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Pietas

Pietas Religionswissenschaft und Religionsphilosophie eusebeia (εὐσέβεια) 5349 10.24894/HWPh.5349Rudolf RieksRichard Hauser
I. Antike. – ‹P.› entspricht in der Breite seines Gebrauchs dem griechischen Terminus εὐσέβεια für «ehrfürchtiges Verhalten» gegenüber Göttern, Menschen und Vaterland [1]. Der lateinische Ausdruck ist etymologisch wohl auf «piare» (reinigen) zurückzuführen, das Adjektiv «pius» gilt als Attribut für Kulthandlungen [2]. Bei Cicero wird P. zunächst von «religio» unterschieden: «Religion ist der Ausdruck für Furcht und Verehrung gegenüber den Göttern, P. mahnt uns, die Pflichten gegenüber Vaterland oder Eltern oder anderen Blutsverwandten zu wahren» («pietatem quae erga patriam aut parentes aut alios sanguine coniunctos officium conservare moneat») [3]. An anderer Stelle jedoch bezeichnet P. auch das Verhältnis zu den Göttern und ist ein Synonym für «religio»: «Denn P. bezeichnet das uns gebührende Verhalten gegenüber den Göttern» («est enim pietas iustitia adversum deos») [4]. Da in der römischen Theologie dieses Verhältnis doppelseitig aufgefaßt wird, gibt es auch eine P. der Götter gegenüber den Menschen, etwa die heilige Verpflichtung zur Ahndung von Freveln [5].
Das beste Verständnis für P. gewinnt man aus Vergils ‹Aeneis›. Der römische Nationalheros Aeneas trägt das Beiwort «pius», weil ihn vorbildliche Frömmigkeit, Ehrfurcht und Pflichterfüllung gegenüber den Göttern, dem alten und neuen Vaterland, dem Vater, der Frau, dem Sohn und der Gefolgschaft auszeichnen und er P. gegenüber dem Fatum zeigt. Seit Augustus galt, wie die Münzprägung zeigt, P. den römischen Kaisern als hervorragende Herrschertugend [6].
Rudolf Rieks
[1]
Erschöpfend zum griech. Terminus: D. Kaufmann-Bühler: Art. ‹Eusebeia›. RAC 6, 986–1052.
[2]
Dazu W. Dürig: Pietas liturgica (1958) 12ff.
[3]
Cicero: De invent. 2, 66; vgl. De re publ. 6, 16.
[4]
De nat. deorum 1, 116.
[5]
Vgl. Dürig, a.O. [2] 131ff.
[6]
Vgl. J. Liegle: P., in: Z. Numismatik 42 (1935) 59–100.
H. Wagenvoort: P. (Groningen 1924). Th. Ulrich: P. als polit. Begriff im röm. Staate bis zum Tode des Kaisers Commodus (1930). – J. Liegle s. Anm. [6]. – W. Dürig s. Anm. [2]. – F. Faessler: P. in der Aeneis Vergils und bei Benedikt von Nursia. Gymnasium helv. 11 (1957) 41–50. – J. F. Burgess: P. in Virgil and Statius. Proc. Virgil Society 11 (1971/72) 48–61. – H. M. Currie: Dido: P. and Pudor. Class. Bull. 51 (1975) 37–40.
II. Mittelalter. – In der von der Antike übernommenen ethischen und liturgischen Bedeutung bezeichnet ‹P.› auch im MA zumeist das Verhältnis zu Gott. Augustinus versteht ‹P.› neben der gebräuchlichen Herleitung von εὐσέβεια[1] vor allem als Kultfrömmigkeit, also als Übersetzung von λατρεία oder θεοσέβεια, und betont, nur Christen hätten die wahre P.: «Niemand kann die wahre Tugend haben ohne die wahre P., das heißt den wahren Dienst am wahren Gott» («Neminem sine vera pietate, id est veri Dei vero cultu, veram posse habere virtutem») [2]. Durch P. wachse das Glaubensverständnis («Sit primo pietas in credente et erit fructus in intelligente») [3]. Nach Bonaventura fördern die Werke der P. die Kontemplation [4]. Thomas von Aquin kennt in der Beziehung zu Gott die P. nur noch als besondere Geistesgabe, sonst spricht er von «religio» [5]. – In der Liturgie bezeichnet – offensichtlich in Übertragung antiker Kaiserverehrung [6] – ‹P.› auch eine wesentliche Eigenschaft Gottes. Nicht, weil Gott die Pflicht der Pietät zum Nächsten geboten hat, sondern weil Gott in seiner Majestät zugleich die herablassende Güte ist, eignet ihm P. [7].
Richard Hauser
[1]
Augustinus: De civ. Dei 10, 1.
[2]
a.O. 5, 15. 19; Epist. 138, 17; Retract. 1, 3, 2; De spir. et litt. 18; dazu: Th. Kobusch: Das Christentum als die Religion der Wahrheit. Überleg. zu Augustins Begriff des Kultus. Rev. Et. August. 39 (1983) 97–128.
[3]
In Joh. VIII, 6; vgl. De gen. ad litt. 11, 30.
[4]
Bonaventura: Comm. in Sent., dist. 37, art. 1, q. 3. Op. omn. 4 (Quaracchi 1889) 806, 6.
[5]
Thomas von Aquin: S. theol. II/II, 121.
[6]
Vgl. Dürig, a.O. [2 zu I.] 138f. 165f.
[7]
Miss. Rom. oratio dom. XI post Pent.: «Omnipotens sempiterne deus, qui abundantia pietatis tuae ...»; Miss. Rom. oratio dom. V post Epiph.: «domine, continua pietate custodi».