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Selbstgebung, Selbstgegebenheit

Selbstgebung, Selbstgegebenheit 3824 10.24894/HWPh.3824 Elisabeth Ströker
Husserl Phänomenologie Selbstgegebenheit Gegebenheit
Selbstgebung, Selbstgegebenheit. ‹Selbstgebung› [S.] und ‹Selbstgegebenheit› [Sg.] sind fundamentale Begriffe der Phänomenologie und durch E. Husserl zu deren methodischen Leitbegriffen geworden. Zum einen wurden mit ihnen die herkömmlichen und vielfach umstrittenen Auffassungen der phänomenologischen Evidenz [1] als intuitiv-unmittelbarer Zugang zur Wahrheit korrigiert; zum anderen konnte mit ihnen das Verhältnis von Evidenz und Wahrheit im theoretischen Kontext der Phänomenologie für die verschiedenen Wahrheitsbegriffe bestimmt werden [2]. Aufgrundder Differenz von bloß Gegebenem und wahrhaft Erkanntem ergibt sich für dieses, über seine bloße Gegebenheit in erkennenden Intentionen hinaus, die Forderung, es zur Sg. zu bringen. Dazu sind jene Leerintentionen (s.d.) bloßen Meinens anschaulich – und je nach Typus des Erkenntnisgegenstandes durch sinnliche oder kategoriale Anschauungen – zu erfüllen [3]. ‹Sg.› bezieht sich also nicht einfach auf die «Sache selbst» im Sinne der generellen Devise der Phänomenologie; vielmehr kennzeichnet sie eine ausgezeichnete Gegebenheitsweise für jede ihrer ‘Sachenʼ – in Abhebung gegen andere, defiziente Gegebenheitsmodi. Mithin ist Sg. das Ergebnis von S.; Sg. erreicht im Idealfall der S. evidente oder wahrhafte Gegebenheit.
Wenn auch zumeist nur in verschiedenen Graden und Stufen tatsächlich erreichbar, muß S. gleichwohl in jedem einzelnen Fall eigens hergestellt oder in Akten der S. «geleistet» werden. Diese erweisen sich in genauerer Analyse als Aktgefüge vom Typus identifizierender Synthesen: Die ein Erkenntnisobjekt meinenden Intentionen oder Leerintentionen sind zunächst mit entsprechenden erfüllenden Anschauungen so zur Deckung zu bringen, daß das gemeinte Objekt überhaupt als «es selbst» vor Augen stehen kann. Ferner ist dieser erste methodische Schritt der S. – der lediglich als solcher immer noch zu bloß vermeinter, irrtümlicher oder nur scheinbarer Sg. fuhren kann – in weiteren «Synthesen ausweisender Erfahrung» zu bewähren. Dieses weitere Prozedere der S. zielt vor allem auf Bewahrheitung oder Korrektur des in allem bloß Gegebenen schon mitgemeinten, aber nicht ausdrücklich gemachten Seinsmodus des Erkenntnisgegenstandes. Erst wenn dieser im Falle standhaltender Bewährung als der identisch eine Gegenstand im Wechsel seiner schlichten Gegebenheitsweisen wie auch in seiner prätendierten Seinsweise zur Sg. gekommen ist, kann seine Wahrheit als das objektive Korrelat seiner Evidenz und S. als der – zwar prinzipiell unabschließbare, jedoch jederzeit nachvollziehbare – Prozeß seiner Erkenntnis gelten.
[1]
Vgl. Art. ‹Evidenz II.›. Hist. Wb. Philos. 2 (1972) 832–834.
[2]
E. Husserl: Cartes. Medit. (1929). Husserliana [Hua.] 1 (21963) 105ff. 112. 154; Die Krisis der europ. Wiss.en (1936). Hua. 6 (1954) 169ff. 186ff.; Erste Philos. (1923/24). Hua. 8 (1959) 33ff. 50ff.; Formale und transz. Logik (1929). Hua. 17 (1974) 167ff. 213ff. 285ff. 292ff. 315ff.; Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenol. Philos. 1: Allg. Einf. in die reine Phänomenol. (1913). Hua. 3/1 (21976) 11. 41; Log. Unters. II/1 (1901, 21913) 145. Hua. 19/1 (1984) 149; II/2 (1901, 21921) VIf. 154. Hua. 19/2 (1984) 535f. 683.
[3]
E. Ströker: Husserls Evidenzprinzip. Z. philos. Forsch. 32 (1978) 1–30; vgl. Art. ‹Anschauung, kategoriale›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 351.
P. Janssen: E. Husserl. Einf. in seine Phän. (1976). – E. Ströker: Husserls transz. Phän. (1987); Phänomenol. Stud. (1987). – R. Bernet/I. Kern/E. Marbach: E. Husserl. Darst. seines Denkens (1989). – E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (21970). – E. Ströker/P. Janssen: Phänomenol. Philos. (1989). – E. Ströker: Husserls Werk. E. Husserl: Ges. Schr., hg. E. Ströker 1–8 (1992) Erg.-Bd.