Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Psychologie

Psychologie 3335 10.24894/HWPh.3335Eckart Scheerer
Disziplinen und Fächer Psychologie Mentalismus Willenshandlung7 1623 Ganzheitspsychologie7 1632f Psyche psychische Kausalität7 1622 Gestaltpsychologie7 1632f Science, cognitive7 1644f psychologia7 1599ff doctrina de anima7 1599 Pneumatologie7 1600 Animastik7 1600 Seelenlehre7 1600 Erfahrungsseelenkunde; Erfahrungsseelenlehre7 1600ff empirische Psychologie7 1600ff Psychologie, empirische7 1600ff Experimental-Seelenlehre7 1600 Experimentalpsychologie7 1600 Thelematologie7 1602 Lehre von den Gemütsbewegungen7 1602 Leib-Seele-Verhältnis Bewusstsein innerer Sinn7 1602ff Sinn, innerer7 1602ff Unsterblichkeit der Seele7 1603 Seelenvermögen Seelenkräfte7 1603 Gefühl7 1604 Physiologie der Seele7 1604 Pathologie der Seele7 1604 Seelennaturkunde7 1604 Seelenkrankheitskunde7 1604 Seelenzeichenkunde7 1604 Seelendiätetik7 1604 Arzt, philosophischer7 1606 Physiologie des inneren Sinnes7 1607 Aufmerken auf sich selbst7 1607 psychologische Semiotik7 1607 Semiotik, psychologische7 1607 psychische Anthropologie7 1608 Anthropologie, psychische7 1608 Experimentalphysik, innere7 1608 Selbstbesinnung, psychologische7 1608 Architektonik des Geistes7 1610 Unbewusste, das7 1610f Unbewusstsein7 1610f subjektiver Geist7 1611f Geist, subjektiver7 1611f Verrücktheit7 1611 innere Zustände7 1613f Zustand, innerer7 1613f Bewusstseinstatsachen7 1613 Psychographik7 1613 Psychonomie7 1614 Raum, psychischer7 1614 state of the mind7 1614 mental chemistry7 1614f chemistry, mental7 1614f Ethologie7 1615 Vorstellung7 1615 Mechanik der Vorstellungen7 1615 mathematische Psychologie7 1615 Psychologie, mathematische7 1615 innerer Leib7 1616 Leib, innerer7 1616 Physiologie der Seele7 1616 medizinische Psychologie7 1616 Physiologie, psychische7 1617 soziale Physik7 1617f Physik, soziale7 1617f Psychologie ohne Seele7 1618 Völkerpsychologie7 1618ff Volksgeist7 1618f gesellschaftliches Bewusstsein7 1619 Bewusstsein, gesellschaftliches7 1619 politische Psychologie7 1619 Psychologie, politische7 1619 experimentelle Psychologie7 1620ff Psychologie, experimentelle7 1620ff unmittelbare Erfahrung7 1621 Erfahrung, unmittelbare7 1621 Kausalität, psychische7 1622 Aktualität, psychische7 1622 Wachstum der psychischen Energie7 1622 schöpferische Synthese7 1622 Synthese, schöpferische7 1622 Analyse, beziehende7 1622 Völkerpsychologie7 1622f Apperzeption7 1623 innere Willenshandlung7 1623 Reflexphysiologie7 1623f Reflexbogen7 1623 Rückenmarksseele7 1623 Physiologie der Seele7 1623 Anpassung7 1625 Intelligenz7 1625 innere Wahrnehmung7 1626 Wahrnehmung, innere7 1626 intentionale Inexistenz7 1626 Inexistenz, intentionale7 1626 Akt7 1626 Intentionalität7 1626 Psychognosie7 1626 Psychotechnik7 1628 Introjektion7 1628 Ich7 1628f Organismus7 1629 Empfindung7 1629 Psychoanalyse7 1630ff Unbewusste, das7 1630f Energie, psychische7 1630 Kraft, psychische7 1630 eidetische Psychologie7 1632 Psychologie, eidetische7 1632 Gestaltqualität7 1632 übersummativ7 1633 Gestalttheorie7 1633 psychophysisches Feld7 1633 Feldpsych. 7 1633 Seelenwissenschaft7 1633 Zusammenhangpsych. 7 1633f functional psychology7 1634 psychophysischer Interaktionismus7 1634 Interaktionismus, psychophysischer7 1634 genetische Logik7 1634 Logik, genetische7 1634 genetische Epistemologie7 1634 Epistemologie, genetische7 1634 Peripheralismus7 1635 bedingte Reflexe7 1635 Reflex, bedingter7 1635 Selbstregulation7 1636 Erlebnis7 1636 völkische Anthropologie7 1636 Anthropologie, völkische7 1636 Persönlichkeit7 1639f Personalismus7 1639 Erleben7 1639 Introzeption7 1639 Vitalsphäre/Humansphäre7 1639 Disposition7 1639 Sozialbehaviorismus7 1640 soziales Lernen7 1640 Lernen, soziales7 1640 Reiz und Reaktion7 1640f Tätigkeitstheorie7 1641 Widerspiegelung, psychische7 1641 Orientierungstätigkeit7 1641 Tätigkeit, psychische7 1641 Assimilation7 1642 Akkommodationpsych. 7 1642 Äquilibration7 1642 Epigenese7 1642 Verhaltensanalyse7 1644 Behaviorismus, radikaler7 1644 cognitive psychology7 1645 psychology, cognitive7 1645 Kognitivismus7 1645 computational theory of mind7 1645f ecological psychology7 1645 psychology, ecological7 1645 Umweltpsychologie7 1646 ökologische Psychologie7 1646 Psychologie, ökologische7 1646 Lebensraum7 1646 Verhaltensökologie7 1646 ökologischer Realismus7 1646 Realismus, ökologischer7 1646 humanistische Psychologie7 1647 Psychologie, humanistische7 1647 Selbstverwirklichung7 1647 phänomenologische Psychologie7 1647f Psychologie, phänomenologische7 1647f Juxtastruktur7 1648 Mutter-Kind-Beziehung7 1648 personale Handlungsfähigkeit7 1649 Handlungsfähigkeit, personale7 1649 kritische Psychologie7 1649 Psychologie, kritische7 1649 historische Psychologie7 1649 Psychologie, historische7 1649 theoretische Psychologie7 1651 Psychologie, theoretische7 1651 creatura spiritalis7 1600 Apperzeptionspsychologie7 1623 Phrenologie7 1617 physiologische Phrenologie7 1617 Strukturpsychologie7 1630 Verhalten, inneres7 1633 inneres Verhalten7 1633 Bewusstseinsinhalte, unanschauliche7 1630ff Psychologie, geisteswissenschaftliche7 1630 physique sociale7 1617f Psychische, das psychologia anthropologica7 1599 Verhalten7 1634ff Verhalten7 1644ff Psychologie, genetische7 1625 Psychologie, phänomenologische7 1631f Psychologie, rationale7 1601ff Psychophysik7 1621 Massenpsychologie7 1624 Objektivierung7 1628ff physiologische Psychologie7 1629 Physiologie7 1612 Physiologie7 1615ff Physiologie7 1621ff Seelenkrankheit7 1611 Wissenschaft, reine7 1628 Abnormität, psychische7 1624f
(engl. psychology; frz. Psychologie; ital. psicologia). Je nach Profession wird man geneigt sein, die P.-Geschichte zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen zu lassen. Die experimentelle P. datiert den Beginn in das Jahr 1879, als das erste psychologische Universitätsinstitut eröffnet wurde. Dagegen wird der Philosoph die P. schon bei den Vorsokratikern und vor allem bei Aristoteles finden. Die folgende Darstellung ist begriffsgeschichtlich orientiert und setzt daher bei jener Epoche ein, in der sich die P. unter diesem Namen als philosophisches Teilgebiet etabliert.
A. Zur Wortgeschichte. – 1. Erstverwendung und Durchsetzung in der lateinischen Gelehrtensprache. – Bis heute ist nicht abschließend geklärt, durch wen und wann zum ersten Male das Wort ‹psychologia› verwendet wurde. Die aus dem letzten Jh. [1] stammende Zuweisung an Ph. Melanchthon beruht auf einem Mißverständnis [2]. Eine Spur verweist auf den dalmatinischen Humanisten M. Marulus (Marulić), der um 1520 ein bis jetzt nicht wieder aufgefundenes Manuskript ‹Psichiologia de ratione animae humanae liber I› verfaßt haben soll [3]. Im Druck findet sich ‹psychologia› erstmals bei J. Th. Freigius, und zwar 1575 in seinem ‹Ciceronianus› [4] und 1579 als Abschnitt seiner ‹Quaestiones physicae› [5]. Als Buchtitel verwendet R. Goclenius d. Ä. zum ersten Mal das Wort ‹psychologia›, und zwar in einem 1590 erschienenen Sammelband von Schriften vorwiegend metaphysisch-theologischen Inhalts [6]. Die erste mit ‹Psychologia› betitelte Monographie stammt von O. Casmann: ‹Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina› (1594). Die adjektivische Form tritt ebenfalls 1594 in einer von Goclenius präsidierten Dissertation auf [7]. Lexikographisch ist ‹psychologia›, als «doctrina de anima», erst 1662 bei J. Micraelius belegt [8]. Im 17. Jh. erscheinen zwar mehrere Monographien mit dem Titel ‹Psychologia›, doch die endgültige Durchsetzung des Ausdrucks in der lateinischen Gelehrtensprache ist auf den Einfluß von Ch. Wolff (‹Psychologia empirica› 1732 und ‹Psychologia rationalis› 1734) zurückzuführen.
Für die zögernde Aufnahme des Begriffswortes können folgende Gründe benannt werden:
a) In terminologischer Hinsicht hatte ‹P.› mit mehreren schon früher eingeführten Kunstwörtern zu konkurrieren, nämlich ‹Pneumatik› oder ‹Pneumatologie› als Oberbegriff für die metaphysisch-theologische und für die empirische «Geisterlehre», mit ‹Anthropologie› als Bezeichnung für die medizinische, auch psychische Prozesse umfassende «Lehre vom Menschen», und mit ‹Animastik› als Ausdruck für die früher unter dem traditionellen Titel ‹De anima› überlieferten Lehrinhalte der aristotelisch-scholastischen Philosophie, soweit sie durch den Jesuitenorden gepflegt wurde [9].
b) Die Erstverwender von ‹P.› gehören, wie Freigius, der Schule des P. Ramus an oder sind, wie Goclenius und Casmann, von Ramus beeinflußte Eklektiker [10]. Ziel der ramistischen Methode ist es, den «begrifflichen Ort der Glieder des Systems» [11] zu fixieren, und zwar auch des Systems der Wissenschaften. Infolgedessen wird die tabellarisch festgehaltene Systematik sämtlicher Wissenschaften und deren Benennung durch griechisch-lateinische Kunstwörter zu einer wichtigen Aufgabe der Philosophie. Sie wird einer propädeutischen Disziplin namens «technologia» [12] oder «technometria» [13] zugewiesen, worin die P. – freilich in der Regel noch als Pneumatik oder Pneumatologie – ihren Platz erhält, und zwar als eine der Physik koordinierte Wissenschaft von der «creatura spiritalis» [14]. Das Wort ‹P.› entstand mithin in einer intellektuellen Tradition, die sich kritisch gegen die aristotelische bzw. spätscholastische Philosophie verhielt; seine Durchsetzung ist Ausdruck des Sieges der neuen über die alte Philosophie.
2. Das WortP.und seine Analoga in den Nationalsprachen. – a) Im Deutschen sind ‹P.› und ‹Seelenlehre› seit Ch. Wolff lexikographisch [15] und als Buchtitel vielfach bezeugt. Als Äquivalent für das latinisierte ‹psychologia› wird zunächst, auch von Wolff in seinen deutschen Schriften [16], ‹Seelenlehre› bevorzugt. Daß daneben auch das Fremdwort ‹P.› in den deutschen Sprachschatz aufgenommen wurde und letztlich die Oberhand behielt, dürfte an seiner lexikalischen Produktivität (‹psychologisch›, ‹Psychologe› usw.) gelegen haben. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. bürgern sich dann allmählich die Ausdrücke ‹Erfahrungsseelenkunde› und ‹empirische P.› ein und werden offenbar weitgehend austauschbar verwendet. Daneben findet man auch den Ausdruck ‹Experimental-Seelenlehre› oder ‹Experimental-P.›, anfangs programmatisch, im Sinne der Forderung nach Einführung des Experiments in die P. [17] oder Pädagogik [18], später auch gleichbedeutend mit ‹Erfahrungsseelenkunde› [19].
b) Im Französischen und Englischen bürgert sich der Ausdruck ‹P.› erst ungefähr ein Jahrhundert später als im Deutschen ein. Der ‹Essai de psychologie› (1754) des Schweizers Ch. Bonnet[20] ist der erste französische Buchtitel, der ‹P.› im Sinne der in Deutschland entwickelten Bedeutung voraussetzt; noch 1751 hatte d'Alembert den traditionellen Terminus ‹Pneumatologie› [21] verwendet. Erst zu Beginn des 19. Jh. erhält das Wort ‹P.› allmählich Bürgerrecht in der französischen Fachsprache, bezeichnenderweise bei Autoren, die Impulse aus der deutschen (Maine de Biran[22]) und der schottischen (Th. Jouffroy[23]) Philosophie aufnehmen. – Ähnlich liegen die Verhältnisse im Englischen. Die englischen «Assoziationspsychologen» des 18. Jh. haben sich niemals als solche bezeichnet, und der Ausdruck ‹P.› findet sich nur einmal bei D. Hartley[24]. Um die Wende vom 18. zum 19. Jh. wird verschiedentlich die Verwendung von ‹P.› propagiert [25]. Aber erst W. Hamilton kann um 1840 konstatieren, daß ‹P.› «in der philosophischen Sprache jeder anderen europäischen Nation schon längst der übliche Ausdruck für die Lehre von der Seele» gewesen, jetzt aber auch «im Englischen naturalisiert» sei [26].
[1]
Vgl. F. W. Volkmann von Volkmar: Lehrb. der P. vom Standpunkt des Realismus und nach genet. Methode 1 (31884) 38.
[2]
F. H. Lapointe: Who originated the term ‹psychology›? J. Hist. behav. Sci. 8 (1972) 328–335.
[3]
J. Brozek: Psychologia of Marcus Marulus (1450–1524): Evidence in printed works and estimated date of origin. Episteme 7 (1973) 125–131.
[4]
J. Th. Freigius: Ciceronianus (1575); zit. nach W. Hamilton, a.O. [26] 136.
[5]
Quaest. physicae, in quibus methodus doctrinam physicam ... docendi ... descripta est (1579) 761; zit. nach H. Schüling: Bibliogr. der psychol. Lit. des 16. Jh. (1967) 125.
[6]
R. Goclenius: Ψυχολογία, hoc est: De hominis perfectione ... (1590).
[7]
R. Goclenius (Praes.)/M. Möller (Resp.): Themata psychologica de ratione ... (1594).
[8]
J. Micraelius: Lex. philos. (21662) 1165.
[9]
z.B. R. Aversa: Logica (Romae 1623) 25 b; J. B. Giattinus: Logica (Rom 1651) 60f.
[10]
W. Risse: Die Logik der Neuzeit 1 (1964).
[11]
a.O. 152.
[12]
484.
[13]
Vgl. K. L. Sprunger: Technometria: A prologue to puritan theology. J. Hist. Ideas 29 (1968) 115–122.
[14]
Vgl. z.B. J. H. Alstedius: Consiliarius academicus et scholasticus (1610) 35.
[15]
Vgl. H. A. Meissner: Philos. Lex. (1737) 463–465; J. G. Walch: Philos. Lex. 2 (41775) 321; J. H. Zedler: Univ.-Lex. 36 (1743) 1168f.
[16]
Vgl. Ch. Wolff: Ausführl. Nachricht von seinen eigenen Schrifften ... (21733). Ges. Werke I/9, hg. H. W. Arndt (1973) § 89; C. G. Ludovici: Ausführl. Entwurf einer vollst. Historie der Wolffischen Philos. (31738, ND 1977) § 124. 125. 497.
[17]
J. G. Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756).
[18]
E. Ch. Trapp: Versuch einer Pädagogik (1780, ND 1977) § 28.
[19]
K. Ph. Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre (1782). Werke, hg. H. Günther 3 (1981).
[20]
Ch. Bonnet: Essai de psychologie (anon. 1750). Oeuvres 8 (Neuchâtel 1783).
[21]
J. L. d'Alembert: Einl. zur Enzykl. von 1751, hg. E. Köhler (1955) 99.
[22]
F. Maine de Biran: Essai sur les fondements de la psychologie (1813/22), hg. E. Naville (Paris 1859).
[23]
Th. Jouffroy: Distinction de la psychologie et la physiologie. Mélanges philos. 2 (Paris 1833).
[24]
Vgl. W. M. O'Neil: The beginnings of modern psychology (London 1968) 11.
[25]
Vgl. J. Beattie: Elem. ofmoral sci., Part 1: Psychology (Edinburgh 1790); J. Bentham: Chrestomathia. Works, hg. J. Bowring 8 (1838, ND New York 1962) 84; S. T. Coleridge: The friend (1818). Works, hg. B. E. Rooke 4/1 (London 1969) 467.
[26]
W. Hamilton: Lectures on metaph. 1 (Edinburgh 21861, ND 1970) 130–132.
M. Dessoir: Gesch. der neueren dtsch. P. (21902). – H. Schüling: Bibliogr. der psychol. Lit. des 16. Jh. (1967). – J. Ecole: Edit. introd., in: Ch. Wolff: Psychologia empirica (1738). Ges. Werke II/5 (1968) VI–IX und Addenda. – F. H. Lapointe: Origin and evolution of the term psychology. Amer. Psychologist 25 (1970) 640–644; s. Anm. [2]. – J. Brozek s. Anm. [3].
B. Die P. im Zeitalter der Aufklärung. – 1. Die Stellung der P. im System der Wissenschaften.Ch. Wolff weist der P. ihren Platz in der speziellen Metaphysik zu, wobei er aus didaktischen Rücksichten die empirische P. («Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrnehmen») vor der Kosmologie einordnet und erst auf letztere die rationale P. («Von dem Wesen der Seele und des Geistes überhaupt») folgen läßt [1]. Die P. bleibt in der deutschen Aufklärung noch lange, bei einigen konservativen Autoren bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jh. [2], Teil der Metaphysik. Aber schon Wolff hatte betont, daß «was von der Seele aus der Erfahrung erkandt und in der Psychologia empirica angeführet wird» von etwaigen Irrtümern seiner rationalen P. «ungekränckt» bleibe [3]. Um 1750 beginnt sich die P. von der Metaphysik zu emanzipieren. So scheidet z.B. Ch. A. Crusius mit dem Argument, daß die Metaphysik nur von den «nothwendigen Vernunft-Wahrheiten» handle und in der «Beschaffenheit der menschlichen Seele doch viel zufälliges vorkomme» [4], die empirische P. aus der Metaphysik aus. Die Trennung der P. von der Metaphysik mußte nicht unbedingt deren Etablierung als selbständige Teildisziplin der Philosophie zur Folge haben; vielmehr konnte sie zu deren Zerfall führen. So verteilt Crusius den Bestand der empirischen P. auf Vernunftlehre, Thelematologie (Willenslehre) und Naturlehre [5], und G. F. Meier wünscht die «Lehre von den Gemüthsbewegungen» als ‘Pathologieʼ aus der Lehre von der Seele auszuscheiden und «als eine vor sich bestehende Wissenschaft» anzusehen [6]. Im Hauptstrom des deutschen Aufklärungsdenkens bleibt die P. jedoch als einheitliche Wissenschaft bestehen; sie wird in der Regel aus methodischen oder inhaltlichen Erwägungen der Naturlehre zugeteilt [7] und nimmt im übrigen den früher der Metaphysik vorbehaltenen Platz einer philosophischen Grundwissenschaft ein: «In der P., und denen von ihr abgeleiteten Wissenschaften ist die ganze Theorie des Menschen und der Philosophie enthalten» [8].
2. Gegenstand und Methode der P. – Es ist ein Allgemeinplatz der Philosophiegeschichte, daß der cartesische Dualismus zu den ideellen Voraussetzungen der Entstehung der P. als selbständiger Disziplin gehört. In die Konstituierung der P. durch Ch. Wolff ging er jedoch nur indirekt, durch Leibniz (der gelegentlich den Ausdruck ‹P.› verwendet [9]) vermittelt ein. Wolff schränkt Leibnizens Konzeption der universellen prästabilierten Harmonie auf die Leib-Seele-Beziehung ein und vertritt eine im wesentlichen mechanistische Auffassung der körperlichen Prozesse [10]. Eben dadurch kann er die P. als selbständiges Wissensgebiet ausgrenzen, und zwar indem er an Leibnizens Konzept der Apperzeption das Moment des Bewußtseins seiner selbst hervorhebt: «Was zur empirischen P. gehört, konstatieren wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was uns bewußt (nobis consciis) in unserer Seele geschieht» [11]. Ziel der empirischen P. ist die Feststellung der Gesetze, denen die Vermögen der Seele folgen [12].
Ausgangspunkt und Aufgabe, die Wolff der empirischen P. vorgegeben hatte, bleiben für die P. der deutschen Aufklärung verbindlich: sie ist Bewußtseins-P. [13], und sie strebt nach der Formulierung von Gesetzen des psychischen Geschehens, wobei sie sich an dem zentralen Begriff des psychischen Vermögens orientiert. Das schließt Kontroversen hinsichtlich Gegenstand und Methode nicht aus. Sie betreffen z.B. die nähere Bestimmung des Begriffs ‹Bewußtsein›. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. wird unter dem Einfluß Lockes in steigendem Maße der «innere Sinn» als Voraussetzung des Bewußtseins betrachtet, so schon von A. Baumgarten, der «Bewußtsein sensu strictiori» und «innerer Sinn» miteinander gleichsetzt [14]. J. N. Tetens setzt voraus, daß psychologische Beobachtung auf dem inneren Sinn beruht [15], und am Ende des Jahrhunderts dient er zur Gegenstandsbestimmung der P.: «Der Gegenstand der Erfahrungs-Seelenlehre sind ... alle Veränderungen oder Bewegungen des Ich, in so weit sie im innern Sinne vorgestellt werden können» [16].
Die Existenz einer immateriellen Seelensubstanz wird in der empirischen P. fast durchgängig angenommen; die Erfahrung soll es ermöglichen, Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Jedoch wird auch der französische Materialismus gelegentlich positiv rezipiert [17], und wenn, wie bei M. Hissmann[18], die «Materialität» der Seele behauptet wird, stellt sich die Frage nach der Selbständigkeit der P.; sie kann unter Annahme des inneren Sinns positiv beantwortet werden.
Das Konzept der seelischen Vermögen beherrscht die gesamte empirische P., ohne daß seine wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten verkannt würden [19]. Problematisch ist vor allem das Verhältnis der Begriffe ‹Vermögen› und ‹Kraft›. Modern ausgedrückt, tritt ‹Vermögen› eher als Beschreibungs-, ‹Kraft› eher als Erklärungsbegriff auf, wobei jedoch gerade den psychischen «Kräften» objektive Existenz zugesprochen wird. C. Ch. E. Schmid faßt 1796 diesen Gedanken zusammen: Seelenvermögen nennen wir, was seelische Bestimmungen möglich macht, und Seelenkraft «ein Etwas, worinn ihr würkliches Daseyn gegründet ist» [20]. Die Reduktion seelischer Vermögen auf eine seelische Grundkraft ist ein oft diskutiertes Problem, dessen Lösung sich im Laufe des Jahrhunderts von der Leibniz-Wolffschen «Vorstellungskraft» (vis repraesentativa) unter dem Eindruck des französischen Sensualismus zur «Empfindungskraft» verschiebt und nicht mehr durch begriffliche Konstruktion, sondern durch genetische Ableitung plausibel gemacht wird [21]. Ein alternativer Weg zur Destruktion der Vermögenslehre wird von Hissmann beschritten, der die Vermögen materialistisch als «Dispositionen» der «Nerven- und Gehirnorgane» deutet [22]. Dagegen stellt die nach 1750 intensiv rezipierte Assoziations-P. Hartleys und anderer Engländer insofern keine durchgreifende Alternative zur Vermögens-P. dar, als die «Vergesellschaftung der Ideen», dem Beispiel Wolffs folgend, nicht als psychologisches Grundgesetz schlechthin, sondern als Gesetz der «Einbildungskraft» konzipiert wird [23].
Gemäß der Wolffschen Gegenstandsbestimmung ist die Selbstbeobachtung grundlegende Methode der P. – eine Ausrichtung, die in der Folgezeit durch die intensive Rezeption der Philosophie J. Lockes unterstützt und dahingehend zugespitzt wird, daß die Übereinstimmung der psychologischen Beobachtung mit dem in der Physik üblichen Verfahren behauptet wird [24]. Dennoch haben die empirischen Psychologen kein naives Zutrauen zur Selbstbeobachtung; deren Schwierigkeiten werden erkannt und ausgiebig diskutiert, jedoch kommt es nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Introspektion. Andererseits behauptet niemand, daß die Selbstbeobachtung die einzige Methode der empirischen P. sei. Das methodologische Vorbild der Physik legt es nahe, das Experiment in die P. einzuführen und damit die durch die Selbstbeobachtung gezogenen Grenzen zu überschreiten. Entsprechende Anregungen gehen davon aus, daß eine direkte experimentelle Einwirkung auf die Seele nicht möglich ist, so daß man «künstliche Veränderungen am Leibe» vornehmen [25] oder das Experiment auf die «äußerlichen Erscheinungen der menschlichen Natur» [26] beschränken muß. Experiment und Messung werden in der empirischen P. nicht miteinander verbunden, obwohl psychische Messungen schon von Wolff[27] als möglich und wünschenswert bezeichnet worden waren und ihre Möglichkeit nur selten in Zweifel gezogen wird [28]. Die experimentelle P. kommt kaum über Programmatik hinaus, während die ebenfalls empfohlene systematische Beobachtung von Kleinkindern in etwas größerem Umfang praktiziert wird [29].
3. Einteilung und Umfang der P. – Die Einteilung der empirischen P. ist ihr durch die Vermögenslehre vorgegeben, und zwar im Sinne einer «Vierfeldertafel»: Vorstellungs- und Begehrungsvermögen einerseits, «untere» (d.h. sinnliche) und «obere» (d.h. vernünftige) Vermögen andererseits, also Empfindung, Verstand, sinnliches Begehren und Wille. An der dichotomischen Gliederung wird vielfach mit großer Zähigkeit festgehalten. Die neue Kategorie des Gefühls wird zunächst, bei J. G. Sulzer[30], in das dichotomische Schema eingefügt; dessen Erweiterung in das Schema ‘Gefühl, Verstand und Willenʼ wird erst von Tetens[31] vorgenommen. Die trichotomische Gliederung bleibt mit der Unterscheidung unterer und oberer Vermögen kombiniert, wird in dieser Form von Kant[32] akzeptiert und findet unter seinem Einfluß weitere Verbreitung [33].
Die Lehre vom gesunden Seelenleben heißt gegen Ende der Aufklärungszeit häufig «Physiologie der Seele» und wird der «Pathologie der Seele» als Lehre von den Seelenkrankheiten entgegengestellt [34]. Die letztere bildet meistens einen bloßen Appendix zur Physiologie der Seele; doch hat es mindestens einen Versuch gegeben, die Einteilung der P. noch enger am Vorbild der Medizin zu orientieren, nämlich die von M. Mendelssohn angeregte [35], von K. Ph. Moritz dem «Magazin zur Erfahrungsseelenkunde» zugrundegelegte Einteilung in «Seelennaturkunde», «Seelenkrankheitskunde», «Seelenzeichenkunde» und «Seelendiätetik» [36]. Die «Seelenkrankheitskunde» nimmt hier nicht nur dem Umfang nach einen zentralen Platz ein, sondern ist auch systematisch insofern in die P. integriert, als nach einer rein psychologischen Erklärung der Seelenkrankheiten gesucht wird. Gefordert und in Moritz' «psychologischem Roman» realisiert ist eine genetische Herleitung der Krankheitssymptome, die sie auf ihre Ursache «von Kindheit auf» zurückführt [37].
Die Kur der seelischen Krankheiten soll individualisierend vorgehen [38]. Dies ist nur einer von vielen Belegen für das starke Interesse der empirischen P. an gruppen- und individualspezifischen Merkmalen des Psychischen. Infolgedessen wird zwischen «allgemeiner», «specieller» und «Individual»-Seelenlehre unterschieden [39]. In die spezielle und individuelle P. gehen auch Lehrstücke wie z.B. Temperamentenlehre und Physiognomik ein, die traditionell außerhalb der P. abgehandelt wurden; dies jedoch nicht im Sinne einer äußerlichen Annexion, sondern mit dem Anspruch, auch jene Gebiete psychologisch-theoretisch zu durchdringen. Spezialisierung ist für die empirische P. gleichbedeutend mit Anwendung: «Die reine P. ist die Lehre von den mannigfaltigen Hauptkräften der Seele ... Die angewandte P. ist die Lehre von der Art, diese Prinzipien zur Erklärung besonderer Seelenerscheinungen zu gebrauchen» [40].
Bei einem Vergleich mit der westeuropäischen Tradition – die in der in Rede stehenden Periode noch eines Terminus ‹P.› ermangelt – zeigt sich, daß terminologische Festsetzungen nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung einer Wissenschaft bleiben. In den westeuropäischen Systemen der Klassifikation der Wissenschaften [41] bleiben nämlich die theoretischen und die praktischen, die allgemeinen und die speziellen Aspekte der P. voneinander getrennt und werden höchstens, in der von F. Bacon[42] zu d'Alembert[43] reichenden Tradition, als Teilgebiete der «Wissenschaften vom Menschen» geführt. Dagegen deckt sich der Umfang der deutschen Erfahrungsseelenlehre ungefähr mit dem heutigen Verständnis von P. Eben diese Umfangserweiterung hat allerdings der «Aufhebung» der empirischen P. in einer umfassenderen Disziplin Vorschub geleistet (s. unten C. 1.).
4. Schlußbemerkung. – Im Vorstehenden wurde die empirische P. der deutschen Aufklärung als auf Ch. Wolff zurückgehend und während des 18. Jh. durch Impulse aus Westeuropa (Sensualismus, Materialismus) erheblich überformt geschildert. Dem steht eine geistesgeschichtliche Tradition gegenüber, welche die «Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde» [44] behauptet. Es soll nicht bestritten werden, daß der Pietismus mit seiner Aufforderung zur geistlichen Selbstprüfung eine Prädisposition zur Selbstbeobachtung geschaffen und den biographischen Hintergrundmancher Erfahrungsseelenkundler (man denke an K. Ph. Moritz) geformt hat. Dennoch ist mit H.-J. Schings[45] davon auszugehen, daß sich die aufklärerische Erfahrungsseelenkunde «nicht etwa nur als säkularisierte Nachfolgerin, sondern mehr noch als kritische Widersacherin auf den Pietismus» bezieht. Die Selbstbeobachtungen der Pietisten sind nur noch Material einer Wissenschaft, für die der Pietismus nicht mehr das «Heilmittel» der kranken Seele ist, sondern «Krankheitsursache ersten Ranges».
[1]
Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen ... (21751) Kap. 3 und 5; s. auch Art. ‹P., rationale›.
[2]
z.B. noch J. A. Eberhard: Kurzer Abriß der Metaph. ... (1794); J. G. H. Feder: Grundsätze der Logik und Metaph. (1794).
[3]
Wolff, a.O. [16 zu A.] § 104.
[4]
Ch. A. Crusius: Entwurf der nothw. Vernunft-Wahrheiten (21753) § 424.
[5]
a.O. § 5.
[6]
G. F. Meier: Theoret. Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) § 2.
[7]
Vgl. M. Dessoir: Gesch. der neueren dtsch. P. (21902) 359.
[8]
Ch. Meiners: Kurzer Abriß der P. (1773) 8.
[9]
G. W. Leibniz: Opusc. et fragm. inéd., hg. L. Couturat (Paris 1903) 526.
[10]
Vgl. G. Fabian: Beitrag zur Gesch. des Leib-Seele-Problems (1925) 41ff.
[11]
Wolff: Psychologia empirica (1738). Ges. Werke II/5, hg. J. Ecole (1968) § 2.
[12]
a.O., Praef. XI. XIII.
[13]
Das Substantiv ‹Bewußtsein› wurde von Wolff eingeführt; vgl. A. Diemer: Art. ‹Bewußtsein›, in: Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 888.
[14]
A. G. Baumgarten: Metaphysica (71779) § 535.
[15]
J. N. Tetens: Philos. Versuche über die menschl. Natur 1 (1777) XVII.
[16]
L. H. Jakob: Grundriß der Erfahrungs-Seelenlehre 1 (21795) § 2.
[17]
Vgl. Dessoir, a.O. [7] 128ff.; O. Finger: Von der Materialität der Seele (1961).
[18]
M. Hissmann: Psychol. Versuche, ein Beitrag zur esot. Logik (1777) 245ff.
[19]
Vgl. Dessoir, a.O. [7] 377–386.
[20]
C. Ch. E. Schmid: Empirische P. (21796) 160.
[21]
Vorläufiger Abschluß dieser Entwicklung bei J. G. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschl. Seele (1778). Werke, hg. B. Suphan (1877ff.) 8, 165–235.
[22]
Hissmann, a.O. [18] 161ff.
[23]
Vgl. Dessoir, a.O. [7] 391ff.
[24]
So z.B. bei Tetens, a.O. [15] IV.
[25]
Krüger, a.O. [17 zu A] 71ff.
[26]
E. Ch. Trapp: Vers. einer Päd. (1780, ND 1977) § 25. 28.
[27]
Wolff, a.O. [11] § 522. 616.
[28]
Vgl. Dessoir, a.O. [7] 365f.
[29]
Vgl. S. Jaeger: The origin of the diary method in developmental psychology, in: G. Eckardt u.a. (Hg.): Contrib. to a hist. of devel. psych. (1985) 63–74.
[30]
J. G. Sulzer: Verm. philos. Schr. 1 (1773).
[31]
Tetens, a.O. [15] 2, 553.
[32]
I. Kant: KU Einl. 3 (1790). Akad.-A. 5, 177.
[33]
Vgl. E. R. Hilgard: The trilogy of the mind: Cognition, affection and conation. J. Hist. behav. Sci. 16 (1980) 107–117.
[34]
So bei Jakob, a.O. [16]; J. G. K. Ch. Kiesewetter: Faßliche Darst. der Erfahrungsseelenlehre (1806).
[35]
Der Vorschlag Mendelssohns wird erwähnt durch K. Ph. Moritz: Einl. zum Magazin für Erfahrungsseelenkunde (1783). Werke, hg. H. Günther 3 (1981) 104, findet sich jedoch nicht in Mendelssohns Werken.
[36]
Moritz, a.O.
[37]
Anton Reiser (1785). Werke 1 (1981) 336.
[38]
S. Maimon: Über den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde (1791). Werke, hg. V. Verra 3 (1970) 367f.
[39]
Schmid, a.O. [20] 26.
[40]
Maimon, a.O. [38] 247.
[41]
Vgl. B. M. Kedrow: Klassifizierung der Wiss. 1 (1975).
[42]
F. Bacon: Of the advancement of learning. Works, hg. J. Spedding u.a. 4 (ND 1962).
[43]
J. L. d'Alembert: Explication détaillée du système des connaiss. humaines (1751). Oeuvres 1 (ND Genf 1967).
[44]
F. Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. Z. dtsch. Philol. 72 (1953) 144–158.
[45]
H.-J. Schings: Melancholie und Aufklärung (1977) 137.
R. Sommer: Grundzüge einer Gesch. der dtsch. P. und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller (1892). – M. Dessoir s. Anm. [7]. – G. Fabian s. Anm. [10]. – O. Finger s. Anm. [17]. – G. Sauder: Empfindsamkeit 1 (1974). – H.-J. Schings s. Anm. [45]. – J. von Kempski: Hermann Samuel Reimarus als Ethologe, in: H. S. Reimarus: Allg. Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe, hg. J. von Kempski 1. 2 (1982) 1, 21–56.
C. Der deutsche Idealismus und die P. – 1. Vorbemerkung. – Der Wirkungsgeschichte des deutschen Idealismus in der P., die in Gesamtdarstellungen der P.-Geschichte derzeit im allgemeinen unberücksichtigt bleibt [1], wird im folgenden im engen Anschluß an die terminologisch fixierte Begrifflichkeit nachgegangen. Dabei zeigen sich allerdings zwei Schwierigkeiten:
a) Gegen Ende der Aufklärungsperiode setzt, modern ausgedrückt, eine immer stärkere Tendenz zur «interdisziplinären» Behandlung der P. ein. Sie geht zunächst darauf, das Ideal eines «philosophischen Arztes» [2] zu realisieren, und hat demgemäß eine Annäherung zwischen Medizin und empirischer P. zur Folge. E. Platner, der 1772 den aus der Renaissance stammenden Begriff der Anthropologie wiederbelebt, bestimmt sie noch eng als Betrachtung von «Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zu einander» [3]. Etwa gleichzeitig mit dem Auftreten der medizinischen Anthropologie erhält der französische Sensualismus, vor allem bei C. A. Helvétius[4], eine historisch-soziologische, im damaligen Sprachgebrauch «moralische» Ausrichtung, was zu einer Erweiterung des Anthropologie-Konzepts führt. Um 1800 ist es fest etabliert und wird im allgemeinen, unter leichten terminologischen Varianten, in physiologische, psychologische und historische Anthropologie [5] unterteilt. Die P. erscheint bis weit ins 19. Jh. demgemäß unter dem Titel ‹Anthropologie›, gegebenenfalls mit der Präzisierung ‹psychische (oder psychologische) Anthropologie›. Diesem Sprachgebrauch und der ihm zugrundeliegenden Denkweise folgen die Philosophen des deutschen Idealismus und bestärken ihn ihrerseits.
b) Der Idealismus ist durch eine von Kant bis Hegel immer stärker hervortretende Abwehr psychologistischer Fehldeutungen und eine damit einhergehende Abwertung der Leistungen der empirischen P. gekennzeichnet. Für Hegel «befindet sich [die P.] noch immer in einem höchst schlechten Zustande» und hat «wie die Logik ... von der allgemeinern Bildung des Geistes und dem tiefern Begriffe der Vernunft noch am wenigsten Nutzen gezogen» [6], so daß sie im Grunde seit Aristoteles keine Fortschritte gemacht hat [7]. Wegen ihrer Trivialität soll die empirische P. als philosophische Propädeutik den Gymnasien vorbehalten bleiben [8]. Der deutsche Idealismus dringt mithin auf Verwissenschaftlichung der P., trägt aber die Standards der Wissenschaftlichkeit von außen an die schon bestehende Wissenschaft ‘P.ʼ heran. Für die Aufnahme seiner Programmatik durch die empirische P. ist damit keine günstige Atmosphäre geschaffen.
2. Kant und die Folgen.Kant übernimmt von der empirischen P. seiner Zeit zwei zentrale Komponenten der Vernunftkritik, nämlich die «horizontale» (Denken, Fühlen, Wollen) und die «vertikale» Ordnung der Seelenvermögen (einschließlich der Bestimmung der unteren Seelenvermögen als rezeptiv und der oberen als spontan) und die Lehre vom inneren Sinn. Umgekehrt beeinflußt er die empirische P. in methodologischer Hinsicht. Zuvörderst ein befreiender Schritt, die Beschränkung der P. auf empirische P. Die rationale P. beruht auf Paralogismen (formalen Fehlschlüssen) der reinen Vernunft. Das «Ich denke» («der alleinige Text der rationalen P.») ist die transzendentale Voraussetzung jeglicher Erfahrung, berechtigt jedoch nicht zur Annahme einer immateriellen, unsterblichen, personalen und spirituellen Substanz namens ‘Seeleʼ [9]. Die rationale P. «fällt ... als eine, alle Kräfte der menschlichen Vernunft übersteigende Wissenschaft und es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studiren» [10].
Jedoch bleibt auch die empirische P., als «Physiologie des inneren Sinnes» [11], «jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt»; und zwar deshalb, weil weder Mathematik noch Experiment in ihr anwendbar sind. Mathematik nicht, weil die Zeit als Anschauungsform des inneren Sinns nur eine Dimension hat; und das Experiment nicht, weil die «innere Beobachtung» nur eine gedankliche, aber keine reale Analyse zuläßt, «ein anderes denkendes Subject sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns [nicht] unterwerfen läßt», und die Beobachtung den Zustand ihres Gegenstandes «alterirt und verstellt». P. ist demnach nur als «eine historische und ... so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes» möglich [12]. Eine solche Naturlehre ist übrigens nicht primär auf die Selbstbeobachtung zu gründen; denn diese, als «methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen», führt «leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn» hin. Als methodische Quelle bleibt also nur das einfache «Aufmerken auf sich selbst» [13] und als «Hülfsmittel» historische und literarische Produktionen aller Art, bis hin zu – Reisen [14].
Kants Vorlesungen zur empirischen P. sind in seiner ‹Anthropologie in pragmatischer Hinsicht› niedergelegt. ‹Pragmatisch› ist hier im Gegensatz zu ‹physiologisch› gedacht. Die pragmatische Anthropologie geht «auf das, was er [der Mensch] als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll» [15]. Sie ist also durchaus «anwendungsorientiert», nur daß Subjekt und Objekt der Anwendung miteinander identisch sind. Die anthropologische Didaktik, die nach den drei seelischen Vermögen gegliedert ist, enthält ungefähr den Lehrbestand der damaligen Seelennatur- und Seelenkrankheitskunde, während die anthropologische Charakteristik «specielle P.» und «psychologische Semiotik» in sich vereint.
Die Kant-Rezeption durch die empirische P. beginnt schon vor Erscheinen der ‹Anthropologie› (1798). C. Ch. E. Schmid, der auch Ansätze K. L. Reinholds rezipiert und Impulse aus Moritz' ‹Magazin› aufnimmt, schaltet die rationale P. aus und nimmt Kants Einwände gegen Mathematik und Experiment in der P. auf. Dennoch will er die P. als «Wissenschaft in weiterm Sinne» anerkennen, weil sie als «systematisches, d.h. nach Principien geordnetes Ganzes der Erkenntnis» ausgeführt werden kann [16]. Voraussetzung der P. ist der «innere Sinn», ihr Gegenstand das «Gemüth», nämlich die «Seele, insofern wir dieselbe durch Vorstellung, als das Subjekt der Vorstellung erkennen» [17]. Die Ausführung der Schmidschen P. basiert auf der Lehre von den drei Seelenvermögen und zeichnet sich, wie auch andere von der kritischen Philosophie beeinflußte Werke [18], durch eingehende Berücksichtigung der physiologischen Grundlagen aus.
Nach der Jahrhundertwende erscheint Kant als Gewährsmann gegen die idealistischen Systemphilosophen. Schon 1803 fordert J. F. Fries, «auf den reinen Kantianismus zurückzukommen» [19], wobei freilich transzendentale durch anthropologische Vernunftkritik und Kants schematische Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Vernunft durch eine ein Ganzes bildende «Theorie des Erkenntnißvermögens» zu ersetzen sind J [20]. Vorbedingung dafür wäre eine «allgemein anerkannte Theorie der psychischen Anthropologie», welche die systematische Aufstellung der Metaphysik ermöglichen würde [21]. Dabei unterscheidet Fries zwischen philosophischer Anthropologie, als «Theorie des inneren Lebens», und psychischer Anthropologie oder Erfahrungsseelenlehre, als «innerer Experimentalphysik, deren Versuche und Beobachtungen jeder nur in sich selbst macht» [22]. Die psychische ist (neben der somatischen und der vergleichenden) Teil der physiologischen Anthropologie und als solche – in Umkehr der Kantschen Auffassung – die «eigentliche Wissenschaft vom Menschen», während die pragmatische Anthropologie «mehr Kunst im Leben» bleibt [23].
Fries gehört zu den entschiedensten Vertretern einer Richtung, die Kant als Protagonist für die bis etwa 1850 reichende «Renaissance der empirischen P.» (s. unten D. 2.) in Anspruch nimmt. Man geht hierbei davon aus, daß Kant einerseits alle «transcendente oder metaphysische P.» verbannt und andererseits eine «gründlichere und eigentlich wissenschaftliche Abfassung der Aufgabe der P.» formuliert habe [24]. Zum Teil an Fries anschließend, verteidigt J. B. Meyer dann 1870 die Ansicht, daß Kants transzendentale Deduktion des Apriori «auf dem Wege psychologischer Selbstbesinnung» gewonnen wurde [25], nimmt die «wissenschaftliche Bedeutung der empirischen P.» gegen Kants eigene Einwände in Schutz und will die «idealistische Theorie zur Erklärung der von der empirischen P. dargelegten Thatsachen» als «psychologische Idee der rationalen P.» gelten lassen; wer durch Vereinigung von psychologischer Empirie und Theorie die P. als Wissenschaft begründet, «handelt nicht wider Kant, sondern im Sinne Kant's» [26].
Kants Idee der pragmatischen Anthropologie findet in der P. des frühen 19. Jh. nur geringen Widerhall; terminologisch und zum Teil der Sache nach noch am ehesten bei F. E. Beneke. In der Abweisung des Physiologismus ist Beneke mit Kant einig, nicht jedoch in dessen anthropologischem Methodenpluralismus. Die P. soll sich «lediglich auf Thatsachen des Selbstbewußtseins» stützen; dies gilt auch für ihre praktische Anwendung. Daher soll von «Pragmatischer P.» anstelle von «Pragmatischer Anthropologie» gesprochen werden. Die Pragmatische P. steht nach Beneke zwischen der theoretisch-allgemeinen P. und ihren «speciellen praktischen Anwendungen», und zwar als Wissenschaft und nicht als Kunstlehre, da sie die «nach dem Individuellen hin liegenden Bildungsformen» des Seelischen in «umfassenderen Zusammenhang» stellt [27].
3. Fichte und die Folgen. – Kein anderes Systemprogramm des deutschen Idealismus ist im gleichen Maße der Verwechslung mit empirischer P. ausgesetzt gewesen wie J. G. Fichtes «Wissenschaftslehre». Da Fichte psychologistische Deutungen energisch abwehrt, findet seine Philosophie in der zeitgenössischen P. nur wenig Anklang, obwohl sie durchaus geeignet gewesen wäre, ihr eine neue Orientierung zu geben; und zwar durch folgende Grundsätze: Betrachtung des Bewußtseins als ein «für sich bestehendes ... Phänomen» und seine Erklärung «aus sich selbst» [28]; konsequente Entsubstantialisierung des Bewußtseins, seine Auffassung als «ein thätiges, in seiner Thätigkeit Dargestelltes» [29] und die daraus folgende Polemik gegen das Konzept dinglicher, kausal wirkender seelischer Vermögen; und das in der Schrift über die ‹Thatsachen des Bewusstseyns› enthaltene Programm einer Darstellung der notwendigen Entwicklungsstufen des Bewußtseins.
In der P. des 19. Jh. findet sich sowohl Polemik gegen die Vermögenstheorie (z.B. bei J. F. Herbart[30] und bei E. Stiedenroth[31]) als auch eine genetische Auffassung des Psychischen (z.B. bei F. E. Beneke[32]), doch ist abgesehen von Herbart, der Fichtes Schüler war, im einzelnen schwer zu rekonstruieren, inwieweit solche Ansätze auf Fichte zurückgehen. Stein des Anstoßes für die Psychologen ist Fichtes Lehre von der Identität des Vorstellens mit dem Vorgestellten im Ich [33]. Eine «fichtianische» P. tritt erst nach 1850 auf, und zwar bei K. Fortlage, der Fichtes Wissenschaftslehre mit den Ergebnissen der empirischen P. und der Naturforschung verbinden will [34]. Er sieht in Fichte wegen dessen Entdeckung «der Duplicität von Subject und Object im Ich» «den Urheber einer neuen Periode der psychologischen Forschung» [35], nimmt aber eine originelle Modifikation an der Wissenschaftslehre vor, indem er das Bewußtsein als «Fragethätigkeit» bestimmt, die in einer Triebhemmung besteht und die «Aufhebung der Wirksamkeit eines Triebes durch einen Gegentrieb bedeutet» [36]. Fortlages «System der P. als empirischer Wissenschaft» [37] bleibt Episode, als spezifisch fichtianische Variante der letzlich gescheiterten Vermittlungsversuche zwischen den idealistischen Systemen und den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft.
4. Schelling und die Folgen. – Empirische P. ist bereits «P. ohne Seele», wenn sie auf den Grundsätzen Kants oder Fichtes aufbaut. Anders steht es mit der «Identitätsphilosophie» F. W. J. Schellings. Hier wird die Seele wieder in die P. eingeführt, und zwar in ausdrücklicher Wendung gegen den cartesischen Dualismus. Da eine «dem Leib entgegengesetzte Seele» «gar nicht existirt», kann alle «wahre Wissenschaft des Menschen ... nur in der wesentlichen und absoluten Einheit der Seele und des Leibes, d.h. in der Idee des Menschen ... gesucht werden». Infolgedessen ist «zwischen Physik und P. kein realer Gegensatz denkbar», denn auch «wahre Naturwissenschaft ... kann nur aus der Identität der Seele und des Leibes aller Dinge ... hervorgehen». Insofern die empirische P. «die Seele nicht in der Idee, sondern der Erscheinungsweise nach kennt», tendiert sie dazu, «alles Hohe und Ungemeine herabzuwürdigen» und kann keinesfalls an die Stelle der Philosophie gesetzt werden [38].
Während Schellings spätere Philosophie ohne Einfluß auf die P. bleibt, inspiriert sein «Identitätssystem» eine psychologische Richtung, die traditionell in die «romantische Naturphilosophie» eingeordnet wird und in der ersten Hälfte des 19. Jh. überwiegend unter Ärzten und Naturwissenschaftlern zahlreiche Anhänger findet. Die «romantische P.» ist vielgestaltig, findet aber den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Einordnung der P., als Teilgebiet der Anthropologie, in die Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaft, sofern letztere nicht mechanistisch, sondern organisch aufgefaßt wird; ferner in der Annahme, daß die Seele Idee ist, welche sich im Organismus und seiner Entwicklung «darlebt» [39].
Nach ihrem Verschwinden wird es üblich, die romantische P. als «spekulativ» zu bezeichnen [40], doch ist diese (Ab-)Wertung nur bedingt richtig. Einerseits tritt das spekulative Vorgehen (als Deduktion aus apriorischen Bestimmungen) bei vielen Psychologen der Romantik eher zurück, so bei C. G. Carus[41] zugunsten einer morphologischen, an Goethe geschulten Sichtweise, oder bei G. H. Schubert[42] zugunsten einer erbaulich-religiösen Denkform. Andererseits verdeckt das Etikett ‘spekulativʼ die von der romantischen Anthropologie und P. geleistete umfangreiche empirische Arbeit.
Eine im engeren Sinne «spekulative», mit der Begrifflichkeit der Schellingschen Philosophie arbeitende P. liegt bei C. A. Eschenmayer vor. Die empirische P. enthält die «blos nakte Beschreibung der Geistes-Phänomene» [43], betrachtet aber nicht nur den geistigen, sondern auch den physischen und den «gemischten» Organismus. Die reine (rationale, spekulative) P. leitet den Zusammenhang der empirisch aufgewiesenen Vermögen vermittels Reflexion und idealer Anschauung ab. Die so gefundene «innere Architektonik des Geistes» verbleibt in der Subjektivität; die Objektivität ist ein Reflex der Subjektivität, der Nachweis, daß in ihr die für die Subjektivität aufgefundenen «allgemeinen Geseze und Formeln» gelten, wird in der angewandten P. gegeben [44]. In der Durchführung dieses Programms preßt Eschenmayer die traditionellen Seelenvermögen in Schemata der «Triplicität» und arbeitet fortwährend mit mathematischen Analogien, was u.a. zu der Forderung führt, alle qualitativen Bestimmungen der Sinne «unter meßbare dem Calcul unterworfene Beziehungen zu stellen» [45].
Wie andere romantische Psychologen nach ihm, räumt Eschenmayer dem Traum, dem «tierischen Magnetismus» und dem Hellsehen eine zentrale Stelle ein. Noch wenig ausgeprägt ist bei ihm der Vergleich zwischen tierischem und menschlichem Seelenleben, der dann unter dem Eindruck der von G. Cuvier begründeten vergleichenden Anatomie bei C. F. Burdach[46] als «comparative» und bei C. G. Carus[47] als «vergleichende» P. ein neues Teilgebiet der P. abgibt und auch zur intensiven Bearbeitung der Tier-P. führt, deren Gegenstand von P. Scheitlin als (nur den Tieren, nicht aber den Pflanzen zukommende) «Unterscheidungsgabe» [48] und von L. Oken[49] im Unterschied zur Physiologie als die «Verrichtungen des ganzen Organismus» bestimmt wird. Unter den «comparativen» Gesichtspunkt fallen auch die Menschenrassen und geschichtlichen Völker, wie denn bei H. Steffens die Geschichte des menschlichen Geschlechts Gegenstand der «psychologischen Anthropologie» ist [50]. Der Grundsatz der Leib-Seele-Identität begünstigt die Integration von Physiognomik und Kraniologie in eine übergreifende Lehre von der «Symbolik der menschlichen Gestalt» [51].
Grundlage der P. ist die genetische Methode, die sich nach Carus «auf die nur dem inneren Sinne zugänglichen geistigen Erscheinungen» ebenso anwenden läßt wie auf die mit den äußeren Sinnen wahrnehmbare Natur [52]. Dies führt dazu, daß erstmals in der Geschichte der P. das Unbewußte als umfassendes Erklärungsprinzip eingeführt wird: «Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins» [53]. Der allgemeine Entwicklungsgang des Psychischen vollzieht sich nach dem Schema ‹Unbewußtsein – Weltbewußtsein – Selbstbewußtsein›.
Die genetisch-vergleichende P. der Romantik nimmt in idealistischer Einkleidung manche Einsichten der Evolutionstheorie vorweg, aber mit Auftritt und Durchsetzung der Darwinschen Theorie ist trotz der Proteste z.B. von Carus[54] ihr Untergang besiegelt. Eine Ausnahme hiervon bildet allenfalls die P. von E. von Hartmann, der um die Jahrhundertmitte explizit an Schelling anknüpft [55] und dem, unter lamarckistischen Vorzeichen, ein zeitweiliger Anschluß an die Biologie gelingt.
5. Hegel und die Folgen. – Die «P. der Hegelschen Schule» [56] knüpft vorwiegend an die letzte Fassung der ‹Enzyklopädie› Hegels an. In ihr machen Anthropologie, Phänomenologie des Geistes und P. zusammen die Philosophie des subjektiven Geistes aus. Die Anthropologie nimmt den subjektiven Geist «an sich und unmittelbar, ... [als] Seele oder Naturgeist» zum Gegenstand; die Phänomenologie «für sich oder vermittelt, noch als identische Reflexion in sich und in Anderes»; die P. den «sich in sich bestimmenden Geist, als Subject für sich»; oder verkürzt: Seele, Bewußtsein, Geist (als solcher) sind Gegenstand von Anthropologie, Phänomenologie und P. [57]: eine Trias von Wissenschaften, die ihrerseits nicht äußerlich nebeneinandergestellt werden dürfen, da sie notwendigen Momenten des subjektiven Geistes in seiner Bewegung entsprechen.
Die traditionelle, am cartesischen Dualismus orientierte P. ist wissenschaftlich verfehlt. Als empirische P. geht sie auf das «Betrachten und Beschreiben der besonderen Geistesvermögen» aus, als rationale P. bestimmt sie ihren Gegenstand «durch reine Verstandeskategorien». Beide werden der Natur des Geistes nicht gerecht. Die rationale P. betrachtet ihn als «nur in äußerlicher Beziehung zum Körper stehendes Seelending», die empirische als «bloßes Aggregat von selbständigen Kräften, deren jede mit der anderen nur ... in äußerlicher Beziehung steht». Gefordert ist eine spekulative Behandlung der P., die im Hinblick auf die empirische P. «durch Ableitung [sc. der besonderen Vermögen] aus dem Begriff des Geistes den Beweis der Nothwendigkeit zu liefern [hat], daß im Geiste gerade diese und keine anderen Vermögen sind» [58]. Bloße «Menschenkenntnis» schließlich kann keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen [59].
Der Form nach spekulativ, ist Hegels P. offen für Anregungen aus der Erfahrung. So hat z.B. der «tierische Magnetismus» als empirischer Anhaltspunkt «dazu beigetragen, die unwahre, endliche, bloß verständige Auffassung des Geistes zu verdrängen» [60]. In die Systematik gehen empirische Gehalte ein, die vordem in der P. eine eher randständige Stellung eingenommen hatten, so z.B. die Lehre von der Seelenkrankheit («Verrücktheit»), welche als notwendige, durch die Entzweiung der fühlenden Seele mit sich selbst bedingte Entwicklungsstufe aufgefaßt wird [61], oder die Sprache, die in ihrem Zusammenhang mit dem System der Tätigkeit der Intelligenz gedacht werden muß [62]. Auch läßt die spekulative Ableitung der Seelenvermögen deren traditionelle Konzeption nicht unverändert, wie etwa an Hegels origineller Konzeption des Gedächtnisses als ausschließlich auf Zeichen beruhend, die mechanische Entäußerung der Intelligenz bewirkend, ersichtlich wird [63].
Die Philosophie des subjektiven Geistes wird von Hegels «orthodoxen» Anhängern noch mehrere Dekaden nach seinem Tode beinahe unverändert tradiert. Allerdings wird Hegels enge Fassung des P.-Begriffs durchwegs aufgegeben. J. E. Erdmann[64] und K. Rosenkranz[65] setzen P. und Philosophie bzw. Wissenschaft des subjektiven Geistes gleich und teilen sie in Anthropologie, Phänomenologie und Pneumatologie (d.h. P. im Sinne Hegels) ein, tasten die Systematik aber nicht an. Andere Hegelianer, z.B. K. L. Michelet[66], passen sich in Gliederung und Terminologie weitgehend der rezipierten Auffassung der empirischen P. an. Dennoch sieht sich die hegelianische P. um die Mitte des 19. Jh. wachsender Kritik ausgesetzt. Der 1842/43 von F. Exner[67] im Namen der herbartschen Schule vorgetragene Angriff findet auch unter Nicht-Herbartianern vielfach Zustimmung: so z.B. bei Ch. Weisse, der die P. in die Naturphilosophie einordnet, sie zu enger Zusammenarbeit mit der Physiologie auffordert und auf dem Standpunkt der P. nur eine empirische Bearbeitung des Vernunft- und Geisteslebens für möglich hält [68]. Im Zuge des «Materialismus-Streits» unternimmt es dann J. Schaller, eine solchen Anforderungen entsprechende hegelianische P. zu entwerfen. Schaller akzeptiert für die P. die naturwissenschaftliche Methode (einschließlich, unter gewissen Einschränkungen, des Experiments), nimmt aber, indem er ihre Grundlage in der «unbefangenen Beobachtung» [69] sieht, gerade in ihrem Namen die P. gegen die mechanistische Auffassung des Organismus in Schutz. Ihr gegenüber macht er Hegels dynamisch-prozessuale Konzeption des Organismus geltend und ist bestrebt, auf dem Umweg über die Physiologie den Hegelianismus in der P. wiederherzustellen.
Dieser letzte Aufschrei bleibt in der sich etablierenden experimentell-naturwissenschaftlichen P. ohne Resonanz. W. Wundt – dessen Zeugnis wegen seiner hohen Einschätzung des deutschen Idealismus Gewicht hat – räumt zwar ein, daß Hegel «die Seelensubstanz aus ihrer letzten Zuflucht verscheucht» habe, kann in dessen P. aber lediglich «die Einordnung der alten Vermögensbegriffe in die Schablone einer dreigliedrigen gekünstelten Dialektik» erblicken [70]. Damit ist zunächst das letzte Wort über die P. Hegels gesprochen.
[1]
Eine Ausnahme ist: F.-L. Mueller: Hist. de la Psychologie (Paris 1960) Kap. 18.
[2]
Vgl. hierzu O. Marquard: Art. ‹Anthropologie›, in: Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 362–374; das Schlagwort tritt sogar als Titel einer Zeitschrift auf: Anon. [M. A. Weickard]: Der philos. Arzt (1775f.).
[3]
E. Platner: Anthropol. für Ärzte und Weltweise (1772) X.
[4]
C. A. Helvétius: De l'esprit, De l'homme. Oeuvres 1–3 (London 1776f.).
[5]
J. Ith: Versuch einer Anthropol. (Winterthur 21803) 59.
[6]
G. W. F. Hegel: Enzykl. (1830) § 444.
[7]
a.O. § 378.
[8]
Berliner Schr., hg. J. Hoffmeister (1956) 548.
[9]
I. Kant: KrV A 341ff./B 399ff.
[10]
A 382.
[11]
A 381.
[12]
Metaph. Anfangsgründe der Naturwiss. (1786). Akad.-A. 4, 471.
[13]
Anthropol. in pragmat. Hinsicht (1798). Akad.-A. 7, 132.
[14]
a.O. 120.
[15]
119.
[16]
C. Ch. E. Schmid: Empir. P. (21796) 15.
[17]
a.O. 160ff.
[18]
Vgl. L. H. Jakob: Grundr. der Erfahrungs-Seelenlehre (21795).
[19]
J. F. Fries: Reinhold, Fichte und Schelling (1803). Werke, hg. G. König/L. Geldsetzer 24 (1978) 309.
[20]
Neue oder anthropol. Kritik der Vernunft (21828, ND 1935) XIX.
[21]
a.O. [19] 473.
[22]
a.O. [20] 36.
[23]
Hb. der psych. Anthropol. 1 (21837) 1.
[24]
C. H. Scheidler: Hb. der P. (21833) 294.
[25]
J. B. Meyer: Kant's P. (1870) 304f.
[26]
a.O. 296.
[27]
F. E. Beneke: Pragmat. P. (1850) 16–19.
[28]
J. G. Fichte: Die Thatsachen des Bewusstseyns (1817). Werke, hg. I. H. Fichte 2 (1845) 622.
[29]
Vergleichung des vom Herrn Prof. Schmid aufgest. Systems mit der WL (1795), a.O. 445.
[30]
J. F. Herbart: P. als Wissenschaft (1824). Werke, hg. K. Kehrbach 5 (1887f.) Einl.
[31]
E. Stiedenroth: P. (1824).
[32]
Beneke: Psychol. Skizzen (1825/26).
[33]
Herbart, a.O. [30] § 24–27; G. E. Schulze: Psych. Anthropol. (31827) § 19.
[34]
K. Fortlage: Beiträge zur P. (1875) VI.
[35]
a.O. 422.
[36]
426.
[37]
System der P. als empir. Wiss. aus der Beob. des inneren Sinnes (1855).
[38]
F. W. J. Schelling: Vorles. über die Methode des akad. Studiums (1802). Werke, hg. K. F. A. Schelling I/5, 270f.
[39]
C. G. Carus: Psyche (21851) 34.
[40]
So in R. Eisler: Wb. der philos. Begr. 2 (41929) 536.
[41]
Carus, a.O. [39] 34.
[42]
G. H. Schubert: Die Gesch. der Seele (1830).
[43]
C. A. Eschenmayer: P. (1817, ND 1982) 4.
[44]
a.O. 424.
[45]
48.
[46]
K. F. Burdach: Comparative P. (1842).
[47]
Carus: Vergleichende P. (1866).
[48]
P. Scheitlin: Versuch einer vollst. Thierseelenkunde 1 (1840) 34.
[49]
L. Oken: Lehrb. der Naturphilos. (31843) § 3585ff.
[50]
H. Steffens: Anthropol. 2 (1823) 356ff.
[51]
Carus: Die Symbolik der menschl. Gestalt (1853).
[52]
Vorles. über P. (1832, ND 1932) 21.
[53]
a.O. [39] 1.
[54]
a.O. [47] 311ff.
[55]
E. von Hartmann: Philos. des Unbewußten (1869).
[56]
F. Exner: Die P. der Hegelschen Schule (1842/44).
[57]
Hegel: Enzykl. § 387.
[58]
a.O. § 378.
[59]
§ 377.
[60]
§ 379.
[61]
§ 402. 408.
[62]
§ 458.
[63]
§ 461–464; vgl. hierzu: E. Scheerer: Ebbinghaus, Herbart and Hegel, in: W. Traxel (Hg.): Proc. of the Intern. Ebbinghaus Symposium (1986).
[64]
J. E. Erdmann: Grundriss der P. (21842).
[65]
K. Rosenkranz: P. oder die Wiss. vom subject. Geist (21843).
[66]
C. L. Michelet: Anthropol. und P. (1840).
[67]
Exner, a.O. [56].
[68]
Ch. H. Weisse: Die Hegel'sche P. und die Exner'sche Kritik. Z. Philos. spekulat. Theol. 13 (1844) 258–297.
[69]
J. Schaller: Das Seelenleben des Menschen (1860) 15ff.
[70]
W. Wundt: Grundzüge der physiol. P. 3 (61911) 736f.
F. Harms: Die P. in ihrer Gesch. 1 (1878). – Ch. S. Brett: A hist. of psychology 3 (1921); in späteren Aufl. wurden die Abschnitte über den dtsch. Idealismus gestrichen. – Ch. Bernoulli: Die P. von Carl Gustav Carus (1925). – F.-L. Mueller s. Anm. [1]. – D. E. Leary: The philos. development of the conception of psychology in Germany, 1780–1850. J. Hist. behav. Sci. 14 (1978) 113–121. – M. Greene: Hegel's conception of psychology, in: R. S. Cohen/M. W. Wartofsky (Hg.): Hegel and the sciences (Dordrecht 1984) 161–191.
D. Die Emanzipation der P.: Impulse und Hindernisse. – 1. Einleitung. – «Kein Theil der Philosophie nimmt gegenwärtig ein so allgemeines Interesse in Anspruch als die P. Besonders von der Naturwissenschaft und Physiologie ist dies Interesse angeregt» [1]. Dieser 1860 geschriebene Satz beschreibt adäquat das geistige Klima, in dem die naturwissenschaftlich-experimentelle P. entstehen und sich von der Philosophie emanzipieren konnte. In der Tat ist das Verhältnis von Naturwissenschaft und P. das leitende Thema in der Mitte des 19. Jh.; das leitende, aber nicht das einzige, denn in derselben Periode beginnt die P. sich auch in Richtung auf die Sozialwissenschaften zu öffnen. Insgesamt steht die P. im Zeichen einer «neuen Sachlichkeit», indem sie gegen die Zumutungen der idealistischen Systemphilosophie bei der empirischen Einzelforschung Zuflucht sucht und sich als «positive Wissenschaft» zu verstehen beginnt. Sie stützt sich dabei nicht nur auf die Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft, sondern teilweise auch auf Konzepte aus der vorkritischen Periode der Philosophie.
2. Fortführung traditioneller P. – Trotz des Einschnittes, den der deutsche Idealismus für die allgemeine Philosophiegeschichte bedeutet, wurde auch im Deutschland des 19. Jh. die Tradition der empirischen P. des 18. Jh. fast unverändert fortgeführt. Diese «konservative» Richtung [2] definiert den Gegenstand der P. als «innere Zustände», «Veränderungen» oder «Bewußtseinstatsachen», die mit dem inneren Sinn oder – da man dessen Existenz zu bezweifeln begann [3] – in der inneren Erfahrung aufgefaßt werden. Die empirische P. beschreibt die psychischen Erscheinungen («Psychographik») und faßt sie unter Gesetze («Psychonomie») [4]. Sie ist insofern autonom, als sie weder auf Metaphysik noch auf Mathematik begründet ist und auch der Physiologie nur als Hilfswissenschaft bedarf. Die P. ist Grundlage aller philosophischen Disziplinen und Hilfswissenschaft der meisten positiven Wissenschaften. In ihrer konkreten Durchführung braucht sie den Begriff des seelischen Vermögens, da die Inhalte der inneren Erfahrung qualitativ ungleichartig sind und ihr steter Wechsel nur durch Annahme «bleibender Eigenschaften des Geistes» unter Gesetze gefaßt werden kann [5]. Als Grundvermögen haben sich endgültig Erkenntnis, Gefühl und Begehren durchgesetzt.
Auch F. E. Benekes «Neue P.» [6] ist ein Versuch, die empirische P. in ihre Rechte als philosophische Grundwissenschaft wieder einzusetzen, aus denen sie der deutsche Idealismus vertrieben hatte. Das Neue an seiner P. ist die Anwendung der genetischen Methode auf das überlieferte Konzept des seelischen Vermögens. Die Seelenvermögen sind ursprünglich unbewußte «Angelegtheiten», die sich infolge ihrer «Ausfüllung» durch äußere Reize allmählich entwickeln. Jede Seelentätigkeit kann entsprechend ihren Beziehungen zu anderen Seelentätigkeiten als eines der drei Grundvermögen auftreten; so ist z.B. das Gefühl das «unmittelbare Sichmessen» einer Tätigkeit an zeitlich benachbarten Tätigkeiten [7]. Tätigkeiten werden bewußt, wenn sie durch Aufnahme neuer Elemente einen größeren psychischen «Raum» einnehmen, und verdrängen dadurch weniger «großräumige» Tätigkeiten aus dem Bewußtsein [8], die dann als unbewußte (psychische, nicht materielle) «Spuren» verbleiben [9].
In Westeuropa werden die eigenen nationalen Denktraditionen nur wenig berührt vom deutschen Idealismus fortgeführt. Im Rahmen der schottischen common-sense-Philosophie definiert J. Beattie 1790 die P. als Wissenschaft von den «faculties of the human mind» [10]. Die schottische Philosophie bleibt weiterhin am Vermögensbegriff orientiert, widerstrebt aber zunächst der Reduktion auf Grundvermögen; erst bei W. Hamilton, der Kant in psychologisierter Form rezipiert, setzt sich die Dreigliederung («knowledge, feeling, conation») durch [11]. Wie die kontinentalen Psychologen, so definiert auch Hamilton die P. als Wissenschaft von den «phaenomena, or modifications, or states of the Mind» [12]; wie jene faßt er die P. als Grundwissenschaft der Philosophie und insbesondere der Metaphysik auf [13].
Die schottische Vermögens-P. findet bedeutende internationale Resonanz, vor allem in Frankreich [14] und in den Vereinigten Staaten [15], aber auch in Deutschland z.B. bei Schulze und Beneke. In Großbritannien selbst trifft sie auf Opposition seitens der empiristischen Assoziationstheorie. Deren Wiederbelebung durch J. Mill geschieht zunächst noch nicht als ‘P.ʼ, sondern als «Analysis of the Phaenomena of the Human Mind» [16]. Unter dem Einfluß Hamiltons setzt sich dann die Bezeichnung ‹P.› durch und gleichzeitig ein offensives psychologistisches Programm; so konstatiert J. St. Mill 1856, daß die englischen Denker jetzt wieder erkannt hätten, daß die P. unentbehrliche Grundlage von Moral, Politik und Erziehung sei [17]. Entgegen den bei J. Mill noch rein passiv-reaktiv und extrem elementaristisch aufgefaßten seelischen Erscheinungen anerkennen die späteren Assoziationstheoretiker die Existenz psychischer Spontanaktivität (A. Bain[18]) und die Möglichkeit des Entstehens qualitativ neuer Eigenschaften seelischer Erscheinungen durch Assoziation («mental chemistry» nach J. St. Mill[19]). Bei J. Mill war die Physiologie noch völlig außer Betracht geblieben; seine Nachfolger suchen stärkeren Anschluß an die Physiologie, lehnen jedoch unter Verweis auf die Unmöglichkeit, aus den Gesetzen der neuralen Organisation die Sukzession der psychischen Phänomene zu erklären, eine Reduktion der P. auf die Physiologie ab [20]. Beobachtung und Experiment sind die Methoden der P., doch bleibt das Experiment programmatisch. Die Beobachtung beschränkt sich nicht auf Introspektion; vielmehr setzt gerade J. St. Mill die genetische Rekonstruktion der ursprünglichen seelischen Elemente als «psychologische Methode» der von Hamilton ausschließlich verwendeten Introspektion entgegen [21]. Auch sind Beobachtung und Experiment nur unter einfachen Bedingungen, nicht in der sozialen Wirklichkeit einsetzbar. J. St. Mill überweist daher die Erforschung der menschlichen Charakterbildung der «Ethologie», die sich deduktiver Anwendung der von der P. ermittelten «einfachen Gesetze des Geistes» auf komplexe Bedingungskombinationen bedient [22].
3. P., begründet auf Metaphysik, Mathematik und Erfahrung.J. F. Herbart erneuert (auch terminologisch [23]) die rationale P. der vorkritischen Philosophie, indem er die Annahme einer einfachen Seelensubstanz zur unabweislichen metaphysischen Voraussetzung der P. erklärt. Wie in Leibnizens Monadenlehre besteht alle Seelentätigkeit bei Herbart in der Vorstellung, nur ist bei ihm die Seele nicht selbsttätig, sondern reagiert auf äußere Einwirkungen, indem sie ihnen die ihr eigene Beharrungstendenz entgegensetzt. Vorstellungen sind Selbsterhaltungen der Seele. Da sämtliche psychischen Erscheinungen aus ihnen abzuleiten sind, wird die P., als «Lehre von den inneren Zuständen einfacher Wesen» [24], zur «Mechanik der Vorstellungen». Voraussetzung für die Anwendung der Mechanik ist der Begriff der Kraft. Seine Anwendbarkeit in der P. ergibt sich aus der Tatsache, daß ungleichartige Vorstellungen wegen der Einheit der Seele einander hemmen; Vorstellungen werden «Kräfte, indem sie einander widerstreben» [25]. Die Statik des Geistes berechnet das Gleichgewicht, die Mechanik des Geistes die Bewegung der Vorstellungen [26]; in bezug auf ihre Methode werden sie auch als «Mathematische P.» bezeichnet.
Die Anwendung von Mathematik auf P. ist (entgegen Kant) u.a. deswegen möglich, weil die innere Erfahrung nicht nur auf der Zeit –, sondern auch in der Intensitätsdimension variiert; sie ist überdies notwendig, weil nur exakt aus allgemeinen Prämissen hergeleitete Sätze an der Erfahrung überprüft werden können [27]: «Mathematische P. steht der Natur der Sache nach zwischen Metaphysik und Erfahrung» [28]. Die Idee der mathematischen Formalisierung psychischer Prozesse geht auf das 18. Jh. zurück [29], doch ist Herbart der erste, der sie detailliert ausführt. Die Messung psychischer Größen ist nach Herbart erst auf dem Hintergrundeiner schon ausformulierten Mathematischen P. möglich [30], wird aber von ihm und seinen Schülern nicht realisiert; psychologische Experimente hält Herbart für technisch undurchführbar und ethisch bedenklich [31]. Infolgedessen scheitert die Durchführung der Mathematischen P. an dem nicht gelösten Problem der Messung – eine Einschätzung, die auch von einigen Herbartianern [32] geteilt wird.
Um 1840 beginnt die Bildung einer herbartianischen Schule in der P., die im deutschen Sprachraum über mehrere Jahrzehnte führend bleibt und der P. zwei neue Teildisziplinen zuführt (s. unten, E. 6.). Die metaphysische Grundlegung der P. tritt jetzt mehr und mehr in den Hintergrundund wird nur als hypothetische Voraussetzung beibehalten [33]. Da Herbart die Seele als tabula rasa betrachtet und reichlichen Gebrauch vom Assoziationsbegriff macht, nähert sich die metaphysikfreie Version seiner P. der britischen Assoziations-P. an. Nach Th. Waitz teilt die P. Weltansicht und Methode der Naturwissenschaft, indem sie von der objektiv-realen Natur ihres Gegenstandes ausgeht und die Phänomene durch Rückführung auf ihre einfachsten Elemente zu erklären sucht [34]; die von Herbart kaum herangezogene Physiologie ist notwendige Ergänzung der Selbstbeobachtung als «Mittel zum Aufbau einer wissenschaftlichen P.» [35]. Eine Reduktion der P. auf Physiologie ist freilich wegen der realen (und nicht nur phänomenalen) Existenz der Seele unmöglich, so daß Herbarts P. zur Bekämpfung des Materialismus empfohlen wird [36].
4. P. und Naturwissenschaft. – Mit wenigen Ausnahmen (z.B. in der Hegelschen Schule und von einigen Herbartianern) wird die P. um die Mitte des 19. Jh. als Naturwissenschaft aufgefaßt. Hinter diesem eher verbalen Konsensus verbergen sich jedoch recht verschiedene Auffassungen.
Die verbreitetste Variante ist methodologischer Art: Beobachtung, Induktion empirischer Gesetze, Erklärung durch Rückführung auf einfache Elemente oder Kräfte sind P. und Naturwissenschaft gemeinsam. Eine Differenz ergibt sich nur insofern, als die P. auf innerer, die Naturwissenschaft auf äußerer Erfahrung beruht. Daß die P. bezüglich Sicherheit und Systematik ihrer Ergebnisse nicht an die Naturwissenschaft heranreichen kann, wird übereinstimmend auf den steten Wechsel und die fließende Natur der psychischen Erscheinungen und auf Schwierigkeiten und Grenzen der Selbstbeobachtung zurückgeführt. Ein abweichendes Votum wird bezüglich der Selbstbeobachtung nur von Beneke abgegeben, der aus dem unmittelbaren Verhältnis der psychologischen Beobachtung zu ihrem Gegenstand einen potentiellen Erkenntnisvorsprung gegenüber der Naturwissenschaft ableitet [37]. – Die methodologische Parallelisierung von P. und Naturwissenschaft ist inhaltlich unbestimmt und läßt der konkreten Ausgestaltung der P. unbegrenzten Spielraum. Ihr Rahmen ist weit genug, um auch – als Extrembeispiel – I. H. Fichtes «Anthropologie ... neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege» und die auf ihr aufbauende P. [38] zu umfassen, worin unter reichlicher Beiziehung von Hellsehen, Ekstase, Somnambulismus und Wachtraum Erfahrungsbeweise für die Existenz eines «inneren Leibes» als Raumgestalt der Seele angesammelt werden.
Eine zweite Variante besteht in der inhaltlichen Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse behufs Ausfüllung von Erklärungslücken in der P. Sie wird vielleicht am prägnantesten von H. Lotze zum Ausdruck gebracht, wenn er der «Physiologie der Seele» oder «Medizinischen P.» die Aufgabe zuweist, «die physikalischen und mechanischen Verhältnisse» darzustellen, «an welche das Leben der Seele in unserer Beobachtung gebunden ist» [39]. Lotze vertritt eine konsequent mechanistische Auffassung der Lebensprozesse und kombiniert diese wie Descartes mit einem psychophysischen Interaktionismus; von einer physiologistischen Reduktion der P. ist er weit entfernt und verficht die Forderung, «P. nach psychologischer Methode zu entwickeln» [40]. Die meisten Autoren verbinden jedoch methodologische Parallelisierung von P. und Physiologie mit inhaltlicher Rezeption der letzteren, wobei die Grenze der physiologistischen Reduktion im allgemeinen durch die qualitative Verschiedenheit neuraler und psychischer Prozesse bezeichnet wird. Häufig geschieht die inhaltliche Rezeption der Physiologie nicht etwa im Dienste einer materialistischen Konzeption, sondern zu deren Widerlegung; repräsentativ für diese Richtung ist H. Ulrici, dessen P. den Zweck verfolgt, «auf der Grundlage der Ergebnisse der Naturwissenschaften ... eine idealistische Lebens- und Weltanschauung aufzubauen» [41].
Die dritte Variante besteht in der inhaltlichen Subordination der P. unter die Physiologie und ihrer Einordnung in die naturwissenschaftliche Medizin. Die darauf abzielenden Impulse hängen im deutschen Sprachraum mit der Etablierung der Psychiatrie als neuer Teildisziplin der Medizin und dem in ihr stattfindenden Kampf der «Psychiker» und «Somatiker» zusammen. Die somatische Schule vertritt zunächst einen psycho-physischen Dualismus. So meint M. Jacobi[42], daß der «Arzt und der Psycholog auf gänzlich gesonderten Feldern» stehen; der letztere betrachtet die psychischen Erscheinungen «blos von der Seite des reinen Seelenlebens», der erstere nur im Hinblick auf ihre physiologischen Grundlagen. Demgegenüber macht J. B. Friedreich geltend, daß die Seele nur «eine durch eine bestimmte Materialität bedingte Äusserung unserer organischen Lebenskraft» ist und die P. daher «ein Theil der Physiologie, der Naturkunde des organischen Lebensprocesses, seyn müsse». In dieser, noch durch die romantische Naturphilosophie beeinflußten Konzeption wird die P. zur «psychischen Physiologie», und der Arzt muß immer auch Psychologe sein [43]. In der weiteren Entwicklung der von somatisch orientierten Psychiatern bearbeiteten P. wirken sich die Ergebnisse der experimentellen Physiologie aus. Das bedeutendste Werk dieser Richtung ist P. Jessens 1855 erschienener ‹Versuch einer wissenschaftlichen Begründung der P.›. Haupthindernis für die Entwicklung der P. ist nach Jessen, daß sie «von Alters her als ein Theil der Philosophie betrachtet worden» ist; da der Geist aber nur in der Natur existiere, könne die P. «naturgemäss nur als ein Zweig der Naturwissenschaft betrachtet werden» [44]. Die inhaltliche Durchführung von Jessens P. beruht auf der Parallelisierung des (von Ch. Bell und F. Magendie entdeckten) «Kreislaufs der Nerventhätigkeit» mit dem Kreislauf der «Ideen» [45]. Von hier zur Assimilierung der P. an die Reflexphysiologie (s. unten E. 4.) ist nur noch ein kleiner Schritt.
5. Elimination und Wiederherstellung der P. im Positivismus. – Im Anschluß an C. H, de Saint-Simon[46] entwickelt A. Comte seit 1830 eine neue, an der Komplexität ihrer Gegenstände orientierte Klassifikation der Wissenschaften. In ihr hat die P. keinen Platz, auf die Biologie folgt sofort die Soziologie. Die traditionelle Methode der P. – die innere Beobachtung – würde, wenn sie möglich wäre, die P. auf das Studium des erwachsenen, gesunden Menschen beschränken; sie ist aber unmöglich, weil sich die intellektuellen Funktionen nicht während ihres Vollzugs, sondern nur im Hinblick auf ihre organischen Bedingungen und auf ihre mehr oder weniger dauerhaften Resultate erforschen lassen. Das erstere ist Sache der «physiologischen Phrenologie», das letztere Aufgabe der Naturgeschichte; die (ehemalige) P. ist sonach unauflöslich verbunden mit der Biologie einerseits und mit der «realen Geschichte» andererseits [47]; oder, da die wissenschaftliche Geschichte «soziale Physik» ist, mit Biologie und Soziologie. Die in dieser Konzeption angelegte Möglichkeit, die P. in Soziologie aufzulösen, wird von Comte nicht realisiert, da er auch die Soziologie auf die Biologie reduziert; der Lehrbestand der P. wird daher in der «biologischen Philosophie» kritisiert und durch denjenigen der Phrenologie ersetzt [48].
Comtes Programm trifft auch bei solchen Philosophen auf Widerspruch, die den antimetaphysischen Impetus seiner «positiven Philosophie» aufnehmen und sein hierarchisches System der Wissenschaften in Details, nicht aber im Grundsatz kritisieren. Nach H. Spencer ist die P. zwar Teil der Biologie, innerhalb derselben aber der Physiologie koordiniert und nicht subordiniert. P. und Physiologie befassen sich mit den Funktionen des Organismus; während aber die Physiologie diese Funktionen nur in ihrem inneren Zusammenhang betrachtet, untersucht die P. den Zusammenhang zwischen den inneren und den äußeren Relationen der organischen Funktionen [49]. Die Eigenständigkeit dieser objektiven P. (ein von Spencer eingeführter Begriff) wird also durch die Umweltbezogenheit des Organismus garantiert, ferner dadurch, daß es die subjektive P. gibt, die ihr die «wesentlichen Vorstellungen», wie z.B. die Klassifikation der geistigen Zustände, liefert. Objektive und subjektive P. bilden zusammen eine «Doppelwissenschaft, die als Ganzes vollständig eigenartig ist» [50]. Die subjektive P. ist den konkreten Wissenschaften koordiniert und daher nicht in deren Hierarchie einbezogen.
In Deutschland werden die Ansätze Comtes und Spencers von F. A. Lange zur Polemik gegen die herbartianische P. benutzt. Nur «Scholastiker oder unwissende Pedanten» verlangen einen klaren und vollständigen Begriff der P.; Herbarts metaphysische Begründung der P. ist ein «abenteuerlicher Gedanke», die Mathematische P. ist völlig undurchführbar. Da sich keine feste Grenze zwischen äußerer und innerer Beobachtung ziehen läßt und beliebige Erfindungen als Selbstbeobachtung ausgegeben werden können, gibt es auch keine privilegierte Methode der P.; übrig bleibt eine «P. ohne Seele» [51], ohne klar abgegrenzten Gegenstand und mit pluralistischer, auch Experiment und Moralstatistik umfassender Methodik. Damit ist etwa der Diskussionsstand erreicht, vor dessen HintergrundW. Wundt die experimentelle P. konzipieren wird.
6. P. und Sozialwissenschaften. – «In dem Ganzen jeder Gesellschaft verhalten sich die einzelnen Personen fast so, wie die Vorstellungen in der Seele des Einzelnen» – mit dieser Parallele zwischen P. und «Staatswissenschaft» gibt Herbart[52] einen Hinweis, der zunächst unbeachtet bleibt und erst 1860 von M. Lazarus und H. Steinthal zur Begründung der Völker-P. herangezogen wird. Der Mensch als «seelisches Individuum» bleibt Gegenstand der individuellen P., ihr wird die Völker-P. als «P. des gesellschaftlichen Menschen» koordiniert. Sie trägt ihren Namen deswegen, weil «für jeden Einzelnen» das Volk «die absolut nothwendige» Gemeinschaft ist [53]. In die Gegenstandsbestimmung der Völker-P. geht ein hegelscher Begriff ein, denn sie ist «Wissenschaft vom Volksgeiste», soll aber anders als Hegels Geschichtsphilosophie induktiv betrieben werden [54]. Der Volksgeist hat «kein vom Einzelgeist abgesondertes Dasein»; daher enthält die individuelle P. die Grundlage der Völker-P. [55], was bedeutet, daß Lazarus und Steinthal die Völker-P. auf dem Begriffsapparat der herbartschen P. aufbauen. Die Völker-P. erforscht sowohl den Volksgeist im allgemeinen als auch – und dann wird sie zur psychologischen Ethnologie – die einzelnen Volksgeister[56]. Elemente des Volksgeistes, und damit Gegenstände der Völker-P., sind Sprache, Mythus und Sitte.
Die «Zukunftswissenschaft der Social-P.» debütiert 1871, als G. A. Lindner[57], im Anschluß an Herbart, aber in kritischer Wendung gegen Lazarus und Steinthal, den Staat als Urbild der Gesellschaft an die Stelle des Volks setzt. Die Sozial-P. beschreibt und erklärt «jene Erscheinungen, welche von der psychischen Wechselwirkung der Individuen abhängen» [58]; sie beruht auf der Voraussetzung, daß sich «aus dem Bewußtsein der vielen Gesellschaftsmitglieder ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein bildet» [59], so daß die Gesellschaft als «vorstellendes Wesen» (im Sinne Herbarts) betrachtet werden kann. Nachbarwissenschaften der Sozial-P. sind die Physiologie der Gesellschaft, in der die Gesellschaft als sozialer Organismus auftritt, und die politische P., die die Gesellschaft als wollendes Wesen auffaßt.
Die «Erweiterung der P. über die Grenzen des Individuums» [60] ist im deutschen Sprachraum nach 1848 ein häufig vorgebrachtes Desiderat. Daß sie vorwiegend von Herbartianern vorgenommen wird, liegt nicht nur an Herbarts einschlägigen Andeutungen, sondern daran, daß die herbartianische P. in dieser Periode eine führende Stellung einnimmt. Von den Herbartianern Lazarus und Steinthal wird die P. den «Wissenschaften des Geistes» zugerechnet. Anders A. Bastian, der 1860 davon ausgeht, daß der «Mensch nur in der Gesellschaft seine Erfüllung findet», die P. aber als Naturwissenschaft auffaßt und sie mit «exact-positiver Forschungsmethode» auf ethnographischer Basis aufbauen will. Methode der P. ist die «Zusammenstellung gleichartiger Gebräuche und Vorstellungen, die mit psychologischer Notwendigkeit überall wiederkehren» [61], ihr Ziel ist die Aufstellung einer «Gedankenstatistik». In bezug auf Religion und Gesellschaft der «Wilden» ergibt dies eine «politische P.» [62], in bezug auf ihre Seelenvorstellungen eine «vergleichende P.» [63] – Begriffe, die in dieser Bedeutung keine Resonanz finden, jedoch als Beleg für die gemeinsame historische Wurzel von P. und Ethnologie Erwähnung finden mußten. Die Lazarus-Steinthalsche Völker-P. läßt sich andersartigen psychologischen Grundvorstellungen assimilieren, während Bastians «naturwissenschaftliche P.» in der Ethnologie aufgeht und künftig höchstens als Materiallieferant der P. auftritt.
Anders als diese Konzeptionen der Völker-P. knüpft K. Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten kritisch an Hegels Theorie des objektiven Geistes an. Gegenstand der P. muß die «Geschichte der Industrie und das gewordene Dasein der Industrie» werden, in denen sich die menschlichen Wesenskräfte durch Arbeit entäußert haben. Eine P., die dieses Material nicht berücksichtigt, also die menschliche Arbeit ausklammert und sich einseitig auf Religion, Kunst und Literatur als Erkenntnisobjekte stützt, könne «nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden» [64] (zur marxistischen P. vgl. G. 4. und H. 7.).
[1]
J. Schaller: Das Seelenleben des Menschen (1860) Vorwort (unpag.).
[2]
Vgl. F. X. Biunde: Versuch einer syst. Bearbeit. der empir. P. (1831–33); J. F. Fries: Hb. der psych. Anthropol. (21837); C. H. Scheidler: Hb. der P. (21833); G. E. Schulze: Psych. Anthropol. (31826).
[3]
Schulze, a.O. § 21.
[4]
Scheidler, a.O. [2] 285.
[5]
a.O. 379f.
[6]
F. E. Beneke: Die Neue P. (1845).
[7]
Psychol. Skizzen 1 (1825) 27f.
[8]
a.O. 107.
[9]
Pragmat. P. 1 (1850) 39.
[10]
J. Beattie: Elem. of moral sci. (Edinburgh 1790) 1f.
[11]
W. Hamilton: Lect. on metaph. (Edinburgh 21861, ND 1970) 183ff.
[12]
a.O. 129.
[13]
128.
[14]
Vor allem bei Th. Jouffroy, der die Werke Th. Reids übersetzt.
[15]
Hier bleibt sie bis zum Auftreten des Funktionalismus (s. unten, F. 7.) herrschend.
[16]
J. Mill: Analysis of the phaenomena of the human mind (London 1829).
[17]
J. St. Mill: An examin. of Sir William Hamilton's philos. (1865). Works 9 (Toronto 1979) 2.
[18]
A. Bain: The emotions and the will (London 1859).
[19]
J. St. Mill, a.O. [17] 284.
[20]
A system of logic ratiocin. and induct. (1843). Works 7. 8 (Toronto 1978) 851f.
[21]
a.O. [17] 141.
[22]
a.O. [20] 869.
[23]
Er benutzt sogar noch die Zweiteilung zwischen rationaler und empirischer P.; vgl. J. F. Herbart: Lehrb. der P. (21834). Werke, hg. K. Kehrbach 4 (1891) 300.
[24]
Lehrb. zur Einl. in die Philos. (21821), a.O. 217.
[25]
a.O. 369.
[26]
371.
[27]
Über die Möglichkeit und Nothwendigkeit, Mathematik auf die P. anzuwenden (1822), a.O. 5 (1892) 105ff.
[28]
Psychol. Unters. 1 (1839), a.O. 11 (1906) 48.
[29]
Vgl. hierzu: D. E. Leary: The hist. foundation of Herbart's mathematization of psychology. J. Hist. behav. Sci. 16 (1980) 150–164; G. P. Brooks/S. A. Aalto: The rise and fall of moral algebra: Francis Hutcheson and the mathematization of psychology. J. Hist. behav. Sci. 17 (1981) 343–356.
[30]
Herbart, a.O. [27].
[31]
a.O. [23] 304.
[32]
Vgl. Th. Waitz: Lehrb. der P. als Naturwiss. (1849) 158f.; F. W. Volkmann von Volkmar: Lehrb. der P. vom Standpunkte des Realismus und nach genet. Methode 1 (31884) 489.
[33]
Waitz, a.O. [32] 28f.
[34]
a.O. 8. 11.
[35]
15; Grundlegung der P. (1846).
[36]
a.O. [32] VIf.
[37]
Beneke: Lehrb. der P. (1833) § 30.
[38]
I. H. Fichte: Anthropologie. Die Lehre von der menschl. Seele, neubegr. auf naturwiss. Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wiss. Gebildete überhaupt (21860); P.: die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen ... (1864).
[39]
H. Lotze: Seele und Seelenleben (1846). Kl. Schr. 2 (1886) 204; Medicin. P. oder Physiol. der Seele (1852).
[40]
Rez. von F. W. Volkmann, Grundriß der P. (1856). Kl. Schr. 3 (1891) 261f.
[41]
H. Ulrici: Leib und Seele. Grundzüge einer P. des Menschen (1866) VII.
[42]
M. Jacobi: Beobacht. über die Pathol. und Therapie der mit Irrseyn verbund. Krankheiten (1830) 2ff.
[43]
J. B. Friedreich: Hist.-krit. Darst. der Theorien über das Wesen und den Sitz der psych. Krankheiten (1836, ND Amsterdam 1964) 293f.
[44]
P. Jessen: Versuch einer wiss. Begr. der P. (1855) 1ff.
[45]
a.O. 394ff.
[46]
C. H. de Saint-Simon: Oeuvres choisies (1852, ND 1973) 148ff., Abbildung.
[47]
A. Comte: Cours de philos. pos. 3 (1838, ND Paris 1968) 613–622.
[48]
a.O. 631ff.
[49]
H. Spencer: The classific. of the sci. (1856). Essays 3 (London 31878) 30.
[50]
Principles of psychol. (1855, dtsch. 1882) 1, 146.
[51]
F. A. Lange: Gesch. des Materialismus 2 (21875) 381.
[52]
Herbart, a.O. [23] 425.
[53]
M. Lazarus/H. Steinthal: Einl. Gedanken über Völkerpsychologie. Z. Völkerpsychol. Sprachwiss. 1 (1860) 1–73; hier 5.
[54]
a.O. 7.
[55]
11.
[56]
13.
[57]
G. A. Lindner: Ideen zur P. der Gesellschaft als Grundlage der Socialwiss. (1871) V.
[58]
a.O. 14.
[59]
20.
[60]
Lotze: Mikrokosmos 3 (1864) 70.
[61]
A. Bastian: Die P. als Naturwiss. (1860) XIX.
[62]
Polit. P. (1860).
[63]
Beitr. zur vergl. P. (1868).
[64]
K. Marx: Ökon.-philos. Manuskripte (1844). Marx-Engels-Stud.ausg., hg. I. Fetscher 2 (1966) 105.
J. H. Witte: Das Wesen der Seele und die Natur der geist. Vorgänge (1888). – H. C. Warren: Hist. of the association psychology (London 1920). – R. S. Peters: Brett's History of psychology (London 21962) Kap. 12. 13. – S. Jaeger/I. Staeuble: Die gesellschaftl. Genese der P. (1978) Kap. 5–7.
E. Die P. als Wissenschaft: Wege der Realisierung eines Programms. – 1. Vorbemerkung. – Im letzten Drittel des 19. Jh. wird die bisher Programm gebliebene Etablierung der P. als Wissenschaft verwirklicht – ein Vorgang, für den gewöhnlich die Einführung von Experiment und Messung verantwortlich gemacht wird, so daß an seinem Ende die experimentelle P. als einzige Form wissenschaftlicher P. steht. Diese Auffassung ist einseitig; denn in die Konstituierung der wissenschaftlichen P. gehen auch Ergebnisse und Theorien nicht-experimenteller Wissenschaften ein. Ferner bestehen über Begründung, Struktur und Aussagewert des experimentellen Verfahrens erhebliche Meinungsverschiedenheiten, die zum Teil entlang nationaler Grenzen verlaufen. Und schließlich hat der tatkräftigste Vorkämpfer der experimentellen P. niemals die P. insgesamt mit experimenteller P. gleichgesetzt.
2. Zwei Wege zum Experiment. – Bleibt es in der Mitte des 19. Jh. in der von Philosophen betriebenen P. bei der bloßen Möglichkeit des Experiments, so sind es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts überwiegend Mediziner oder Naturwissenschaftler, die eine ihnen vertraute Methode auf die neuen Gebiete der Sinnes- und Reflexphysiologie anwenden. Aus der Messung der Unterschiedsempfindlichkeit [1] geht die Messung der Empfindungsintensität hervor, aus der Bestimmung der Leitungsgeschwindigkeit peripherer Nerven [2] die Messung der menschlichen Reaktionszeit und ihre «Fraktionierung» in Stadien, die auch psychische Prozesse wie «Entscheidung» oder «Wahl» umfassen. G. Th. Fechners Psychophysik [3] und F. C. Donders' Arbeiten über die «Geschwindigkeit psychischer Prozesse» [4] leisten erstmals die Vereinigung von experimenteller und quantitativer Methodik. Aufgrundihrer Herkunft aus Psychophysik und Reaktionszeitmessung beschränkt sich die experimentelle P. in ihrem Anfangsstadium auf die Untersuchung elementarer psychischer Prozesse unter besonderer Berücksichtigung der Empfindung. Aus demselben Grund tritt sie als Fortsetzung der methodologischen Parallelisierung zwischen P. und Physiologie auf und ist nicht notwendigerweise mit einer inhaltlichen Bestimmung der P. als Naturwissenschaft verbunden.
Diesen Hintergrundhat die experimentelle P. in Deutschland; in Frankreich entsteht sie etwa um dieselbe Zeit als experimentelle Anwendung der Hypnose und löst sich erst um die Jahrhundertwende von diesem Paradigma. In der Hypnose ist die Versuchsperson dem Willen des Versuchsleiters unterworfen, während sie im sinnesphysiologischen Experiment als ‘Beobachterʼ sein gleichberechtigter Partner und mit ihm austauschbar ist. Auch nach der Elimination der Hypnose behält das aus ihr abgeleitete Experiment die asymmetrische soziale Struktur und hat sich in der weiteren Entwicklung der experimentellen P. in dieser Form durchgesetzt [5].
3. Die P. Wilhelm Wundts. – In Deutschland ist es W. Wundt, der 1874 durch sein Lehrbuch ‹Grundzüge der physiologischen P.› und 1879 durch die Gründung des ersten experimentalpsychologischen Laboratoriums [6] der P. einen kohärenten und umfassenden Rahmen gibt. In der Abgrenzung von P. und Naturwissenschaft geht er bis 1890 von dem konventionellen Gegensatzpaar «innere gegen äußere Erfahrung» aus [7]. Unter dem Eindruck der Philosophie von R. Avenarius (s. unten, F. 2.) ersetzt er dann [8] die gegenstands- durch die standpunktbezogene Definition. Es gibt nur eine unteilbare Welt der Erfahrung, welche die P. als «die von dem Subjekt erlebte in ihrer ganzen Unmittelbarkeit» untersucht, während die Naturwissenschaft alles als «subjektiv aus scheidet, was eine widerspruchslose Interpretation der objektiven Naturerscheinungen unmöglich macht» [9]; dies bedeutet, daß die Naturwissenschaft auf begrifflich vermittelter Erfahrung aufbaut: Die P. stellt sich also auf den Standpunkt der unmittelbaren, die Naturwissenschaft auf den der mittelbaren Erfahrung.
Die P. läßt sich nicht auf Physiologie reduzieren; denn aus der unmittelbaren Erfahrung lassen sich gewisse leitende Prinzipien abstrahieren, die von denjenigen der Naturwissenschaft grundsätzlich verschieden sind, ohne ihnen übrigens zu widersprechen. Wundts Lehre von den «Prinzipien der P.» [10] fußt auf der Anerkennung einer eigenständigen psychischen Kausalität, deren wichtigste Komponenten die folgenden sind: a) Das Prinzip des «empirischen» psychophysischen Parallelismus: Nur die Elemente des psychischen Geschehens und ihre Abfolge sind im neuralen Geschehen parallelfundiert, ihre Verbindungen erfolgen nach psychologischen Gesetzen, b) Das Prinzip der psychischen Aktualität: Die Kausalität der psychischen Prozesse ist ihnen selbst zu entnehmen, während die naturwissenschaftliche Kausalität durchwegs an ein substantielles Substrat gebunden ist. c) Das Prinzip des Wachstums der psychischen Energie, das mit dem Prinzip der Konstanz der physischen Energie kontrastiert und eine Verallgemeinerung des schon 1862 gefundenen Prinzips der «schöpferischen Synthese» darstellt, wonach die Resultanten psychischer Verbindungen gegenüber den in sie eingehenden Elementen neue, mit den Elementen selbst unvergleichbare Eigenschaften aufweisen, d) Das Prinzip der beziehenden Relationen: Die Eigenschaften psychischer Gebilde sind von den Relationen ihrer Elemente abhängig, so daß die Elemente selbst durch eine «beziehende Analyse» festgestellt werden können.
Die P. fällt mithin nicht in die Comte'sche lineare Hierarchie der Wissenschaften, sondern ist den Naturwissenschaften koordiniert und als «allgemeine Lehre von den geistigen Vorgängen die Grundlage aller Geisteswissenschaften» [11]. Die Individual-P. erforscht die geistigen Vorgänge im individuellen menschlichen Bewußtsein, die Völker-P. in menschlichen Gemeinschaften; die letztere bildet den Übergang von der P. zu den speziellen Geisteswissenschaften, die sich nicht mit psychischen Vorgängen, sondern mit psychischen Erzeugnissen befassen. Dazu treten noch Kinder- und Tier-P., zur vergleichenden P. zusammengefaßt, und Psychophysik als Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen.
Grundlegende Methode der Individual-P. ist das Experiment, weswegen sie auch «experimentelle P.» oder (der Methode, nicht dem Inhalt nach) «physiologische P.» genannt wird. Das Experiment ermöglicht überhaupt erst eine planmäßige, absichtlich herbeigeführte Selbstbeobachtung [12], indem es (als «Eindrucksmethode») die äußeren Bedingungen herstellt, variiert und wiederholt, unter denen die zu beobachtenden psychischen Prozesse auftreten; überdies dient es, indem es als «Ausdrucksmethode» die äußeren Symptome psychischer Prozesse registriert, zur objektiven Kontrolle der Selbstbeobachtung. Die Anwendung des Experiments ist auf solche psychische Prozesse beschränkt, deren Eintreten durch äußere Bedingungen verläßlich determiniert ist, im wesentlichen also auf Empfindungen und einfache Gefühle; die Untersuchung von Denkvorgängen ist auf experimentellem Wege unmöglich [13] und fällt in den Bereich der Völker-P.
Von Anfang an vertritt Wundt eine in methodischer Hinsicht dualistische P.; die Ergänzung der experimentellen P. sucht er zunächst in Moralstatistik und Nationalökonomie [14], setzt an deren Stelle aber schon vor 1870 die Lazarus-Steinthalsche Völker-P., deren Forschungsgebiete (Sprache, Mythus, Sitte) er unter Beschränkung auf den allgemeinpsychologischen Aspekt übernimmt. Aufgabe der Völker-P. ist die Untersuchung «derjenigen psychischen Vorgänge, die der allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte zugrunde liegen» [15]. Methode der Völker-P. ist die (objektive) Beobachtung psychischer Erzeugnisse und ihre interpretierende Ableitung aus psychischen Prozessen nach den Prinzipien der psychischen Kausalität.
Individual-P. und Völker-P. bauen auf einem gemeinsamen theoretischen Rahmen auf, in dessen Zentrum der Begriff der Apperzeption steht. Wundt unterscheidet Empfindungen und Vorstellungen als objektive Bewußtseinsinhalte von Gefühlen und Gemütsbewegungen als subjektiven Bewußtseinsinhalten. Objektives Resultat der Apperzeption ist das Eintreten eines Bewußtseinsinhaltes in das Aufmerksamkeitsfeld, subjektives Resultat das Auftreten von Gefühlen [16]. Als «innere Willenshandlung» ist die Apperzeption Prototyp aller psychischen Prozesse. Wundt bezeichnet seine P. als Voluntarismus, womit gemeint ist, daß «nach dem Typus der Willenshandlung» man sich «alle psychischen Erlebnisse zu denken habe, nämlich als fließende Ereignisse, nicht als Objekte» [17]. Voluntaristisch ist auch Wundts Metaphysik, die den reinen Willen als transzendenten individuellen Seelenbegriff bestimmt [18]. Der metaphysische Voluntarismus beruht auf dem psychologischen, nicht jedoch umgekehrt, da Wundt die Metaphysik als induktive Ergänzung und nicht als apriorische Begründung der positiven Wissenschaften betrachtet [19].
4. P. als Reflexphysiologie des Gehirns. – In der 2. Hälfte des 19. Jh. wird der Reflexbogen zur unbestrittenen analytischen Einheit der Neurophysiologie. Die Theorie geht hier der Empirie voraus. W. Griesinger erklärt 1843 unter der Parole «psychische Reflexaction» [20] die Umsetzung von Empfindungsreizen in Bewegungsimpulse zur Grundtatsache des ganzen psychischen Lebens; ähnlich äußert sich zur gleichen Zeit Th. Laycock[21]. Die adaptive Funktion der Rückenmarksreflexe wird von ihrem Entdecker E. Pflüger[22] auf die Wirkung einer «Rückenmarksseele» zurückgeführt, jedoch durch H. Lotze[23] im Sinne der mechanistischen Physiologie gedeutet. Nachdem M. I. Sečenov die reflexhemmende Funktion gewisser Hirnzentren entdeckt hat [24], ist der Weg zur Erforschung der «Reflexe des Gehirns» [25] und zur Übertragung des Reflexbogen-Modells auf zentrale Prozesse gebahnt, indem z.B. das Denken als Reflexbogen aufgefaßt wird, dessen letztes (motorisches) Drittel gehemmt ist. Die Probleme der P. sollen demnach von Physiologen behandelt werden, und zwar dergestalt, daß jeder psychische Prozeß als einen Anfang, eine Mitte und ein Ende besitzend aufgefaßt wird, d.h. als aus der Umwelt stammend und auf sie zurückwirkend [26]. Dieser Aufgabe wird die P. gerecht, indem sie in objektiver, vergleichend-genetischer Analyse alle psychischen Tätigkeiten aus dem einfachsten Prototyp der Reflexaktion ableitet [27].
Die reflexphysiologische Richtung ist eine internationale Bewegung, die ihren Schwerpunkt in Rußland, England [28] und Frankreich [29] hat. Gemeinsam ist ihr die Ablehnung des psychophysischen Dualismus. So gibt es nach H. H. Maudsley keine Dreiteilung in Physiologie, physiologische P. und P., sondern nur eine einheitliche Physiologie des Zentralnervensystems, die mit der «Physiologie der Seele» identisch ist und mittels äußerer und innerer Beobachtung betrieben wird, wobei jedoch der objektiven Methode die Führung zukommt und die innere Beobachtung nur zur nachträglichen Interpretation der Ergebnisse herangezogen wird [30]. Ähnlich Sečenov, der die Introspektion ablehnt, insofern sie als Zugang zu immateriellen, «rein geistigen» Prozessen aufgefaßt wird, aber anerkennt, daß die Gehirnprozesse einen subjektiven Aspekt haben [31]. Insgesamt wird von der reflexphysiologischen Bewegung die Introspektion weniger für irreführend oder prinzipiell unmöglich, als vielmehr für irrelevant erklärt, da die wesentlichen psychologischen Probleme im Bereich der Tier-P., Kinder-P. und Psychopathologie liegen [32].
Im deutschen Sprachraum hat die Reduktion der P. auf Reflexphysiologie nur wenige konsequente Anhänger [33]. Auch wer die P. auf physiologischer [34] oder sensualistischer [35] Basis aufbauen will, distanziert sich vom Materialismus, indem er z.B. unter Verweis auf die Einheit der psychischen Funktionen im Selbstbewußtsein einen faktischen Unterschied zwischen Seelischem und Unbeseeltem konstatiert [36]. Immerhin ist diese abgeschwächte physiologische Richtung so einflußreich, daß ‹physiologische P.› gegen Ende des Jh. nicht mehr methodologisch, sondern wie schon bei Lotze inhaltlich definiert wird [37], ein Wortgebrauch, den schließlich auch Wundt übernimmt [38].
5. P. als Lehre vom abnormen psychischen Geschehen. – Eine eigenartige Wendung nimmt die reflexphysiologische Richtung in Frankreich, wo sie einerseits gegen spiritualistische Traditionen ausgespielt wird, andererseits aber auf eine fortgeschrittene Neurologie zurückgreifen kann. Th. Ribot propagiert die experimentelle P., indem er sich an die zeitgenössische englische und deutsche P. anschließt [39], betreibt sie aber fast ausschließlich auf psychopathologischer Basis [40], mit dem Ziel, die Evolution der psychischen Prozesse in umgekehrter Richtung zu verfolgen und derart in die unbewußten Regionen des seelischen Lebens vorzudringen. Ribot untersucht vorwiegend die «spontanen Erkrankungen» des psychischen Geschehens; die an ihn anschließende «Schule von Paris» [41] bedient sich, als experimenteller Methode, der hypnotischen Provokation unbewußter psychischer Prozesse. Zentralbegriffe der P. werden ‹Ideomotorik›, ‹Suggestion› und ‹Automatismus›, als Bezeichnungen für Vorgänge, an denen der ursprünglich reflexartige Charakter des psychischen Geschehens deutlich wird und die bei pathologischer Dissoziation der Persönlichkeit ein autonomes, unbewußtes Funktionsniveau konstituieren. Das Bewußtsein ist indessen kein Epiphänomen, sondern Ausdruck der psychischen Synthese unbewußter Teilprozesse [42].
Indem die Pariser Schule die reflexartige, unbewußte Reaktion auf soziale Beeinflussung als «Suggestion» und «Nachahmung» auf den Begriff bringt, stellt sie ein globales Erklärungsmodell für die Massen-P. bereit. Der Ausdruck ‹psychologie des foules› findet sich erstmals 1892 bei H. Fournial[43] und wird 1895 durch G. Le Bon[44] übernommen. In die Massen-P. gehen auch kriminologische [45] und soziologische [46] Ansätze ein; der ehemalige Armeearzt Le Bon verwendet jedoch vor allem das ihm vertraute Begriffsinventar der französischen reflexphysiologischen Schule und überträgt es von der intrapsychischen auf die interpsychische Ebene; wie dort dem Unbewußten die synthetische, kontrollierende Aktivität des Bewußtseins gegenübergestellt wird, so hier der unbewußt handelnden Masse die verantwortliche Einzelpersönlichkeit. Die Massen-P. erhält durch die Erfahrungen von Krieg und Revolution wichtige Impulse und verdrängt bei der endgültigen Etablierung der Sozial-P. als empirisch-experimenteller Wissenschaft [47] die älteren, völkerpsychologischen Ansätze.
6. P. und Evolutionstheorie. – Am Ende seines Werks über die Entstehung der Arten sieht Ch. Darwin «in einer fernen Zukunft die Felder für noch weit wichtigere Untersuchungen sich öffnen. Die P. wird sich mit Sicherheit auf den von H. Spencer bereits wohl begründeten Satz stützen, dass nothwendig jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann» [48]. Damit bezeichnet Darwin zutreffend einen Aspekt der Auswirkung seiner Theorie auf die P., nämlich die Anwendung einer mechanistisch konzipierten und kontinuierliche Übergänge zwischen Tier und Mensch vorsehenden genetischen Denkweise. Infolgedessen werden Tier- und Human-P. einander angenähert [49], und mit Hilfe des «biogenetischen Grundgesetzes» wird auch die Kinder-P. in das allgemeine Programm einer «genetischen P.» [50] einbezogen. Weitere Teilgebiete der P., denen unter evolutionstheoretischer Perspektive erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird, sind die Vererbung psychischer Eigenschaften [51], die ebenfalls von Le Bon propagierte Rassen-P. [52] und die P. individueller Unterschiede [53]. Alle diese Teilgebiete hatten schon vor der evolutionstheoretischen Wende existiert, sie werden jedoch jetzt unter einen einheitlichen Gesichtspunkt gestellt und rücken von der Peripherie ins Zentrum der P.
In methodologischer Hinsicht ist die evolutionistische P. nicht einheitlich. Unter den Reflexphysiologen wird es zwar üblich, den genetischen Primat des Reflexes mit evolutionstheoretischen Argumenten zu begründen, aber selbst die evolutionistische Tier-P. ist zunächst keineswegs objektivistisch. Die Kontinuität von Tier und Mensch kann auch so verstanden werden, daß den Tieren gewisse intellektuelle Fähigkeiten zugesprochen werden; in der Tat steht G. J. Romanes, wie schon Darwin, auf dem Standpunkt, daß der Instinkt psychische Begleiterscheinungen hat und kontinuierliche Übergänge zur Intelligenz aufweist [54]. C. L. Morgan formuliert 1896 die Regel, daß Verhaltensleistungen nicht durch höhere psychische Funktionen erklärt werden dürfen, wenn sie auch durch niederere Funktionen erklärt werden können [55]. Zu Beginn des 20. Jh. werden eine «objektivistische» Terminologie [56] und die Ersetzung des bisher üblichen «anekdotischen» Verfahrens der Tierbeobachtung durch das Experiment [57] gefordert. In der Human-P. erweitert F. Galton zwar das Methodeninventar der P. durch Test und Statistik, bedient sich aber unbedenklich der Introspektion.
Der Aufbau der evolutionistischen P. orientiert sich an dem von H. Spencer[58] in die P. eingeführten Begriff der Anpassung. Dies hat einerseits zur Folge, daß traditionelle psychologische Grundbegriffe neu definiert und der Quantifizierung zugeführt werden; so wird z.B. die Intelligenz nicht mehr wie bei Wundt als «Gesamtsumme der bewußten und im logischen Denken ihren Abschluß findenden Geistestätigkeiten» [59], sondern als «geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens» [60] definiert. Andererseits wird zum Problem, wie individuelle Anpassung erklärt werden kann; gefordert ist die Transponierung des darwinistischen Selektionsmodells von der Ebene «Individuum/Art» auf die Ebene «individuelle Verhaltensakte/Individuum», eine Aufgabe, die gegen Ende des 19. Jh. von J. M. Baldwin[61] und E. L. Thorndike[62] durch das Prinzip der Auswahl zufällig variierender Verhaltensweisen aufgrundihres Erfolgs gelöst wird. Damit sind die Vorbedingungen für die Entwicklung einer am Begriff des Lernens ausgerichteten P. geschaffen.
7. Die P. als autonome, deskriptive Wissenschaft. – Die P. hat sich die Etablierung als Fachwissenschaft um den Preis inhaltlicher und methodischer Anleihen bei den Naturwissenschaften erkauft. Gegen dieses Verfahren erhebt im letzten Drittel des 19. Jh. eine Gruppe von Autoren Einspruch; an ihrer Spitze steht F. Brentano. Die P., als «Wissenschaft von den psychischen Phänomenen» [63], soll sich sowohl physiologischer als auch metaphysischer Hypothesen enthalten [64] und vom «empirischen Standpunkte» bearbeitet werden. Da innere Beobachtung prinzipiell unmöglich ist, stützt sich die P. auf innere Wahrnehmung, deren Resultate durch Vergegenwärtigung im Gedächtnis experimenteller Erforschung zugänglich gemacht werden können [65]. Die innere Wahrnehmung ist unmittelbar, untrüglich, evident; ihre Phänomene haben reale, die der äußeren Wahrnehmung nur phänomenale Wahrheit [66]. Psychische Phänomene sind nicht in Analogie zu Elementen oder dinglichen Objekten zu sehen, sondern sind durch «intentionale Inexistenz» definiert, d.h. sie «enthalten intentional einen Gegenstand in sich» [67]. Die intentionale Beziehung trägt den Charakter der Tätigkeit, psychische Phänomene können daher auch als «Akte» bezeichnet werden. Nach Art der intentionalen Beziehung sind Phänomene des Vorstellens, des Urteilens und der Gemütsbewegung zu unterscheiden, wobei das Vorstellen an allen anderen Klassen von Phänomenen beteiligt ist [68].
Zunächst wenig beachtet, wird Brentanos P. vor allem in ihrer Weiterbildung durch seinen Schüler K. Stumpf zu einer «zweiten Kraft» neben der Wundtschen P., regt zu Beginn des 20. Jh. die Phänomenologie Husserls und die Akt-P. (s. unten, F. 5.) an, findet aber auch in England namhafte Anhänger [69]. Gemeinsam ist den P.n dieser Richtung neben dem inhaltlichen Moment der Definition des Psychischen aus der Akt-Gegenstand-Beziehung die methodologische Forderung, daß die psychologische Deskription und Klassifikation der psychologischen Erklärung vorangehen müsse. Der deskriptiv-klassifikatorische Teil der P. wird von Brentano[70] «Psychognosie», von G. E. Scott[71] «analytische P.» genannt; ihm wird von mehreren Autoren [72] die «genetische P.» als (auch physiologische Erklärungen umfassende) Lehre von den Gesetzen der Sukzession und Entwicklung der psychischen Erscheinungen gegenübergestellt.
[1]
E. H. Weber: De pulsu, resorptione, tactu et auditu (1834).
[2]
H. Helmholtz: Fortpflanzungsgeschwindigkeit in sensiblen Nerven. Monats-Ber. Berl. Akad. Wiss. (1850) 14.
[3]
G. Th. Fechner: Eiern, der Psychophysik (1860).
[4]
F. C. Donders: Die Schnelligkeit psych. Processe. Arch. Physiol. Anat. 6 (1868) 657–681.
[5]
K. Danziger: The origins of the psychol. experiment as a social institution. Amer. Psychologist 40 (1985) 133–140.
[6]
W. G. Bringmann/G. A. Ungerer: The found. of the Inst. for Exper. Psychol. at Leipzig University. Psychol. Res. 42 (1980) 5–18.
[7]
W. Wundt: Grundzüge der physiol. P. (1874) 1.
[8]
Über die Def. der P. Philos. Stud. 12 (1896) 1–66.
[9]
a.O. [7] 3 (61910) 742f.
[10]
Mehrere, terminologisch schwankende Darstellungen in: Über psych. Kausalität und das Princip des psychophys. Parallelismus. Philos. Stud. 9 (1894) 1–124; a.O. [9] 733–770; Logik 3 (41921) 240–293.
[11]
Über die Einteil, der Wiss.en (1889). Kl. Schr. 3 (1921) 1–53, hier 43.
[12]
Selbstbeobachtung und innere Wahrnehmung (1888), a.O. 423–440.
[13]
Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur P. des Denkens. Psychol. Stud. 3 (1907) 1–41.
[14]
Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung (1862) XXIV.
[15]
Völkerpsychol. 1/1 (1900) 1.
[16]
a.O. [9] 306f.
[17]
Logik, a.O. [10] 160.
[18]
System der Philos. 1 (31907) 380f.
[19]
a.O. 198ff.
[20]
W. Griesinger: Über psych. Reflexactionen. Arch. physiol. Heilkunde 2 (1843) 76–113; auch in: Ges. Abh. 1 (1872, ND 1968) 3–45.
[21]
Th. Laycock: On the reflex functions of the brain. Brit. Foreign Med. Review 19 (1845) 298–311.
[22]
E. Pflüger: Die sensorischen Functionen des Rückenmarks nebst einer neuen Lehre über die Leitungsgesetze der Reflexionen (1853).
[23]
H. Lotze: Rez. von E. Pflüger [22] (1853). Kl. Schr. 3 (1891) 145–175.
[24]
M. Setschenow: Physiol. Studien über die Hemmungsmechanismen für die Reflexthätigkeit des Rückenmarks (1863).
[25]
Reflexes of the brain (1866). Sci. physiol. and psychol. works (Moskau o.J.) 31–139.
[26]
Who is to elaborate the problems of psychol., and how? (1873), a.O. 179–260, hier 206.
[27]
a.O. 209f.
[28]
Vgl. H. H. Maudsley: The physiology and pathology of the mind (London 1867).
[29]
Vgl. Ch. Richet: Les reflexes psychiques. Rev. Philos. 25 (1885) 225–237. 387–422. 500–528; Essai de psychol. gén. (Paris 1891).
[30]
Maudsley: The physiology of mind (31876) 63f.
[31]
Setschenow, a.O. [26] 184.
[32]
Vgl. hierzu: K. Danziger: Mid-19th-cent. Brit. psycho-physiology; A neglected chapter in the hist. of psychol., in: W. R. Woodward/M. G. Ash (Hg.): The problematic sci.; P. in 19th-cent. thought (New York 1982) 119–146.
[33]
Vgl. K. Spamer: Physiol. der Seele (1877).
[34]
A. Horwicz: Psychol. Analysen auf physiol. Grundlage 1–3 (1872–78).
[35]
H. Czolbe: Die Grenzen und der Ursprung der menschl. Erkenntniß (1865).
[36]
Horwicz, a.O. [34] 1, 23ff.
[37]
Diese Bedeutung wird vorausgesetzt z.B. bei: Th. Ziehen: Leitfaden der physiol. P. (1891).
[38]
Wundt: Logik, a.O. [10] 222.
[39]
Th. Ribot: La psychol. angl. contemp. (Paris 1870); La psychol. allemande contemp. (Paris 1879).
[40]
Les maladies de la mémoire (Paris 1881); Les maladies de la volonté (Paris 1883); Les maladies de la personnalité (Paris 1885).
[41]
Vgl. G. Dwelshauvers: La psychol. franç. contemp. (Paris 1920) 126ff.
[42]
P. Janet: L'automatisme psychol. (Paris 1889) 483.
[43]
H. Fournial: Essai sur la psychol. des foules (Lyon 1892); vgl. J. van Ginneken: The 1895 debate on the origins of crowd psychology. J. Hist. behav. Sci. 21 (1985) 375–382.
[44]
G. Le Bon: Psychol. des foules (Paris 1895).
[45]
S. Sighele: La folla delinquente (Turin 1891).
[46]
G. Tadre: Les lois de l'imitation (Paris 1890).
[47]
Vgl. z.B. W. Moede: Die Massen- und Sozial-P. im krit. Überblick. Z. päd. Psychol. 16 (1915) 385–404.
[48]
Ch. Darwin: On the origin of species (1859, dtsch. 61876) 576.
[49]
Darwin selbst veröffentlicht ein «baby diary»: A biogr. sketch of an infant. Mind 2 (1877) 285–294.
[50]
Der Ausdruck ‹genetische P.› erscheint auch in anderen theoret. Zusammenhängen (s. unten F. 7.); für seine evolutionstheoret. Verwendung siehe Art. ‹P., genetische›.
[51]
F. Galton: Hereditary genius (London 1869); Ribot: L'hérédité psychol. (Paris 1873).
[52]
Le Bon: Applic. de la psychol. à la classif. des races. Rev. Philos. 22 (1886) 593–619.
[53]
Galton: Inqu. into human faculty and its development (London 1883).
[54]
G. J. Romanes: Mental evolution in animals (London 1882).
[55]
C. L. Morgan: An introd. to comparat. psychol. (London 1894) 54.
[56]
Th. Beer u.a.: Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiol. des Nervensystems. Centr.bl. Biol. 19 (1899) 517–521.
[57]
Vgl. dazu: B. D. Mackenzie: Behaviorism and the limits of scient. method (London 1977).
[58]
H. Spencer: Principles of psychol. (1855, dtsch. 1882) 1, 400ff.
[59]
Wundt: Gehirn und Seele (1880). Essays (21906) 151.
[60]
W. Stern: Die psychol. Methoden der Intelligenzprüfung (1912) 3.
[61]
J. M. Baldwin: Mental development in the child and in the race (1895).
[62]
E. L. Thorndike: Animal intelligence. Psychol. Review Monogr. Suppl. 2 (1898).
[63]
F. Brentano: P. vom empir. Standpunkte (1874) 24.
[64]
a.O. 60ff.
[65]
36ff.
[66]
226.
[67]
127.
[68]
104ff.
[69]
G. E. Stout: Analytic psychol. (London 21902); J. Ward: Art. ‹Psychology›, in: Encycl. Brit. 9 (91896).
[70]
Brentano: Meine letzten Wünsche an Österreich (1895) 34f.
[71]
Stout, a.O. [69] 35f.
[72]
Brentano, a.O. [70]; H. Cornelius: P. (1897) 10f.
G. Dwelshauvers s. Anm. [41]. – E. G. Boring: A hist. of exper. psychol. (New York 21957). – R. A. Nye: The origins of crowd psychol. (London 1975). – Wundt centenn. issue, hg. W. Bringmann/E. Scheerer. Psychol. Res. 42/1–2 (1980). – Wundt Studies, hg. W. Bringmann/R. Tweney (1980). – W. R. Woodward/M. G. Ash (Hg.) s. Anm. [32]. – G. Eckhardt u.a.: Contrib. to a hist. of developmental psychol. (1985).
F. Die Krise der P. und die Epoche derSchulenʼ. – 1. Die Krise der P. – Im Jahre 1899 erscheint zum ersten, 1927 zum vorerst letzten Male eine Monographie über die «Krise» der P.; R. Willy sieht die Krise darin, daß «die P. ... noch tief in den Fesseln der Spekulation schlummert» [1], K. Bühler im «Auseinandergehen der Richtungen von einer gemeinsamen Ausgangslage» [2]. Damit sind zeitlich und sachlich Ausgangs- und Endpunkt der Krise bezeichnet. Am Anfang stehen Unsicherheit und Auseinandersetzung über die methodologischen Grundlagen der P.; ihr prägnantestes Symptom ist eine Flut von Arbeiten über das Leib-Seele-Problem, deren Fazit die Demolierung des bisher nahezu allgemein akzeptierten psychophysischen Parallelismus ist [3]. Am Ende steht das Auseinanderfallen der P. in miteinander konkurrierende ‘Schulenʼ.
Die Krise wird nicht durch Fehlschläge, sondern durch die Expansion der P. ausgelöst. Das Experiment wird seit den Gedächtnisuntersuchungen von H. Ebbinghaus[4] zunehmend auf höhere psychische Funktionen ausgedehnt, so daß die Identität von P. und experimenteller P. behauptet werden kann [5]. Die Allgemeine P. verliert ihre hervorgehobene Position, in den Kernbestand der P. werden bisher eher periphere Teilgebiete wie Differentielle P., Entwicklungs-P. und Sozial-P. aufgenommen. Die P. erhält erstmals in ihrer Geschichte eine ernstzunehmende Funktion als angewandte Wissenschaft und wird um die Psychotechnik erweitert [6]. Die als «reine Wissenschaft» konzipierte P. Wundts kann diese neuen Entwicklungen nicht integrieren und steht ihnen teilweise ablehnend gegenüber [7]. Dazu kommen noch immanente Probleme der Wundtschen P., die den Widerspruch der Zeitgenossen auslösen, so daß die Krise der P. wenigstens in ihrem Anfangsstadium Ausdruck von Protesten ist, die sich gegen verschiedene Aspekte der P. Wundts richten.
Obwohl sich die P. während der Krisenperiode in national sehr unterschiedlichem Tempo institutionell von der Philosophie löst, sind die neu entstandenen Richtungen zum Teil durch neue Ansätze in der Philosophie inspiriert. Gerade in Deutschland vollzieht sich die Trennung von P. und Philosophie sehr langsam. Die 1913 von philosophischer Seite aufgestellte Forderung, Lehrstühle für experimentelle P. einzurichten, stößt auf den einmütigen Widerstand der Psychologen [8]. In der Krisenperiode sind Philosophie und P. noch so eng liiert, daß einige Autoren [9] unter ‘Allgemeiner P.ʼ die Kritik der begrifflichen und logischen Grundlagen der P. verstehen.
2. P. auf positivistischer und neukantianischer Basis. – Nach R. Avenarius beruht die Annahme einer nur der inneren Erfahrung zugänglichen psychischen Welt auf der fälschlichen «Introjektion» des «Vorgefundenen» in ein «Vorgestelltes»; im «natürlichen Weltbegriff» – den die Wissenschaft nicht verlassen darf – gibt es nur eine einheitliche Erfahrung, die von der P. «unter dem besonderen Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit vom Individuum» untersucht wird [10]. Ähnlich E. Mach, der die gesamte Erfahrung auf Empfindungen reduziert, einen Empfindungskomplex «Ich» annimmt und der P. die Untersuchung der funktionalen Abhängigkeit der Empfindungselemente vom Ich-Komplex zuweist [11]. Wundts Schüler O. Külpe[12] und E. B. Titchener[13] übernehmen die Avenarius-Machsche Definition der P., wobei sie «Individuum» oder «Ich» durch «Organismus» ersetzen. Sie leiten damit eine umfassende Revision der P. ihres Lehrers ein [14], deren wichtigste Punkte die folgenden sind:
a) Von der Naturwissenschaft, welche die Erfahrung betrachtet, soweit sie unabhängig vom Organismus ist, unterscheidet sich die P. nur im Standpunkt, nicht im Gegenstand. Die damit gegebene Annäherung der P. an die Naturwissenschaft führt in der positivistischen P. zur Unterordnung unter die Physiologie. Zum einen wird der psychophysische Parallelismus nicht mehr wie bei Wundt empirisch-heuristisch aufgefaßt, sondern für sämtliche psychophysische Beziehungen postuliert; zum anderen wird die Existenz einer psychischen Kausalität geleugnet. Man gelangt damit zu einem «materialistischen Subordinationsparallelismus»: «Die Gesetzmäßigkeit der P. liegt in der Kausal- und der Parallelgesetzlichkeit. Eine besondere psychologische Gesetzmäßigkeit existiert gar nicht» [15]. Psychische Zusammenhänge folgen aus physiologischen Gesetzen, die P. hat sich auf Beschreibung und Analyse zu beschränken.
b) Wundts Apperzeptionstheorie und die mit ihr gegebene voluntaristische Grundlegung der P. fallen weg. Denn einesteils ist die Apperzeption der hauptsächliche Agent der psychischen Kausalität, zum anderen wirkt sie zwar auf Empfindungsinhalte und wird durch sie angeregt, läßt sich aber nicht aus ihnen ableiten oder auf sie reduzieren. Dagegen ist ein sensualistischer Elementarismus schon bei Mach angelegt, er wird von seinen psychologischen Anhängern eher zögernd übernommen, da die Gefühle der Auflösung in sensorische Elemente widerstreben. Schließlich werden sie aber doch zu Organempfindungen reduziert [16]; die Empfindungen sind endgültig einzige «Materie» des Psychischen [17].
Zu ähnlichen Resultaten wie der Positivismus kommt der Neukantianismus, dessen Vertreter H. Rickert[18] und P. Natorp[19] sich der methodologischen Kritik der P. widmen, während H. Münsterberg[20] die Rollen des Methodologen und des Psychologen miteinander verbindet. Gemeinsam ist den neukantianischen Ansätzen die Leugnung der unmittelbaren Erfahrung als Grundlage der wissenschaftlichen P. und die «objektivierende» Reduktion des erlebenden Subjekts auf ein «vorfindendes Ich», das auf den Verlauf der Bewußtseinsinhalte keinerlei Einfluß üben kann [21]. Hiernach wird die P. entweder überhaupt zu Physiologie [22], zu physiologischer P. [23], oder zur Wissenschaft von den psychischen Objekten, die dasjenige an der auf Empfindungselemente reduzierten Erfahrung sind, was nur einem Subjekt erfahrbar ist [24].
Anders als die Positivisten, welche die physiologistisch reduzierte P. zur Grundlage der Geisteswissenschaften machen wollen, suchen die Neukantianer nach einem Komplement zur naturwissenschaftlichen P., worin die volle, sich der naturwissenschaftlichen Erklärung entziehende Erlebniswirklichkeit des Subjekts erfaßt werden soll. Natorp beabsichtigt, eine subjektivierend-rekonstruktive P. aufzubauen [25], nach Rickert ist das Psychische auch Gegenstand der historisch arbeitenden Kulturwissenschaften [26]. Münsterberg strebt eine Synthese zwischen physiologischer P. und «Fichtes ethischem Idealismus» [27] an; letzteren entwickelt er in eine normative Wertlehre [28], die es mit dem stellungnehmenden, wollenden Subjekt zu tun hat. Da die naturwissenschaftliche P. prinzipiell außerstande ist, das Seelenleben in seinem Sinn zu verstehen, leitet Münsterberg ihre Daseinsberechtigung letztlich aus der eine kausale Behandlung des Seelischen erfordernden Psychotechnik ab [29].
3. Die Anfange der geisteswissenschaftlichen P. – Während die Neukantianer die P. vom Objektpol aus naturwissenschaftlich, vom Subjektpol aus kulturwissenschaftlich begründen und damit beide Formen der P. nebeneinanderstellen, möchte W. Dilthey 1894 der (naturwissenschaftlich) erklärenden eine beschreibend zergliedernde P. [30] voranschicken. Dilthey spricht nicht von «geisteswissenschaftlicher P.», sondern von «Strukturlehre» [31] oder «Real-P.» [32]. Sein Schüler W. Schmied-Kowarzik fordert eine «analytische P.», die als Systematisierung der Bewußtseinsinhalte und Darstellung typischer komplexer Erlebnisse Grundlage der P. als Gesamtwissenschaft sein soll [33].
Erst 1914 prägt E. Spranger den Ausdruck «geisteswissenschaftliche P.», weist ihr über die bloße Systematisierung hinaus die «Typenbildung» als Aufgabe zu [34] und füllt sie mit konkretem, typologischem und entwicklungspsychologischem Inhalt [35]. Spranger faßt das Seelische als «teleologischen Zusammenhang, in dem jede einzelne Seite allein vom Ganzen her verständlich wird und die Einheit des Ganzen auf den gegliederten Teilleistungen der Einzelfunktionen beruht», eine Sichtweise, die dann wieder die Bezeichnung ‹Struktur-P.› rechtfertigt [36] und aufgrundder inzwischen eingetretenen ganzheitlichen Wende der P. (s. unten, F. 6.) eine Annäherung an die experimentelle P. ermöglicht, so daß der «Grundgedanke der Struktur-P. die Anwendung des Experiments nicht ausschließt» [37].
Trotz solcher Zugeständnisse gibt es in den zwanziger Jahren einen Dualismus zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher P., der anhand der Dimensionen «Erklären/Verstehen», «kausale/teleologische Auffassung», «Naturzusammenhang/geistiger Sinnzusammenhang» fast ausschließlich im deutschen Sprachraum [38] intensiv debattiert wird und das Problem der Wiederherstellung der «Einheit der P.» [39] hier besonders dringlich werden läßt.
4. Unbewußtes und psychische Energie. Die Psychoanalyse im Kontext der zeitgenössischen P. – In ihrem Hauptstrom ist die wissenschaftliche P. des späten 19. Jh. Bewußtseins-P. Sowohl Wundt als auch sein positivistischer Gegner Th. Ziehen halten die Ausdrücke «psychisch» und «bewußt» für identisch [40]; von diesem Standpunkt ist der Begriff des Unbewußt-Psychischen ein Widerspruch in sich. Um die Jahrhundertwende wird er jedoch rehabilitiert, und zwar im Interesse der Durchführung eines lückenlosen psychologischen Determinismus [41] oder der Verteidigung eines nicht-reduktionistischen psychophysischen Parallelismus gegen die Interaktionstheorie [42].
Nach Th. Lipps sind alle psychischen Vorgänge, als das psychisch Reale, unbewußt; dem Bewußtsein sind nur Inhalte zugänglich [43]. Wie andere akademische Psychologen [44] betrachtet Lipps das Unbewußte als hypothetischen Hilfsbegriff, der nur aus den Bewußtseinserscheinungen erschlossen werden kann. Vor allem bei Lipps ist mit dem Begriff des Unbewußten derjenige der psychischen Energie eng verbunden. Er unterscheidet «psychische Kraft» als die «Möglichkeit, daß überhaupt in der Seele Vorgänge entstehen», und «psychische Energie» als die Aktualisierung dieser Kraft, welche sich im Konkurrenzkampf zu anderen psychischen Vorgängen vollzieht [45]. Die psychische Kraft ist begrenzt, sie ist die einheitliche quantitative Dimension aller psychischen Vorgänge [46].
Nicht von der gesamten, sondern nur von der Wundtschen P. und ihrer positivistischen Reduktionsform unterscheidet sich die Psychoanalyse durch die Anerkennung des Unbewußten und durch die quantitativ-energetische Betrachtung der psychischen Prozesse. In ihrer psychologischen Terminologie ist sie vorwiegend an der herbartschen Schule («Verdrängung», «Verdichtung», «Hemmung» usw.), bezüglich des Unbewußten an Lipps [47] orientiert; im übrigen werden neurophysiologische Konzeptionen aus der Psychiatrie aufgegriffen [48].
Über die Abgrenzung der Psychoanalyse von der P. und ihre Stellung im System der Wissenschaften äußert sich S. Freud in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung uneinheitlich. In dem 1895 unveröffentlicht liegengelassenen ‹Entwurf einer P.› wird die Absicht verfolgt, durch Reduktion auf Neuroanatomie und – Physiologie eine «naturwissenschaftliche P. zu liefern» [49]. Der Übergang zur Psychoanalyse ist dann durch einen Verzicht auf physiologische Hypothesenbildung gekennzeichnet; nun wird gefordert, daß die Psychoanalyse «durchaus nur mit rein psychologischen Hilfsbegriffen arbeiten» müsse [50]; sie wird jetzt als ein «Stück P. schlechtweg» betrachtet, allerdings «nicht als das Ganze der P., sondern ihr Unterbau» [51]. Zuletzt kehrt Freud zu seiner Anfangskonzeption zurück; die Auffassung, das «Psychische an sich sei unbewußt», soll gestatten, «die P. zu einer Naturwissenschaft wie jede andere auszugestalten» [52]. Die nicht-psychoanalytische P. kennt Freud (mit Ausnahme von Lipps) durchwegs nur als «Bewußtseins-P.», die ihre Erklärungslücken mit physiologischen Hilfshypothesen schließen muß [53]. Der von E. Bleuler[54] eingeführte Begriff ‹Tiefen-P.› wird von Freud nur selten verwendet. Methodologische Leitlinie der Psychoanalyse ist die Meta-P. Sie fordert die Darstellung psychischer Prozesse unter topisch/strukturellen, dynamischen und ökonomischen (= energetischen) Gesichtspunkten [55] und führt notwendigerweise über die P. hinaus.
5. Phänomenologie und P.:Würzburger Schuleʼ und Akt-P. – Laut Wundt beginnt die psychologische Analyse mit der unmittelbaren Erfahrung und endet in der begrifflichen Rekonstruktion anschaulich repräsentierter psychischer Elemente [56]. Schon Münsterberg ersetzt das Prinzip der Anschaulichkeit durch dasjenige der noetischen Beziehung auf physische Objekte [57]. Seine empirische Widerlegung findet es im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. durch die Arbeiten der von O. Külpe begründeten ‘Würzburger Schuleʼ, die bei der introspektiven Beobachtung von Denkvorgängen zunächst psychische Prozesse ohne anschaulichen Inhalt finden und dann zu der Schlußfolgerung führen, daß «das Gewebe unseres Denkens selbst aus psychischen Prozessen besteht, die nicht die geringste Spur eines Empfindungs- und Vorstellungsinhaltes enthalten» [58].
Das Interesse der experimentellen P. an der Analyse von Denkvorgängen wird durch die seinerzeit aktuelle Grundlagendiskussion über das Verhältnis von P. und Logik angeregt [59]. Maßgebend ist der Einfluß von E. Husserls ‹Logischen Untersuchungen› Husserl bezweckt zwar die Widerlegung des Psychologismus in der Logik, deklariert seine Untersuchungen aber als «deskriptive P.» [60] und kommt mit der in ihnen entwickelten Klassifikation psychischer Akte den Interessen der damaligen P. entgegen. Indem Husserl zwischen Gegenstand und Inhalt intentionaler Erlebnisse unterscheidet, geht er über Brentanos P. hinaus und anerkennt die Notwendigkeit unanschaulicher Komponenten des Denkens, die in der Zuordnung von Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung und speziell in der Lehre von den signitiven Akten [61] zum Ausdruck kommt. Husserls Analyse findet die Zustimmung K. Bühlers, bedarf jedoch seiner Meinung nach der experimentellen Überprüfung [62]. Sie fällt positiv aus und resultiert in der Einführung einer neuen «Mannigfaltigkeit unserer Bewußtseinsmodifikationen», des «Wissens»; dieses ist unanschauliches Moment der «Gedanken», die nicht auf den Dimensionen der Empfindung variieren, ganzheitlich sind und nicht den Assoziationsgesetzen, sondern unter dem Einfluß der Aufgabe den gegenständlichen Beziehungen folgen [63].
Für Husserl beruhen Versuche, seine Analysen empirisch zu überprüfen, auf der irrtümlichen Gleichsetzung von Introspektion und phänomenologischer Methode. Die erstere zielt auf Tatsachenerkenntnis, die letztere auf Wesenserkenntnis [64]. Die P. bedarf der Phänomenologie, um nicht in die Fehler der «Naturalisierung» und «Verdinglichung» des Bewußtseins zu verfallen [65]. Die «wesenswissenschaftliche» Erforschung des Bewußtseins fällt der eidetischen P. zu, die dazu bestimmt ist, wie z.B. die Geometrie für die Physik, die «methodologisch grundlegende Wissenschaft» für die empirische P. zu werden [66].
Die empirische P. macht von der eidetischen P. keinen Gebrauch. Für sie bleibt im allgemeinen das eher an Brentano orientierte Verständnis von Phänomenologie als «deskriptiver P.» verbindlich [67]. C. Stumpf trennt die Phänomenologie von der P. ab; als «neutrale Wissenschaft von den Erscheinungen» soll sie sowohl der P. als auch der Physik vorangehen. Die P. hat sich auf das Studium psychischer Funktionen zu beschränken; deren gegenständliche Korrelate werden, soweit sie nicht der Wahrnehmung zugehören, der «Eidologie» überwiesen [68]. Diese Klassifikation der Wissenschaften setzt sich nicht durch, da sie gerade den zentralen Gegenstand der bisherigen P. – die Bewußtseinsinhalte – aus der P. ausscheiden würde. Die Würzburger Schule verarbeitet ihre Ergebnisse zu einem dualistischen Schema: Gegenstand der P. sind sowohl die anschaulichen, aber ungegenständlichen Inhalte als auch die unanschaulichen, aber gegenständlichen Akte oder Funktionen [69]. Der Begriff des Aktes grenzt deskriptiv verwendet die Akt-P. vom Sensualismus und funktional verwendet vom Assoziationismus ab [70].
6. Gestalt- und Ganzheits-P. – Der durch Ch. von Ehrenfels eingeführte Begriff der Gestaltqualität [71] wird zunächst von der «produktionstheoretischen» Grazer Schule (S. Witasek[72], V. Benussi[73]) rezipiert. Sie ist eine von Brentano und A. Meinong[74] angeregte Variante der Akt-P. und geht von der Dualität zwischen vorgestelltem Gegenstand, den sie der Physik zuweist, und Vorstellung als Gegenstand der P. aus [75]. Die Empfindungen faßt sie als innerlich selbständige «Daten» auf, aus denen die innerlich unselbständigen Vorstellungen, die als psychische Tatsachen ein einheitliches, unteilbares Ganzes bilden, «produziert» werden; Empfindungen sind fundierend, Vorstellungen fundiert.
Eine prinzipielle Wendung gegen die Elementen-P. wird kurz vor dem Ersten Weltkrieg von M. Wertheimer, K. Koffka und W. Köhler vollzogen, die ihre Konzeption seit etwa 1920 als «Gestalt-P.» bezeichnen [76] und auf der Grundlage einer umfassenderen Gestalttheorie [77] aufbauen. Die Berliner Schule stellt den produktionstheoretischen Gestaltbegriff vom Kopf auf die Füße, indem sie die Unselbständigkeit und Ganzbestimmtheit psychischer Teilinhalte behauptet, und zwar aufgrundder Regel, daß die Phänomenologie (im Sinne Stumpfs) der Theoriebildung vorauszugehen habe [78]. Die letztere beschränkt sich nicht auf die P., sondern bezieht auch die Gehirnphysiologie ein; hier wird die eine feste Zuordnung zwischen lokaler Reizung, lokaler Erregung und Empfindung behauptende «Konstanzannahme» bekämpft und durch das Konzept der dynamischen Selbstregulierung des Geschehens im Zentralnervensystem ersetzt. Köhler dehnt das Gestaltprinzip auf die Physik aus. Er sieht bei stationären Systemen, vor allem elektrolytischen Lösungssystemen, die Gestaltkriterien der Transponierbarkeit und Übersummativität erfüllt und betrachtet das Geschehen im Zentralnervensystem als Spezialfall der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten solcher «physischen Gestalten» [79]. Die Einordnung der Gestalt-P. in die allgemeine Gestalttheorie wird durch die Annahme geleistet, daß «aktuelles Bewußtsein in jedem Falle zugehörigem psychophysischen Geschehen den realen Struktureigenschaften nach verwandt, nicht sachlich sinnlos nur zwangsläufig daran gebunden ist» [80]. Dieses, später im Sinne der Strukturidentität des funktionellen Geschehens präzisierte Isomorphie-Prinzip bestimmt das Erleben als Innen –, die physiologischen Prozesse als Außenaspekt eines identischen Substrates.
Dem Vordringen des Behaviorismus trägt Koffka schon 1925 dadurch Rechnung, daß er die Innen/Außen-Metapher auf die Beziehung zwischen Bewußtsein und Verhalten ausdehnt, das erstere als «inneres Verhalten» bezeichnet und so die P. als «Wissenschaft vom Verhalten» [81] und – nach seiner Übersiedlung in die USA – als «Erforschung des Verhaltens in seinem kausalen Zusammenhang mit dem psychophysischen Feld» [82] bestimmt. Dagegen verbleibt W. Metzger in der deutschen Tradition, wenn er die Aufgabe der P. als «Erforschung der anschaulichen Welt» [83] beschreibt und das dem Isomorphie-Prinzip unterliegende psychophysische Niveau auf die bewußtseinsfähigen Vorgänge beschränkt [84].
Während die Berliner Schule durch Külpe und Stumpf angeregt ist, nimmt F. Krueger seinen Ausgang von Wundt und Lipps. In der von ihm begründeten ‘Leipziger Schuleʼ der Ganzheits-P. bezeichnet «Ganzheit» als Oberbegriff das «Prinzip der Unzusammengesetztheit des Seelischen» [85]. «Gestalt» steht für gegliederte, «Komplex» für ungegliederte Ganzheiten. Das Ganzheitsprinzip wird für den Organismus und das Psychische anerkannt, für die unbelebte Materie abgelehnt, weswegen die Gestalt-P. als physikalistisch kritisiert wird [86]. Psychische Strukturen sind «tragender Grund» oder «dispositionelle Bedingung» der Erlebnisganzheit [87]. Das aktuelle psychische Geschehen vollzieht sich in einem realen, dauerhaften Träger mit transphänomenalen Eigenschaften: der Seele. Kruegers Lehre ist Seins- anstelle von Bewußtseins-P.; sein Schüler A. Wellek feiert ihn daher als «Wiederhersteller der Seelenwissenschaft» [88]. Weitere charakteristische Momente sind die Annahme des genetischen und funktionalen Primats der Gefühle und eine sozialgenetische Auffassung des Psychischen, die den Primat der Gemeinschaft über das Individuum behauptet [89].
7. Funktionalistische Ansätze in der P.Wundt bestimmt das Bewußtsein als «Zusammenhang der psychischen Prozesse» [90] und konstatiert einen intrapsychischen Determinismus. Seine positivistischen Anhänger lassen den psychischen Zusammenhang physiologisch vermittelt sein und beschränken sich darauf, die Existenz des Bewußtseins zu akzeptieren, statt sie zu begründen: «Das Bewußtsein ‘istʼ, es ‘ist nicht fürʼ» [91]. Mit dieser forcierten Betonung des «strukturalistischen» Standpunktes reagiert Titchener auf das Vordringen evolutionstheoretisch inspirierter Ansätze in der amerikanischen P., die zunächst keinen Schulzusammenhang bilden, sich jedoch zu Beginn des 20. Jh. unter der Bezeichnung «functional psychology» oder «Funktionalismus» [92] als neue Richtung der P. etablieren.
Nach W. James ist das menschliche Gehirn aufgrundseiner Komplexität ein instabiles System und benötigt das Bewußtsein als zwischen Handlungswegen und -zielen auswählende Steuerungsinstanz [93]. Daher neigt James dem psychophysischen Interaktionismus zu, obwohl er den Parallelismus für «wissenschaftlicher» hält [94]. Die P. ist die Wissenschaft von den Phänomenen und den Bedingungen des seelischen Lebens [95]. James' P. verbindet den naturwissenschaftlichen mit dem phänomenologischen (von James «introspektiv» genannten) Standpunkt. Seine Analyse der Gewohnheit als automatisch ablaufender Kettenreflex wird vom Behaviorismus, seine Lehre vom Bewußtseinsstrom von Dilthey und Husserl rezipiert. Als Philosoph stellt James in Form des von ihm mitbegründeten Pragmatismus die erkenntnistheoretische und ideologische Grundlage der funktionalistischen und behavioristischen P. bereit [96].
Für J. M. Baldwin ist die P. eine «genetische Wissenschaft», was ihre Reduktion auf Physiologie oder Biologie ausschließt, da nach der Axiomatik genetischer Wissenschaften auf höheren Entwicklungsstufen neue, auf der nächstniederen Stufe noch nicht vorhandene Gesetzmäßigkeiten auftreten [97]. Entwicklungsprozesse sind nach Baldwin nur dialektisch zu erfassen; so entsteht z.B. der Subjekt-Objekt-Dualismus aus einer anfänglichen «adualistischen» und einer darauf aufbauenden «subjektiven» Phase [98]. Auch der Dualismus von Innen und Außen ist anfänglich nicht vorhanden; psychische Kontrolle und damit das Konzept einer psychischen Innenwelt entstehen auf dem Wege sozialer Kontrolle [99]. Wenn die P. die Entwicklung des Erkennens erforscht, bildet sie als «genetic psychology of cognition» den Subjektpol der «genetischen Logik», deren Objektpol von der «genetischen Epistemologie» dargestellt wird [100].
Weder James noch Baldwin bezeichnen ihre P. als «funktionalistisch». Der Funktionalismus wird erst 1906 von J. R. Angell zum Programm erhoben, und zwar mit den folgenden Komponenten: a) Statt um psychische Elemente geht es um psychische Operationen, statt um das ‘Wasʼ um das ‘Warumʼ des Bewußtseins, b) Das Bewußtsein ist eine zwischen Umwelt und organischen Bedürfnissen vermittelnde Kontrollinstanz, c) Der Funktionalismus ist eine «psychophysische P.», indem er der – im Sinne des Interaktionismus aufgefaßten – Leib-Seele-Beziehung wesentliche Bedeutung für das Seelenleben zuspricht [101].
8. Der Behaviorismus und verwandte Richtungen. – «Der Behaviorist betrachtet die P. als rein objektiven Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens. Die Introspektion ist kein wesentlicher Teil ihrer Methoden, und der wissenschaftliche Wert ihrer Daten hängt nicht davon ab, in welchem Maße sie geeignet sind, in Ausdrücken des Bewußtseins interpretiert zu werden» [102]. Mit diesen Worten setzt J. B. Watson 1913 den von ihm begründeten Behaviorismus von älteren verhaltenspsychologischen Ansätzen ab. Seit 1895 war mehrfach vorgeschlagen worden, die P. als Wissenschaft vom Verhalten zu definieren [103], doch waren solche Vorschläge entweder auf die Tier-P. beschränkt oder faßten das Verhalten als Äußerung innerer, psychischer Prozesse auf. Watsons Programm soll die gesamte P. umfassen. Neu ist außerdem, daß Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens theoretisches Ziel der P. sein sollen; frühere Ansätze hatten hierin allenfalls ein Ziel der angewandten oder praktischen P. erblickt [104]. Der für den Behaviorismus charakteristische milieutheoretische Determinismus ist prägnanter Ausdruck seiner technologischen Orientierung.
Watson wendet sich in der Ablehnung der Introspektion gegen den Strukturalismus Titcheners und in der Zurückweisung der psychophysischen Interaktionslehre und ihrer Ersetzung durch einen materialistischen Monismus gegen den Funktionalismus [105]. Die konkrete Durchführung des behavioristischen Programms besteht in der Übernahme verbreiteter Denkmuster der damaligen P. unter Elimination bewußtseinsdeskriptiver Ausdrücke; dies gilt z.B. für den Peripheralismus, d.h. für die Annahme, daß das Verhalten durch Prozesse an der Peripherie des Organismus determiniert ist. Pavlovs Lehre von den bedingten Reflexen wird erst nach Aufstellung des behavioristischen Programms aufgenommen [106]. Bezüglich des Grundbegriffs seiner P. schwankt Watson zwischen der Betonung der Eigengesetzlichkeit des Verhaltens und seiner physiologistischen Reduktion auf Muskelzuckungen und Drüsensekretionen [107].
Parallel zum Behaviorismus, der die Konsequenz aus der Philosophie des Pragmatismus zieht, entsteht in den USA die philosophische Bewegung des Neuen Realismus, die eine objektive Definition des Bewußtseins erstrebt und die Zukunft der P. «in die Hände der Behavioristen» legt [108]. Von ihr ausgehend, entwickelt E. C. Tolman 1922 eine «neue Formel für den Behaviorismus» [109]; sie ist nicht physiologisch, sondern «molar» und geht von dem objektiven Sachverhalt der zielgerichteten Handlung aus. Zu Beginn der dreißiger Jahre übernimmt der Operationalismus die Aufgabe der methodologischen Grundlegung des Behaviorismus und erlaubt es, zwischen Reiz und Reaktion intervenierende Variablen einzuschieben [110], die von Tolman[111] in phänomendeskriptiver, von C. L. Hull[112] in quasi-physiologischer Sprache interpretiert werden. Obwohl die Formel «Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens» beibehalten wird, verschiebt sich das Forschungsinteresse immer mehr auf die «Auffüllung» des Organismus mit operational definierten hypothetischen Konstrukten, die von Hull [113] in ein aus Postulaten, Theoremen und Korollaren bestehendes «Verhaltenssystem» gebracht werden. An die Stelle des Behaviorismus ist damit der Neobehaviorismus getreten, der zwischen 1930 und 1960 das führende Paradigma der P. in den USA ist, die letzten Ausläufer des Titchenerschen Strukturalismus in sich aufgesogen hat [114] und Impulse aus der Gestalt-P. [115] und der Psychoanalyse [116] aufnimmt.
Vielfach wird die schon im zaristischen Rußland begründete, in der Sowjetunion aufblühende Physiologie der höheren Nerventätigkeit I. P. Pavlovs als Vorläufer und Parallelerscheinung des Behaviorismus angesehen. Dies ist im Hinblick auf die objektivistische Methodologie und die vor allem seit 1927 einsetzende intensive Rezeption der Pavlovschen Lehre durch den Behaviorismus zutreffend. Jedoch ist Pavlov [117] primär an der Neurodynamik interessiert und benutzt das Verhalten als methodischen Zugang zu dieser; einen «reinen», d.h. physiologisch nicht untermauerten Behaviorismus lehnt er als «grob» oder «vorläufig» ab [118]. Eine Parallele zum Behaviorismus bietet eher W. Bechterews objektive P. [119] bzw. Reflexologie. Sie ist «die Wissenschaft von der menschlichen Persönlichkeit, die von einem streng objektiven, biosozialen Gesichtspunkte erforscht wird» [120], und tritt mit dem Anspruch auf, die gesamte bisherige P. zu ersetzen und auch Soziologie, Pädagogik, Ästhetik und Ethik zu umfassen [121]. Aufgrunddieses Anspruchs gerät sie mit der marxistischen Lehre in Konflikt und verschwindet seit 1929 aus der sowjetischen Wissenschaft.
9. Wege zur Lösung der Krise. – Das Bestehen einer Krise der P. wird gelegentlich geleugnet [122], im allgemeinen ist man aber bestrebt, die Einheit der P. wiederherzustellen. Dabei lassen sich zwei Strategien unterscheiden. Die exklusive Strategie besteht darin, daß eine bestimmte Schule für sich in Anspruch nimmt, die Voraussetzungen für die Vereinheitlichung der P. zu besitzen. Dieser Anspruch kann wiederum mit mehr inhaltlichen und mit mehr methodologischen Argumenten verfochten werden. Den ersten Typ vertritt die Gestalt-P., derzufolge das Prinzip der Selbstregulation imstande ist, den Dualismus von erklärender und verstehender P. aufzuheben [123]. Der zweite Typ hat die Perspektive, die P. als Glied einer Einheitswissenschaft zu konstituieren, etwa im Sinne des logischen Positivismus und des von ihm geforderten methodologischen Physikalismus [124], aber auch im Sinne des Marxismus [125]. Psychologische Ansätze, die den monistischen methodologischen Kriterien nicht genügen, müssen dann entweder im Sinne dieser Kriterien umformuliert [126] oder fallengelassen werden.
Die synthetische Strategie anerkennt die Vielfalt der Schulen als Ausdruck jeweils partiell berechtigter Zugangsweisen. So vor allem K. Bühler, der 1927 Erlebnis, sinnvolles Benehmen (Verhalten) und Korrelation mit den Gebilden des objektiven Geistes als unentbehrliche, einander voraussetzende Aspekte der P. anerkennt und in jeder Verengung auf einen dieser Aspekte eine Verfehlung des Gegenstands der P. erblickt [127]. Weniger umfassend und stringent, da ideologisch vorbelastet, ist eine Synthese, die sich in Deutschland gegen Ende der Weimarer Zeit herausbildet und nur wenig verändert in die nationalsozialistische Periode übernommen wird. Sie stellt das Prinzip der biologischen Ganzheit in den Mittelpunkt und läßt in diesem Rahmen verschiedene psychologische Ansätze gelten, sofern diese nicht dem Verdikt des Physikalismus oder Intellektualismus verfallen [128]. So erblickt B. Petermann 1938 in der «Biologisierung» und «Anthropologisierung» der P. das Merkmal der gelungenen Überwindung der Krise und unterscheidet drei gleich notwendige «Betrachtungsansätze», nämlich den funktions-, den gehalt- und den wesensdynamisch-vitalpsychologischen Ansatz. Eine derart konzipierte P. ist «in der Lage, an dem völkisch-politischen Bild vom Menschen» mitzuarbeiten [129]; sie ist Teil der «völkischen Anthropologie» [130].
[1]
R. Willy: Die Krisis in der P. (1899) 1.
[2]
K. Bühler: Die Krise der P. (1927) 1.
[3]
Vgl. H. Hildebrandt: Art. ‹Parallelismus, psychophysischer›.
[4]
H. Ebbinghaus: Über das Gedächtnis (1889).
[5]
Vgl. K. Marbe: Die Aktion gegen die P. (1914) 6. r.
[6]
Vgl. W. Witte: Art. ‹Psychotechnik›.
[7]
W. Wundt: Über reine und angewandte P. Psychol. Stud. 5 (1910) 1–47.
[8]
Vgl. M. G. Ash: Die experim. P. an den deutschsprachigen Universitäten von der Wilhelmin. Zeit bis zum Nationalsozialismus, in: M. G. Ash/U. Geuter (Hg.): Gesch. der dtsch. P. im 20. Jh. (1985) 45–82.
[9]
Vgl. P. Natorp: Allg. P. nach krit. Methode (1912) V; L. Binswanger: Einf. in die Probleme der Allg. P. (1922) 5.
[10]
R. Avenarius: Bemerkungen über den Gegenstand der P. 3. Vjschr. wiss. Philos. 19 (1895) 1–18, hier 16.
[11]
E. Mach: Analyse der Empfindungen (1886) 3f.
[12]
O. Külpe: Grundriß der P. (1893) 3f.
[13]
E. B. Titchener: A text-book of psychol. (1910, dtsch. 21926) 5ff.
[14]
Vgl. K. Danziger: The positivist repudiation of Wundt. J. Hist. behav. Sci. 15 (1979) 205–230.
[15]
Th. Ziehen: Die Grundlagen der P. 2 (1915) 27.
[16]
Vgl. H. Henle: E. B. Titchener and the case of the missing element. J. Hist. behav. Sci. 10 (1974) 227–237.
[17]
Titchener: Systematic psychol. (New York 1929) 266.
[18]
H. Rickert: Die Grenzen der naturwiss. Begriffsbildung (1896–1902).
[19]
Natorp, a.O. [9].
[20]
H. Münsterberg: Grundzüge der P. (1900).
[21]
Vgl. E. Scheerer: Art. ‹Objektivierung I›, in: Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1060–1063.
[22]
Natorp, a.O. [9] 187f.
[23]
Rickert, a.O. [18] 183–208.
[24]
Münsterberg, a.O. [20] 72.
[25]
Natorp, a.O. [9] 189–213.
[26]
Rickert, a.O. [18] 539ff.
[27]
Münsterberg, a.O. [20] VIII.
[28]
Philos. der Werte (1908).
[29]
a.O. [20] (21918) XI.
[30]
W. Dilthey: Ideen über eine beschreib. und zerglied. P. (1894). Ges. Schr. 5 (1924) 139–249; vgl. H.-U. Lessing: Art. ‹P., beschreibende und zergliedernde›.
[31]
Dilthey: Das geschichtl. Bewußtsein und die Weltanschauungen (o.J.), a.O. 8 (1931) 24.
[32]
Vgl. Lessing, a.O. [30].
[33]
W. Schmied-Kowarzik: Umriß einer neuen analyt. P. (1912) 62f.
[34]
E. Spranger: Lebensformen, in: Festschr. für A. Riehl (1914) 423.
[35]
Lebensformen (51925); P. des Jugendalters (121929).
[36]
P. des Jugendalters ... 9f.
[37]
Lebensformen ... XIV.
[38]
Auf dem 1926 in Groningen abgeh. Intern. Kongreß für P. fand ein Symposium über Erklären und Verstehen statt; sämtliche Teilnehmer sprachen deutsch.
[39]
Spranger: Die Frage nach der Einheit der P. (1926). Ges. Schr. 4 (1973) 1–36.
[40]
W. Wundt: Grundzüge der physiol. P. 3 (61911) 111; Th. Ziehen: Leitfaden der physiol. P. (101914) 3f.
[41]
H. Ebbinghaus: Grundzüge der P. 1 (21905) 61.
[42]
W. Hellpach: Unbewußtes oder Wechselwirkung. Z. Psychol. 48 (1908) 238–258. 321–384.
[43]
Th. Lipps: Leitfaden der P. (1903) 37f.
[44]
Vgl. Ebbinghaus, a.O. [41].
[45]
Lipps, a.O. [43] 36.
[46]
a.O. 35.
[47]
Vgl. etwa S. Freud: Die Traumdeutung (1900). Ges. Werke 2. 3 (1942) 616f.; Der Witz (1908), a.O. 6 (1940) 184; Abriß der Psychoanalyse (1938), a.O. 17 (1940) 80.
[48]
Vor allem Th. Meynert: Klin. Vorles. über Psychiatrie (1890).
[49]
Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse (1950).
[50]
Vorles. zur Einf. in die Psychoanalyse (1917). Ges. Werke 11 (1940) 14.
[51]
Nachwort zur Frage der Laienanalyse. Intern. Z. Psychoan. 13 (1927).
[52]
Abriß der Psychoanalyse, a.O. [47].
[53]
a.O.
[54]
E. Bleuler: Die Psychoanalyse Freuds. Jahrb. psychoanal. psychopath. Forsch. 2 (1910).
[55]
Freud: Das Unbewußte (1915). Ges. Werke 10 (1946) 281.
[56]
Wundt, a.O. [40] 1 (31908) 401.
[57]
Vgl. Münsterberg, a.O. [20] 310ff.
[58]
G. Humphrey: Thinking (London 1951) 32.
[59]
So schon K. Marbe: Experim.-psychol. Unters. über das Urteil (1901).
[60]
Die Unterscheidung von ‹Phänomenologie› und ‹deskriptiver P.› noch nicht in E. Husserl: Log. Unters. (1900/01), sondern erst in: Bericht über dtsch. Schriften zur Logik in den Jahren 1895–1899 (1903). Husserliana 22 (1979) 206f.
[61]
Husserl: Log. Unters. II/2 (21913) 67.
[62]
K. Bühler: Tatsachen und Probleme zu einer P. der Denkvorgänge 1: Über Gedanken. Arch. ges. Psychol. 9 (1907) 297–365, hier 298f.
[63]
a.O. 328f. 361ff.
[64]
Husserl: Ideen zu einer reinen Phän. und phänomenol. Philos. 1. Jahrb. Philos. phänomenol. Forsch. 1 (1913) 3f.
[65]
Philos. als strenge Wiss. Logos 1 (1910) 289–341, hier 304ff.
[66]
Ideen 1 ... 143.
[67]
Gleichsetzung von ‹Phänomenologie› und ‹deskriptive P.› z.B. bei O. Külpe: Die Realisierung 1 (1912) 16f.
[68]
C. Stumpf: Zur Einteil, der Wiss.en. Abh. Königl. Akad. Wiss. Berlin (1907).
[69]
Zusammenstellung der verschiedenen Einteilungen bei E. G. Boring: A hist. of exper. psychol. (New York 21957) 452.
[70]
A. Messer: Über den Begriff des ‘Aktesʼ. Arch. ges. Psychol. 24 (1912) 245–275, hier 271f.
[71]
Ch. von Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten. Vjschr. wiss. Philos. 14 (1890) 249–292.
[72]
S. Witasek: Grundlinien der P. (1908).
[73]
V. Benussi: P. der Zeitauffassung (1913).
[74]
A. Meinong: Über Annahmen (1902).
[75]
Witasek, a.O. [72] 6.
[76]
‹Gestalt› wird auch ins Engl. übernommen; vgl. K. Koffka: Perception. An introd. to the Gestalt-theorie. Psychol. Bull. 19 (1922) 531–585.
[77]
Vgl. W. Metzger: Art. ‹Gestalt-P., Gestalttheorie›, in: Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 549ff.
[78]
Koffka: P. der Wahrnehmung. Die Geisteswiss. 26 (1914) 711–716. 796–800.
[79]
W. Köhler: Die phys. Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand (1924).
[80]
a.O. 193.
[81]
Koffka: P., in: M. Dessoir (Hg.): Die Philos. in ihren Einzelgeb. (1925) 497–603, hier 503.
[82]
Principles of Gestalt psychol. (London 1935) 67.
[83]
W. Metzger: P. (1941) 14.
[84]
a.O. 267.
[85]
H. Volkelt: Grundfragen der P. (1963) 11.
[86]
F. Krueger: Die Aufgaben der P. an den dtsch. Hochschulen (1932) 11.
[87]
Der Strukturbegriff in der P. (1924) 16f.
[88]
A. Wellek: Die Wiederherst. der Seelenwiss. im Lebenswerk Felix Kruegers (1950).
[89]
K. von Dürckheim-Montmartin: Gemeinschaft. Neue psychol. Stud. 12/1 (1935) 195–214.
[90]
Wundt, a.O. [40] 296f.
[91]
E. B. Titchener: Structural and functional psychol. Philos. Rev. 8 (1899) 290–299.
[92]
Vgl. K. Holzkamp: Art. ‹Funktionalismus›, in: Hist. Wb. Philos 2 (1972) 1143–1145.
[93]
W. James: Principles of psychol. 1 (1890) 138–144.
[94]
a.O. 182.
[95]
1.
[96]
Vgl. W. Friedrich u.a.: Zur Kritik des Behaviorismus (1979).
[97]
J. M. Baldwin: Thought and things. A study of the devel. and meaning of thought; or genetic logic 1 (London 1906) 20.
[98]
Das soziale und sittliche Leben erklärt durch die geist. Entwickl. (1900) 6ff.
[99]
a.O. [97] 101.
[100]
a.O. 18.
[101]
J. R. Angell: The province of functional psychol. Psychol. Rev. 14 (1907) 61–91.
[102]
J. B. Watson: P. as the behaviorist views it. Psychol. Rev. 20 (1913) 158–177, hier 158.
[103]
Frühester Vorschlag, den Gegenstand der P. als ‘Verhaltenʼ zu definieren, bei W. Heinrich: Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnesorgane. Z. Psychol. 9 (1895) 342ff., hier 349; weitere Beispiele: Külpe, a.O. [67] 181; W. McDougall: P., the study of behaviour (London 1912); W. Pillsbury: Essentials of psychol. (New York 1911).
[104]
Vgl. F. Samelson: Struggle for scient. authority: The reception of Watson's behaviorism. J. Hist. behav. Sci. 17 (1981) 399–425.
[105]
Vgl. G. Bergmann: The contrib. of John B. Watson. Psychol. Rev. 63 (1956) 265–276.
[106]
Watson: The place of the condit. reflex in psychol. Psychol. Rev. 23 (1916) 89–116.
[107]
Beispiel für die ‘breiteʼ Verhaltensdefinition: Watson: Behaviorism (New York 1925) 6f.
[108]
E. B. Holt: Response and cognition. J. Philos. psychol. Sci. Meth. 12 (1915) 365–373. 393–409, hier 407.
[109]
E. C. Tolman: A new formula for behaviorism. Psychol. Rev. 29 (1922) 44–53.
[110]
Vgl. E. Scheerer: Art. ‹Operationalismus II›, in: Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1218–1222.
[111]
Tolman: Purposive behavior in animals and man (New York 1932).
[112]
C. L. Hull: Principles of behavior (New York 1943).
[113]
A behavior system (New Haven 1952).
[114]
E. G. Boring: The physical dimensions of consciousness (New York 1933).
[115]
E. C. Tolman/C. H. Honzik: ‘Insightʼ in rats. Univ. Calif. Publ. Psychol. 4 (1930) 215–232.
[116]
Vgl. A. Schorr: Clark Hull und die Psychoanalyse. Stud. Hist. Psychol. soc. Sci. 2 (1984) 373–397.
[117]
I. P. Pavlov: Condit. reflexes (London 1927).
[118]
The reply of a physiologist to psychologists. Psychol. Rev. 39 (1932) 91–127; vgl. G. Windholz: Pavlov's position toward American behaviorism. J. Hist. behav. Sci. 19 (1983) 394–407.
[119]
W. Bechterew: Objektive P., oder Psychoreflexologie, die Lehre von den Assoziationsreflexen (1913).
[120]
Allg. Grundlagen der Reflexologie des Menschen (1926) 1.
[121]
a.O. XI.
[122]
W. Wirth: Zur Widerlegung der Behauptungen von Krisen in der modernen P. Vjschr. Psych. Med. 2 (1927) 100–131.
[123]
Koffka, a.O. [81] 503ff.
[124]
E. Brunswik: The conceptual framework of psychology. Intern. Encycl. unified Sci. 1/10 (Chicago 1952).
[125]
L. S. Wygotski: Die Krise der P. in ihrer hist. Bedeutung (1925). Werke 1 (1985) 57–278.
[126]
Beispiel für die Umformulierung der Psychoanalyse in Behaviorismus: J. Dollard/N. E. Miller: Personality and psychotherapy (New York 1950).
[127]
Bühler, a.O. [2] Kap. 2.
[128]
Vgl. E. Scheerer: Organ. Weltanschauung und Ganzheitspsychol., in: C. F. Graumann (Hg.): P. im Nationalsozialismus (1985) 15–54.
[129]
B. Petermann: Wesensfragen seelischen Seins (1938) 15.
[130]
O. Kroh: Entwicklungspsychol. des Grundschulkindes als Grundlage völkischer Erziehung (111935).
O. Saupe (Hg.): Einf. in die neuere P. (1928). – R. Müller-Freienfels: Hauptricht. der P. (1929). – H. Henning: P. der Gegenwart (21931). – E. Heidbreder: Seven psychologies (New York 1933). – A. Tilquin: Le behaviorisme (21950). – S. Koch (Hg.): Psychology: A study of a science (New York 1956ff.). – E. G. Boring s. Anm. [69]. – M. H. Marx/W. A. Hillix: Theories and systems of psychol. (New York 1963). – M. Jaroschewski: Die P. im 20. Jh. (1975). – B. D. Mackenzie: Behaviorism and the limits of scient. method (London 1977). – W. Friedrich u.a. s. Anm. [96]. – S. Koch/D. E. Leary (Hg.): A century of psychol. as a sci. (New York 1985). – M. G. Ash/U. Geuter (Hg.): Gesch. der dtsch. P. s. Anm. [8].
G. Persönlichkeit, Entwicklung und Gesellschaft als Ausgangspunkte der P. – 1. Vorbemerkung. – In der Periode der Etablierung der P. als Fachwissenschaft gilt mit wenigen Ausnahmen der Primat der Allgemeinen P.: Die P. befaßt sich mit dem Psychischen (Bewußtsein, Unbewußtes, Erleben, Verhalten usw.) und seinen Gesetzen schlechthin; daß es individuell ausgeprägt ist, sich entwickelt und sozial geformt ist, wird zwar anerkannt, geht aber nicht in die Gegenstandsbestimmung der P. ein. Teils schon während der Krisenepoche, teils im Zuge ihrer Verarbeitung entstehen psychologische Ansätze, die einen Wechsel der Perspektive vornehmen und das Psychische gerade von jenen Sachverhalten her bestimmen, die bisher nur als Anhänge oder Ergänzungen zur Allgemeinen P. ins Blickfeld geraten waren.
2. P. auf personalistischer Basis.W. Stern entwickelt aus der von ihm begründeten Differentiellen P. [1] die philosophische Konzeption des Personalismus [2] und errichtet auf ihrer Grundlage ein System der Allgemeinen P. [3]. Die Person ist als «psychophysisch neutraler» Träger des organischen Lebens durch die Merkmale der individuellen Ganzheit, zielstrebigen Wirkung, Selbstbezogenheit und Weltoffenheit definiert. Dazu tritt noch das fakultative Moment des Erlebens, das die psychische Seite der Person darstellt. In ihrem psychophysisch neutralen Wesen wird die menschliche Person von der Personalistik untersucht, die P. ist als einer ihrer Teile die «Wissenschaft von der erlebenden und erlebensfähigen Person» [4]. Der Begriff des Erlebens ist weiter als derjenige des Bewußtseins, er bezeichnet «Leben in Spaltung und Spannung» [5], das Erleben steht zwischen Vitalsphäre und der durch Introzeption der objektiven Werte geschaffenen Humansphäre [6].
Die personalistische P. gehört zu den synthetischen Versuchen, die Krise der P. zu lösen. Denn sie ordnet die Grundbegriffe der divergierenden psychologischen Ansätze in ein Schichtenschema ein, das von psychischen Phänomenen und Akten über psychische und psychophysische Dispositionen zu Person und Persönlichkeit führt. Sterns differentialpsychologisches Anliegen ist im Begriff der Dispositionen aufgehoben; sie sind gemäß der «Konvergenztheorie» als offene, zu ihrer Entfaltung des Materials und Anstoßes aus der Umwelt bedürftige Möglichkeiten konzipiert. Der geisteswissenschaftlichen P. wird durch die Begriffe «Humansphäre» und «Persönlichkeit» Rechnung getragen; der letztere bezeichnet die «einheitliche sinnvolle Lebensgestalt, der die Introzeption zustrebt» [7] und ist nur auf den Menschen, nicht aber auf das Tier anwendbar.
3. Wege der sozialwissenschaftlichen Erweiterung der P. – Um die Jahrhundertwende wird der traditionelle Dualismus zwischen Individual- und Sozial-P. in methodischer Hinsicht relativiert, indem das Experiment auch auf Gruppenprozesse angewendet wird [8]. Gleichzeitig behaupten J. M. Baldwin (s. oben, F. 7.) und J. Dewey[9] – vor allem letzterer unter Rückgriff auf Hegel – die soziale Genese der Persönlichkeit. G. H. Mead vertritt ebenfalls funktionalistische Positionen, rezipiert aber die Wundtsche Völker-P. Er entnimmt ihr das Prinzip der Entstehung der Sprache aus der Gestik und verallgemeinert es zur Entstehung des Bewußtseins aus der Rückwirkung der Ausdrucksbewegung auf das Individuum. Indem das Individuum die sprachliche Geste verwendet, wird es sein eigenes Objekt [10]. Von diesen Voraussetzungen her postuliert Mead 1909 die Unentbehrlichkeit der Sozial-P. als «Gegenstück» zur physiologischen P. [11]. Der von Mead prinzipiell begrüßte Vorstoß Watsons veranlaßt ihn, seine Lehre als «Sozialbehaviorismus» zu bezeichnen [12], ein Ausdruck, der jedoch Kritik an der Beschränkung des Behaviorismus auf die Erforschung individuellen Verhaltens und seiner methodologischen Leugnung des Bewußtseins impliziert. Existenz, Funktion und methodische Zugänglichkeit des Bewußtseins werden von Mead nicht bestritten, seine Konzeption ist nur hinsichtlich der sozialen, durch das äußere Verhalten vermittelten Genese der symbolischen Grundfunktion des Bewußtseins behavioristisch.
Um 1940 gerät die soziale Umwelt ins Blickfeld des Neobehaviorismus. Dieser wird dadurch aber nicht zu einem Sozialbehaviorismus im Sinne Meads, da er vom Konzept eines mit angeborenen Trieben ausgestatteten, erst sekundär sozialer Kontrolle unterworfenen Organismus ausgeht und bestrebt ist, die am individuellen Verhalten ermittelten Gesetzmäßigkeiten auf das Sozialverhalten zu übertragen. In der Theorie des «sozialen Lernens» sollen die «grundlegenden Prinzipien» des Lernens aus der P. und seine hauptsächlichen Bedingungen aus der Sozial Wissenschaft abgeleitet werden [13].
Auch die aus der Gestalt-P. hervorgegangene topologische P. K. Lewins[14] gehört zum Typus einer sozialwissenschaftlich erweiterten Individual-P.
4. P. auf marxistisch-leninistischer Basis. – In der Sowjetunion macht die P. eine komplizierte Entwicklung durch, die etwa die folgenden Phasen aufweist: 1917–1929: Zurückdrängung der idealistischen P., Vorherrschen objektivistischer Ansätze; 1929–1936: Rehabilitation des Bewußtseins als Gegenstand der P.; 1936–1948: Elimination fast der gesamten praktischen P.; Phase der theoretischen Rekonstruktion der P.; 1948–1960: Versuchte «Pawlowisierung» der P.; ab 1960: Befreiung der P. von objektivistischen Restriktionen, Herausbildung eines durch die Forderung der Verträglichkeit mit dem dialektischen Materialismus eingeschränkten Theorienpluralismus [15]. Von diesen Phasen sind im vorliegenden Kontext vorwiegend die zweite und dritte von Interesse, da sich in ihnen ein historisch-soziogenetischer Zugang zum Gegenstand der P. herausbildet, der die sowjetische P. von der «bürgerlichen» P. ihrer Zeit unterscheidet und mit beträchtlicher Verzögerung auch außerhalb der Sowjetunion rezipiert wird (s. unten, H. 7.).
Ausgehend von einer Analyse der Krise der P. [16] und in kritischer Wendung gegen die Reflexologie Bechterews[17], fordert L. S. Vygotskij 1925 die Rehabilitation des Bewußtseins als Gegenstand der P., und zwar unter Verweis auf die von K. Marx betonte ideelle Antizipation des Arbeitsresultates als Spezifikum der menschlichen Arbeit [18]. Das Bewußtsein hat Kontroll- und Steuerungsfunktion und stützt sich dabei auf ein System «psychischer Werkzeuge», die zwischen Reiz und Reaktion vermitteln, jedoch nicht biologisch, sondern als Produkte der historischen Entwicklung des Menschen zu erklären und als gesellschaftlich entstandene Zeichen aufzufassen sind [19]. Ihre individuelle Aneignung geht auf dem Wege der Verinnerlichung äußerer Tätigkeiten vonstatten, in deren Verlauf interpersonelle in intrapersonelle Vorgänge umgewandelt werden [20]. Die historische Entwicklung des Verhaltens ist «direkt von den allgemeinen Gesetzen der historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft abhängig», die P. muß sich dementsprechend der historischen Methode bedienen und dabei in methodologischer Hinsicht auf den Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus aufbauen [21].
Vygotskijs «kulturhistorischer» Ansatz wird von seinen Mitarbeitern A. N. Leont'ev und A. R. Luria weiterentwickelt, indem sie die leninistische Widerspiegelungstheorie rezipieren und sich nicht nur methodologisch, sondern auch inhaltlich an den dialektischen Materialismus anschließen. Die «Tätigkeitstheorie», wie sie heute meistens genannt wird, nimmt ab 1960 eine führende Rolle in der sowjetischen P. ein. Nach Leont'ev ist die P. «empirische Wissenschaft von der Entstehung, dem Verlauf und dem Aufbau der psychischen Widerspiegelung der Realität, die das Leben der Individuen vermittelt» [22]. Die «psychische Widerspiegelung, das Bewußtsein», wird «von der gegenständlichen Tätigkeit des Subjekts hervorgebracht» [23]. Ihre Herausbildung ist durch zwei grundlegende Merkmale menschlicher Arbeit vermittelt: Werkzeuggebrauch und gesellschaftliche Organisation. Infolgedessen bildet «die Tätigkeit der anderen Menschen die objektive Grundlage der spezifischen Tätigkeitsstruktur des menschlichen Individuums» [24]. Voraussetzung für die Entstehung innerer Tätigkeiten sind gesellschaftliche Arbeit und Privateigentum an Produktionsmitteln; in ontogenetischer Hinsicht gehen innere Tätigkeiten durch die vor allem sprachlich vermittelte Interiorisierung aus äußeren Tätigkeiten hervor und haben daher die gleiche, die Ebenen der Tätigkeit, Handlung und Operation umfassende hierarchische Struktur [25] wie diese.
Neben der pointierten Hervorhebung der äußeren Tätigkeit gibt es in der Sowjetunion auch Ansätze, in denen die P. eher restriktiv definiert wird. P. J. Gal'perin beschränkt die P. auf das Studium «der Entwicklung, der Struktur und der Dynamik der Orientierungstätigkeit» [26] und nimmt damit den exekutiven Aspekt der äußeren Tätigkeit aus ihrem Gegenstand heraus. Vor allem aber bestimmt S. L. Rubinštejn die Aufgabe der P. als die Aufdeckung der «inneren Gesetzmäßigkeiten der von außen bedingten psychischen Tätigkeit» [27]. Die äußere Tätigkeit ist hier nur insofern von Interesse, als sich in ihr die innere, psychische Tätigkeit äußert. Auch für Rubinštejn besteht das Wesen der psychischen Erscheinungen in der Widerspiegelungsfunktion, die beim Menschen gesellschaftlich vermittelt ist [28]. Daraus folgt allerdings nicht, daß die P. ausschließlich zu den Sozialwissenschaften gehört; psychische Tätigkeit ist immer zugleich höhere Nerventätigkeit, weshalb die Psyche des Menschen auch naturwissenschaftlich, als Funktion des Gehirns, untersucht werden muß. Insofern sich beide mit dem Zentralnervensystem als der höchsten Organisationsform der Materie befassen, sind P. und Physiologie der höheren Nerventätigkeit eng miteinander verbunden; gleichwohl unterscheiden sie sich in ihrem Gegenstand, da dessen äußere Determination für die P. als Objekt und für die Physiologie als Reiz, d.h. als physikalische Einwirkung auftritt [29].
5. P., Biologie und genetische Erkenntnistheorie. – Etwa zur gleichen Zeit wie Vygotskij beginnt J. Piaget mit der genetischen Erforschung der menschlichen Intelligenz. Mit Vygotskij und den Tätigkeitstheoretikern teilt er die Annahme, daß kognitive Strukturen aus dem äußeren Handeln abgeleitet sind, analysiert ihre Entwicklung aber mit Hilfe des der Biologie entnommenen Begriffspaares «Assimilation» (Aufnahme neuer Objekte in bereits existierende innere Strukturen) und «Akkommodation» (Modifikation innerer Strukturen unter der Einwirkung der Umwelt). Dazu kommt als Motor der Entwicklung noch die Äquilibration als selbstregulierender Prozeß der Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts zwischen Assimilation und Akkommodation [30]. Die kognitive Entwicklung verläuft in einer geordneten, konstanten Folge von Stadien und hat einen definierten Endzustand, der durch vollständige Reversibilität und systematische Gruppierung der Operationen (d.h. inneren Handlungen [31]) gekennzeichnet ist. Die Stadienfolge der kognitiven Entwicklung ist nicht Entfaltung einer präformierten Struktur, sondern Epigenese, d.h. Neubildung innerer Strukturen unter dem Einfluß der Umgebung. Die soziale Umgebung ist einer von mehreren äußeren Faktoren der Entwicklung [32]; die soziale Genese kognitiver Strukturen ist von Piaget nur anhand des moralischen Urteils [33] und des gesellschaftlichen Warentausches [34] thematisiert worden.
Piaget sieht sich selbst als Vertreter des strukturalistischen Gesichtspunktes in der P. und bestimmt diesen als «Erforschung von Verhaltens- und Gedankenstrukturen, die aus der fortschreitenden Internalisierung von Handlungen entstehen, Strukturen jedoch, deren Wirkungen experimentell feststellbar sind, während das Subjekt sich ihrer Existenz als Strukturen gar nicht bewußt ist, obwohl es sie in seinen eigenen Tätigkeiten konstruiert hat» [35]. Von der Gestalt-P., die dem strukturalistischen Gesichtspunkt in der P. Bahn gebrochen hat, unterscheidet sich sein eigener Ansatz vor allem durch seine konstruktivistische Orientierung. Die P. ist nach Piaget völlig unabhängig von der Philosophie; der letzteren räumt er, infolge ihrer reflexiven, keine Möglichkeiten der Deduktion und Verifikation bietenden Methode, allenfalls heuristische Funktion ein [36]. Dies gilt nicht für Logik und Erkenntnistheorie, die Piaget aus der Philosophie auszuscheiden wünscht und die in enger Beziehung zur genetischen P. stehen. Aufgabe der Logik ist die Axiomatisierung der operatorischen Strukturen des Subjektes; zu ihrer erkenntnistheoretischen Begründung bedarf sie der P. Vorbehalte gegenüber dem Psychologismus beruhen auf der unzutreffenden Annahme, die kognitiven Strukturen müßten dem Subjekt introspektiv zugänglich sein [37]. Die Erkenntnistheorie ist bezüglich Gültigkeitsproblemen mit formaler, bezüglich Tatsachenproblemen mit genetischer Methode zu betreiben und besteht, als genetische Epistemologie, in der «Erforschung des Übergangs von Zuständen geringerer Erkenntnis zu Zuständen fortgeschrittener Erkenntnis» [38]; von der genetischen P. unterscheidet sie sich dadurch, daß sie das «Wachstum der Erkenntnis» nicht psychogenetisch am individuellen Subjekt, sondern historisch-kritisch am Leitfaden der Wissenschaftsgeschichte erforscht [39].
Das System der Wissenschaften gleicht einer Spirale, die von den logisch-mathematischen über die physikalischen und biologischen zu den psychologisch-soziologischen Wissenschaften führt und von diesen wieder zu Logik und Mathematik zurück. Die Spirale kommt durch eine dialektische Bewegung zwischen Subjekt- und Objektpol der Erkenntnis zustande: Logik und Mathematik haben keinen Gegenstand außerhalb der Erkenntnisstrukturen des Subjekts, die Physik konstruiert ihre Gegenstände abstrakt, nach Maßgabe mathematisch-begrifflicher Operationen, die Biologie faßt ihre Gegenstände konkret, stößt aber beim Studium der höheren Organismen auf deren Aktivität, die schließlich zum Gegenstand von P. und Soziologie wird und in ihrer formalen Struktur wieder den Gegenstand von Logik und Mathematik konstituiert [40]. Obwohl die P. Fortsetzung der Biologie in den Bereich der Erkenntnis ist, kann sie nicht zur Gänze auf die letztere reduziert werden. Die physikalischen und biologischen Wissenschaften beruhen auf dem System kausaler Verbindungen, das sich auf die P. erstreckt, soweit sie sich mit dem Verhalten befaßt. Bewußtseinstatsachen dagegen unterliegen nicht der Kausalität, denn ihre spezifische Leistung besteht in der Signifikation, und die Verbindungen von Zeichen erfolgen nach dem Typus der Implikation [41].
[1]
L. W. Stern: Die differentielle P. (1900).
[2]
Person und Sache (1906–24).
[3]
Allg. P. auf personalist. Grundlage (Den Haag 1935, 21950).
[4]
a.O. 99.
[5]
103.
[6]
102.
[7]
108–117. 102.
[8]
Pionierarbeit ist N. Triplett: The dynamogenic factors in pacemaking and competition. Amer. J. Psychol. 9 (1897) 507–533.
[9]
J. Dewey: Psychol. (New York 1886); Ethics (New York 1891).
[10]
G. H. Mead: The mechanism of social consciousness (1912). Sel. writ. (Indianapolis 1964) 140.
[11]
Social psychol. as counterpart to physiol. psychol. (1909), a.O. 94–104.
[12]
Mind, self and society; from the standpoint of a social behaviorist (Chicago 1934).
[13]
N. E. Miller/J. Dollard: Social learning and imitation (New Haven 1941) VIII.
[14]
Vgl. A. Lang: Art. ‹P., topologische›.
[15]
V. A. Petrovskij: Istoria sovetskoj psichologii (Moskau 1967); L. Rahmani: Soviet psychol. (New York 1973); Th. Kussmann: Sowjetische P. (Bern 1974); M. Thielen: Sowjetische P. und Marxismus: Gesch. und Kritik (1984).
[16]
L. S. Wygotski: Die Krise der P. in ihrer hist. Bedeutung (1925). Werke 1 (1985) 57–278.
[17]
Das Bewußtsein als Problem der P. des Verhaltens (1925), a.O. 279–308.
[18]
K. Marx: Das Kapital 1 (1867). MEW 23 (1980) 193.
[19]
Wygotski: Die instrumentelle Methode in der P. (1930), a.O. [16] 309–317, hier 310.
[20]
Mind in society, hg. W. Cole u.a. (Cambridge, Mass. 1978) 56f.
[21]
Denken und Sprechen (1934, dtsch. 51974) 102f.
[22]
A. N. Leontjew: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit (1972, dtsch. 1977) 14.
[23]
Das Problem der Tätigkeit in der P. Sowjetwiss., Gesellschaftswiss. Beitr. 4 (1973) 415–435, hier 423.
[24]
Probleme der Entwickl. des Psychischen (1973) 205.
[25]
Vgl. dazu E. Scheerer: Art. ‹Operation›, in: Hist. Wb. Philos. 7 (1984) 1208–1216.
[26]
P. J. Galperin: Zu Grundfragen der P. (1976, dtsch. 1980) 121.
[27]
S. L. Rubinštejn: Sein und Bewußtsein (1957, dtsch. 1961) 209.
[28]
Grundlagen der Allg. P. (21946, dtsch. 1958) 17.
[29]
a.O. [27] 208.
[30]
J. Piaget: Piaget's theory, in: Carmichael's manual of child psychol., hg. H. Müssen (New York 31970) 703–732, hier 722ff.
[31]
Vgl. E. Scheerer, a.O. [25].
[32]
Piaget, a.O. [30] 721.
[33]
Le jugement moral chez l'enfant (1931, dtsch. 1954).
[34]
Introd. à l'épistémol. génét. (1950), dtsch. in: Die Entwickl. des Erkennens 1–3 (1972f.) 3, 237–252.
[35]
Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen (1970, dtsch. 1973) 110.
[36]
Sagesse et illusions de la philosophie (1965, dtsch. 1973) 285.
[37]
Logique et conaissance scient., hg. J. Piaget (Paris 1967) 380ff.
[38]
a.O. 127.
[39]
a.O. [34] 1, 23.
[40]
a.O. 3, 253ff.
[41]
a.O. [37] 1181.
T. R. Payne: S. L. Rubinštejn and the philos. found. of Soviet psychol. (Dordrecht 1968). – G. M. Tripp: Betr.: Piaget. Philos. oder P. (1978). – M. J. Braun/J. M. C. Baribeau: The classif. of psychol. among the sci. from Francis Bacon to Boniface Kedrov. J. Mind. Behav. 5 (1984) 249–260. – M. Thielen s. Anm. [15]. – I. Staeuble: ‘Subjekt-P.ʼ versus ‘P. ohne Subjekteʼ. Zur Grundlegung einer Subjekt-P. durch Dilthey und Stern. Stud. Hist. Psychol. soc. Sci. 3 (1985) 43–54. – R. vander Veer: Similarities between the theories of G. H. Mead and L. S. Vygotskij: An explanation? Stud. Hist. Psychol. soc. Sci. 3 (1985) 1–11.
H. Die P. am Ende des 20. Jh. – 1. Vorbemerkung. – Gemessen am Inhalt ihrer Forschungsliteratur, beschäftigt sich die P. derzeit (1986) überwiegend mit der Bearbeitung von Detailproblemen und der Formulierung, Überprüfung und Revision von Theorien begrenzter Reichweite. Sie weist damit die von Th. S. Kuhn[1] beschriebenen Merkmale des «Normalzustands» einer Wissenschaft auf, verfügt allerdings nicht, wie von Kuhn als hierfür konstitutiv angesehen, über ein allgemein anerkanntes Paradigma [2]. Vielmehr enthält sie nach wie vor eine Reihe miteinander konkurrierender theoriezentrierter Forschungsprogramme [3], die mit dem Anspruch auftreten, die P. in ihrem gesamten Umfang zu erfassen – wobei mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß die Gegenstandsbestimmung der P. durch das jeweilige Programm selbst vorgenommen wird. Der theoretische und soziale Kohäsionsgrad dieser Forschungsprogramme ist recht verschieden, so daß in ihre nun folgende Klassifikation auch die persönliche Perspektive des Berichterstatters eingehen muß.
2. Die Verhaltensanalyse. – Hulls und Tolmans Neobehaviorismus (s. oben, F. 8.) ist heute kein eigenständiges Forschungsprogramm mehr. Erbe des «klassischen» Behaviorismus Watsons ist die von B. F. Skinner[4] inaugurierte Verhaltensanalyse. Sie wird auch als «radikaler Behaviorismus» bezeichnet, da Skinner die neobehavioristische «Ausfüllung» des Organismus mittels hypothetischer Konstrukte und überhaupt jede Erklärung des Verhaltens aus inneren Prozessen ablehnt, gleichgültig, ob diese physiologisch, introspektiv-psychologisch oder funktional definiert sind. Das Verhalten ist eine eigenständige Kategorie, die durch die Beziehung des Gesamt-Organismus zur Umwelt definiert ist. Respondentes Verhalten wird von der Umwelt ausgelöst, operantes Verhalten vom Organismus «ausgesendet», durch seine Konsequenzen aufrechterhalten und geformt und aufgrunddes Zusammenfallens («Kontingenz») zwischen Umweltsituation, Verhaltensakt und Konsequenzen sekundär unter Reizkontrolle gebracht. Eine psychische Innenwelt im Sinne der Abbildung oder Widerspiegelung der Wirklichkeit existiert nicht; an ihre Stelle tritt das private Verhalten, das aus öffentlichem Verhalten abgeleitet ist und sich von diesem nur durch die Art seiner Kontrolle, nicht aber im Realitäts-Status unterscheidet [5].
Die Verhaltensanalyse setzt methodisch am einzelnen Organismus, seiner konkreten Situation und individuellen Lerngeschichte an. Sie kennt daher keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Ihr eigentliches Ziel ist die Entwicklung einer für das Überleben der Gesellschaft erforderten Verhaltenstechnologie [6].
Da Skinner den cartesischen Dualismus in seiner ontologischen und in seiner epistemologischen Form ablehnt, wird seine Konzeption gelegentlich in eine gewisse Nähe zur Phänomenologie Sartres und zur Philosophie des späten Wittgenstein gebracht [7]. Die Tragweite solcher Parallelen ist wegen des szientistischen und technologischen Selbstverständnisses der Verhaltensanalyse begrenzt.
3. Die «kognitive Wende»; Kognitive P. und Kognitionswissenschaft. – Zwischen 1950 und 1960 wird in den USA die Vorherrschaft des Behaviorismus gebrochen; die P. macht eine «kognitive Wende» durch. Ansätze dazu entstehen schon innerhalb des Behaviorismus, denn dessen operationalistische Begründung [8] eröffnet die vor allem durch E. C. Tolman[9] genutzte Möglichkeit, intervenierende Variablen in mentalistischer Sprache zu interpretieren. Technische Kommunikationssysteme und elektronische Datenverarbeitung und die auf sie bezüglichen Ansätze (zunächst die Shannon-Weaversche Informationstheorie, dann die als «Künstliche Intelligenz» bekanntwerdende Simulation von kognitiven Prozessen durch Rechnerprogramme) legen es nahe, den Menschen als informationsverarbeitendes System zu betrachten. Die im Behaviorismus verketzerte traditionelle Begrifflichkeit der P. (z.B. «Wahrnehmung», «Vorstellung», «Aufmerksamkeit») wird wiederbelebt, jedoch von ihrer Bindung an die introspektive Bewußtseinsanalyse gelöst.
Der Ausdruck ‹cognitive psychology› wird 1967 von U. Neisser geprägt, und zwar im Doppelsinn einer inhaltlichen Forschungsrichtung und eines theoretischen Ansatzes; der letztere sieht seine Aufgabe darin, das «Schicksal» der Eingangsinformation und die funktionelle Struktur ihrer Transformationen zu begreifen [10]. Im Deutschen empfiehlt es sich, inhaltliche und theoretische Aspekte durch die Bezeichnungen «Kognitions-P.» und «Kognitive P.» auseinanderzuhalten.
In der wissenschaftlichen P. ist der «Kognitivismus» [11] derzeit der führende Ansatz. Kriterium für die Zugehörigkeit zu ihm ist die Anerkennung der Existenz und funktionalen Wirkung von inneren Repräsentationen. Sie sind mit Hilfe objektiver Kriterien definiert [12] und brauchen nicht introspektiv zugänglich zu sein, obwohl die Introspektion als Methode in der kognitiven P. «erlaubt» ist [13] und Unterschiede zwischen bewußten und automatisch ablaufenden Prozessen ein wichtiges Forschungsthema sind [14]. Zumeist wird davon ausgegangen, daß eine funktionelle Abhängigkeit der Repräsentationen von ihren Gegenständen besteht, doch wird vor allem von Philosophen, die der Kognitiven P. nahestehen, die Intentionalität als Grundeigenschaft der Repräsentation vertreten [15].
Die Kognitive P. versteht sich immer mehr als Teil einer umfassenden, interdisziplinär angelegten Kognitionswissenschaft («cognitive science»), in der die künstliche Intelligenz als Teilgebiet der Informatik eine führende Rolle einnimmt. Begründung für diese enge Allianz ist die vor allem in der «computational theory of the mind» [16] ausgesprochene Annahme, daß Verfahrensweisen der Informationsverarbeitung (die «software») und die funktionelle Architektur informationsverarbeitender Systeme weitgehend unabhängig von deren physischer Realisierung (der «hardware») sind. Dagegen wird gegenwärtig geltend gemacht, daß die Unterscheidung zwischen «software» und «hardware» nur in technischen, nicht aber in lebenden Systemen angemessen ist, da die letzteren ihre «Software» nicht «durch den ordnenden Eingriff von außen» (d.h. wie beim technischen System durch den Programmierer) erhalten, sondern in Interaktion mit der Umwelt selbst entwickeln. Dies muß nicht bedeuten, das Programm der Kognitiven P. aufzugeben, wohl aber, die Kognition in ihrer eigentlichen Funktion als Mittel der Handlungs- und Bewegungssteuerung lebender Systeme zu erfassen [17].
4. Ökologische P. und direkter Realismus. – Auch der Ausdruck ‹ecological psychology› kann sich sowohl auf eine inhaltliche als auch auf eine theoretische Orientierung beziehen. Die erstere sollte im Deutschen, nach einem schon 1924 von W. Hellpach[18] gemachten Vorschlag, als «Umwelt-P.», die letztere als «ökologische P.» bezeichnet werden.
Allgemeinstes Definitionskriterium für den ökologischen Ansatz ist die Annahme, daß «Verhalten die Eigenschaft von ökologischen Systemen und nicht einfach ein Attribut des Individuums» ist [19]. Individuum und Umwelt sind nicht logisch voneinander unabhängige und erst sekundär miteinander in Beziehung gebrachte Systeme, sondern Teile eines einheitlichen ökologischen Systems. Eine ökologische Orientierung ist in K. Lewins Konzept des Lebensraumes angelegt; tatsächlich ist das Programm einer Verhaltensökologie schon von Lewin aufgestellt worden [20] und wird auf der Grundlage seiner Konzeption weiterverfolgt [21]. Auch der von E. Brunswik entwickelte probabilistische Funktionalismus [22] wird gelegentlich zur ökologischen P. gerechnet, jedoch nur insoweit zu Recht, als er die kausale Textur der Umwelt thematisiert und die Struktureigenschaften der Wahrnehmung aus der Verarbeitung der objektiven Struktur der Umgebung ableitet. Eine konsequente ökologische Neuorientierung der P. wird erst durch J. J. Gibson[23] eingeleitet.
Wie Skinner lehnt auch Gibson die Erklärung des Verhaltens aus inneren Zwischenstationen ab; die Wahrnehmung bezieht sich direkt auf die Umwelt, allerdings nicht auf irgendwelche punktuelle Ereignisse, sondern auf Invarianten höherer Ordnung in dem zwischen Umwelt und Organismus gelegenen Medium, welche verhaltensrelevante Umwelteigenschaften eindeutig spezifizieren. Die mathematische Darstellung dieser Invarianten ist Aufgabe einer noch zu entwickelnden ökologischen Physik. Die Invarianten werden weitgehend durch die Eigenaktivität des Organismus konstituiert, ihre Entnahme («pick-up») ist ebenfalls ein aktiver Prozeß, der jedoch niemals zu der in ihnen enthaltenen Information etwas hinzufügt; auch Bedeutungen oder Funktionswerte sind nicht im Organismus «gespeichert», sondern liegen als durch Invarianten spezifizierte «Angebote» («affordances») in der Umwelt bereit [24].
Gibsons ursprünglich als Wahrnehmungstheorie entwickelter Ansatz wird derzeit besonders intensiv auf die Psychomotorik angewendet, seine konsistente Durchführung setzt aber auch eine direkt-realistische Auffassung von Lernen und stammesgeschichtlicher Evolution voraus. Damit mündet er in einen «ökologischen Realismus», dessen Grundpostulat – daß die «ineinander verschachtelten Eigenschaften von Umwelt und Organismus als objektive Sachverhalte des ökologischen Systems» die einzigen Gegenstände der Wahrnehmung sind und nicht durch neurale oder geistige Zustände ersetzt werden dürfen – als konstitutiv für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Kognitionsforschung angesehen wird [25]. Der ökologische Realismus – als dessen erster Gewährsmann übrigens häufig Aristoteles zitiert wird [26] – wird derzeit vom Kognitivismus als einziger ernstzunehmender Rivale betrachtet [27]. Eine mögliche Kompromißlösung besteht darin, dem ökologischen Realismus die Sensumotorik auszuliefern und den Kognitivismus auf jene psychischen Prozesse einzuschränken, in denen tatsächlich – wie dies die «computational theory of the mind» für alle kognitiven Prozesse behauptet – mit Symbolen operiert wird; also etwa die Gesamtheit des sprachlichen und sprachlich geformten Verhaltens [28].
5. Humanistische P. – Um 1950 setzt in den USA Kritik an dem objektivistisch reduzierten P.-Verständnis des Neobehaviorismus und seiner fast ausschließlich tierpsychologischen Forschungspraxis ein [29]. In die zumeist von therapeutisch arbeitenden Psychologen artikulierte Kritik wird auch die (biologistisch-‘orthodoxʼ) verstandene Psychoanalyse einbezogen. Sie wird seit 1955 [30] unter dem Titel «Humanistische P.» vorgetragen, einem Schlagwort, das sich um 1960 allgemein durchsetzt und jetzt ein positives Programm zur Etablierung einer «dritten Kraft» neben Behaviorismus und Psychoanalyse bezeichnet. Als Postulate der Humanistischen P. nennt J. Bugental die Anerkennung von Übersummativität, interpersonellem Potential, Bewußtheit, Wahlfreiheit und Intentionalität des Menschen, als methodologische Orientierung engagierte statt distanzierend-objektiver Einstellung zum Forschungsgegenstand, Vorrang des Sinns gegenüber der Technik der Forschung, Validierung der Forschung am menschlichen Erleben, Anerkennung der Relativität aller Erkenntnis, vorrangige Orientierung an der Phänomenologie, Einordnung anderer Ansätze in eine umfassende, erlebnisorientierte Konzeption [31].
Die Humanistische P. hat keine einheitliche Theorie, sondern nimmt – vorausgesetzt, sie sind nicht «mechanomorph» – ganz unterschiedliche Ansätze auf [32]. Dazu zählen vor allem Existentialismus und Phänomenologie, aber auch der Zen-Buddhismus; aus der P. wird vor allem die Gestalt-P. und Lewins topologische P. als kongenial empfunden, ferner verschiedene Abarten der nicht-orthodoxen Psychoanalyse. Obwohl es vom Namen her naheliegen würde («Geisteswissenschaften» = engl. «humanities»), wird die geisteswissenschaftliche P. kaum berücksichtigt. Innerhalb der humanistischen Strömung der amerikanischen P. lassen sich die von der Philosophie ausgehenden Varianten der existentialistischen und phänomenologischen P. von der durch ursprünglich naturwissenschaftlich orientierte Psychologen entwickelten Humanistischen P. im engeren Sinne unterscheiden [33]. Die letzteren – zu nennen sind vor allem A. H. Maslow[34] und C. R. Rogers[35] – vertreten eine dem Sternschen Personalismus verwandte Grundauffassung, indem sie Wesen und Ziel der Person als Selbstverwirklichung beschreiben und eine Hierarchie von Bedürfnissen annehmen, die in der Vitalsphäre beginnt und bei der Selbstverwirklichung endet.
Die «offizielle» P.-Definition der Humanistischen P. ist «Wissenschaft vom Erleben und Verhalten» [36]. Maslow will eine P. des Seins [37] entwickeln; der Begriff des Seins hat bei ihm eine Vielzahl von Bedeutungen, die von «innerer Kern» über «Ausdruck der eigenen Natur», «konkreter, sinnlich empfundener Natur» bis zu «telos» im aristotelischen Sinn reichen [38].
6. Phänomenologische P. – Die phänomenologische P. kann insofern als eine Variante der Humanistischen P. erscheinen, als sie von den Vertretern der letzteren häufig als empirisch überprüfbares, inhaltliches Aussagensystem gleichen Konkretheitsgrades wie dasjenige anderer psychologischer Ansätze betrachtet wird [39]. Dies entspricht nicht dem Selbstverständnis vieler phänomenologischer Psychologen, die ihrer Disziplin die Aufgabe zuweisen, die Voraussetzungen der empirischen P. zu klären und ihre Resultate unter methodologischen Gesichtspunkten zu kritisieren. Zu den Kompetenzen einer solchen phänomenologischen Meta-P. [40] gehört auch die Gegenstandsbestimmung nicht nur der phänomenologischen, sondern der P. schlechthin. Gegenstand der P. sind nach A. Giorgi «die kontext- und situationsabhängigen Erlebens- und Verhaltensbeziehungen des Menschen mit sich selbst, der Welt, und anderen Menschen»; die grundlegende analytische Einheit der P. ist die Situation [41]. Ähnlich C. F. Graumann: Gegenstand der phänomenologischen P. ist «die in ihrer Intentionalität charakterisierte Person-Umwelt-Beziehung», die durch die strukturanalytischen Kategorien «Umwelt», «Leiblichkeit», «Sozialität» und «Historizität» konstituiert wird [42]. Als «Arbeit des Begriffs» beschreibt und thematisiert die «fundierende Strukturanalyse» dasjenige, was in der P. überhaupt zum Problem wird, und «führt in der empirischen P. insgesamt zu dem sozialwissenschaftlichen Gegenstand angemessenen Erkenntnissen» [43]; ohne sie bleibt die P., auch in ihrer kognitiven Richtung, bei der bloßen «Entdeckung» der Subjektivität des menschlichen Verhaltens stehen [44].
7. P. als Wissenschaft vom gesellschaftlich konstituierten Subjekt. – Wenn man von ersten Ansätzen in der Zwischenkriegszeit absieht [45], bildet sich eine marxistische P. außerhalb der Sowjetunion erst gegen Ende der sechziger Jahre heraus. Gemeinsam ist den marxistischen Ansätzen, daß sie die Subjektivität des Menschen in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmung als Gegenstand der P. thematisieren [46]. Voraussetzung hierfür ist ein «anthropologisches» oder «humanistisches» Verständnis des Marxismus, d.h. die Anerkennung des Faktums, daß «die gesellschaftlichen Verhältnisse als individuelle Lebensverhältnisse existieren» und der daraus folgende spezifisch psychologische Gesichtspunkt, der in der Betrachtung der «Einheit des Ensembles der individuellen Lebensprozesse in der Persönlichkeit» besteht [47]. Uneinigkeit besteht dagegen bezüglich des Verhältnisses von biologischer und sozialer Natur des Menschen und der damit verknüpften Frage nach den Auftretensbedingungen von Subjektivität, deren Beantwortung auch die Gegenstandsbestimmung der P. tangiert.
Nach L. Sève steht das Individuum im Verhältnis der «Juxtastruktur» zur Gesellschaft, d.h. es hat seinen Ursprung in der Natur und nicht in der Gesellschaft, wird aber gleichwohl von ihr funktional determiniert. Hieraus folgt, daß die P. der Persönlichkeit in Juxtastruktur zum historischen Materialismus steht [48]. Überdies steht sie in einem durch das Begriffspaar ‹Inhalt/Form› beschriebenen Wechselverhältnis zu den psychobiologischen Wissenschaften: Sofern die Verhaltensweisen als konkret-materielle Aktivität eines Subjektes betrachtet werden, sind sie – dem Inhalt nach biologisch und der Form nach sozialisiert – Gegenstand der psychobiologischen Wissenschaften. Sobald sich die Verhaltensweisen in die Welt der gesellschaftlichen Verhältnisse einfügen, werden sie zu Verhaltensweisen einer bestimmten Gesellschaftsform und sind – dem Inhalt nach sozial und der Form nach biologisch – Gegenstand der P. der Persönlichkeit [49]. Die psychologische Entwicklungsgesetzlichkeit der Persönlichkeit wird durch die Beziehung zwischen dem jeweils erreichten Niveau der Fähigkeiten und ihren durch den «Zeitplan» festgelegten Betätigungs- und Entfaltungsmöglichkeiten gebildet [50].
Anders als Sève, für den die Physiologie der höheren Nerventätigkeit legitime Wissenschaft von den psychischen Verhaltensweisen ist [51], betrachtet A. Lorenzer die Natur des Menschen als Triebnatur im Sinne der Psychoanalyse. Entscheidend für die Subjektgenese ist hier die Mutter-Kind-Dyade. Das Kind bringt in sie «feste Ansprüche» körperlicher Natur ein, die von der Mutter als Vermittlungsinstanz der gesellschaftlichen Praxis befriedigt bzw. versagt werden; infolgedessen sind subjektive Strukturen psychoanalytisch rekonstruierbarer «Niederschlag» gesellschaftlich formbestimmter Interaktionen. Da Lorenzer «Subjekt» und «Bewußtsein» miteinander identifiziert und Subjektbzw. Objektrepräsentanzen erst «geraume Zeit nach der Spracheinführung» entstehen sieht, bleibt ihm nur «die einzige sinnvolle Lösung, daß die Mutter-Kind-Dyade selbst als Subjekt (im Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis) fungiert» [52].
Für Sève und Lorenzer ist der Mensch als Naturwesen im wesentlichen unhistorisch. Dagegen werden die biologischen Arteigenschaften des Menschen durch K. Holzkamp historisiert. «Aufgrundseiner ‘artspezifischenʼ biologischen Entwicklungspotenzen» ist der Mensch «zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung fähig» [53]. Beim Menschen wird die individuelle Existenz über den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß gesichert. In einer so strukturierten Welt kann das Individuum nur leben, wenn die gesellschaftliche Vermitteltheit seiner Lebensbedingungen subjektiv repräsentiert ist; gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten sind vom Standpunkt der Subjekte individuelle Handlungsmöglichkeiten. Grundlage der Vergesellschaftung ist das Bedürfnis des Individuums nach Teilhabe an der Kontrolle über seine (gesellschaftlich vermittelten) eigenen Lebensbedingungen, d.h. nach «personaler Handlungsfähigkeit» [54]. Thema der P. ist daher die Handlungsfähigkeit, und zwar in subjektwissenschaftlicher Perspektive; denn Subjektivität ist nur dem Menschen zu eigen, ist an eine erkennende Beziehung des Menschen zur Welt gebunden und impliziert Selbstbewußtsein [55].
Zum Teil aus historischen Gründen, weil er sich zuerst an die kritische Philosophie der Frankfurter Schule anschloß, ist Holzkamps Ansatz als «Kritische P.» bekannt. Die «Stoßrichtung» der Kritischen P. ist «kategorial-paradigmatisch». Im Hinblick auf die materialistische Dialektik ist sie empirisch forschende marxistische Individualwissenschaft, welche eine «Ergänzung» des Marxismus durch nicht-marxistische Subjektwissenschaften ablehnt; im Hinblick auf die traditionelle P. ist sie nicht eine spezielle Einzeltheorie, Richtung oder Schule, sondern leitet aus der Kategorialanalyse allgemeine Grundbegriffe und methodische Leitlinien ab, nach denen alle psychologischen Theorien innerhalb des Paradigmas der Kritischen P. zu überprüfen sind [56].
8. Historische P. – Für phänomenologisch und marxistisch orientierte Psychologen steht die Geschichtlichkeit des Psychischen fest, allerdings mehr als methodologische Leitlinie denn als konkretes Thema der Forschung. Demgegenüber versteht sich die Historische P. – der Ausdruck wurde durch J. H. van den Berg[57] geprägt – als empirische, mit den Methoden der Geschichtswissenschaft arbeitende Sozialgeschichte des Psychischen [58]. Der Grundgedanke der Historischen P. – daß jede Kultur oder historische Epoche ihre eigene P. hat – läßt sich bis zu J. G. Herder[59] zurückverfolgen und wurde im späten 19. Jh. vor allem durch K. Lamprecht[60] vertreten. Pionierdienste werden im 20. Jh. durch N. Elias[61], M. Foucault[62] und Ph. Ariès[63] geleistet. Die theoretischen Grundlagen der Historischen P. sind uneinheitlich und reichen von der Diltheyschen Hermeneutik über die Psychoanalyse, die Soziologie M. Webers und den französischen Strukturalismus bis zum dialektischen Materialismus. Von der Historischen P. wird vor allem im angelsächsischen Sprachraum die Psycho-Historie als Hilfswissenschaft der Geschichte unterschieden [64].
9. Probleme der Gegenstandsbestimmung der P. – Angesichts der verwirrenden Vielfalt der theoretischen Ansätze, Methoden und Forschungsinhalte der gegenwärtigen P. wird wieder intensiv die Frage diskutiert, ob die P. überhaupt einen einheitlichen Gegenstand besitzt. Die Antworten darauf lassen sich in die folgenden Typen einteilen:
a) Zahlreiche Autoren bewerten die Vielfalt psychologischer Ansätze nicht negativ, sondern sehen sie als adäquaten Ausdruck der Komplexität und multiplen Determination ihres Gegenstandes an. Prägnanter Ausdruck dieser Einstellung ist die Formel: «Die P. ist multi-: methodologisch, variat, epistemisch, weltanschaulich, systemisch, paradigmatisch, theoretisch, disziplinär» [65]. Oder die P. wird als «präskriptive» Wissenschaft aufgefaßt; theoretische Orientierungen «sagen dem Psychologen als Wissenschaftler, wie er sich verhalten muß oder sollte»; sie konstituieren überdies «Themen» innerhalb der P., aber keine von ihnen die P. insgesamt [66]. Der Gegenstand kann unter solchen Voraussetzungen nur nominalistisch (P. ist, was Psychologen tun) oder im Sinne der prätheoretisch gefaßten «Verhalten-und-Erleben»-Formel bestimmt werden.
b) In modifizierter Form tritt die pluralistische Auffassung dann auf, wenn sie unter methodologischen Gesichtspunkten eingeschränkt wird. Für Th. Herrmann ist die P. ein Netzwerk von Forschungsprogrammen (im Sinne von I. Lakatos[67]), die entweder theorie- oder problemzentriert sein können [68], Deren Vielfalt wird jedoch durch die Forderung der Wissenschaftlichkeit eingeschränkt, die Herrmann durch die faktisch überall anzutreffende nomologische Arbeitsweise der P. (Aufstellung und Überprüfung von gesetzesförmigen Aussagen) garantiert sieht. Die P. hat demnach eine methodale, aber keine Gegenstands-Invariante. Die von Psychologen bearbeiteten Probleme weisen untereinander allenfalls Familienähnlichkeit auf; was sie zu psychologischen macht, ist «primär historisch, insbesondere durch institutionelle Zusammenhänge und pragmatische Gesichtspunkte der Arbeitsteilung ... bestimmbar» [69].
c) Eine allgemeinverbindliche Gegenstandsbestimmung der P. wird derzeit nur noch im Rahmen solcher Paradigmen angestrebt, die sich einer bestimmten philosophischen (oder weltanschaulichen) Orientierung verpflichtet wissen. Dies trifft z.B. für die phänomenologische und die marxistische P. zu, die unter der Leitlinie der Subjekt Wissenschaft eine gewisse Konvergenz aufweisen, die auch den Kognitivismus einbeziehen kann, sofern er sich konsequent der Kategorie der Intentionalität bedient.
d) Das Problem der Gegenstandsbestimmung verschärft sich noch, wenn die P. nicht nur in ihrem derzeitigen Zustand, sondern in ihrer Geschichte thematisiert wird. Unter der Forschungsprogramm-Perspektive haben zwar einzelne Forschungsprogramme historische Kontinuität, nicht jedoch die P. als Ganze. Auch hier wird vor allem von marxistischen Autoren eine alternative Auffassung vertreten. M. Jaroševskij anerkennt durchaus einen «invarianten Kern» der P., der durch Kategorien, Prinzipien und Probleme definiert, jedoch im Laufe der Erkenntnisentwicklung mit verschiedenem Inhalt erfüllt wird. Als Kategorien wären etwa «Abbild» oder «Motivation» zu nennen, als Erklärungsprinzipien Determinismus, Entwicklungs- und Systemprinzip, als «ewige» psychologische Probleme das psychognostische, psychophysische, psychopraktische, psychobiologische und psychosoziale Problem [70].
10. Renaissance der Theoretischen P.? – Wie jede andere Innovation, so hat auch die Loslösung der P. von der Philosophie eine Folgelast gezeitigt: die Einschränkung der P. auf eine «rein empirische» Wissenschaft und die damit verbundene Zurückweisung der Idee einer Theoretischen P.; dies sehr im Gegensatz zu der ständig als Vorbild einer «reifen» Wissenschaft herangezogenen Physik, bei der die Unterscheidung zwischen Experimentalphysik und Theoretischer Physik eine Selbstverständlichkeit ist. Gegenwärtig zeichnet sich jedoch ab, daß die Verbannung der Theoretischen P. zurückgenommen wird [71]. Ihr Gegenstand und ihre Aufgabe sind noch nicht allgemeinverbindlich bestimmt. Immerhin ist man sich einig, daß die Theoretische P. die «metawissenschaftliche Erforschung psychologischer Theorien und Theorieprobleme» ist [72]; sie wäre demnach ein auf die P. angewandter Teil der Metawissenschaft. Zu fragen wäre, ob diese Definition erweitert werden sollte. Die empirische P. enthält möglicherweise, ohne sich dessen im klaren zu sein, nichtempirische Elemente [73]; die Abgrenzung notwendiger von kontingenten Sätzen innerhalb der P. wäre eine wichtige Aufgabe der Theoretischen P. Dazu käme noch die Einführung eines der Theoretischen Physik entsprechenden, nicht im Gegensatz zur Empirie stehenden Abstraktionsniveaus der Formulierung und Begründung von Theorien; ein Beispiel hierfür wäre die psychoanalytische Meta-P. Auf allen diesen Gebieten eröffnen sich Perspektiven für die künftige Zusammenarbeit von P. und Philosophie.
Eckart Scheerer
[1]
Th. S. Kuhn: The structure of scient. revol. (Chicago 1962, dtsch. 1967).
[2]
D. S. Palermo: Is a scient. revol. taking place in psychol.? Sci. Stud. 1 (1971) 135–155; L. B. Briskman: Is a Kuhnian analysis applicable to psychol.? Sci. Stud. 2 (1972) 87–97.
[3]
Th. Herrmann: Die P. und ihre Forschungsprogramme (1976).
[4]
B. F. Skinner: Sci. and human behavior (New York 1953, dtsch. 1973); vgl. zur Verhaltensanalyse: E. Scheerer: Die Verhaltensanalyse (1983).
[5]
Scheerer, a.O. 29ff.
[6]
Skinner: Beyond freedom and dignity (New York 1971, dtsch. 1973).
[7]
S. Kvale/C. E. Grenness: Sartre und Skinner: Auf dem Wege zu einer radikalen Phänomenol. des Verhaltens? Arch. Psychol. 119 (1967) 261–287; W. F. Day jr.: On certain similarities between the Philos. Investig. of Ludwig Wittgenstein and the operationism of B. F. Skinner. J. exper. Anal. Behav. 12 (1969) 489–506.
[8]
Symposium on operationism. Psychol. Rev. 52 (1945) 241–294.
[9]
Tolmans Theorie wird häufig auch als «kognitiver Behaviorismus» bezeichnet.
[10]
U. Neisser: Cognitive psychol. (New York 1967) 4.
[11]
J. Haugeland: The nature and plausibility of Cognitivism. Behav. Brain Sci. 2 (1978) 215–260.
[12]
Bequeme Zusammenstellung bei S. E. Palmer: Fund. aspects of cognit. representation, in: E. Rosch/B. B. Lloyd (Hg.): Cognition and categorization (Hillsdale, NJ 1978) 259–303.
[13]
D. A. Liberman: Behaviorism and the mind: A (limited) call for a return to introspection. Amer. Psychologist 34 (1979) 319–333.
[14]
O. Neumann: Automatic processing: A review of recent findings and a plea for an old theory, in: W. Prinz/A. F. Sanders (Hg.): Cognition and motor processes (1984) 255–294.
[15]
Vgl. D. C. Dennett: Intent. systems. J. Philos. 68 (1971) 87–106; F. Dretske: Knowledge and the flow of information (Cambridge, Mass. 1981); K. M. Sayre: Intentionality and information processing: An alternat. model for cognit. sci. Behav. Brain Sci. 6 (1986) 121–166.
[16]
Neueste Gesamtdarst: Z. W. Pylyshyn: Computation and cognition (Cambridge, Mass. 1984).
[17]
O. Neumann: Informationsverarbeitung, Künstl. Intelligenz und die Perspektiven der Kognitions-P., in: Neumann (Hg.): Perspektiven der Kognitions-P. (1985) 3–39.
[18]
W. Hellpach: P. der Umwelt (1924).
[19]
J. L. Alexander u.a.: Behavioral ecology and humanist. and behaviorist. approaches to change, in: A. Wandersman u.a. (Hg.): Humanism and behaviorism: Dialogue and growth (Oxford 1976) 307–359, hier 318.
[20]
K. Lewin: Psycholog. ecology, in: Field theory in soc. sci. (New York 1951) 170–187.
[21]
R. G. Barker: Ecolog. psychol. (Stanford 1968).
[22]
E. Brunswik: Wahrnehmung und Gegenstandswelt (1934); Perception and the representat. design of psycholog. experiments (Berkeley 1956).
[23]
J. J. Gibson: The ecolog. approach to visual perception (Boston 1979), dtsch.: Wahrnehmung und Umwelt (1982).
[24]
a.O., Kap. 8.
[25]
M. T. Turvey/C. Carello: Cognition: the view from ecolog. realism. Cognition 10 (1981) 313–321.
[26]
Vgl. etwa: S. S. Prindle u.a.: Animal-environment mutuality and direct perception. Behav. Brain Sci. 3 (1980) 395–397; N. W. Smith: The ancient background to Greek psychol. and some implications for today. Psychol. Rec. 24 (1974) 309–324.
[27]
J. A. Fodor/Z. W. Pylyshyn: How direct is visual perception? Cognition 9 (1981) 139–196; Turvey u.a.: Ecolog. laws of perceiving and acting. Cognition 9 (1981) 237–304.
[28]
Turvey: Constr. theory, percept. systems, and tacit knowledge, in: W. B. Weimer/D. S. Palermo (Hg.): Cognition and the symb. processes (Hillsdale, NJ 1974) 165–188; hier 166. 183.
[29]
Vgl. die hist. Notiz von J. B. Klee: Foreword, in: I. D. Welch u.a. (Hg.): Humanist, psychol.: A source book (Buffalo, NY 1978) IX–XV.
[30]
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