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Possibilismus

Possibilismus 3197 10.24894/HWPh.3197 Ernst Winkler
Geographie und Geologie Schulen, Strömungen und Positionen
Possibilismus (von frz. possible, possibilité) ist ein im Anschluß an den französischen Historiker L. Febvre eingeführter Ausdruck für eine Umweltlehre und Geographie des Menschen, die den von F. Ratzel herrührenden Begriff eines «geographischen Determinismus» ersetzen bzw. korrigieren sollte [1]. Febvre sprach nur von «possibilistes»; der Ausdruck ‹P.› kam erst später auf. Es liegt nahe anzunehmen, daß er mit der sozialpolitischen Bewegung der «Possibilistes» (1883–1890) zusammenhängt [2]. Grundgedanke der neuen Doktrin war, daß die Natur dem Menschen keinen absoluten Zwang auferlegt, sondern nur «Möglichkeiten des Handelns [bietet], zwischen denen [er] jeweils seine Wahl trifft» bzw. treffen kann [3]. Dabei hängt der Entscheid vom Willen der Person, «vom Zustand einer gegebenen Gesellschaft ..., von ihren kulturellen Vorstellungen und vom geschichtlichen Moment» ab [4]. Als den Begründer des P. bezeichnete Febvre den damals führenden französischen Geographen P. Vidal de la Blache, der tatsächlich die Möglichkeiten gegenüber dem Naturzwang betonte, jedoch daraus keinerlei Theorie zu entwickeln versucht hatte. Die an sich «selbstverständliche» Tatsache «relativer» Entscheidungsfreiheit des Menschen, die indessen von keinem der kritisierten Forscher (F. Ratzel, E. Semple u.a.) ignoriert worden war, wurde in der Folge, wenn auch mit Modifikationen, akzeptiert [5]. Sie bildet nunmehr die unbestrittene Grundlage der geographischen, soziologischen und historischen Umweltlehre. Doch bleibt zu sagen, daß die mit dem Wort ‹P.› postulierte Wahl- bzw. Entscheidungsfreiheit des Menschen eine Rahmenfreiheit darstellt (Atmung, Nahrungsmittelsuche, Tod usw. sind stringente Daseinsmomente). Von einem absoluten P. kann also keine Rede sein. Dies wird übrigens von den modernen Umweltforschern (bes. den Geographen) klar bewußt gemacht.
[1]
L. Febvre/L. Bataillon: La terre et l'évol. hum. (Paris 1922) 25ff.
[2]
S. Humbert: Les Possibilistes (Paris 1911).
[3]
R. König: Soziologie (1958) 263.
[4]
F. Ratzel: Anthropogeographie (1882), vgl. Stichw. ‹Environmentalismus›.
[5]
A. Hettner: Die Geographie, ihre Gesch., ihr Wesen und ihre Methoden (1927).
G. Tatham: Environmentalism and possibilism, in: Geography in the 20th cent. (New York 1953) 128–162. – A. Hettner: Gesetzmäßigkeit und Zufall in der Geographie. Geogr. Z. 41 (1935) 2–15. – R. S. Platt: Determinism in geography. Ann. Ass. Amer. Geographers 38 (1948) 126–138. – M. Le Lannou: La géogr. hum. (Paris 1949). – A. I. Martin: The necessity of determinism: A metaph. problem confront. geographers. Transact. Papers Inst. Brit. Geographers 17 (1951) 1–12. – O. H. K. Spate: Townbee and Huntington: A study in determinism. Geogr. J. 108 (1952) 406–428; How determined is possibilism? Geogr. Studies 4 (1957) 3–12; The end of an old song? The determinism-possibilism problem. Geogr. Review 48 (1948) 280–282. – A. C. Montefiore/W. W. Williams: Determinism and possibilism. Geogr. Studies 2 (1955) 1–11. – C. J. Clacken: Changing ideas of the habitable world, in: Man's role in changing the face of the earth (Chicago 1956) 70–92. – Ph. Pinchemel: Geogr. et determinisme. Bull. Soc. Beige Etudes géogr. 26 (1957) 211–225. – P. Claval: Essai sur l'évolut. de la géogr. hum. (Paris 1964). – P. Weichhardt: Geographie im Umbruch (Wien 1975). – G. Schmidt: Die Wahrscheinlichkeit bei geogr. Unters. Geogr. Ber. 87 (1978) 121–130.