Schwärmerei ist eine seit der Reformation im interkonfessionellen Disput gebrauchte Kampfvokabel. Sie ist vom alltagssprachlichen Ausdruck ‹schwärmen›
[1] abgeleitet und hat von diesem ihre beiden semantischen Hauptkomponenten übernommen: Sowohl die regelloswirre Motorik eines Insektenschwarms als auch das Fliegen im Verband machen den Bildgehalt aus, der sich auf religiöse Gegner beziehen ließ. Abweichung von der wahren Religion, Häresie, unkontrollierbarer Eigensinn einerseits, Gruppenbildung, Sektierertum, Zusammenrottung andererseits erfüllen den Tatbestand der Sch. Oft wird das Bild ausdrücklich evoziert: Ein frühes antilutherisches Pamphlet versieht das Wort «schwirmer» mit der Holzschnittdarstellung eines Bienenschwarms, der um den Kopf des Wittenberger Häresiarchen fliegt
[2]. – Für diesen Begriff gibt es außerhalb des Deutschen keinen deckungsgleichen Ausdruck. Trotz gewisser semantischer Überschneidungen sind dem lat. ‹fanatismus› und ‹enthusiasmus›
[3] sowie deren engl. und frz. Entsprechungen (die allerdings oft mit ‹Sch.› übersetzt werden) die beiden Momente fremd, mit denen die Metapher den Begriff ‹Sch.› auflud.
M. Luther, in dessen Streitschriften seit den 1520er Jahren sich das Wort erstmals findet, hat eine Vielfalt konkurrierender reformatorischer Strömungen im Auge, wenn er von «schwermern» (auch «schwermgeister» sowie latinisiert «schwermeri»
[4]) spricht: Müntzer, die Zwickauer Propheten, «Carlstad, Zwingel, Ecolampad, Stenckefeld [d.i. Schwenckfeld]»
[5], Täufer und Spiritualisten, also den ‘linken Flügelʼ der Reformation. Das diesen unterschiedlichen Gruppen Gemeinsame, ihre Sch., erblickt er in einer einseitigen Verinnerlichung des Christentums, einer Abwertung des «Fleisches» zugunsten des «Geistes» (unter, wie er meint, fälschlicher Berufung
auf Joh. 6, 63: «Der Geist ist es, der Leben schafft, das Fleisch nützt nichts»
[6]): «Kein äußerlich Ding macht selig. Das mündliche Wort [sc. der Hl. Schrift] und die Sacrament sind äußerlich Ding; darum machen sie nicht selig»
[7]. Zugleich warnt Luther vor den Sozialrevolutionären Energien der gewalttätigen («violenti schwermeri») «verfluchten Rotte der Schweriner»
[8]. Die Triebkraft der Politisierung der christlichen Lehre durch die «schwermer ... ist ein boshaftiger ... haß und neid, nicht allein widder unser lere und Gottes wort, sondern auch widder alle Weltliche zucht und ehre. Die Auffrur stinckt jn zum halse heraus, und wollten gern alles gleich und kein unterscheid leiden»
[9].
Dieser Sprachgebrauch bleibt für die Kontroverstheologie bis ins 18. Jh. weitgehend verbindlich: «Schwärmer est haereticus, sectarius, schismaticus, novator. It[em] turbas et clamores movens»
[10]. Außerkirchliche (vor allem auf Privatoffenbarungen sich berufende) Strömungen auch der nachreformatorischen Zeit wie Böhmianer, Rosenkreuzer, Quäker, oft auch pauschal die Mystik
[11] werden unter dem Titel ‹Sch.› rubriziert. Uneinheitlich wird allerdings das Verhältnis von ‹Sch.› und ‹Fanati[ci]smus› bestimmt. Synonyme Verwendungen
[12] finden sich ebenso wie Abgrenzungen des Fanatismus von der Sch.: Die ‘Fanatikerʼ bleiben «bey ihren ungereimten Einbildungen stehen», während «die Schwärmer ... die äusserliche Ruhe der Kirche und der Republik stöhren»
[13]. Der selbst der Sch. bezichtigte
J. Ch. Edelmann weist das Etikett als irreführende Bezeichnung und als «Popantz» der «Clerisey» zurück. Denn die sogenannten Schwärmer sind tatsächlich dem orthodoxen Kollektiv bzw. «Schwärm» sich entziehende Nonkonformisten: «Hält man nicht vielmehr diejenigen vor Schwermer, die da nicht mit schwermen wollen?»
[14].
Im Verlauf des 18. Jh. findet der ursprünglich von der orthodoxen Theologie gegen außerkirchliche Bewegungen gerichtete Kampfbegriff Eingang in das Vokabular der sich von irrationalistischen Strömungen absetzenden Aufklärung
[15]. Schon
J. G. Walch hatte den Begriffsumfang in dem Sinne ausgeweitet, daß die Berufung auf Privatoffenbarungen und andere «unmittelbahre göttliche Würckungen» nicht mehr als notwendiges Kriterium für Sch. verstanden wurde, sondern beliebige, auch nichtreligiöse Irrationalismen «und überhaupt ... abgeschmackte, thörigte und alberne Einfälle» als Sch. bezeichnet werden konnten
[16]. So wird Sch. nun auch in der Politik
[17], der Philosophie
[18] und den Wissenschaften
[19] verortet und bekämpft. Beispielhaft für die Aufklärung hat sich
I. Kant zeitlebens mit verschiedenen Spielarten der Sch. (von den «wilden Hirngespinsten des ärgsten Schwärmers», Swedenborg
[20], bis hin zu der philosophischen Sch. Platons, des «Vater[s] aller Sch. in der Philosophie», und seiner modernen Adepten
[21]) auseinandergesetzt, zugleich aber auch das Phänomen in seiner Grundstruktur zu analysieren versucht. Aus erkenntniskritischer Perspektive ist die Sch. die wahnhafte, in der «Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden Vernunft»
[22] gegründete Anmaßung, «über alle Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas
sehen ... zu wollen»
[23]. Kant analysiert die Sch. aber auch als psychopathologisches Phänomen. Sie ist – anders als der «Enthusiasmus», ohne den «niemals ... in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden» ist
[24] – eine obendrein politisch gefährliche «Krankheit des Kopfes»: Der «Schwärmer ... ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeintlichen unmittelbaren Eingebung
und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk»
[25]. Denn: «Die Sch. führt den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron und» – die Reminiszenz an die Sch. der Wiedertäufer schwingt noch mit – «den Johann von Leyden auf das Blutgerüst»
[26]. Die Sch., die «in der allgemeinsten Bedeutung eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft ist»
[27], erweist sich also auch in praktischer Hinsicht als gefährlich: Die «moralische Sch.» verkennt den schlechthin gebietenden Charakter des Sittengesetzes, «als ob jene [vom moralischen Gesetz gebotenen] Handlungen nicht aus Pflicht, sondern als baarer Verdienst ... erwartet würden»
[28]. Und der «schwärmerische Religionswahn», d.h. der Wahn, «durch Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgange mit Gott» «etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott» ausrichten zu können, ist «der moralische Tod der Vernunft»
[29].
Rationalistische Militanz prägt den Gebrauch von ‹Sch.› allerdings auch im Zeitalter der Aufklärung nicht durchweg. So gilt
Ch. M. Wieland die Kritikwürdigkeit der Sch. durch die Philosophie keineswegs als ausgemacht, sondern eine Frage wert, die er 1776 öffentlich – und mit großer Resonanz – stellt: ‹Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Sch. nennen, mehr Böses als Gutes gestiftet?›
[30]; die Antworten vermeiden durchweg eine pauschale Ablehnung der Sch.: So äußert
G. E. Lessing den Verdacht, daß «Sch. ... bloß der übersetzte Ekelname von Enthusiasmus» sei, und sieht durch diesen Sprachgebrauch die Einsicht verstellt, daß der «Enthusiasmus der Spekulation», der freilich «in deutliche Ideen aufzuklären» ist, die philosophische Reflexion befördern kann
[31]. (In anderem Zusammenhang billigt Lessing der chiliastischen Sch. des Mittelalters zu, «richtige Blicke in die Zukunft» getan zu haben; aber der «Schwärmer kann diese Zukunft nur nicht erwarten»
[32].)
J. G. Herders Antwort stellt die zu «Abstraktionen des Kopfs» sich versteigende «Philosophei» (!) und die in «Abstraktionen der Empfindung» sich verlierende «Sch.» als «Abwege» hin, die der «Weise, mit Klarheit in seinen Begriffen ... und mit Enthusiasmus in seinem Herzen» gleichermaßen vermeidet
[33]. – Der junge
Goethe spricht von den Schwärmern als «ehrlichen Leuten», die «zu viel empfanden»
[34].
Mit dem Abklingen der Debatten, die in der Aufklärung um die Sch. geführt wurden, ist der Begriff nicht mehr ausschließlich auf seine Funktion als Kampfvokabel festgelegt. So kann sich ‹Sch.› als umgangssprachliche Bezeichnung für das psychologische Alltagsphänomen der «schönen Seelentrunkenheit», der harmlosen Begeisterung empfindsamer Jünglinge und junger Mädchen für Kunst, Naturschönheit und füreinander durchsetzen
[35]. Eine positive philosophische Neubewertung der Sch. findet sich indessen kaum und auch bei Autoren, die sich von rigiden Rationalitätskonzepten distanzieren, nur selten. Und gar zu einer ‹Apologie der Sch.›, wie
Novalis sie gegen die «Aufklärungsapostel und Vernunftprediger» schreibt
[36], sieht sich kaum jemand aufgerufen; weit häufiger artikuliert sich die gleiche Tendenz darin, daß die gemeinte Sache als «edler Enthusiasmus» affirmiert
[37], der «Ekelname»
[38] ‹Sch.› aber gemieden wird. Aber auch die Topoi der aufklärerischen Sch.-Kritik wirken, etwa bei
G. W. F. Hegel, fort: Die Berufung auf «innere Anschauung» und die Unfähigkeit zu «bildlosem» Denken führt die Sch. dazu, «religiöse
Vorstellungen höher zu achten als alles Sittliche im Leben und als Begriffsverhältnisse»
[39]. Das «Hervorbringen eines Unbegriffenen und Unbegreiflichen durch freies Dichten»
[40] macht für
J. G. Fichte die Sch. aus. Sie ist aber durch die Aufklärung keineswegs überwunden, sondern wird durch sie geradezu am Leben erhalten. Die Sch., in der Fichte einen «Hang des Zeitalters» erblickt
[41], ist als «Reaction» auf die Vorherrschaft «des blossen nackten Erfahrungsbegriffs und des leeren formalen Wissens»
[42] zu verstehen, indem sie «die blossen sinnlichen Erfahrungsbegriffe nicht für das Höchste gelten lässt, sondern über alle Erfahrung hinaus sich zu erheben strebt und ... das Universum rein aus dem Gedanken aufbauen will»
[43]: Zeitgenössische «Sch. ist und wird nothwendig Naturphilosophie»
[44]. Der hiermit in erster Linie angegriffene
F. W. J. Schelling wendet diesen Vorwurf gegen seinen Kritiker: Das Etikett ‹Sch.› verdient eine Philosophie, die auf das Prinzip der «Subjektivität» gegründet ist
[45] und in ihrer «Naturstürmerei» offenbart, daß sie «alles wahrhaft Positive» negiert: «Nur keine Natur, kein Leben der Idee außer im bloßen Gedanken!»
[46].
Die «heiligen Schauer der Sch.», die nach einer vielzitierten Wendung des ‹
Kommunistischen Manifests› mit dem historischen Sieg der Bourgeoisie «in den eiskalten Wassern egoistischer Berechnung ertränkt» worden sind
[47], bleiben zwar Quelle der Irritation insbesondere für die evangelische Theologie, die sich mit inspirierten Strömungen an den Rändern der Kirche konfrontiert sieht
[48]; sie finden aufgrundihrer «pathologischen Züge»
[49] das Interesse der Religionspsychologie und sind als «Gemütszustände der Entprofanisierung und Erhobenheit» Thema der Religionswissenschaft
[50]. In der Philosophie jedoch herrscht ein polemischer Gebrauch der begrifflich zunehmend unscharfen Vokabel vor – es unterlaufen sogar Wendungen wie «[die] Sch. von Kant»
[51] –, und nur selten korrespondiert dem Ausdruck ein konturierter, philosophisch relevanter Sachverhalt, wie dies 1921/22 beim frühen
Heidegger der Fall ist: Den eigentlich schon unzeitgemäßen Begriff bezieht Heidegger kritisch-distanzierend auf die damals aktuelle Tendenz, «Philosophie als Erlebnis» zu verstehen und «‘erlebensmäßigenʼ Reichtum und ‘tiefeʼ und echte Ursprünglichkeit» zu prätendieren. Damit trete an die Stelle «eines radikalen Fragens» das «‘Schwärmenʼ für die schwärmerisch geschaute wissenschaftliche Forschung und die schwärmerisch erfühlten ‘Tiefenʼ des Lebens. Beide Tendenzen haben mit Philosophie nichts zu tun»
[52].