Seelenwagen (griech.
ὄχημα τῆς ψυχῆς; lat. vehiculum animae). Das Bild vom S. geht auf
Platon zurück: Er vergleicht im ‹Phaidros› die menschliche Seele mit der «zusammengewachsenen Kraft» (
σύμφυτος δύναμις) eines geflügelten Zweigespanns und seines Lenkers
[1]; dabei steht der Wagenlenker für die Vernunftseele (
λογιστικόν)
[2], die beiden Pferde, von denen das eine dem Lenker leicht folgt, das andere nur mit Widerstand, stehen für die beiden irrationalen Seelenteile, das Gemüt (
θυμοειδές) und die Begierde (
ἐπιθυμητικόν)
[3]. Die gleiche Struktur wird den Seelen der Götter (den Gestirnseelen) zugeschrieben, nur daß bei ihnen die unteren Seelenteile keinen irrationalen Neigungen folgen
[4], weshalb sich die Seelen der Götter als ganze zur Schau der Ideen in die Transzendenz des «überhimmlischen Ortes» erheben können
[5], was bei den menschlichen Seelen nur dem Haupt des Wagenlenkers
[6] – d.h. dem nicht-diskursiven Nous als höchstem Teil der Vernunftseele
[7] – gelingt. – Die Metapher vom «Wagen» (
ὄχημα) der Seele
[8] gebraucht Platon auch sonst: für die Sterne, auf denen die Seelen vom Intelligiblen ins Werden absteigen
[9], und für den von der Seele belebten sterblichen Körper
[10]; er erwähnt auch einen Wagen, auf dem die Seelen nach dem Tod zu den unterirdischen Straf orten fahren
[11]. Platon stellt ferner die Frage, wie die Sternseele den Sternkörper lenkt, und erwägt die Möglichkeit, daß sie sich dazu eines feurigen oder luftartigen Körpers bedient, in dem sie «wie in einem Wagen sitzt»
[12]; dies scheint der Ausgangspunkt der späteren Theorie gewesen zu sein, welche den Sternenwagen mit dem Bild des ‹Phaidros› und den anderen Stellen systematisierend verknüpft
[13].
Im späteren Platonismus wurde die Theorie unter Aufnahme der aristotelischen Lehre vom Pneuma, das als Sitz der vegetativen und der sensitiven Seele die physiologische Bedingung der
φαντασία und dem Äther als dem Element der Sterne analog ist
[14], ausgestaltet
[15]: Der aus der ätherischen Substanz der Sterne bestehende S. wurde als Bindeglied zwischen der immateriellen Seele und dem materiellen Körper angesetzt, das der Seele beim Abstieg durch die Gestirnsphären auf die Erde und bei ihrem Wiederaufstieg nach dem Tod dient
[16]. Der Grundsatz, wonach Geistiges nicht ohne Vermittlung mit Körperlichem verknüpft werden kann, ist platonisch
[17]. Aus der Rezeption der aristotelischen Pneumalehre erklärt sich die Funktion des S. als Träger der irrationalen Seele und seine Verbindung mit Wahrnehmung und Vorstellungskraft
[18]. Wer die Verknüpfung von platonischer
ὄχημα- und aristotelischer
πνεῦμα- und
αἰθήρ-Vorstellung als erster vorgenommen hat, ist unbekannt; sie dürfte jedoch bereits altakademisch sein:
Herakleides Pontikos lehrte die Wesensgleichheit von Gestirns- und Seelensubstanz und bestimmte die Seele als Licht (
φῶς) oder Lichtartiges (
φωτοειδής)
[19]; ihre Heimat sei die Milchstraße, also der Fixsternhimmel, in dem sie einen ätherischen oder uranischen Körper besitze
[20].
Die Lehre vom pneumatischen S. ist schon in der frühen Kaiserzeit geläufig.
Galen erwähnt im Zusammenhang mit Lehren des Poseidonios die Auffassung, die Seele sei entweder selber ein «lichtartiger und ätherischer Körper» (
αὐγοειδές τε καὶ αἰθερῶδες σῶμα) oder sie sei von unkörperlicher Substanz, besitze aber einen solchen Körper als «ersten Wagen» (
πρῶτον ὄχημα), durch den sie mit dem materiellen Körper in Verbindung trete
[21]; zumindest die erste Möglichkeit, wahrscheinlich aber die ganze Alternative dürfte auf Herakleides zurückgehen
[22]. – Die Mittelplatoniker kennen den S., der nach einigen Autoren den körperlichen Tod überlebt
[23], aber für
Albinos und
Attikos ebenso wie die irrationale Seele sterblich ist
[24]; dagegen waren «Eratosthenes und Ptolemaios der Platoniker» der Auffassung, die Seele sei immer verkörpert und wechsle zwischen dem feinstofflichen S. und irdischen Körpern
[25].
Clemens von Alexandria schreibt der Basilidianischen Gnosis die Annahme einer «angewachsenen Seele» (
προσφυὴς ψυχή) oder eines «anhängenden Pneumas» (
προσηρτημένον πνεῦμα) zu, das Organ der Affekte ist
[26]. Für die Hermetik ist das Pneuma die unkörperliche Hülle (
περιβολή) der Seele, die sich beim Abstieg durch die Gestirnsphären wie «Nebel» um sie legt
[27]; ähnliche Auffassungen kennen auch
Hippolytos und
Origenes, der damit die Erscheinungen von Toten erklärt
[28]. Die Vorstellung vom astralen und feinstofflichen S. findet sich auch in den ‹Chaldäischen Orakeln›
[29] und läßt sich für
Numenios erschließen
[30]; sie wurde von
Alexander von Aphrodisias bekämpft
[31].
Plotin erwähnt den Astralleib mehrfach, ohne ihn ausdrücklich mit dem S. zu identifizieren: Beim Abstieg vom Ideenkosmos ins Werden nehmen die Seelen im Himmel einen ersten Körper an und gehen dann durch Körper von immer irdischerem Stoff weiter nach unten
[32]; das Pneuma um die Seele ist vielleicht (
ἴσως) fein und leichtbeweglich wie die Himmelskörper und scheint wie sie kugelförmig zu sein
[33]; es ist mit dem irrationalen und affektiven Seelenteil verknüpft und kann mehr oder weniger verunreinigt sein
[34]; die Reinkarnation erfolgt durch die «Beschwerung» oder Verunreinigung des Pneumas, mit dem die Seele nach der Trennung vom Leib verbunden bleibt und durch das sie die Jenseitsstrafen erfahren kann
[35]; im Himmel ist der (gereinigte) pneumatische Leib ganz wie ein Auge, und offenbar verfügt die vom irdischen Leib getrennte Seele durch ihn über Wahrnehmung
[36]. Plotin erwähnt all dies als bekannte Vorstellung, ohne ihm große Bedeutung beizumessen. Als Voraussetzung für die Verbindung der absolut immateriellen Geistseele mit dem Körper setzt er eine eigene «intelligible Materie» (
ὕλη νοητή) an, durch deren Vermittlung die Seele mit Stofflichem in Kontakt treten kann
[37]; diese «intelligible Materie» ist aber wohl nicht mit dem S. identisch, sondern eher mit dem «unbestimmten Streben» (
ἀόριστος, ἄπειρος, ἄλογος ἔφεσις)
[38], durch das sich die Seele vom Nous unterscheidet und das als Derivat der unbestimmten Zweiheit (
ἀόριστος δυάς), der intelligiblen Materie auf
der Stufe des Nous
[39], das Materialprinzip des Seelischen ist; durch dieses unbestimmte Streben erzeugt die Seele wohl auch die Materie des Sinnenfälligen
[40]. Plotin sagt nicht, ob der S. vergänglich ist; die irrationalen Seelenteile sind für ihn auch nach ihrer Abtrennung von der Geistseele unsterblich
[41].
Porphyrios systematisiert die älteren Vorstellungen zu einer in sich konsistenten Theorie: Beim Abstieg durch die Gestirnsphären erwirbt die Seele den pneumatischen S.
[42], der Träger des irrationalen Seelenteils, der «anima spiritalis», ist
[43]; seine feinstoffliche Substanz verdunkelt und materialisiert sich beim Abstieg zunehmend und ist je nach Reinheitsgrad der Seele entweder ätherisch, sonnenhaft, mondhaft oder feucht und wird dann sogar sichtbar
[44]; der materialisierte S. zieht die Seele nach dem Tode zu den Straforten hinab. Die Reinigung der «anima spiritalis» und des S. erfolgt durch Philosophie oder Theurgie
[45]. Wie die irrationale Seele überlebt auch der S. den körperlichen Tod, ist aber nicht unsterblich; beim Aufstieg der Seele löst er sich sukzessiv in die Gestirnsphären auf, aus deren Elementen er beim Abstieg zusammengesetzt wurde
[46]. Auch die Dämonen haben ein luftartiges Pneuma, durch das sie in verschiedenen Gestalten erscheinen
[47].
Für
Jamblich ist der S. unstofflich, unsichtbar und unvergänglich, da er nicht aus der Substanz der Sterne zusammengesetzt, sondern von den Gestirngöttern erschaffen ist; auch die irrationale Seele, deren Träger er ist, ist unsterblich; nach der Trennung von der zum Intelligiblen aufsteigenden Geistseele bleiben beide bestehen
[48]. Nicht nur die Menschen, sondern auch die «höheren Wesen»: Himmelsgötter, Engel, Dämonen und Heroen besitzen S.
[49]. Der ätherische S. nimmt durch das Sonnenlicht göttliche Bilder (
φαντασίαι) in sich auf, die die inkarnierte Seele mit den Göttern verbinden
[50]; die Wahrnehmung dieser Bilder (in einer Lichterscheinung
[51]) setzt jedoch die Reinigung des S. durch Theurgie voraus
[52].
Proklos unterscheidet im Anschluß an
Syrian zwei S.
[53]: der mit der Seele «zusammengewachsene» (
συμφυές), «lichtartige» (
αὐγοειδές) oder «sternartige» (
ἀστροειδές) höhere S. ist immateriell, affektionsfrei und unvergänglich; er ist Träger der unzerstörbaren Prinzipien (
ἀκρότητες) des irrationalen Seelenlebens und vom Demiurgen erschaffen; jede partizipierte Seele (
ψυχὴ μεθεκτή) ist permanent mit ihm verknüpft. Beim Abstieg durch die Gestirnsphären bildet sich um ihn der niedere pneumatische S. (
πνευματικὸν ὄχημα) als Träger der konkreten irrationalen Seelenfunktionen; er ist aus den vier stofflichen Elementen zusammengesetzt und überdauert zwar den körperlichen Tod, ist aber nicht unsterblich, sondern löst sich beim Aufstieg der Seele aus dem sublunaren Bereich auf. Proklos verknüpft damit eine Dreiteilung der Seelen
[54]: Während die göttlichen Seelen nur das Lichtochema besitzen, haben die Dämonen auch den pneumatischen S. und die Menschen beide S. sowie den fleischlichen Körper. – In dieser elaborierten Form ist die S.-Lehre auch den spätesten Neuplatonikern geläufig
[55].
Durch
Macrobius[56],
Boethius[57] und
Augustinus[58] kommt die Vorstellung vom S. ins Mittelalter; der letztere beschränkt den S. auf Engel und Dämonen, die durch ihn den Menschen erscheinen.
Die Lehre von den zwei S. wird von
M. Ficino aufgenommen
[59]: Der S. verbindet die rationale Seele mit dem Körper; er besteht aus der Substanz der Sterne und ist unsterblich; dieses «vehiculum aetherium» ist Sitz
des «idolum», des Vorstellungsvermögens, das die rationale Seele als ihr eigenes Bild in ihm erzeugt; von Natur aus ist es rund, nimmt bei der Inkarnation aber menschliche Gestalt an, die es mit dem Tod wieder verliert; die Seele belebt den S. permanent, den Körper nur zeitweilig. Die inkarnierte Seele besitzt ferner als zweiten S. den «spiritus», einen luftartigen Körper, der im Herzen aus Blut erzeugt wird und Körper und Seele zusammenhält; er ist besonders in den Sinnesorganen konzentriert, da er bei der Wahrnehmung die Sinneseindrücke empfängt. Ficino spricht von drei Vehikeln der Seele
[60]: dem ätherischen, dem luftartigen und dem aus den vier Elementen zusammengesetzten Körper. – Verwandte Spekulationen über einen Astralleib finden sich auch bei
Paracelsus und in der Kabbala
[61].
Im 17. Jh. verteidigt der Cambridger Platoniker
R. Cudworth die Vorstellung vom feinstofflichen S. als dem verbindenden Dritten zwischen geistiger Seele und materiellem Körper gegen
Descartes' Substanzendualismus von «res cogitans» und «res extensa», zwischen denen kein Drittes möglich ist.
Cudworth beruft sich u.a. auf Plotin, Porphyrios, Philoponos, Hierokles und Origenes; von analoger Substanz wie der S. seien auch die Leiber der Engel und Dämonen sowie der Auferstandenen
[62].
Im Deutschen Idealismus wird die Lehre vom S. bzw. vom Astralleib teilweise wieder aufgegriffen. Für
J. H. Jung-Stilling gelten «Äther» und «Licht» als die Brücken der Seele zur materiellen Welt; der Mensch sei dreigegliedert in materiellen Leib, schlechthin immateriellen Geist und den feinstofflichen Ätherleib als Seelenvehikel
[63].
J. W. Goethe greift die Vorstellung auf und beschreibt in ‹Wilhelm Meisters Wanderjahren› die Gestalt der Makarie als «eine lebendige Armillarsphäre»: Ihr zum Fixsternhimmel aufsteigender Astralleib hat das Sonnensystem und seine Planeten zugleich in sich, so daß «ihr geistiges Ganze sich zwar um die Weltsonne, aber nach dem Überweltlichen in stetig zunehmenden Kreisen bewegte»
[64]; das platonisch-neuplatonische Motiv der Himmelsnatur und Himmelsreise der Seele erfährt hier eine poetische Wiederbelebung. – Für
G. W. F. Hegel ist im platonischen Bild vom S. der «Zusammenhang, daß das Geistige sich aus sich selbst realisiert, verkörpert,» ausgedrückt, worin für ihn die Einheit der Form der Vernunft mit ihrem Inhalt, «die Identität der Objektivität und Subjektivität, Untrennbarkeit des Ideellen und Reellen» liegt
[65].
Ganz ähnlich deutet
F. W. J. Schelling die Lehre vom Astralleib, die er im Gespräch ‹Clara› positiv aufnimmt: Die Seele sei das «göttliche Band», das Geist und Leib zu einem Ganzen verbinde, sie umgreife beide in einer höheren Ganzheit; so habe auch der Leib als zur Ganzheit des Menschen gehörig eine innere, geistige Seite, die im irdischen Leben unter seiner äußeren, grobstofflichen Seite nur verborgen sei, im Tod aber von ihr befreit werde und unsterblich sei; Schelling nennt diese «geistige Gestalt des Leibes», für die er sich auf die überlieferte Vorstellung von «einem feineren Leib» beruft und die er von der wechselseitigen Durchdringung des Idealen und des Realen in seiner Potenzlehre her deutet, auch das «Dämonische» und spricht sie nicht nur dem Menschen, sondern der ganzen belebten und unbelebten Natur zu. Durch dieses «geistig-körperliche Wesen», dem Schelling die Fähigkeit des Hellsehens («Clair-voyance») zuspricht, hängen Natur und Geisterwelt zusammen, wobei Schelling die Möglichkeit weiterer Zwischenstufen andeutet
[66]. In verwandtem Zusammenhang
läßt er den vergeistigten Auferstehungsleib aus dem fünften Element bestehen, das er als Urmaterie und als «ganz geistig und ganz körperlich» versteht
[67].
In der Anthroposophie wird die Lehre von den zwei S. wieder aufgenommen: Zwischen dem geistigen Ich und dem physischen Leib vermitteln der höhere Astralleib, der als Träger der Affekte und Triebe mit dem Ich verbunden ist, und der niedere Ätherleib als das den physischen Leib belebende Element
[68].