste de la philos. (Brüssel 1976). – T. Hanak: Die Entwicklung der marxist. Ph. (1979). – B. Cooper: Merleau-Ponty and Marxism (Toronto 1979). – R. Schweicher: Ph. und Wiss. bei L. Althusser (1980). – H. Fahrenbach, in: B. Schmidt s. Anm. [33 zu 1.]. – A. Callinicos: Marxism and philos. (Oxford 1983). – J. G. Fracchia: Die Marxsche Aufhebung der Ph. und der philos. Marxismus (1987).
J. Russische und sowjetische Philosophie. – Russische Ph. hat sich im Rahmen der gesamteuropäischen Ph. als die bisher bedeutendste Entfaltung des Denkens der von Byzanz aus christianisierten slawischen Völker in einem geschichtlichen Horizont und Prozeß entwickelt, der von dem des lateinischen Abendlandes oder europäischen Westens verschieden ist. Die griechisch-römische Antike, der Hellenismus und das Christentum sind die gemeinsamen Grundlagen ihrer Kultur. Jedoch hat der europäische Osten das Christentum als im byzantinischen Imperium – in ständiger Auseinandersetzung mit und Entgegensetzung zum lateinischen, römisch-katholischen Abendland – geprägte Orthodoxie, Theologie und byzantinische Ph. empfangen und ausgebildet, welche auch in Altrußland, d.h. bis zur Regierungszeit Zar Peters des Großen (1689–1725) und darüber hinaus die geistige und geistliche Welt bestimmte. Insofern beginnt russische Ph. als Ereignis und Gestalt sui generis erst in der 2. Hälfte des 18. Jh. hervorzutreten. Als ihre erste Blüte kann etwa die Zeit vom Ende des 18. Jh. bis in die zwanziger (in der Emigration bis in die fünfziger) Jahre des 20. Jh. betrachtet werden. Die dann in der Sowjetunion zur Herrschaft gelangende marxistisch-leninistische Ideologie, die sich in der Folge als sowjetische Ph. versteht und festigt, ist gerade wegen ihrer Parteilichkeit (s.d.) und der sich daraus ergebenden Konflikte als integratives Moment russischen Denkens, zumal im Hinblick auf jegliche Abschätzung zukünftiger Perspektiven russischer Ph. in ihrer Selbstgestaltung seit 200 Jahren, ernst zu nehmen.
1. Russische Philosophie. – Russische Ph.-Geschichtsschreibung als Gesamtheit der Allgemeindarstellungen zur Geschichte der russischen Ph., die von Russen geschrieben worden sind, beginnt vor knapp 150 Jahren. Im Werk des Archimandriten Gavriil über die Geschichte der Ph. insgesamt findet man einen Abschnitt über die «Russische Ph.» (Russkaja filosofija) [1]. Dies ist der Erstgebrauch des Terminus. Damit wird das Bewußtsein der Existenz von Ph. in Rußland – was immer Archimandrit Gavriil darunter verstanden haben mag –, unter Russen und durch Russen manifest. Seitdem reflektieren Russen über die Anfänge und Fortgänge ihres Philosophierens. Der Untergang des zaristischen Imperiums und die Gründung Sowjetrußlands bedeuten auch für die russische Ph.-Geschichtsschreibung einen merklichen Einschnitt. Sie läßt sich daher etwa in die folgenden drei Abschnitte gliedern: a) Das 19. und frühe 20. Jh. (bis ca. 1920) mit Autoren wie E. Bobrov[2], J. N. Kolubovskij[3], M. M. Filippov[4], A. I. Vvedenskij[5], E. Radlov[6], G. Špet und M. N. Eršov[7]. b) Nach 1917 in der Emigration, deren bedeutendste Ph.-Historiker B. V. Jakovenko[8], N. O. Losskij[9], V. V. Zen'kovskij[10] sind. Zu erwähnen ist noch S. A. Levickjj[11]. c) In der Sowjetunion. Hier muß auf die bisher einzige Gesamtdarstellung von A. A. Galaktionov/P. F. Nikandrov[12] verwiesen werden. Zu erwähnen wäre die von V. E. Evgrafov eingeleitete ‹Geschichte der Ph. in der UdSSR› [13], in welcher die Priorität der Darstellung der russischen Ph. als des bisher bedeutendsten Beitrages der slawischen Völker in und außerhalb der Sowjetunion wie der Völker der UdSSR überhaupt zur Ph. offenkundig ist.
Im 19. und frühen 20. Jh. bietet die russische Ph.-Geschichtsschreibung – je nach dem philosophischen Standpunkt der Verfasser – eine Vielfalt von Interpretationen an, was sich in der Emigration fortsetzt. Sowjetischen Philosophen war in der Zwischenkriegszeit eine allseitige Bearbeitung der Geschichte der russischen vorrevolutionären Ph. nicht möglich, so daß über die «idealistischen» Strömungen, die ohnehin verpönt waren, kein der Diskussion wertes Wort fiel. Erst Galaktionov/Nikandrov und die ‹Philosophische Enzyklopädie› [14] haben diese Lücke zu schließen versucht. – Die Frage, nach dem «Geburtsjahr der russischen Ph.» [15] begleitet die russische Ph.-Geschichtsschreibung beständig. Man setzt geistesgeschichtliche Prozesse (Trennung der Ph. von der Religion, der weltlichen Kultur vom kirchlichen Bewußtsein im 18. Jh., das Erwachen nationalen Selbstbewußtseins im frühen 19. Jh.) als Kriterium dafür ein [16] oder die Veröffentlichung philosophisch bedeutsamer Werke V. Solov'evs und M. Karinskij's 1880 [17] oder auch die Angleichung an den Standard der Ph. «im westlichen Sinne» [18] im späten 19. Jh. So wird das Datum beliebig und divergiert vom frühen 18. bis zum späten 19. Jh. um fast 200 Jahre, ein Zustand sachlicher und methodischer Hilflosigkeit, der die These provoziert, daß es originale russische Ph. (noch) nicht gebe [19].
All dem ist entgegenzuhalten, daß sich die bewußte Gründung der russischen Ph. von der Mitte des 18. bis ins erste Drittel des 19. Jh. hinein durch die «Stammväter der russischen Ph.» [20]M. V. Lomonosov (1711–1765), G. S. Skovoroda (1722–1794), A. N. Radíščev (1749–1802) und M. M. Speranskij (1772–1839) – vollzieht, die in genauer Kenntnis der Ph. der Zeit sich für fähig halten, selbst zu philosophieren und als Menschen russischer Nationalität zur Ph. überhaupt beizutragen. Das universale Anliegen der Ph. wird somit in Rußland im Syndrom von Gegenstands-, Selbst- und Nationalbewußtsein aufgenommen. ‘Gründungʼ besagt hier nicht, daß es Ph. nicht schon zuvor in Altrußland gegeben hätte, wenn auch nur in theologischen Zusammenhängen.
Die Einwirkungen der byzantinischen Theologie und Ph. und infolgedessen auch arabischer und jüdischer Anstöße nach der Missionierung der Slawen durch die Slawenapostel Kyrill/Konstantin und Method im 9. Jh. und nach der ‘Taufe Rußlandsʼ (988 n.Chr.) sind schwerwiegend. Wesentlichen Einfluß auf das Verständnis von Ph. hatte bis zum Ende Altrußlands (1689) mit Wirkung bis heute die Formel der byzantinischen Philosophie (s.d.) vom Unterschied von ἔξω[θεν], κοσμική und ἔσω, ἀληθὴς φιλοσοφία, von profaner Bildung als ‘äußerer Ph.ʼ, wie sie in den sieben freien Künsten betrieben wurde, und ‘innererʼ, auf das Leben mit Gott ausgerichteter ‘wahrerʼ Ph. der Christen. Dies zeigt die Vita Kyrills, «Konstantins des Philosophen» (um 870 verf.), sehr deutlich, der in «Zargrad (Konstantinopel) Dialektik und alle philosophischen Lehren ... und alle übrigen hellenischen Künste lernte», aber sich zugleich danach sehnte, «dem Leibe zu entfliehen und mit Gott zu leben» [21]. Die Ambivalenz dieses Verhältnisses läßt sich an den Viten russischer Heiliger und Mönche sowie anderen Texten verfolgen –, aber die starke Definition der Ph. ist die als ‘innereʼ; der gottesfürchtige Mönch, der sich um Einung mit Gott (θέωσις, oboženie) bemüht, ist der wahre Philosoph.
Die von Joh. Damascenus z.B. in seiner ‹Dialektik› übernommenen sechs hellenistischen Ph.-Definitionen sind bekannt und wirksam. Stücke der ‹Dialektik› sind vom 9. bis 11. Jh. ins Altbulgarische/Altkirchenslawische übersetzt worden, insgesamt liegt sie in einer Übersetzung aus dem 14. Jh. vor. In ihr wird vor dem Kapitel «O filosofii» (Περὶ φιλοσοφίας) daraufhingewiesen, daß «filosofija» in slawischer Sprache als «ljubomudrie» wiedergegeben werde. Dies ist die genaue Übersetzung, auch im heutigen Russisch [22]. Ph. in Rußland hat somit ein hellenisches, rhomäisch-byzantinisches Fundament, d.h. sie steht fundamental in gesamteuropäischen Zusammenhängen – Griechentum, Römertum, Christentum [23] –, die in Osteuropa sich anders als in Westeuropa, dem lateinischen Abendland, ausgeformt haben.
Schon vor der Epoche der Aufklärung, die einen gewaltigen kulturellen Bruch in Rußland bewirkte und die Gründung einer russischen Ph. mitstimulierte, haben sich die vor allem zur Ausbildung von Theologen bestimmten «Geistlichen Akademien» von Kijew (gegr. 1632) und Moskau (gegr. 1685) nicht nur der Pflege der Patristik sowie der byzantinischen Theologie und Ph. gewidmet, sondern über die gegenreformatorische Scholastik auf die klassische Antike zurückgegriffen und sich zumal in Kijew den Strömungen des westeuropäischen Denkens zugewandt [24]. Die «Stammväter der russischen Ph.» haben diesen Einfluß ebenso an sich erfahren wie sie an westeuropäischen Universitäten, deutschen zumal, studiert haben. Sie kannten so Ph. vom Osten wie vom Westen Europas her und hielten es aus eigener philosophischer Kompetenz für möglich, daß Russen von nun an selbständige Beiträge zur Ph. würden leisten können. So hofft z.B. Lomonosov (1747) emphatisch, daß Rußland «eigene Platone und Schnelldenker-Newtone» [25] hervorbringen werde. Diese Intention läßt sich an den Äußerungen russischer Denker über das «eigene Wort» ebenso fassen wie an den verschiedenen Konzeptionen der ‘russischen Ideeʼ, die in den Salons (kružki, Kreise) der Intelligencija [26] wie in den Geistlichen Akademien und Universitäten entwickelt worden sind.
P. Čaadaev (1794–1856) hatte 1836 gefragt: «où sont nos sages, où sont nos penseurs?» und als Ausgangspunkt (point de départ) philosophischer Bemühungen in Rußland die von ihm freudig begrüßte Spät-Ph. Schellings empfohlen [27]. Sein Gegenspieler I. Kireevskij (1806–1856) schrieb 1852, daß «gerade jetzt die rechte Zeit für Rußland» gekommen sei, «sein Wort in der Ph.» (svoe slovo v filosofii) zu sagen, nämlich die Konstruktion einer «Ph. der Zukunft» als einer «reflektierten Entwicklung» des Verhältnisses der «Weisheitsliebe (ljubomudrie) der Heiligen Väter» zur «modernen Kultur» westeuropäischer Herkunft, die von Zar Peter dem Großen unaufhebbar nach Rußland gebracht worden war, zu versuchen [28]. Damit ist die große Kontroverse russischer Geschichts-Ph. angeschlagen. Bei den Philosophen der Geistlichen Akademien setzt sich die Tendenz Kireevskij's fort, wenn etwa V. Karpov (1798–1867) eine «originale und vaterländische Ph.» (filosofija otečestvennaja, original'naja) fordert, in der das «ens genericum» des Menschen durch den «Typ des wahrhaft russischen Lebens» konkretisiert wird [29]. Dies etwa wird bis zum Ende des 19. Jh. als Aufgabe «unserer russischen Ph.» angesehen, die vor allem an den Geistlichen Akademien als «rechtgläubige Ph.» (pravoslavnaja filosofija), also als christlich-religiös fundierte, zu schaffen sei [30].
Den Philosophen an den Universitäten ging es vom letzten Drittel des 19. Jh. an (z.B. A. I. Vvedenskij (1856–1925), L. M. Lopatin (1855–1920), S. L. Frank (1877–1950) u.a.) eher um die genaue Einschätzung der jeweils vor der Ph. insgesamt stehenden Aufgaben, in die sie sich als Russen involviert sahen [31]. Dies war durch V. Solov'ev vorbereitet, der 1888 von den «ewigen Wahrheiten der Religion» aus die Frage nach dem «neuen Wort» (nouvelle parole) [32] Rußlands für die Menschheit und die Weltgeschichte beantworten wollte. Es besteht nach ihm in der Verkündung und Verwirklichung der «historischen Pflicht Rußlands» als «russische Idee», nämlich der Konstitution von «Kirche, Staat und Gesellschaft, absolut frei und souverän», d.h. der «gesellschaftlichen Trinität» als «treues Abbild der göttlichen Trinität». Damit fordert er «gesellschaftliche Freiheit» als «Tat des Geistes» [33]. Somit konnte sich nach dem Niedergang des in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jh. unangefochten herrschenden russischen Nihilismus (s.d.), Materialismus, (Früh-)Sozialismus und Utilitarismus sowie nach den «Großen Reformen» des Zaren Alexanders II. ab 1861 die Ph. im allgemeinen frei in einer Vielzahl von Richtungen entfalten, was bis in die zwanziger Jahre unseres Jh. hinein zu einer Reihe von großangelegten philosophischen Entwürfen und Systemen führte [34]. Eine starke religiöse Rückbindung in der russischen Ph. ist je gegeben, was jedoch die Ausbildung rein säkularer Philosopheme (Positivismus, Empiriomonismus (s.d.), Volkstümlerbewegung und Marxismus (s.d.) als «russischer Neomarxismus» [35] usw.) nicht behindert hat. Jedoch war das Bestreben zu engerem Austausch zwischen der an den Geistlichen Akademien gepflegten «geistlichen Ph.» (duchóvnaja filosofija) und der «weltlichen Ph.» (svétskaja filosofija) [36] der Universitäten und freien Zirkel der Intelligencija, zwischen «Dienstphilosophen» und «philosophischem Sektierertum» sehr ausgeprägt [37]. Unter diesen Bedingungen ist die Auseinandersetzung um die «russische Idee» weitergeführt worden, deren Verwirklichung man einerseits in progressiven Strömungen, vor allem im Marxismus erhoffte, für dessen «Aneignung» man das russische Denken als prädisponiert ansah, so daß «die Wendung zum Marxismus» als «objektive Notwendigkeit» [38] und damit als Erfüllung russischen Denkens aufgefaßt wurde –, während andererseits bei N. Berdjaev (1874–1948) und L. Karsavin (1882–1952) die «russische Idee» als religiöse postuliert wird, deren säkularisiertes Pendant eben der Bolschewismus sei, die «beide – als ‘schwarzesʼ und als ‘rotes Antlitzʼ der russischen Idee – Europa die gleiche Furcht» einflößen [39].
Wenngleich angesichts des hier nur angedeuteten großen Streites um den Inhalt der «russischen Idee» von L. Karsavin «Zweifel an der Zweckmäßigkeit eines solchen Themas» als «völlig legitim» [40] bezeichnet worden sind, sind doch alle Auffassungen dazu, zumal die «schwarze» und «rote», in der Schärfe ihres Gegensatzes eng miteinander verbunden –, eben in der Suche nach «Wahrheit und Gerechtigkeit» (iskánie právdy), nach der «zwei-einen Prawda» (dvu-edínaja pravda) als Erkenntnis-Wahrheit (pravda-ístina) und Tat-Wahrheit (pravda-spravedlívost) [41], als Einheit von Theorie und Praxis. Das ist der formelle Einheitsgrundrussischer Ph. überhaupt. Er trägt und beflügelt sie bis zurr Zusammenbruch des zaristischen Imperiums, in der inneren und äußeren Emigration bis heute ebenso wie in der Sowjet-Ph. während der Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre zwischen den Anhängern des mechanischen Materialismus (s.d.) und des menschewisierenden Idealismus (s.d.) um die rechte Auslegung der Lehren von K. Marx und F. Engels mit (vermeintlich oder wirklich) entsprechenden praktischen Konsequenzen. Er wird in der Zeit Stalins latent, bricht dann aber von der Mitte der 1950er Jahre bei den «Andersdenkenden» (inakomysljaščie), den Dissidenten, den «philosophischen Sektierern» der Sowjetepoche, wieder hervor; sie graben «unter den Schollen hervor» [42] die große vorrevolutionäre Tradition russischer Ph. wieder auf und machen sie zum Gegenstand der Diskussion, was nicht ohne Wirkung auf sowjetische «Dienstphilosophen» bleibt. In diesem Prozeß ist mit grundsätzlichem Anspruch der Horizont für das «eigene Wort» russischer Philosophen wieder eröffnet worden. Es geht darum, daß das eigene Wort konkret von jedem einzelnen russischen Denker gesprochen werden könne. Die Erlangung dieser Möglichkeit war Anliegen der russischen Intelligencija aller Richtungen von je.
Die russische Ph. ist Teil jener Ph., die vom Ursprung her europäisch ist: «die hellenisch-christliche Tradition» verbindet sie «tief mit der universalen Ph. ..., die letzten Endes auf Sokrates und die Dialoge Platons zurückgeht» [43]. Sie will sich als bürgerlich und politisch freie vielfältig entwickeln: «Rußland – befreit von der Diktatur der Kommunistischen Partei und nach der Wiedergewinnung der Freiheit des Denkens wird eine Fülle philosophischer Strömungen wie alle freien und kultivierten Länder hervorbringen» [44]. Nur so kann ein russischer Philosoph je ganz erreichen, was schon der «Gründer» und große Staatsmann M. M. Speranskij für sich erhoffte, daß er «in der allgemeinen Bewegung der menschlichen Vernunft, bei der Entwicklung ihrer Kräfte hier [d.h. in Rußland] ... jetzt oder in Zukunft, nützlich sein kann» [45].
[1]
Archimandrit Gavriil [V. N. Voskresenskij]: Istorija filosofii (Moskau 1840) G. Russk. filos.
[2]
E. Bobrov: Filosofija v Rossii. Materialy, izsledovanija i zametki. Vyp. 1–6 [Die Ph. in Rußland. Materialien, Unters. und Bem. Lief. 1–6] (Kazan' 1899–1902).
[3]
J. N. Kolubovskij: Filosofija u russkich [Die Ph. bei den Russen], in: Iberveg-Gejnce: Istorija novoj filosofii [Ueberweg-Heinze: Gesch. der neuen Ph.] (1890) 529–590; Die Ph. in Rußland. Z. Ph. philos. Kritik 104 (1894) 53–103. 178–220; Die russ. Ph., in: F. Ueberwegs Grundriß der Gesch. der Ph. 5 (121928) 335–348.
[4]
M. M. Filippov: Sud'by russkoj filosofii [Die Schicksale der russ. Ph.] (St. Petersburg 1904).
[5]
A. I. Vvedenskij: Sud'by filosofii v Rossii [Die Schicksale der Ph. in Rußland] (1898), in: Filosofskie očerki [Philos. Skizzen] (1901, Prag 21924).
[6]
E. Radlov: Očerk istorii russkoj filosofii [Abriß der Gesch. der russ. Ph.] (1912, Petersburg 21920); Russ. Ph. (Breslau 1925).
[7]
G. Špet: Očerk razvitija russkoj filosofii [Abriß der Entwickl. der russ. Ph.] (Petrograd 1922); M. N. Eršov: Puti razvitija filosofii v Rossii [Wege der Entwickl. der Ph. in Rußland] (Vladivostok 1922).
[8]
B. V. Jakovenko: Očerki russkoj filosofii [Skizzen zur russ. Ph.] (1922); Dějiny ruské filosofie [Gesch. der russ. Ph.] (Prag 1938).
[9]
N. O. Losskij: Hist. of Russian philos. (New York 1951/London 1952); Hist. de la philos. russe (Paris 1954).
[10]
V. V. Zen'kovskij: Istorija russkoj filosofii 1. 2 (Paris 1948/50); A hist. of Russian Philos. 1. 2 (London 1953, 21954, 31967); Hist. de la philos. russe 1. 2 (Paris 1953/54).
[11]
S. A. Levickij: Očerki po istorii russkoj filosofskoj i obščestvennoj mysli [Skizzen zur Gesch. des russ. philos. und sozialen Denkens] 1. 2 (1968, 1981).
[12]
A. A. Galaktionov/P. F. Nikandrov: Russkaja filosofija XI–XIX vekov [Russ. Ph. vom 11. bis 19. Jh.] (Leningrad 1970).
[13]
Istorija filosofii v SSSR v pjati tomach [... in fünf Bdn.] 1–4 (Moskau 1968–71).
[14]
Filosofskaja Enciklopedija 1–5 (Moskau 1960–70).
[15]
Radloff, a.O. [6] dtsch. 50.
[16]
Galaktionov/Nikandrov, a.O. [12] 52; Zen'kovskij, a.O. [10] 13. 15. 57. 65. 102; engl. 1. 4. 45. 53. 90; frz. 5f. 8. 55. 64. 105f.; A. Koyré: La philos. et le problème national en Russie au début du XIXe s. (Paris 1929) 9.
[17]
Radloff, a.O. [6] dtsch. 114.
[18]
L. J. Shein: Readings in russian philos. thought (Den Haag/Paris 1968) 13.
[19]
Jakovenko: Očerki ..., a.O. [8] 4. 9.
[20]
Radlov, a.O. [6] russ. 13.
[21]
A. Teodorovă-Balană: Kirilă i metodi (Sofia 1920) 29 (Pamet' i žitije blaženago učitelja našego Konstan'tina filosofa ...); 33.
[22]
E. Weiher (Hg.): Die Dialektik des Jon. von Damaskus in kirchenslavischer Übers. (1969) 19; vgl. Z. A. Kamenskij: Moskovskij kružok ljubomudrov [Der Moskauer Kreis der Weisheitsliebhaber (Philosophen)] (Moskau 1980).
[23]
Vgl. G. Ostrogorsky: Gesch. des byzantin. Staates (31963) 1; H. G. Beck: Das byzantin. Jahrtausend (1978) 11. 13. 24; B. Tatakis: La philos. byzantine (Paris 1959) 312–314: Byzance après Byzance.
[24]
Vgl. Dict. de théol. cath. 14/1 (Paris 1939): Les académies ecclésiastiques ... 335–371; Enciklopedičeskij Slovar' [Enzyklop. Wb.] 1 (St. Petersburg 1890) 254–257: Akademii duchovnyja pravoslavnyja [Die rechtgläubigen geistl. Akademien]; A. Joukovsky: L'Académie de Kiev – lieu de formation de Skovoroda, in: Skovoroda – philosophe ukrainien (Paris 1976) 17–31.
[25]
M. V. Lómonosov: Polnoe Sobranie Sočinenij [Sämtl. Werke] 1–10 (Moskau/Leningrad 1950–59) hier 8, 206.
[26]
Vgl. Art. ‹Intelligenz, Intelligentsia, Intellektueller›, in: Hist. Wb. Philos. 4 (1976) 446–452.
[27]
P. Tchaadaev: Lettres philos. (Paris 1970) 55; Schr. und Briefe, übers. E. Hurwicz (1921) 179–182, bes. 163; Soč. i pis'ma P. J. Čaadaeva 1. 2 (Moskau 1913/14) hier 1, 180. 182. 244–246.
[28]
I. V. Kireevskij: Polnoe Sobr. Soč. [Sämtl. Werke] 1. 2 (Moskau 1911, ND 1970) hier 1. 74. 270f.
[29]
N. V. Karpov: Vvedenie v filosofiju [Einf. in die Ph.] (St. Petersburg 1840) 114f.
[30]
Lekcii filosofii prof. MDA, protoiereja F. A. Golubinskago. Vyp. 1 [Ph.-Vorles. des Prof. der Moskauer Geistl. Akad., des Erzpriesters F. A. Golubinskij. 1. Lief.] (Moskau 1884) 15ff.
[31]
Vgl. L. M. Lopátin: Nastojaščee i buduščee filosofii [Gegenwart und Zukunft der Ph.], in: Filosofskie charakteristiki i reči [Philos. Charakteristiken und Reden] (Moskau 1911) 85–119; S. L. Frank: Krizis sovremennoj filosofii (1916) [Die Krise der mod. Ph.], in: Živoe znanie [Lebendiges Wissen] (1922) 253–264.
[32]
V. Solov'ev: L'idée russe, in: Dtsch. Ges.ausg. 3 (1954) 27–91, hier 31.
[33]
a.O. 91.
[34]
Zen'kovskij, a.O. [10] 2, Teil III: Die Periode der Systeme.
[35]
Bol'šaja Enciklopedija [Die große Enzykl.] (St. Petersburg 1903) 659.
[36]
Vvedenskij, a.O. [5] Teil III.
[37]
V. V. Rozanov: Dve filosofii. Kritičeskaja zametka [Zwei Ph.n. Krit. Notiz], in: Priroda i Istorija [Natur und Gesch.] (St. Petersburg 1903) 161–164; W. Goerdt: Dienst-Ph. und philos. Sektierertum in Rußland. Studies Soviet thought 17 (1977) 29–62.
[38]
Galaktionov/Nikandrov, a.O. [12] 616–618.
[39]
N. Berdjaew: Die russ. religiöse Idee, in: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, hg. P. Tillich (1926) 385–466, hier 386. 389. 432. 459; L. P. Karsavin: Die russ. Idee. Der Gral 19/8 (1925) 351–360, hier 351. 358.
[40]
L. P. Karsavin: Vostok, Zapad i Russkaja Ideja [Osten, Westen und die Russ. Idee] (Petersburg 1922) 3.
[41]
So N. A. Michajlovskij (1842–1904); vgl. W. Goerdt: PRAVDA – Wahrheit (istina) und Gerechtigkeit (spravedlivost'). Arch. Begriffsgesch. 12 (1968) 58–85.
[42]
A. Solženicyn (Hg.): Iz-pod glyb (Paris 1974); Solschenizyn u.a.: Stimmen aus dem Untergrund(1975).
[43]
B. P. Vyšeslavcev: Večnoe v russkoj filosofii [Das Ewige in der russ. Ph.] (New York 1955) 7.
[44]
Losskij, a.O. [9] 429.
[45]
V pamjat' grafa M. M. Speranskago 1772–1872 [Graf M. M. Speranskij zum Gedächtnis], hg. A. F. Byčkov (St. Petersburg 1872) 231.
Th. G. Masaryk: Zur Russ. Geschichts- und Religions-Ph. Soziolog. Skizzen 1. 2 (1913, ND 1965). – Th. M. Seebohm: Ratio und Charisma. Ansätze und Ausbildung eines philos. und wissenschaftl. Weltverständnisses im Moskauer Rußland (1977). – R. Medwedjew (Hg.): Aufzeichnungen aus dem Sowjet. Untergrund(1977). – V. Belocerkovskij: UdSSR. Alternativen der demokrat. Opposition. Sammelband (1978). – A. Walicki: A hist. of Russian thought. From Enlightenment to Marxism (Oxford 1980). – N. Berdjaev: Die russ. Idee. Grundprobleme des russ. Denkens im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh. Eingel., übers., erl. D. Kegler (1983). – S. A. Levitzky: Russ. Denken. Gestalten und Strömungen 1. 2, übers., hg. D. Kegler (1984). – W. Goerdt: Russ. Ph. Zugänge und Durchblicke (1984); Russ. Ph. Texte (1989). – F. C. Copleston: Philos. in Russia. From Herzen to Lenin and Berdyaev (Notre Dame, Ind. 1986).
2. Sowjetische Philosophie. – Das Wort ‹Sovetskaja filosofija› (‹sowjetische Ph.›) ‹Sowjet-Ph.› [S.ph.] ist wohl während der Errichtung der Sowjetmacht (Sovetskaja vlast') in Rußland (1917–1922) als ein Ausdruck geprägt worden, der wie viele andere (‹Sowjetrußland›, ‹Sowjetgesellschaft›, ‹Sowjetwissenschaft›, ‹Sowjetmensch› ...) die neue Qualität erkennen lassen sollte, die mit der Oktoberrevolution für Rußland grundsätzlich erreicht zu sein schien. Allerdings steht das Wort ‹S.ph.› bis heute im Schatten der Termini ‹marxistisch-leninistische Ph.› (marksistsko-leninskaja filosofija) oder ‹marxistische Ph.› (marksistskaja filos.), die das international bedeutsame Gesamt der philosophischen Lehren des Marxismus-Leninismus (Materialismus, dialektischer und historischer, s.d.) kennzeichnen sollen [1].
Infolge der Differenzierung der sich auf Marx/Engels und/oder Lenin berufenden philosophischen Richtungen entbehren allerdings die Termini ‹marxist. Ph.› wie ‹marxist.-leninistische Ph.› der Eindeutigkeit. Der erstere besaß diese schon zu Beginn der Sowjetepoche nicht mehr, der zweite noch nicht und verlor sie nach der Stalinära wieder. Der Begriff ‹S.ph.› ist dagegen genau auf die in der Sowjetunion betriebene offizielle marxistisch-leninistische Ph. zu beziehen. Nach 1945 bis etwa zum Ende der 1950er Jahre konnte man mit einigem Recht in der westlichen Literatur die gesamte in den Staaten des sozialistischen Lagers betriebene Ph. ‹S.ph.› nennen. Jedoch sind nach Stalins Tod (1953) mehr und mehr Tendenzen hervorgetreten, die eine regional unterschiedliche, stärkere oder schwächere, auch durch nationale Eigenheiten bedingte ‘Entideologisierungʼ zur Folge hatten, der seit 1971/72 wiederum ‘gegenreformatorischʼ offiziell Widerstand geleistet wird [2].
Der Terminus ‹S.ph.› wurde seit den 1920er Jahren von den russischen Emigranten in kritischem Sinne gebraucht. So analysierte P. Prokof'ev (D. Čiževskij) 1927 die S.ph. [3] und meinte dazu 1928, «die grundlegende Sünde (osnovnój grech) der ‘sowjetischen Ph.ʼ (sovetskoj filosofii)» sei, «daß sie keine Forschungen will und denkt, daß sie diese nicht braucht». Darin liege die «Leere» (pustotá) der «offiziellen Ph. Sowjetrußlands», bei deren Beschreibung und Analyse er 1927 vielleicht «ein wenig übertrieben» habe. Dennoch seien «philosophische Forschungen in Sowjetrußland» nur bei Philosophen «nicht-offizieller Tendenz» (A. F. Losev, G. Špet) zu finden [4]. 1932 schreibt N. Berdjaev über «die Generallinie der S.ph. und den kämpferischen Atheismus» [5]; 1931 äußert W. Sesemann in einem Artikel über ‹Die bolschewistische Ph. in Sowjetrußland›, daß es «Ph. im wahren Sinne des Wortes ... heutzutage in Sowjetrußland überhaupt nicht» gebe [6], hofft aber nach der inzwischen erfolgten Überwindung des Mechanizismus oder mechanischen Materialismus (s.d.) und einer merklichen Wendung zu ernsthaftem Studium der europäischen Ph. in Sowjetrußland, «daß der dialektische Materialismus den Weg, den er neuerdings eingeschlagen, erfolgreich weiterverfolgen wird» [7]. Diese Hoffnungen, die damals auf eine Festigung der Vorherrschaft der Richtung A. M. Deborins (1881–1963) in der S.ph. gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Stalin wertete schon 1930 diese als «menschewisierenden Idealismus» (s.d.) ab, womit der sowjetphilosophische Binnen-Pluralismus aufgehoben wurde und die Stalinsche «Gleichschaltung» der S.ph. begann, die ca. 25 Jahre anhielt. – ‹Bolschewistische Ph.› war als Synonym für ‹S.ph.› in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und noch danach sehr gebräuchlich [8]. 1950 spricht Zen'kovskij in seiner ‹Geschichte der russischen Ph.› von der «sog. S.ph.», deren Aufgabe nicht als «Suche nach Wahrheit» (iskanie istiny) oder «Erforschung des Seins» (issledovanie bytija) bestimmt werde, sondern die der Veränderung der Welt zu dienen habe. Sie unterliege der Parteilichkeit wie der Politisierung und werde zu einem «Handbuch für revolutionäre Aktivität» pervertiert, so daß «persönliches Schöpfertum» nicht möglich sei. Auch er sieht «freies Denken in Sowjetrußland» nur bei denen, die die «Suche nach Wahrheit» (iskanie pravdy) leben, aber schweigen oder fast verschwiegen werden (z.B. A. F. Losev) [9].
Hinter der Verneinung der S.ph. steht etwa die von N. Berdjaev vertretene These, daß im «russischen Nihilismus» (s.d.), der spätestens seit 1880 überwunden schien, «alle Grundmotive» vorhanden waren, «die in der bolschewistischen Revolution führend und siegreich geworden sind» [10], daß Bolschewismus eine Wiederkehr des russischen Nihilismus unter unangemessenen und aufgenötigten Bedingungen und somit ein Zurückdrehen der Zeit für Rußland ist. Es steht weiter die Enttäuschung der 1898 geäußerten Hoffnung dahinter, die russische Ph. werde «bald auf dem Niveau der philosophisch führenden Länder stehen» und die schmerzhafte Einsicht in das Eintreten der auch damals schon geäußerten Befürchtung, daß «irgendwelche unüberwindlichen Hindernisse rein äußeren Charakters» [11] dies vereiteln könnten.
Vermutlich hat die Interpretation von S.ph. als Nicht-Ph. durch die erste russische Emigration die positive Aufnahme des Terminus ‹S.ph.› in der Sowjetunion für lange Zeit ebenso verhindert wie die Absicht der sowjetischen, marxistisch-leninistischen Ph., mit dem Begriff ‹marxistisch-leninistische Ph.› internationale Geltung zu erringen. Der für die Sowjetunion erfolgreiche Ausgang des Zweiten Weltkriegs, die im «Großen Vaterländischen Krieg» fast völlig geglückte Identifikation von ‹sowjetisch› und ‹russisch› hatte eine solche Aufwertung des Wortes ‹sowjetisch› zur Folge, daß es dann trotz der erwähnten Hemmnisse und angesichts der divergierenden Entwicklungen im sozialistischen Lager seit dem ‘Tauwetterʼ (1955/56) positiv als Kennzeichnung für die in der Sowjetunion betriebene marxistischleninistische Ph. eingeführt werden konnte, wobei der internationale Anspruch zurückgedrängt wurde.
Während das sowjetische ‹Kurze philosophische Wörterbuch› in seinen Auflagen von 1939–1954 und auch die 1. Auflage der ‹Großen Sowjet-Enzyklopädie› (1926–1947) den Terminus ‹S.ph.› nicht gebrauchen, gewinnt der Begriff in der westlichen Welt immer mehr an Boden. Sein Gebrauch wird versachlicht, S.ph. nicht mehr von vornherein als ‘sogenannteʼ, sondern als solche genommen, deren philosophischer Anspruch und deren Problematik zur Debatte stehen [12] –, gelegentlich überschwenglich [13], was möglicherweise in die UdSSR zurückschlägt. Die 2. Auflage der ‹Großen Sowjet-Enzyklopädie› (1949–1958) gibt 1957 unter dem Stichwort ‹S.ph.› einen kurzen Abriß der Entwicklung des Marxismus-Leninismus in Sowjetrußland von den 1920er Jahren an und spricht von der Tätigkeit der «Sowjetphilosophen» (sovetskie filosofy) in den verschiedenen Disziplinen der marxistisch-leninistischen Ph., aber erst 1963 findet man im sowjetischen ‹Philosophischen Wörterbuch› einen Artikel über «Sowjetische marxistische Ph.» (Sovetskaja marksistskaja filosofija), der einen kurzen historischen Abriß sowie eine gedrängte inhaltliche Beschreibung der offziellen marxistischen Ph. in der Sowjetunion gibt [14]. Darauf folgt ein Artikel über «Modernes marxistisches philosophisches Denken im Ausland», der dessen Entwicklung im internationalen Rahmen von 1917 an kurz zusammenfaßt [15]. In dieser Unterscheidung findet die These N. Chruščev's (1894–1971) von der Eigenständigkeit des Weges der Völker zum Sozialismus (1955) ihren philosophischen Ausdruck. Damit ist der Terminus «Sowjet(marxistische)-Ph.» erstmals lexikalisch angezeigt. Die Philosophische Enzyklopädie (1960–1970) bringt 1970 zwar einen Artikel über «die philosophische Wissenschaft in der UdSSR», in dem auch die Ausdrücke «sowjetphilosophische Wissenschaft» (sovetskaja filosofskaja nauka) und «Sowjetphilosophen» (sovetskie filosofy) vorkommen, nimmt also die Unterscheidungen von 1963 sachlich auf, gebraucht aber den Terminus ‹S.ph.› nicht. Dieser Terminologie entsprechend verfährt 1977 auch die 3. Auflage der ‹Großen Sowjet-Enzyklopädie› (1970–1978/81) [16]. Jedoch spricht das Philosophische Wörterbuch 1972 nurmehr von «marxistischer Ph. in der UdSSR» (marksistskaja filosofija v SSSR) [17] und unterläßt das systematisch angelegte ‹Philosophische enzyklopädische Wörterbuch› 1983 jeden Hinweis auf eine besondere sowjetische Geschichte der Ph. und gibt im Art. ‹Filosofija› neben der Darstellung der vormarxistischen und bürgerlichen Ph. insgesamt Skizzen von der Entstehung der marxistischen Ph., von Lage und Rolle der marxistisch-leninistischen Ph. und ihrem Verhältnis zur Politik [18]. Somit ist heute in der UdSSR eine gewisse terminologische Variationsbreite gegeben, – man kann ‹Sowjet-(marxistische-)Ph.› sagen, gebräuchlicher scheint der Terminus ‹sowjetphilosophische Wissenschaft› [19], der die Prätention des Marxismus-Leninismus auf Wissenschaftlichkeit betont; die Bezeichnung ‹Sowjetphilosoph› wird nicht nur im Ausland und in der russischen Emigration seit langem, sondern auch in der Sowjetunion unproblematisch gebraucht [20].
Das historische und systematische Selbstverständnis der S.ph. faßt der Artikel der Philosophischen Enzyklopädie von 1970 zusammen: Er beschreibt die Geschichte der «sowjetphilosophischen Wissenschaft», die sich «durch die kollektiven Anstrengungen der Sowjetphilosophen» und anderer Gelehrter auf der Grundlage des marxistisch-leninistischen Erbes entwickelt; er führt die wesentlichen Institutionen der Ph. in der Sowjetunion auf und gibt dann einen systematischen Überblick über die sowjetphilosophische Wissenschaft als eines «Bestandteils der einen, in ihrem Wesen internationalen marxistisch-leninistischen Ph.» [21]. Der Artikel ist in die folgenden Abschnitte gegliedert: «Bearbeitung der Probleme des dialektischen Materialismus», «Bearbeitung der philosophischen Probleme der Naturwissenschaft», «Bearbeitung der Probleme des historischen Materialismus und der philosophischen Probleme des wissenschaftlichen Kommunismus», «Probleme der Ethik» und «Geschichte der Ph. und Kritik der bürgerlichen Ph.». Ein ungebrochenes Bewußtsein historischer Kontinuität spricht sich aus; von 1917 bis 1970 ist die Entwicklung der S.ph. als allmähliches Wachstum – wenn auch mit Fehlern und Irrtümern behaftet – vor sich gegangen. Es gibt keine umstürzenden Brüche. Die integrale Einheit wird vielmehr stark hervorgehoben. So bis zur Mitte der achtziger Jahre.
Entgegen dieser offiziellen Anschauung liegt die seit etwa zwanzig Jahren wieder offenkundig gewordene Crux der Sowjetphilosophen in dem einerseits erforderlichen historischen und systematischen Einheitsbewußtsein (Außen-Monismus) und der immer wieder versuchten Verwirklichung einer für sie als denkende Individuen wie den Außen-Monismus akzeptablen Meinungsdifferenz (Binnen-Pluralismus). Das Problem ist die wandlungsfähige Deutung von ‹Parteilichkeit› (s.d.), die eine «erstrangige Bedeutung für die schöpferische Entwicklung der marxistischen Ph. hat» [22]. Daß innerhalb der S.ph. unterschiedliche, ja konträre Interpretationen zu bestimmten Themen möglich sind, z.B. zum Problem der «dialektischen Logik» (s.d.), zu naturphilosophischen Fragen, zu Themen der Ph.-Geschichte usw., wird zugestanden. Aber der jeweils mehr oder weniger gegebene, politisch bedingte und veränderliche Manövrier-Raum zwischen Außen-Monismus und Binnen-Pluralismus im System der S.ph. birgt für das philosophierende Subjekt grundsätzlich die Gefahr von durch die je geltende ‘Parteilichkeitʼ und das sakrosankte ‘Erbeʼ nicht mehr gedeckten Grenzüberschreitungen in sich, so daß nolens volens Sowjetphilosophen – wie auch geschehen – Dissidenten, «Andersdenkende» und beamtete «Dienstphilosophen» – philosophische «Sektierer» werden können [23] –, eine Verlaufsform des Denkens, wie sie ähnlich schon im vorrevolutionären Rußland zu beobachten war.
Der von dem seit März 1985 im Amte sich befindenden Generalsekretär der KPdSU, M. S. Gorbatschów, «von oben» ins Werk gesetzte «revolutionäre Umbau» (auch: Umgestaltung/Perestroika) – zunächst der ineffizienten Wirtschaft, dann der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse – mit der (von den Slawophilen gegenüber dem Zarismus schon 1855, von den sowjetischen Dissidenten seit 1965 «von unten» vergeblich erhobenen) Forderung nach «Offenheit/Öffentlichkeit» (Glásnost/glasnost') der Diskussion und nach «neuem Denken» (nówoje myschlénije/novoe myšlenie) hat zunehmend auf die S.ph. eingewirkt [24]. Wenn die KPdSU – so wird z.B. argumentiert – den «Umbau des Denkstiles» auch in der Ph. konkret wolle, dann müßten die Philosophen nun «mit voller Stimme» das sagen, was schon lange hätte gesagt werden müssen. Der «innere Zensor» müsse weg, der «Dogmatismus im Denken», «Fanatismus und Erkenntnisblindheit», die «Entpersönlichung» –, d.h. doch das ganze seit über sechzig Jahren lastende Erbe des Stalinismus. Sowjetphilosophen wollen keine «Staatseinheiten» oder «Dienstgelehrte» mehr sein, «die nur strikt die Vorschriften einer philosophischen oder nicht-philosophischen Obrigkeit zu erfüllen haben» [25]. Hier stellt sich besagte Crux des Verhältnisses von Partei und Ph. unter neuen Vorzeichen wieder in aller Schärfe: Da sich Sowjetphilosophen als «parteilich» verstehen, als für den Marxismus-Leninismus und seine Verwirklichung eintretend, ergibt sich die Frage, ob die KPdSU als erklärte ideologische Letztinstanz sich ihrerseits als «philosophisch» wird begreifen, d.h. zu einer Auffassung der Theorie-Praxis-Einheit wird finden können, die die Theorie nicht zur Rechtfertigung (partei-)politischer Praxis ausnutzt und damit degradiert, sondern als Anstoß zu neuer Praxis aufgrundvon unvoreingenommener Wirklichkeitserkenntnis anerkennt. Die KPdSU müßte ihre bisherigen Ansprüche selbst überwinden, die Sowjetphilosophen hätten sich selbst (bisher ohne Rechtsschutz) durchzusetzen –, ein schwieriger Prozeß der Selbstaufgabe jahrzehntelang eingefahrener Verhaltensweisen und Denkstile auf beiden Seiten, der – wenn er insgesamt unbehindert bliebe – eine Art sowjetphilosophischen Binnen-Pluralismus (wie etwa in den zwanziger Jahren) erhoffen läßt, der auch das Bild des Außen-Monismus berühren würde.
Wilhelm Goerdt
[1]
Osnovy marksistskoj filosofii (Moskau 1959); Grundlagen der marxist. Ph. (1959); Marxist. Ph. Lehrbuch (1967); G. Klaus/M. Buhr (Hg.): Philos. Wb. (Leipzig 81972) 2, 840; B. Bogdanov/M. Jovčuk/V. Kaganov: Filosofskaja nauka v SSSR [Die philos. Wiss. in der UdSSR], in: Filos. Encikl., a.O. [14 zu 1.] 5, 369.
[2]
Vgl. W. Goerdt (Hg.): Die S.ph. Wendigkeit und Bestimmtheit. Dokumente (1967) 1–9; J. M. Bochénski: Preface, On Soviet studies. Studies Soviet Thought 1 (1961) VIIf. 1–11; Bemerkungen zum Begriff ‹S.ph.›, a.O. 8 (1968) 195–197; H. Dahm: Der gescheiterte Ausbruch. Entideologisierung und ideolog. Gegenreformation in Osteuropa 1960–1980 (1982).
[3]
P. Prokof'ev: Sovetskaja Filosofija, in: Sovremennyja Zapiski [Zeitgenöss. Annalen] 33 (Paris 1927) 481ff.
[4]
D. Čiževskij: Filosofskija iskanija v Sovetskoj Rossii [Philos. Forschungen in Sowjetrußland], a.O. 37 (1928) 501–524; P. Prokof'ev: Krizis sovetskoj filosofii, a.O. 43 (1930) 471ff.
[5]
N. Berdjaev: General'naja linija sovetskoj filosofii i voinstvujuščij ateizm (Paris 1932); dtsch.: Wahrheit und Lüge des Kommunismus (1953) 77–128.
[6]
W. Sesemann: Die bolsch. Ph. in Sowjetrußl., in: Der russ. Gedanke 2 (1931) 176.
[7]
a.O. 183.
[8]
Vgl. I. Kologriwof: Die Metaph. des Bolschewismus (Salzburg 1934); B. Lavaud: La philos. du bolchévisme (Lüttich 21935); B. Jakovenko: Filosofija bol'ševizma (1921); G. Miche: Manuale di filos. bolscevica (Rom 1945); H.-J. Lieber: Die Ph. des Bolschewismus in den Grundzügen ihrer Entwicklung (21958).
[9]
Zen'kovskij, a.O. [10 zu 1.] 2, 289–292.
[10]
Berdjaev: Wahrheit ..., a.O. [5] 56.
[11]
Vvedenskij, a.O. [5 zu 1.] 8.
[12]
M. Rozental'/P. Judin (Hg.): Kratkij filosofskij slovar' (Moskau 1939, 21940, 31951, 41954); Bol'šaja Sovetskaja Enciklopedija 38 (1938) 181–191; 57 (1936) 445–503. 486–499; G. A. Wetter: Der dialekt. Materialismus. Seine Gesch. und sein System in der Sowjetunion (1952, 51960) Teil II: Das System der S.ph. 261–566; J. M. Bocheński: Die dogmat. Grundlagen der Sowjet. Ph. (Dordrecht 1959); W. Goerdt: Fragen der Ph. Ein Materialbeitrag zur Erforschung der S.ph. im Spiegel der Zeitschr. ‹Voprosy filosofii› 1947–1956 (1960); G. L. Kline: Recent Soviet philos. Annais Amer. Acad. Polit. Soc. Sci. 303 (1956) 126–138.
[13]
J. M. Sommerville: Soviet philos. A study on theory and practice (New York 1946).
[14]
Bol'š. Sov. Encikl. 50 (21957) 510–522, bes. 520; M. Rozental'/P. Judin (Hg.): Filosofskij slovar' (Moskau 1963) 409–411.
[15]
Sovremennaja marksistskaja filosofskaja mysl' za rubežom, a.O. 411–413.
[16]
Bogdanov/Jovčuk/Kaganov, a.O. [1] 359–369; Bol'š. Sov. Encikl. 24/2 (31977) 363–368, bes. 365.
[17]
Rozental'/Judin (Hg.), a.O. [14] (31972) 227–228.
[18]
L. F. Il'ičev u.a. (Hg.): Filosofskij enciklopedičieskij slovar' (Moskau 1983) 726–732.
[19]
A. F. Okulov. Sovetskaja filosofskaja nauka i ee problemy [Die sowjetphilos. Wiss. und ihre Probleme] (Moskau 1970); Peredovaja: Sovetskaja filosofskaja nauka pered XXIV s-ezd KPSS [Leitartikel: Die sowjetphilos. Wiss. vor dem 24. Kongreß der KPdSU]. Voprosy filosofii [Fragen der Ph.] (1971) 2, 3–25; (1971) 3, 3–20.
[20]
N. O. Losskij: Dialektičeskij materializm v SSSR [Der dialekt. Mat. in der UdSSR] (Paris 1934) 25; Vysokij dolg sovetskich filosofov [Die hohe Pflicht der Sowjetphilosophen]. Voprosy filosofii (1975) 10, 33–38 (ND aus der ‹Pravda› vom 19. 9.1975).
[21]
Filos. Encikl., a.O. [16] 359.
[22]
a.O. 360.
[23]
Goerdt, a.O. [37 zu 1.] 45ff; M. Meerson-Aksenov/B. Shragin (Hg.): The political, social and religious thought of russian ‘Samizdatʼ – an Anthology (Belmont, Mass. 1977); A. Kolman: Offener Brief an L. Breschnew. Frankf. Allg. Ztg. (6. 10. 1976) 9; I. Jachot: Podavlenie filosofii v SSSR (20–30 gody) [Die Unterdrückung der Philosophie in der UdSSR (die 20er bis 30er Jahre)] (New York 1981).
[24]
Goerdt: Russ. Ph. ..., a.O. [Lit. zu 1.] 19f. 100f. 142, 148f; Russ. Ph. Texte (1989) Einl.: ‹II. S.ph. auf Glasnost-Kurs?›.
[25]
Peredovaja: Problemy perestrojki i zadači filosofii na sovremennom étape [Leitartikel: Die Probleme des Umbaues und die Aufgaben der Ph. in der gegenwärt. Etappe]. Voprosy filosofii (1987) 1, 3–20, hier 5. 7–8. 16. 19.
A. Sinov'ev: O sovetskoj filosofii, in: Bez illjuzij ... (Lausanne 1979) 35–43; A. Sinówjew: Die Sowjet. Ph., in: Ohne Illusionen ... (1980) 52–67. – M. Gorbatschow: Perestroika. Die zweite russ. Revolution ... (1987). – H. Dahm: Sozialist. Krisentheorie. Die sowjet. Wende – ein Trugbild (1987). – Filosofija i žizn' (Materialy soveščanija filosofskoj obščestvennosti) [Ph. und Leben (Materialien einer Konferenz philos. Öffentlichkeit)]. Voprosy filosofii (1987) 7, 91–108; (1987) 8, 55–72; (1987) 9, 61–78; (1987) 10, 49–69; (1987) 11, 57–76; (1987) 12, 46–58; (1988) 1, 113–123; (1988) 2, 95–117. – B. Meissner: Die Sowjetunion im Umbruch. Histor. Hintergründe, Ziele und Grenzen der Reformpolitik Gorbatschows (1988).
K. Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie. – Vorbereitet durch die antimetaphysischen Vorstellungen von B. Russell und G. E. Moore und die Entwicklung der formalen Logik insbesondere bei G. Frege, bildet sich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts eine Reihe neuer Auffassungen von der Aufgabe oder Methode der Ph. heraus, welche sich, bei allen Unterschieden, mit Kennzeichnungen wie ‹Analyse (der Sprache)› verbinden. Das Schlagwort von der ‹sprach-analytischen Wende› (linguistic turn) der Ph. bringt dies zum Ausdruck. Begriff und Methode der philosophischen Analyse entwickeln sich dabei zunächst über kompositionelle Verständnisse der Aussagen, Gegenstände und Begriffe. ‹Analysen› heißen in diesem Zusammenhang unterschiedliche Formen der schrittweisen Zerlegung komplexer Gebilde in jeweils einfachere und einfachste, wie es insbesondere der logische Atomismus illustriert [1]. Als weithin anerkanntes Muster darf dabei Russells logische Analyse der Kennzeichnungen (s.d.) angesehen werden.
Eine Festlegung der Ph. auf die Methode der Analyse findet sich bei Russell selbst noch nicht [2]. Moore hält zwar Analysen für den «wichtigsten Punkt» der Ph., widerspricht aber einer Beschränkung auf das analytische Vorgehen [3]. Eine Gleichsetzung von Ph. und Analyse nehmen erst spätere Autoren vor, am extremsten vielleicht der frühe A. J. Ayer mit der Auffassung, die philosophische Analyse bestehe in der Bereitstellung von Gebrauchsdefinitionen (s.d.) im Sinne Russells und die Ph. sei in diesem Sinne ein «Teilgebiet der Logik» [4]
Frege gilt zwar im allgemeinen als einer der Väter der «logischen Analyse (s.d.) der Sprache», gibt aber keine allgemeine Bestimmung des Gebiets oder der Methode der Ph. Er befürwortet allerdings die enge Verbindung von Ph. und Einzelwissenschaften in den Grundlagenfragen, in seinem Falle insbesondere in den Gebieten der Logik und Mathematik. Zum Beispiel heißt es zu den Grundlagen der Arithmetik: «Eine gründliche Untersuchung des Zahlbegriffs wird immer etwas philosophisch ausfallen müssen. Diese Aufgabe ist der Mathematik und Ph. gemeinsam» [5]. Später äußert sich Frege ähnlich für den Fall der Geometrie: «Ein Philosoph, der keine Beziehungen zur Geometrie hat, ist nur ein halber Philosoph, und ein Mathematiker, der keine philosophische Ader hat, ist nur ein halber Mathematiker» [6]. Freges Formulierung erinnert hier an Platon. Obwohl Frege zu den Wegbereitern der Auffassung gehört, welche die Ph. als Wissenschaftslogik oder Wissenschaftstheorie neu versteht, nimmt er an keiner Stelle eine solche Einschränkung vor. Er betrachtet nämlich die Logik einerseits als Teilgebiet der Ph., erwartet zum anderen aber auch von der Ph., daß sie sich logischer Einsichten als eines selbstkritischen Instruments bedient: «Wenn es eine Aufgabe der Ph. ist, die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet, so wird meine Begriffsschrift, für diese Zwecke weiter ausgebildet, den Philosophen ein brauchbares Werkzeug werden können» [7]. Damit hat Frege der neueren sprachanalytischen Ph. die Richtung gewiesen; mit anderen Worten Freges: «So besteht denn ein großer Teil der Arbeit des Philosophen – oder sollte wenigstens bestehen – in einem Kampfe mit der Sprache» [8]; eine Formulierung, die noch 1931 bei Wittgenstein nachhallt: «Wir stehen im Kampf mit der Sprache» [9].
Freges umfassenderes und positives Verständnis der Ph. hält sich in der Folgezeit nicht durch. Vor allem im Wiener Kreis(s.d.) wollen radikale Vertreter der «wissenschaftlichen Weltauffassung», wie Carnap und Neurath, «um den Gegensatz zur System-Ph. noch stärker zu betonen, für ihre Arbeit das Wort ‹Ph.› überhaupt nicht mehr anwenden» [10]. Sie folgen hier E. Mach, der bereits die Bezeichnung ‹Ph.› für seine «naturwissenschaftliche Methodologie» zurückweist und feststellt: «Ich mache keinen Anspruch auf den Namen eines Philosophen. Ich wünsche nur in der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in das Gebiet einer anderen Wissenschaft hinüberblickt, da schließlich doch alle ein Ganzes bilden sollen» [11]. Demgegenüber gehen die klassischen Formulierungen, die der Mentor des Wiener Kreises M. Schlick für die sprachanalytische Wende findet, noch zurückhaltender mit einem Verzicht auf den Titel ‹Ph.› um: Zwar müsse die Ph. von der Vorstellung Abschied nehmen, einen eigenen (etwa allgemeinen oder fundamentalen) Gegenstandsbereich nach Art der Wissenschaften und einen zugehörigen systematischen Bestand von (gesicherten) inhaltlichen Sätzen zu besitzen oder zu erstreben («... die Ph. ist nicht ein System von Sätzen, sie ist keine Wissenschaft» [12]), und doch haben philosophische Untersuchungen eine wichtige, eigenständige Aufgabe, nämlich uns von jenen Problemen zu befreien, welche auf ein Mißverständnis der logischen Syntax unserer Sprache zurückgehen. Zwar nicht als eine Wissenschaft, aber als «etwas so Bedeutsames und Großes, daß sie auch fürder, wie einst, als die Königin der Wissenschaft verehrt werden darf», erscheint die Ph. jetzt als «diejenige Tätigkeit, durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder aufgedeckt wird» [13].
Diese Auffassung verdankt Schlick dem Einfluß von Wittgensteins ‹Tractatus›: Auch nach Wittgenstein ist die Ph. «keine Lehre, sondern eine Tätigkeit» [14], für die gilt: «Alle Ph. ist ‘Sprachkritikʼ» [15]. Diese Tätigkeit besteht im sprachkritischen Akt der Grenzziehung zwischen dem klar Sagbaren und dem sich nur Zeigenden [16]. Was sich hier zeigt, ist für Wittgenstein insbesondere «das Ethische» [17]. In dieser Hinsicht ist seine sprachkritische Analyse von derjenigen des Wiener Kreises und selbst noch von den Ansätzen Schlicks verschieden. Die Ph. des ‹Tractatus› zeigt das ‘Anrennenʼ gegen die Grenzen der Welt der Tatsachen [18], sie ist der Akt des praktischen Hinweisens auf den ‘Sinn der Weltʼ, der «außerhalb ihrer» liegt [19], so daß auch der Hinweis auf ihn – gemessen an den Kriterien, die der ‹Tractatus› selbst für die sinnvolle Rede über Tatsachen gibt – sprachlich nur «unsinnig» ausfallen kann [20]. Dieses ethische (und religiöse) Verständnis des Philosophierens bildet den (für Wittgenstein «unaussprechlichen») Hintergrundfür seine Auffassung der «richtigen Methode der Ph.»: «Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Ph. nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat» [21]. Der ‹Tractatus› zielt also auf eine Aufhebung der klassischen, theoretischen Formen der Ph., auf das Aufgehen der Einsichten der Ph. im richtig verstandenen Leben selbst, im «wortlosen Glauben» [22].
Mit der so genannten sprachanalytischen Wende der Ph. geht die Ph. in vielen Fällen eine Verbindung mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen ein. Auch dies gilt zunächst vor allem für den Wiener Kreis. Die weite Perspektive, welche die an den frühen Wittgenstein angeschlossenen Formulierungen Schlicks noch auszeichnet, schränkt nämlich bereits R. Carnap gleichzeitig so ein, daß die Ph. zwar weiterhin keine Realwissenschaft sein, wohl aber mit ihrem besseren Erbe in der Wissenschaftslogik aufgehen und damit selbst einen wissenschaftlichen, nämlich formalwissenschaftlichen, Status erhalten könne. Das Wort ‹Wissenschaftslogik› will Carnap dabei «in einem recht weiten Sinne» [23] verstanden wissen: «Es soll damit das Gebiet der Fragen gemeint sein, die man etwa als reine und angewandte Logik, als logische Analyse der einzelnen Wissenschaftsgebiete oder der Wissenschaft im ganzen, als Erkenntnistheorie, als Grundlagenprobleme oder ähnlich zu bezeichnen pflegt (sofern diese Fragen frei sind von Metaphysik, von Bezogenheit auf Normen, Werte, Transzendentes oder dgl.)» [24]. Allerdings schlägt Carnap zugleich vor, diese Wissenschaftslogik zur Vermeidung von Mißverständnissen nicht mehr ‹Ph.› zu nennen [25]. Ähnliche Vorstellungen entwickelt H. Reichenbach für diejenige Gruppierung des Logischen Empirismus(s.d.), die sich unter dem Titel ‹wissenschaftliche Ph.› in der Gesellschaft für wissenschaftliche Ph., vor allem in Berlin, zusammenfand. Die (unwissenschaftlichen) philosophischen Systemkonstruktionen haben einer kritischen (logischen) Analyse der Wissenschaften als definierender Aufgabe einer «neuen Ph.» zu weichen, die damit «wissenschaftlich», wenn auch nicht eine der Wissenschaften wird. Der «wissenschaftlich eingestellte» Philosoph «überläßt es gern dem Philosophen alten Stils, philosophische Systeme zu erfinden, für die es wohl noch einen Platz in dem philosophischen Museum gibt, welches Geschichte der Ph. genannt wird – und geht an die Arbeit» [26].
Unter den relevanten wissenschaftstheoretischen Schulen des 20. Jh. stehen der philosophische Operativismus (H. Dingler) und Konstruktivismus (P. Lorenzen) auf der einen und der kritische RationalismusK. Poppers auf der anderen Seite schon früh in Opposition zu den Ideen, welche Wittgenstein, Schlick, Carnap, Reichenbach u.a. von der Aufgabe der Ph. hatten. – Dingler geht, wie später der Konstruktivismus P. Lorenzens, davon aus, daß auch die grundlegenden Teile der Wissenschaftssprache keineswegs in einem methodisch geklärten Zustand sind, so daß sich eine wissenschaftskritische Ph. nicht lediglich der logischen und syntaktischen Form der wissenschaftlichen Sätze zuwenden darf. Vielmehr obliegen der Ph. auch inhaltlich die grundlegenden Schritte eines methodisch geordneten Aufbaus des Sprach- und Satzsystems der Wissenschaften und die dazu notwendigen allgemeinen und methodologischen Vorbereitungen. Die für die Ph. konstitutive methodische Einstellung wird dabei als das Vordringen «bis an die letzten Geltungsfundamente» gekennzeichnet [27]. Hat die Ph. ihre Aufgaben für ein bestimmtes Gebiet des Wissens erledigt, so ist dieses dann in eine «exakte Wissenschaft» überführt: «Haben wir ein solches Buch, dann würde dies in seiner idealsten Vollendung so aussehen, daß am Anfange sämtliche Fundamentalvorstellungen angeführt werden, aus denen dann alles übrige durch rein logische Operationen abgeleitet wird, und dies wären eben alle Sätze der Ph., oder eines ihrer Teilgebiete. Wäre für ein Teilgebiet der Ph. ein solches Buch geschrieben, dann wäre dieses Gebiet in das verwandelt, was wir eine exakte Wissenschaft von dem betreffenden Gebiete nennen» [28]. Lorenzen hat später, in der Tradition der methodischen Ph. Dinglers stehend, dieses Programm weiterentwickelt, und zwar so, daß der Ph. neben ihren besonderen wissenschaftstheoretischen Fundierungsaufgaben drei allgemeine Disziplinen zugestanden werden, nämlich Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie: «Logik, Ethik und ‘Wissenschaftstheorieʼ, d.h. die grundlegenden Schritte, durch die die Wissenschaften in Gang kommen, das sind die Aufgaben, die ich ‘philosophischʼ zu nennen vorschlage: also Ph. als Protowissenschaft, nicht Metawissenschaft» [29]. Dabei wenden Dingler und Lorenzen gegen Vorstellungen des Wiener Kreises ein, daß sich die Grundlagen einer Terminologie nicht lediglich wahrnehmungsabhängig, sondern eingebettet in unsere Handlungsmöglichkeiten und – Verständnisse («empraktisch», entsprechend einem von Lorenzen aufgegriffenen Terminus K. Bühlers[30]) entfalten. Zugleich muß die Ph., um ihrer wissenschaftskritischen Aufgabe gerecht zu werden, selbst durch strenge Disziplin des methodischen Denkens, d.h. die entsprechende Übung und Verpflichtung, bestimmt sein. Auch dort, wo im begründeten Aufbau einer Wissenschaft keine Trennlinie mehr zwischen philosophischen und wissenschaftlichen Sätzen gezogen werden kann, bleibt daher ein Ideal des Philosophen: «Der Philosoph ist derjenige, der sich entschlossen hat, nur den Weg einzuschlagen, der sich durch Denken rechtfertigen läßt» [31].
Dagegen steht der kritische Rationalismus Poppers einer sprachanalytischen oder wissenschaftstheoretischen Beschränkung des Aufgabenbereichs der Ph. überhaupt eher ablehnend gegenüber. Nicht nur erscheint die philosophische und metaphysische Spekulation als stete Quelle neuer theoretischer Ansätze in den Wissenschaften; auch hat die Ph. einen klassischen Bestand von Fragen, welche Popper schon bei Homer, Hesiod und den Vorsokratikern behandelt findet [32], «das Problem, die Welt zu verstehen – auch uns selbst, die wir ja zu dieser Welt gehören, und unser Wissen» [33]. Und doch sind offenbar die kosmologischen ‘Rätselʼ in Poppers Vorstellungen nicht für die Ph. reserviert: «Alle Wissenschaft ist Kosmologie in diesem Sinn, glaube ich; und für mich ist die Ph., ebenso wie die Naturwissenschaft ausschließlich wegen ihres Beitrages zur Kosmologie interessant» [34]. Überraschen mag hier, daß auch die Begründer der analytischen Ph., B. Russell und G. E. Moore, an dem traditionellen Anspruch der Ph. (Metaphysik) auf umfassende Welterkenntnis festhalten und übereinstimmend «the universe as a whole» (Russell)[35], «a general description of the whole universe» (Moore) [36] zu Gegenstand und Aufgabe der Ph. erheben. Der Gegensatz zur traditionellen Metaphysik wird also lediglich durch die Methode bestimmt: Analyse statt Spekulation. Von den Wissenschaften soll Ph. sich nach Russell nur dadurch unterscheiden, daß sie «kritischer und allgemeiner» ist [37], was dann allerdings auch bedeutet, daß sie den Bereich des «definitiven Wissens» der Wissenschaften übersteigen muß im Sinne der Kunst rationaler Vermutung («the art of rational conjecture») [38]. In der Umkehrung heißt dies für Russell (im Einklang mit dem tatsächlichen Gang der Wissenschaften), daß Gegenstände aus der Ph. in die Einzelwissenschaften auswandern, sobald definitives Wissen über sie möglich wird [39]. Selbst Ayer, der an der Bedeutung von Analysen in der Ph. durchgehend festhält, hebt später seine frühere wissenschaftslogische Einschränkung auf [40] und nähert sich schließlich sogar der Russell, Moore und Popper gemeinsamen Position, nach der insbesondere ontologische (und damit metaphysische) Fragen nach den letzten Bestandteilen (furniture) der Welt die Ph. ausmachen [41].
Im Unterschied zu den an wissenschaftslogischen Analysen orientierten Ph.-Begriffen steht beim späten Wittgenstein wie bei G. Ryle, F. Waismann, J. L. Austin u.a., den häufig so genannten Vertretern einer Ordinary language philosophy(s.d.), der Rückgang auf die konkreten Sprachgebräuche der Umgangssprache in bestimmten Situationen im Zentrum der philosophischen Tätigkeit. Diese richtet sich dabei metaphysikkritisch und therapeutisch gegen traditionelle philosophische Theorien. Ihre Sinnkritik setzt nicht mit bereits stilisierten Unterscheidungen, sondern deskriptiv und holistisch in Sprach- und Handlungszusammenhängen der uns vertrauten Lebenspraxis an. Nach Ryle besteht die «alleinige und ganze Funktion von Ph.», verstanden als «philosophische Analysis» [42], in der «Aufdeckung der Wurzeln ständig wiederkehrender Mißdeutungen und absurder Theorien» [43], welche sich durch die täuschende Form systematisch irreführender Ausdrücke (systematically misleading expressions) ergeben. Während der frühe Ryle noch modifizierter Anhänger eines von Carnap beeinflußten Idealsprachenprogramms war, wendet er sich später einer an der Alltagssprache orientierten «informal logic» [44] zu, deren Klärung, die Darlegung der Form der Tatsachen, das Geschäft der Ph. ist. In seinem Hauptwerk ‹The concept of mind› stützt sich Ryle daher nicht auf künstliche Terminologien und Notationen, sondern auf alltagssprachlich vergegenwärtigte Beispiele. Dieses Unternehmen einer philosophischen Psychologie richtet sich vornehmlich gegen die cartesianische Tradition einer dualistischen Sicht des Leib-Seele-Verhältnisses (s.d.), indem es die für diese Tradition konstitutiven Kategorienfehler (s.d.) freilegt: «Ph. besteht darin, Kategoriengewohnheiten durch Kategoriendisziplin zu ersetzen» [45]. Das Ph.-Verständnis Ryles steht großenteils gegen die Konstruktionen der Ph. selbst, es zeigt sich im praktischen Vollzug seiner Analysen und besitzt eine gewisse (kritische) Nähe zur kontinentalen Phänomenologie, indem es der Beschreibung lebensweltlicher Praxis den Vorrang vor theoretischen und begrifflichen Konstruktionen einräumt, und zwar zur sinnkritischen Rettung der Phänomene: Der Ph. geht es darum, «how to account for something without either (1) reducing that something to what it isn't, or (2) multiplying it – duplicating it with just a ghost of itself» [46].
Während Ryle solche Vorstellungen noch nicht in Richtung auf eine «piecemeal-philosophy» nach Art linguistischer Feldforschungen versteht, verlangt Austin geradezu eine linguistische «Technik», um die «philosophischen Beunruhigungen aufzulösen» [47]. Diese Auflösung bedeutet hier die Einsicht, daß die Probleme falsch gestellt sind wie z.B. die Frage, ob wir Sinnesdaten oder materielle Dinge wahrnehmen. Austin betont, daß die von ihm betriebene Sprachanalyse sich nicht auf die bloßen Worte beschränke, sondern deren reale Verwendungssituationen im Auge habe. Aus diesem Grunde sei die Bezeichnung «linguistische Phänomenologie» [48] die geeignete Beschreibung für die von ihm betriebene philosophische Tätigkeit («field work in philosophy»). Nicht verwunderlich ist es daher, daß Austin die Termini ‹Ph.› und ‹philosophisch› eher negativ verwendet, so, wenn er eine ironisch-polemische Gleichsetzung von ‹scholastisch› und ‹philosophisch› vornimmt [49]. Dagegen steht der späte Wittgenstein Vorstellungen, wie sie Austin entwickelt, ganz fern, auch wenn ihnen beiden dasselbe Etikett ‹Ordinary language philosophy› in der philosophiehistorischen Darstellung anhängt.
Während Ryle die Philosophie und ihr Klärungswerk weithin im Bereich theoretischer Begriffserklärungen ansetzt und Austin in die Nähe linguistischer Analysen gerät, dient die therapeutische Sprachkritik des späten Wittgenstein dem ethischen Interesse an der Aufhebung eines falschen Lebensverständnisses, dessen krankhafter Ausdruck die philosophischen Theorien und die philosophischen Probleme mit der Sprache sind. Das Ph.-Verständnis des späten Wittgenstein bleibt also wie der ‹Tractatus› metaphysik-, Philosophie- und sprachkritisch, wendet seine Sprachanalysen aber gegen Störungen unserer gesamten Denk- und Lebensweise, wie sie in den ‘Krankheitenʼ der philosophischen Reflexion zutage treten: «Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit» [50]. An die Stelle «einer Methode der Ph.» treten «gleichsam verschiedene Therapien» [51]. Ähnlich prägnante Formulierungen finden sich bei dem durch Gespräche mit Wittgenstein unmittelbar beeinflußten F. Waismann[52]. «Was man nun durch die Ph. gewinnen kann, ist ein Zuwachs innerer Klarheit», nicht, indem Resultate in der Form theoretischer Sätze erreicht werden, sondern indem unsere «Einstellung zu den Fragen» gewandelt wird [53]. Waismann führt die sprachkritische Bestimmung der Philosophie auf G. Frege zurück, erweitert sie jedoch: «Ph. ist nicht nur Sprachkritik», sie «kritisiert, löst und überwindet alle Vorurteile, sie lockert alle starren und einengenden Gedankenformen, gleichgültig ob sie ihren Ursprung in der Sprache oder anderswo haben» [54]. Sie ist daher «dazu da, gelebt zu werden» [55]. – Positiv erscheint die Spät-Ph. Wittgensteins als eine ‘Phänomenologieʼ («You could say of my work that it is ‘phenomenologyʼ») [56], allerdings im Unterschied zu Austin als eine solche, welche die Einbettung unserer Sprachformen in bestimmten Formen des Lebens beschreibt. Die dabei geübte deskriptive Strenge richtet sich vor allem gegen falsche allgemeine Bilder, die wir («Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung» [57]) mit systematischen oder idealsprachlichen Konstruktionen verbinden, obwohl sie nur auf bestimmte Gebrauchsweisen der Sprache passen. Darin allerdings stimmen die frühe und die späte Ph. Wittgensteins überein, daß ihre Analysen der Überwindung der abgehobenen philosophischen Reflexion und ihrer Rückführung in den normalen Lebenszusammenhang dienen. «Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Ph. zur Ruhe bringt, sodaß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen. – Sondern es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem» [58].
Gottfried Gabriel
Friedrich Kambartel
Thomas Rentsch
[1]
Vgl. B. Russell: The principles of math., ch. XVI (1903, London 81964) 136ff.; Art. ‹Atomismus, logischer›.
[2]
Vgl. Russells Bem. zur Abgrenzung von Ph. und Mathematik: a.O. ch. XV, § 124.
[3]
G. E. Moore: Lectures on philos., hg. C. Lewy (London 1966) 191.
[4]
A. J. Ayer: Language, truth, and logic [1936] (dtsch. 1970) 74.
[5]
G. Frege: Die Grundlagen der Arithmetik (1884, ND 1961) XVII.
[6]
Nachgel. Schr., hg. H. Hermes/F. Kambartel/F. Kaulbach (1969) 293.
[7]
Begriffsschr. (1879), ND hg. J. Angelelli (1977) XIIf.
[8]
a.O. [6] 289.
[9]
L. Wittgenstein: Vermischte Bern., hg. G. H. von Wright (21977) 30.
[10]
R. Carnap/H. Hahn/O. Neurath: Wiss. Weltauffassung – Der Wiener Kreis (1929), ND in: H. Schleichert (Hg.): Log. Empirismus – Der Wiener Kreis (1975) 220.
[11]
E. Mach: Erkenntnis und Irrtum (1905) VII, Anm.; vgl. Analyse der Empfindungen (91922, ND 1985) 24, Anm. 1.
[12]
M. Schlick: Die Wende der Ph., in: Schleichert (Hg.), a.O. [10] 16.
[13]
a.O.; vgl. auch Ph. und Naturwissenschaft. Erkenntnis 4 (1934) 383.
[14]
L. Wittgenstein: Tractatus 4. 112.
[15]
Tr. 4.0031.
[16]
Vorwort; 4.114f.
[17]
6.41ff.
[18]
Wittgenstein über Heidegger, in: B. F. McGuinness (Hg.): L. Wittgenstein und der Wiener Kreis (1967) 68f.
[19]
Tr. 6.41.
[20]
Vorwort; 6.54.
[21]
6.53.
[22]
Vgl. P. Engelmann: L. Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, hg. B. F. McGuinness (1970) 111.
[23]
R. Carnap: Log. Syntax der Sprache (1934, 21968) 206.
[24]
a.O.
[25]
a.O. 205.
[26]
H. Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftl. Ph. (31968) 144.
[27]
H. Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Gesch. (1928) Vorwort.
[28]
Die Grundlagen der Natur-Ph. (1913, ND 1967) 13.
[29]
P. Lorenzen: Konstr. Wiss.theorie (1974) 126.
[30]
P. Lorenzen/O. Schwemmer: Konstr. Logik, Ethik und Wiss.theorie (21975) 22f.; vgl. K. Bühler: Sprachtheorie (1934, ND 1982) 155ff.
[31]
P. Lorenzen: Method. Denken (21974) 58.
[32]
K. R. Popper: How I see philos., in: Ch. J. Bontempo/S. J. Odell (Hg.): The owl of Minerva. Philosophers on philos. (New York 1975) 53.
[33]
Logik der Forschung (41971) XIV.
[34]
a.O.
[35]
B. Russell: An outline of philos. (London 1927, 21976) 247.
[36]
G. E. Moore: Some main problems of philos. (London 1953) 1.
[37]
Russell, a.O. [35] 308.
[38]
The art of philosophizing and other essays (New York 1968) 1.
[39]
The problems of philos. (1912, London/New York 21967) 90.
[40]
A. J. Ayer: The central questions of philos. [1973] (dtsch. 1976) 61.
[41]
Philosophy, a.O. [32] 220f.
[42]
G. Ryle: Systematically misleading expressions [1931], dtsch. in: R. Bubner (Hg.): Sprache und Analysis (1968) 62.
[43]
a.O.
[44]
Vgl. G. Ryle: Dilemmas [1953]; dtsch. Begriffskonflikte (1970) Kap. VIII.
[45]
Der Begriff des Geistes [1949] (1969) 5.
[46]
B. Magee (Hg.): Modern Brit. philos. (London 1971) 113.
[47]
J. L. Austin: Sense and sensibilia [1962] (dtsch. 1975) 15.
[48]
Philos. papers (21970) 182.
[49]
a.O. [47] 13.
[50]
L. Wittgenstein: Philos. Unters. § 255.
[51]
§ 133.
[52]
a.O. [18].
[53]
F. Waismann: Was ist log. Analyse?, hg. G. H. Reitzig (1973) 42.
[54]
a.O. 143.
[55]
163.
[56]
M. O. 'C. Drury: Some notes on conversations with Wittgenstein, in: R. Rhees (Hg.): L. Wittgenstein: Personal recollections (Oxford 1981) 131.
[57]
Wittgenstein: Philos. Unters. § 23.
[58]
§ 133.
L. Strukturalismus, Diskursanalyse, Dekonstruktivismus. – Strukturalismus, Diskursanalyse und Dekonstruktivismus sind die artikuliertesten Versuche der neueren französischen Ph., die moderne Ph. des Subjekts und die Hermeneutik des Sinns zu überwinden. Den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet F. de Saussures Einsicht, daß die Sprache keine Substanz, sondern eine Form ist und Zeichenbedeutung als Effekt differentieller Artikulation begriffen werden muß. Dieser Aufweis sich selbst regulierender Strukturen akzentuiert am Sein von Sprache ein Moment, das sich dem philosophischen Zugriff bislang entzog. «Ce qui a échappé ici aux philosophes ..., c'est que du moment qu'un système des symboles est indépendant des objets désignes, il était sujet à subir ..., par le fait du temps, des déplacements non calculables pour le logicien» [1].
In der ethnologischen Mythenanalyse von C. Lévi-Strauss werden die philosophischen Implikationen der strukturalen Methode erstmals deutlich. Indem sie den Inhalt zugrunsten einer Analyse reiner Beziehungen abblendet, zeigt sie, wie eine unbewußte Aktivität des Geistes jenem Inhalt Formen aufprägt; die Regeln des Codes sind unbewußt. In diesem «Kantisme sans sujet transcendental» [2] schrumpft das Subjekt zum insubstantiellen Ort eines anonymen Denkens. Der Strukturalismus zielt auf eine Befreiung der Humanwissenschaften aus dem philosophischen Bannkreis der Bewußtseinsproblematik [3].
Das gilt auch für die strukturale Psychoanalyse J. Lacans, die Freuds Intuitionen, durch Saussures Linguistik gestützt, wissenschaftsfähig gemacht hat. Ihre Entdeckung, skandalös für alle bewußtseinszentrierte Ph., besagt: Es spricht im Unbewußten – «un sujet dans le sujet, transcendent au sujet, pose au philosophe ... sa question» [4]. Die Subversion des erkennenden Subjekts durch das Unbewußte geht in ihrer Bestimmung des Subjekts aus den unbewußten Wünschen nicht nur über die neuzeitlich aus der Gewißheit des cartesischen Selbstbewußtseins bestimmte Subjektivität des Subjekts hinaus, sondern überbietet in Lacans Verkennungstheorem auch die Kantische Steigerung des Genius malignus im Antinomienproblem, das erstmals den Ursprung der Täuschung im vernünftigen Subjekt selbst lokalisierte. So wird das cartesische Subjekt der Ph. als Ort einer prinzipiellen Verkennung decouvriert. «Je pense où je ne suis pas, donc je suis où je ne pense pas» [5]. Sich selbst erkennen heißt demnach verkennen: me connaître = méconnaître. Diese Gleichung resultiert, sobald sich das Subjekt ein vorwegnehmendes Bild seiner Einheit macht. Im Stand-Bild seines Ich findet der Mensch seine entfremdende Einheit, im Begehren aber seine ursprüngliche Zerrissenheit, in der sich eine Unangepaßtheit bekundet, die sein Sein auf Sprache hin öffnet. Im Zentrum des Bewußtseins ist ein Einheitswille am Werk, der die mentalen Fortschritte, die vom funktionellen Primat des Sehens strukturiert werden, verantwortet. Medium der Lacanschen Analyse ist deshalb nicht die Selbstreflexion, sondern das Sprechen des Subjekts: Das Ich soll nicht da, wo es ist, gestärkt, sondern dort realisiert werden, wo das unbewußte Subjekt ist und zum Anderen spricht. Das Subjekt (des Unbewußten) steht radikal exzentrisch zum Ich (des Cogito).
M. Foucaults Diskursanalyse geht von der Erfahrung aus, daß wahrheitsstiftende Reden ihre eigene Materialität verdrängen. Deshalb entwickelt er, wie Lévi-Strauss und Lacan, eine Partialmethodologie. Sie klammert das Cogito ein und blendet die Repräsentationen ab, um die diskursive Technik erscheinen zu lassen. Was an gesagten Dingen zählt, ist nicht die Absicht des Sprechens. Foucault analysiert den Diskurs aber nicht primär als Ausdruck von Macht und Begehren, sondern als ihren Gegenstand. Sich einer Rede im Namen der Wahrheit bemächtigen heißt, Macht durch die Produktion eines koextensiven Wissens stabilisieren. Keine Rede, in der nicht Macht am Werk wäre, hinter der nicht ein Begehren kommandierte. Zumal Tabus und Verbote werden von Foucault in ihrer Positivität analysiert: als Mächte, die zum Sprechen bringen. Jedes soziale System verfolgt eine Wahrheitspolitik, die von einer diskursiven Polizei gesichert wird. Sie sichert das reibungslose Funktionieren des wahren Diskurses, indem sie verhindert, daß nach dem Willen gefragt wird, der ihn treibt. Nietzsche folgend, richtet Foucault den Willen zur Wahrheit gegen die Wahrheit selbst und stellt ihre Geschichte durch die Machteffeke ihrer Reden dar. So erscheinen diskursive Formationen als historisches Apriori alles dessen, was die Ph. als Stiftungsleistung des Subjekts ausgab. Prägnant spricht Foucault vom «regard déjà codé» [6]. Diese auf jede Hermeneutik verzichtende Genealogie der Epistemen-Abfolge zeigt, wie «la raison se transforme sans raison» [7].
In der neueren französischen Ph. ist der Strukturalismus selbst Gegenstand der Kritik geworden. So destruiert J. Derrida die taxinomisch geschlossenen Strukturen im Namen einer allgemeinen Dezentrierung, die gerade aus einer Radikalisierung der Strukturalität selbst resultieren soll. Gemeinsam ist ihnen die Kritik der klassischen Ph., soweit sie sich über einer Verwerfung der körperlichen Äußerlichkeiten zugunsten reiner Selbstgegenwart konstituiert hat. Diese Verknüpfung von Präsenz und reinem Selbstbezug kritisiert Derrida als Kern aller modernen philosophischen Phantasmen. «La présence n'est jamais présente. ... Un langage a précédé ma présence à moi-même» [8]. Nach Derrida funktioniert Refiexivität in der modernen Ph. als Reduktionsmechanismus, der nicht zu denken erlaubt, was in den Falten und Brüchen der Diskurse aufscheint: «la déhiscence, la dissemination, l'espacement, la temporisation» [9]. Wenn der Spiegel der Reflexion den spezifisch philosophischen Schein erzeugt, das Ich mit seinem Bild zu vereinen, so schreibt sich die Dissemination auf der Rückseite dieses Spiegels. Derridas Kritik des Logophonozentrismus, d.h. der Konzeption von Wahrheit als Einheit von Logos und Phone, beklagt eine Verdrängung der Schrift in der abendländischen Ph. Diesen anderen Schauplatz der Schrift, das Jenseits der klassischen Ph., denkt Derrida mit dem Interpretament der Heideggerschen Differenz als Temporalisation. Aufschub, Wiederholung, Verspätung und Nachträglichkeit sind Schlüsselvokabeln Derridas, die anzeigen sollen, daß an jedem Anfang eine Bewegung verzeitlichender Differenzierung steht, die den Ursprung durchstreicht. Wenn das Ursprüngliche aber nur im Selbstaufschub gegenwärtig ist, wird die Differenz transzendental. Vor dem Hintergrunddieser ultratranszendentalen différance kann das Transzendentalsubjekt der neuzeitlichen Ph. nur noch als Apotropaion gegen die Differenz erscheinen. Das nur schreib –, aber nicht hörbare a im Derridaschen Kunstwort «différance» inseriert in die Differenz zwei Momente: Verzeitlichung und polemische Nichtidentität. Das Sein der «différance» kann also nur durchstrichen angeschrieben werden; als solche präsentiert sie sich Nic. «Au-delà de l'être et de l'étant, cette différence (se) différant sans cesse (ce) tracerait (elle-même)» [10]. Was so ungedacht und unvordenklich ist, fordert eine eigene Aufweisungsart. Wie bei Heidegger die Destruktion der Metaphysik die ontologische Differenz eröffnet hat, so soll deren «pré-ouverture» [11] in der Bewegung der différance durch eine Dekonstruktion der abendländischen Ph. erreicht werden. Dabei erkennt Derrida, daß keine Subversion der Ph. den Gebrauch ihrer Begriffe umgehen kann. Alle Kräfte der Dekonstruktion sind auf dem metaphysischen Feld selbst entwendet. Deshalb ist ihr zentrales Problem das Verhältnis von Immanenz und Durchbruch – «le problème de la clôture» [12]. Es läßt sich nur schriftlich lösen. Dekonstruktion schreibt sich mit Ausstreichungen in die Tradition ein: «on peut écrire par ratures et ratures de ratures» [13]. Der Dekonstruktivist haust in den Metaphernruinen der Ph.
Die Texte der neueren französischen Ph., besonders die ihres methodologisch bewußtesten Vertreters, M. Foucault, vermitteln leicht den Eindruck, sie seien im Kern antiphilosophisch gerichtet. «Si la philosophie est mémoire ou retour de l'origine, ce que je fais ne peut, en aucun cas, être considéré comme philosophie», – aber es geht doch um einen neuen Begriff des Philosophierens: «s'il opère sans cesse les différenciations, il est diagnostic» [14]. Diese Konzeption von Ph. als diagnostischer Aktivität, die den Boden unter den eigenen Füßen aufgräbt, schreibt sich ausdrücklich von Nietzsche her. Eine Archäologie der Gegenwart ist aber nur möglich, wenn die Souveränität des sprechenden Subjekts der Ph. gebrochen wird in einer Vielfalt von Sprachformen, die dann durchaus antiphilosophisch gerichtet erscheinen. Damit fällt Licht auf den Raum zwischen Denken und Rede, in dem sich die spezifische Realität des Diskurses konstituiert, die von der traditionellen Ph. verleugnet wird. «Cette très ancienne élision de la réalité du discours dans la pensée philosophique» [15] zeigt sich an den Hauptthemen der neuzeitlichen Ph.: dem Transzendentalsubjekt, der ursprünglichen Erfahrung und der universellen Vermittlung. Wie Nietzsche als Herold eines neuen Denkens, so wird Hegel als Verkörperung der nicht mehr möglichen Ph. gesehen. Foucault fragt nach dem Preis eines Denkens post Hegel: «Une philosophie peut-elle encore exister et qui ne soit plus hégélienne?» [16]. Ph. post Hegel sei nur noch im Medium von Nicht-Ph. möglich: «apparaît ainsi le thème d'une philosophie présente, inquiète, mobile tout au long de sa ligne de contact avec la non-philosophie, n'existant que par elle pourtant et révélant le sens que cette non-philosophie a pour nous» [17].
Norbert W. Bolz
[1]
F. de Saussure: Cours de lingu. gén., hg. R. Engler 2/4: Notes de F. de S. (1974) n. 10. 13.
[2]
P. Ricœur: Symbole et temporalité. Archivio Filosofia 1–2 (1963) 24.
[3]
C. Lévi-Strauss: Mythologiques IV, 2 (Paris 1971) 559–563.
[4]
J. Lacan: Ecrits (Paris 1966) 437.
[5]
a.O. 517.
[6]
M. Foucault: Les mots et les choses (Paris 1966) 12; vgl. Archéologie du savoir (Paris 1969) 264.
[7]
J. Piaget: Le structuralisme (Paris 1968) 114.
[8]
J. Derrida: La dissémination (Paris 1972) 336. 378.
[9]
a.O. 303.
[10]
Marges de la philos. (Paris 1972) 77f.
[11]
L'écriture et la différence (Paris 1967) 295.
[12]
a.O. 163.
[13]
166.
[14]
Foucault: L'arch. du sav., a.O. [6] 268.
[15]
L'ordre du discours (Paris 1971) 48.
[16]
a.O. 76.
[17]
78.
N. Bolz: Ph. nach ihrem Ende, in: Streit bare Ph. Festschr. M. von Brentano (1987); Tod des Subjekts. Z. philos. Forsch. (1982) 444–452. – M. Frank: Was ist Neostrukturalismus? (1983).