Ratio ignava (faule Vernunft).
Cicero übersetzt in seiner Schrift ‹De fato› den griechischen Ausdruck
ἀργὸς λόγος (
ἀργός träge, faul;
λόγος Argument) wörtlich mit «ratio ignava»; das ‘Argument der Passivitätʼ wird im Zusammenhang der Diskussion des Wahrheitswertes von Aussagen über die Zukunft (contingentia futura) referiert, nach dem es sinnlos sei, etwas zu tun oder zu unterlassen, wenn durch ein Schicksal (s.d.) alles festgelegt ist und ein Satz über die Zukunft immer schon wahr oder falsch ist. «Zu Recht wird diese Argumentation faul oder passiv (ignava atque iners) genannt, weil durch dieses Argument jegliche Handlung aus dem Leben verbannt wird»
[1]. Schon
Chrysipp hatte gegen dieses «Sophisma»
[2] das Zusammenwirken von Handlungen zu einem Schicksalsgeschehen («confatalia») angeführt
[3]. Das Argument taucht in der Folgezeit immer wieder, wenn auch nicht immer unter dem ciceronianischen Namen, im Zusammenhang von Determinismus- und Fatalismusdebatten auf wie auch im christlichen Gnadenlehrenstreit
[4].
G. W. Leibniz leitet «la grande Question du Libre et du Necessaire» der ‹Theodizee› ein mit dem Referat der r.i. («sophisme, que les Anciens appeloient la Raison paresseuse»)
[5], die er mit dem «Türkenschicksal» («destin à la Turque», «fatum mahumetanum») gleichsetzt
[6] und die vornehmlich dann Anwendung finde, wenn Entscheidungssituationen mühsam sind («quand la deliberation est un peu épineuse»), da Menschen nun einmal ohne Mühe zum Glück gelangen wollten
[7]. Auch
A. Schopenhauer spricht von der r.i. als vom «Türkenglauben» und
F. Nietzsche vom «Türkenfatalismus»
[8].
I. Kant kennt zwar auch den Ausdruck von Cicero und seinen sachlichen Ort
[9], verwendet aber die deutsche Entsprechung «faule Vernunft» in anderer Weise, nämlich für jeden Grundsatz, «welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sei, für schlechthin vollendet ansieht, und die Vernunft sich also zur Ruhe begiebt, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe»
[10]. Kant kritisiert diesen Grundsatz im Zusammenhang seiner «Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft»
[11] und nennt ihn auch den «ersten Fehler» derselben, «der daraus entspringt, daß man die Idee eines höchsten Wesens nicht bloß regulativ, sondern ... constitutiv braucht»
[12]. Mit dem ersten Fehler sachlich eng verbunden ist «der zweite Fehler, der
aus der Mißdeutung des ... Prinzips der systematischen Einheit entspringt»; das ist der Fehler der «verkehrten Vernunft», den Kant mit einem neuen Ausdruck in Anlehnung an r.i. «perversa ratio» nennt
[13]. Mit «fauler Vernunft» und «verkehrter Vernunft» ist seit Kant dann eine kurzschlüssig teleologische Vernunft gemeint, die sich die Mühe weiterer wissenschaftlicher Nachforschungen ersparen möchte. Nach
V. von Weizsäcker kann der teleologische Kurzschluß nur durch die Berücksichtigung der biologischen Denkart vermieden werden: «Die Theologie ist das Enfant terrible, mit dem sich die verpönte Denkart der Biologie zur Unzeit meldet, wo die Naturwissenschaft versagt, und dafür als ‘Faulheit der Vernunftʼ dann Schläge bekommt»
[14].