Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Selbstsein

Selbstsein 3841 10.24894/HWPh.3841 Anton Hügli
Ethik und Moralphilosophie being yourself werde der du bist9 520 Wir9 520 Selbstwerden Man-selbst9 521f Selbstwohl9 521f Existenz9 521f Seinkönnen9 523 Kommunikation9 523 être-soi9 523 ipséité9 523 circuit de l'ipséité9 524 Riss9 524 lézarde9 524 Selbstvollzug9 525 Selbsttätigung9 525 Wirheit9 525 Freiheit von sich/zu sich9 525 Gegenwart9 525 Verhalten zu sich selbst
Selbstsein (engl. being yourself; frz. être-soi). Das Substantiv ‹S.› hat sich als philosophischer Terminus erst in der Existenzphilosophie des 20. Jh. eingebürgert. Bereits die Antike jedoch kennt die ethische Maxime, man selbst zu sein, wie etwa der oft zitierte Pindar-Ausspruch, «Werde, der du bist» (γένοι' οἷος ἐσσὶ μαθών) [1], oder die sokratische Forderung, «mit sich selbst übereinzustimmen» [2], zeigen. Mit der stoischen Lehre von den «personae» [3] (wörtlich: Masken) wird ein Verständnis sozialer Rollen entwickelt, das den individuellen Aspekt, das, was man selbst ist, umfaßt («tenenda sunt sua cuique») [4] und zur Wahrung der persönlichen Identität dazu auffordert, der eigenen Natur zu folgen («propriam nostram naturam sequamur») [5]. S. heißt einerseits, sich selbst mit seiner Rolle in Übereinstimmung zu bringen, aber auch, sein inneres, wahres Selbst zu verwirklichen als Grundvoraussetzung für die Seelenruhe [6]. Im Neuplatonismus wird das, was der Einzelne als Selbst ist, metaphysisch gedeutet aus einer ontologischen Konzeption, in der jegliches Sein als Emanation des obersten Prinzips des Einen verstanden wird. S. heißt demnach, sich von seinem Ursprung her zu verstehen, sich zu diesem zurückzuwenden und sich darin zu erkennen [7]. Dieses S. ist die Bedingung der Freiheit [8]. «Wir selbst» (ἡμεῖς) zu sein heißt, sich aus dem Sein zu verstehen. «Diejenigen aber, die aus ihrem Selbstsein [ἀπὸ τοῦ εἶναι ἑαυτῶν] herausgehen zu anderen Dingen, denen fehlt, weil sie sich selbst fehlen, auch das Sein» (ἄπουσιν ἑαυτῶν ἄπεστι καὶ τὸ ὄν) [9]. S. und Selbigkeit im Sinne der Identität konvergieren im höchsten Prinzip, das ganz aus sich und nicht aus anderem ist. Vor dem Hintergrunddieser ontologischen Tradition wurde das Sein, das aus sich selbst und nicht durch etwas anderes ist, die Aseität (s.d.), zum Wesensmerkmal Gottes. F. W. J. Schelling konnte in diesem Sinn Gott bestimmen als «das im höchsten Sinne selbst-Seyende» [10].
Trotz der antiken ethischen Forderung, man selbst zu sein, kann sich erst mit der begrifflichen Konstituierung eines ‹Selbst› in der Neuzeit auch ‹S.› begrifflich herausschälen. Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und «Authentizität» sind Postulate, die sich im 18. Jh., vor allem aber im 19. Jh. in Literatur und Philosophie ausbreiten [11]. J. G. Herder bereitet die moderne Diskussion über das S. vor, indem er im Rahmen einer Ethik der Perfectio S. als einen Prozeß des Selbst-Werdens versteht, der die je eigene Individualität entfaltet: Die «Vollkommenheit eines einzelnen Menschen» besteht also darin, «daß er im Continuum seiner Existenz Er selbst sei und werde» [12]. Es war dann S. Kierkegaard, der mit seinen Reflexionen auf das Selbst als eines Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält, den Begriff des S. als Selbst-Werdung, als eine permanente Bewegung zu sich selbst [13], der Existenzphilosophie und Lebensphilosophie bereitgestellt hat, allerdings ohne den Terminus ‹S.› selbst schon zu verwenden. Kierkegaards Aufruf zu wahrem S. – bei ihm unter wechselnden Formeln wie «sich selbst zu wählen», «subjektiv zu werden», ein «Existierender», ein «Einzelner» zu sein – findet zum Ende des 19. Jh. seinen Widerhall auch in der Literatur, so exemplarisch etwa in H. Ibsens Drama ‹Peer Gynt› [14]. Bei F. Nietzsche zieht sich die Aufforderung zum S., etwa in Anlehnung an Pindars «Du sollst werden, der du bist» [15] oder in der als Untertitel zu ‹Ecce Homo› verwendeten Formel «Wie man wird, was man ist» durch das ganze Werk. Sie ist Ausdruck einer Konzeption der Selbstbildung (s.d.), einer Ästhetik des Sich-selber-Schaffens [16].
Die eigentliche Karriere des Terminus ‹S.› beginnt erst mit M. Heidegger und K. Jaspers und ihrem Versuch, die Kierkegaardschen Analysen in ihre Begrifflichkeit umzusetzen. Der «eigentümliche Begriff von S.» [17], wie E. Tugendhat ihn bei E. Husserl im wahrheitstheoretischen Sinn aufspürt als das, was die Sache unabhängig von meiner Meinung ist, in der Weise «des Sich-selbst-gebens», «im Endmodus des Selbst da» [18], dürfte wohl singulär geblieben sein.
Heidegger verwendet den Terminus ‹S.› zur Bezeichnung der besonderen Seinsweise des (menschlichen) Daseins, d.h. jenes Seienden, «das wir ... je selbst sind» [19] und zu dessen Seinsverfassung gehört, «daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht» [20]. Nach Heidegger hat Dasein bei der Antwort auf die Frage nach der sogenannten Existenz, nach dem, was es sein will, «die Möglichkeit ..., es selbst oder nicht es selbst zu sein» [21], d.h. sie eigentlich oder uneigentlich zu beantworten.
Im Modus der Alltäglichkeit ist das Dasein selbstvergessen dem (gerade) Gegenwärtigen «verfallen» [22], und das S. steht unter der «Herrschaft» und «in der Botmäßigkeit der Anderen» [23]. Diese Anderen, zu denen man selbst auch gehört, sind das «Neutrum, das Man» [24]. Man handelt, urteilt und empfindet, wie man zu handeln, zu urteilen und zu empfinden pflegt. Dem «Man-selbst» des alltäglichen Daseins, in welchem «ich mir ‘selbstʼ zunächst ‘gegebenʼ» werde, stellt Heidegger das «eigentliche, das heißt eigens ergriffene Selbst» [25] gegenüber: als eine «existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials» [26]. Die «existenzielle Modifikation» des ‘Man-selbstʼ zum eigentlichen S. besteht darin, daß ich mir vom «Man» die Wahl meiner Selbstmöglichkeiten nicht mehr abnehmen lasse, sondern diese Wahl «nachhole»: durch die Entscheidung «für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst» [27]. Das Dasein kann sich dieser Entscheidung durch Flucht entziehen oder kann in Uneigentlichkeit ausweichen, es kann sich ihr aber auch stellen, sich selbst auf seine Möglichkeiten hin entwerfen und sich – im Modus der «Entschlossenheit» [28] – selbst bestimmen, um dadurch im Sinne des Pindarschen Wortes zu werden, was es ist [29].
Daß der Schritt zum eigentlichen S. überhaupt erfolgen kann, ist nur möglich aufgrundeiner dem Dasein wesenhaft zugehörigen «Grundbefindlichkeit»: der Angst vor dem Tode als Angst «‘vorʼ dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen» [30]. Diese Angst, durch die das Dasein vor das «Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz» gestellt wird, enthüllt ihm «die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit ..., es selbst zu sein, ... in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode» [31]. Indem das Selbst in seiner «Selbstheit» (wie Heidegger nun terminologisch sagt) sich der Angst stellt, gewinnt es die wahre «Selbst-ständigkeit» und «Beständigkeit», die im Gegensatz steht «zur Unselbst-ständigkeit des unentschlossenen Verfallens» an das Man [32].
Mehr als «eine phantastische Zumutung» [33] ist das eigentliche S. für das Dasein aber nur, wenn ihm bezeugt wird, daß es der Möglichkeit nach auch ein eigentliches S. sein kann [34]. Diese Möglichkeit des «S.-könnens» erschließt sich nach Heidegger im «Ruf des Gewissens», der das Dasein «auf sein eigenstes Selbstseinkönnen» zurückruft: in Form des Aufrufs zum «eigensten Schuldigsein» [35]. Der Grund dieses Schuldigseins jedoch – und hier ist die Anleihe an Kierkegaards Bestimmung des Selbst als eines nicht durch sich selbst gesetzten Verhältnisses unverkennbar – liegt nicht in einem Verstoß gegen «Sollen und Gesetz» [36], sondern darin, daß «das Selbst, das als solches den Grund seines Selbst zu legen hat,. ... dessen nie mächtig werden [kann] ... und ... doch existierend das Grundsein zu übernehmen» [37] hat.
Im Unterschied zu Heidegger hat Jaspers bei der Entwicklung des für ihn zentralen Begriffs des S. aus seinen Kierkegaard-Anleihen wenig Hehl gemacht [38]. Sein Grundgedanke: Was mich ausmacht, ist nicht, daß ich da bin als Leib, als Materie, als Seele, als alltägliches Bewußtsein; es ist auch nicht die Tatsache, daß ich erkennendes Subjekt, Bewußtsein überhaupt bin und als solches ersetzbar durch jedes beliebig andere erkennende Subjekt. Ich bin auch nicht bloß Geist, fähig an den von Menschen hervorgebrachten Gedanken, Werken und Taten teilzuhaben. Was ich eigentlich bin, ist dies alles und mehr: das «Umgreifende des S.» [39]. S. ist, metaphorisch gesprochen, hinter allen Rollen «das diese Rollen Tragende, in dem ich mit mir selbst identisch bin» [40]. In seinem Grund ist es Freiheit; denn als S. ertrage ich nicht die Möglichkeit der Unfreiheit: «weil ich als ich selbst da bin, dem es auf etwas, das von ihm abhängt, unbedingt ankommen kann, muß ich frei sein können. Das aber ist kein Schluß von einem Faktum auf seine Bedingung, sondern der Ausdruck des S. selbst, das sich seiner Möglichkeit als eines Seins bewußt ist, welches über sich noch entscheidet» [41]. Das S. liegt in der Freiheit dieser Wahl, die mögliche Existenz wirklich werden läßt. «Im Handeln und Entscheiden» bin ich «Ursprung ... meiner Handlung und meines Wesens zugleich». «Indem ich wähle, bin ich, bin ich nicht, wähle ich nicht» [42].
Die Freiheit des S. ist wie ein Neuanfang in der Zeit, der aber gerade darum nicht ein für allemal gemacht werden kann, sondern ständige Bewegung erfordert, «welche dem Leben Kontinuität aus sich selbst in der Zerstreutheit seines Daseins zu geben vermag» [43]. S., Existenz, ist darum kein «So-sein, sondern ein Sein-können, d.h., ich bin nicht Existenz, sondern bin mögliche Existenz. Ich habe mich nicht, sondern komme zu mir» [44].
Vom Begriff des S. her erschließen sich auch alle übrigen Schlüsselbegriffe der Jasperschen Existenzphilosophie, so der Begriff der Grenzsituation (s.d.): Erst in der Erfahrung der Grenzsituation, welche mir die Fragwürdigkeit des Seins der Welt und meines Seins in ihr offenbar macht [45], wird Dasein zum S. – durch den Sprung zu philosophischer Existenzerhellung (s.d.), durch den Sprung zu möglicher und schließlich zu wirklicher Existenz [46]; so der Begriff der Transzendenz: S. gibt es nicht ohne Transzendenz, durch die es gesetzt wurde und aus der heraus es sich selbst geschenkt wird. «Gerade im Ursprung meines S. ... bin ich mir bewußt, mich nicht selbst geschaffen zu haben» [47]; so der Begriff der Kommunikation (s.d.): «Alles, was wir sind, sind wir in Kommunikation» [48]; S. wächst im Prozeß des gegenseitigen Offenbarwerdens und durch Konfrontation im «liebenden Kampf» [49].
Für Jaspers ist ‹S.› durch sein ganzes Werk hindurch zentraler Begriff, als mögliches Synonym für ‹Existenz› – «S. heißt Existenz» [50] – sogar der zentrale Begriff geblieben, der sich ab 1934 mit dem zweiten Grundbegriff der Jaspersschen Philosophie, dem der Vernunft als dem «Band» aller Weisen des Umgreifenden, unlösbar verbindet [51]. Bei Heidegger dagegen hat der Begriff ‹S.› nach der sogenannten «Kehre» keine tragende Funktion mehr. Die Frage nach dem, was wir selbst sind, nach unserem «Selbst-sein», ist, wie Heidegger ausführt, unzertrennlich verbunden mit der «Frage, ob wir sind» [52]. «Selbstbesinnung» (s.d.) ist daher notwendig Besinnung auf das «Wesen des Seins als solchen» [53], denn das S. ist nur vordergründig ein «von sich aus Tun und Lassen und Verfügen» [54], in Wahrheit aber kommt das S. des Menschen «geschichtlich» nur dadurch «zu ‘sichʼ» [55], daß es seine «Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seins» übernimmt, sich «übereignet» in das «Er-eignis» des Seins [56]. Die «gefährliche Frage», wer wir sind, muß darum philosophisch vorbereitet werden und «rein und völlig eingefügt bleiben ... in das Fragen der Grundfrage: wie west das Seyn?» [57].
Es war jedoch nicht der bei Jaspers im Vordergrundstehende emphatische, auf das eigentliche S. («l'être soi», wie er ins Französische übersetzt wurde [58]) beschränkte, sondern der alltägliche, die «Verfallenheit» mit einschließende Begriff des S. von Heidegger, der durch J.-P. Sartre Eingang in den französischen Existentialismus fand und der im Zuge der rasch einsetzenden Rezeption von ‹Sein und Zeit› [59] zu einem Schlüsselbegriff der Philosophischen Anthropologie und der sogenannten existentialen Daseins-Analyse wurde [60].
Das «Für-sich-Sein» («pour soi»), wie Sartre das Heideggersche «Dasein» nun bezeichnet, weist – im Gegensatz zum «An-sich-sein» («en soi») der Dinge, die immer nur sind, was sie sind – die paradoxe Struktur auf, daß es nicht ist, was es ist, und daß es ist, was es nicht ist. Und eben dieser zweite Aspekt macht die «Selbstheit» («ipséité») der menschlichen Person aus [61]: Indem ich mir bewußt werde, daß ich letztlich immer in Form eines Mangels existiere, als etwas, was ich zwar sein könnte, aber (noch) nicht bin. Ich bin deshalb gezwungen, mich dauernd auf mich selbst hin zu überschreiten, anwesend zu sein bei dem Abwesenden. Diese (noch abwesenden) Möglichkeiten liegen jedoch nicht etwa in mir, sondern in der Welt: Im Durst erscheint mir das volle Glas als durchsetzt mit der Möglichkeit, es leer zu trinken [62]. Die Welt ist nichts anderes als die Totalität der Möglichkeiten, auf die hin ich mich überschreite und von denen her ich mich verstehe als der, der ich zu-sein-habe. Sartre bezeichnet dieses Wechselverhältnis von Person und Welt als «Selbstheitszirkel» («circuit de l'ipséité») [63]. «Sans monde pas d'ipséité, pas de personne; sans l'ipséité, sans la personne, pas de monde» [64].
Im Unterschied zu Heideggers Deutung des «In-der-Welt-seins» ist für Sartre der Andere als Objekt zwar in meiner Welt, als Subjekt aber, als Für-sich-sein, ist er außerhalb meiner Welt und bricht von außen in mein Universum ein, als «Riß» («lézarde») gleichsam, durch den die Dinge in meiner Welt abfließen, um sich in seiner Welt neu zu organisieren [65]. Die Entfremdung geht aber noch tiefer: Durch den Blick des Andern werde ich selbst zu einem Andern, ich bin nur noch, was ich bin, ein An-sich für ein anderes Für-sich [66], vor Faktizität erstarrt [67], ohne Transzendenz [68]. Mein Selbst wird mir vom Andern gleichsam gestohlen [69]; ich bin, wie der Andere mich sieht. Nicht mehr meine Freiheit, sondern: «la liberté d'autrui est fondement de mon être» [70]. Was die Neuplatoniker und was Kierkegaard Gott zuschreiben, wird hier für Sartre zu einer Leistung des kontingenten Andern. Diese Kontingenz jedoch ist unüberwindbar, für mich sowohl wie für einen absoluten Gott, der – gemäß dem ontologischen Gottesbeweis – das unmögliche Projekt darstellt, «se donnant librement comme autre son être-soi et comme soi son être-autre» [71]. Meine Freiheit, mein Für-mich-sein, kann ich nur dadurch wieder zurückgewinnen – und dies ist Sartres eigenwillige Version des Schrittes von der Uneigentlichkeit in die Eigentlichkeit und zum Setzen des Grundes, den ich nicht selbst gesetzt habe –, daß ich mich als derjenige wähle, «qui n'est pas l'Autre» [72]. Die Negation der «Selbstheit» des Andern bedeutet positiv «le choix continu de l'ipséité par elle-même comme la même ipséité et comme cette ipséité même» [73]. Den Andern als S. (und nicht als Objekt) zurückweisen kann ich aber nur, indem ich ihn als S. anerkenne und mithin auch mich anerkenne als das «Objekt-Ich», das ich für den Andern bin. Was ich für den Andern bin, «c'est un être parfaitement réel, mon être comme condition de mon ipséité en face d'autrui et de l'ipséité en face de moi» [74]. Aber gerade weil «die Freiheit des Andern Grund meines Seins ist» und bleibt, bin ich permanent in Gefahr, meinen Entwurf und mein Sein immer wieder neu zu verlieren [75]. Die einzige Möglichkeit, Sicherheit zu gewinnen, bestünde darin, «que ... je m'empare de cette liberté et que je la réduis à être liberté soumise à ma liberté» [76]: das etwa in der Liebe, im «Objekt-Wir» oder im «Subjekt-Wir» konkret erfahrbare, vergebliche Unterfangen, als ich selbst ein Anderer und als Anderer ich selbst zu sein [77].
Im Unterschied zu Sartre bleibt man in der deutschen Rezeption des Heideggerschen «S.» recht nahe an Heidegger selbst. Nach H. Kunz liegt Heideggers entscheidende Einsicht im Zusammenhang zwischen dem S. und dem «Nichten des Nichts», vor das wir uns in unserer Innerlichkeit durch das «ständige Aufbrechen des möglichen Todes» gestellt sehen [78]. «Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein S. und keine Freiheit» [79], wie Kunz Heidegger zustimmend zitiert [80]. Nur weil der Mensch sich gegenüber dem Nichts permanent behaupten muß, «vermag er zusätzlich sich selbst ausdrücklich zu ergreifen, sich als ‘eigentlichesʼ S. denkend und handelnd hervorzubringen ... oder sich an das dumpf ablaufende ‘nackteʼ Da-sein zu verlieren» [81]. – «Geschehendes» S. als Kennzeichnung des von allem sachhaltigen und organischen Sein grundsätzlich verschiedenen Seins des Menschen: dies ist zentraler Begriff auch der Philosophischen Anthropologie von W. Keller. Das S. charakterisiert nach Keller den Menschen in allen seinen Äußerungen, den höchsten Leistungen sowohl wie den alltäglichsten Akten und Zuständen [82]. S. ist der Mensch sowohl dort, wo er im emphatischen Sinn sich selbst bestimmt, als auch in den Vorgängen, die er als «Schicksal und Heimsuchung» scheinbar nur erleidet; denn selbst in jenen Situationen sei das Dasein insofern noch «Selbstvollzug» [83] und «Selbsttätigung» [84], als sie von ihm selbst erlebt und durchlebt werden [85].
Im Gegensatz zu den bisherigen Deutungen – auch der Jaspersschen – des S. als einsam und getrennt von allen andern, das nur nachträglich, über den Abgrundder Getrenntheit hinweg, zu einem Miteinander findet [86], sieht L. Binswanger in der Nachfolge Bubers die in Freundschaft und Liebe erfahrbare «Wirheit» als «einen eigenständigen, ursprünglichen Modus des Menschseins», in welchem «Ich und Du erst geboren werden» [87], allerdings nicht in «gegenseitiger Schöpfung», wie Jaspers meine, «sondern als Geschöpf (Geschenk) des Überschwangs» [88], «des reinen Transzendierens» [89]. «Wirheit» ist Ursprung der «Selbstheit» [90], des Daseins als «Wir-Begegnung» [91], und nicht umgekehrt.
Den Grundgedanken Binswangers fortführend und zugleich auf Kierkegaard zurückgreifend entwickelt M. Theunissen in seiner «negativen Theologie der Zeit» einen Begriff des S., der – im Gegensatz zu der modernen «Philosophie des S., die ausgesprochen oder unausgesprochen voraussetzt, daß der Mensch einzig unter der Bedingung seiner Autonomie er selbst sein könne» [92] – aus dem christlich verstandenen Glauben hervorgeht und in der Liebe gründet [93]. S. als Glaube ist zunächst und vor allem «Freiheit des Menschen von sich selbst», in der Bereitschaft, «sich selbst los[zu]lassen» [94] und «sich rückhaltlos der Macht Gottes» [95] anzuvertrauen. Nur durch diese «Freiheit von sich» wird der Mensch auch erst «frei zu sich, indem er sich ergreift und sich hiermit nicht nur seiner selbst, sondern ebensowohl der Welt bemächtigt» [96] – basierend auf der Macht Gottes, der «nichts unmöglich ist» [97]. Im Unterschied zu dem «eigenmächtigen, ‘autonomenʼ S.» [98] ist das vom Glauben getragene S. frei «vom Druck der Zukunft» und «vom Zwang des ständigen Sich-Vorwegseins» [99]. Gegenwart ist für dieses S. nicht mehr bloß «Index verfallenden oder uneigentlichen Daseins» [100] wie bei Heidegger und auch nicht bloß permanenter «Entscheidungsaugenblick» wie bei Kierkegaard, sondern «Liebesgegenwart», in welcher die «Gottesliebe» zum Vorschein kommt [101] und der «Anspruch der Gegenwart auf Ewigkeit sich erfüllt» [102].
Zum eigentlichen Programmpunkt erhoben wurde die Suche nach dem wahren, erfüllten S. in der Humanistischen Psychologie, allerdings unter lebensphilosophischen Auspizien und anderen Termini wie z.B. ‹Selbstverwirklichung›, ‹Identität› oder ‹Authentizität›. Als ‘nicht-authentischʼ – wie dieses diffuse Amalgam aus dem Marxschen Entfremdungsbegriff und dem Heideggerschen Begriff der Uneigentlichkeit meist lautet [103] – gilt jede Form des Daseins, die nicht in Harmonie mit den andern und mit der Natur lebt, die ohne Sinn für das «Selbst» ist, «driven by forces which are separated from his self» [104], unfähig, sich selbst wahrzunehmen als «subject of my experiences, my thought, my feeling, my decision, my judgement» [105], entfremdet von seinem aktuellen und seinem realen Selbst [106]. Wahrhaft er selbst ist der Mensch nur, wenn er in Einklang steht mit seinen Gefühlen und seiner «innern Natur», wenn seine Bewertungen aus ihm selbst hervorgehen, wenn er die «unumschränkte Freiheit» benutzt und «spontan, unbehindert und freiwillig das wählt und sich für das entscheidet, was unabhängig davon auch determiniert ist» [107]. Nicht durchsichtig in Gott, sondern undurchsichtig in der ‘Naturʼ zu gründen, scheint die neue Devise zu sein [108].
Im Zuge der – weit über die Humanistische Psychologie hinaus – zum Schlagwort und zur Ideologie des ‘Modernismusʼ avancierten ‹Selbstverwirklichung› [109](s.d.) erweist sich jedoch auch der Terminus ‹S.› als jederzeit wieder aktualisierbar, so etwa im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der antiken Frage nach dem Wesen des Glücks [110], der Philosophie als «Lebenskunst» [111] oder der Ethik als «Kunstlehre des Lebens» [112]. S. gilt als «Endzustand» und «Resultat» der Selbstverwirklichung [113] oder als ein Sein von besonderer ontologischer und ethischer Dignität: als «Ding an sich» [114], als «gut» an sich [115], als «Endzweck» [116], der jede «Instrumentalisierung» verbietet [117].
Wo S. in existenzphilosophischer Bedeutung wieder auflebt [118], markiert der Begriff eines der Grundprobleme der Selbstverwirklichungsdebatte: die Frage, ob S. («Selbstheit») verstanden werden soll als «das Letzte und vermeintlich Unverlierbare», das dem Einzelnen noch bleibt, wenn ihm die Gesellschaft anderes zu sein nicht mehr übrigläßt [119], oder ob S. nur mit der Realisierung jener Allgemeinheit einhergehen kann, die mich «im Einklang mit mir» und mit den andern leben läßt [120]; erkenntnistheoretisch ausgedrückt: ob das der traditionellen Philosophie polemisch entgegengesetzte «singuläre S.» [121] in seiner «allgemeinen Unvernunft» wieder verbunden werden kann mit der in der cartesianschen Tradition ebenso einseitig betonten «allgemeinen Vernunft» des «transzendentalen S.» [122].
[1]
Pindar: 2. Pyth. Ode 72.
[2]
Platon: Resp. 352 a. 443 d/e; vgl. Gorg. 482 c; Aristoteles: Eth. Nic. 1166 a 14.
[3]
Vgl. Art. ‹Person›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 269–338, bes. 271.
[4]
Cicero: De off. I, 110.
[5]
a.O. 110f.
[6]
Ch. Gill: Panaetius on the virtue of being yourself, in: A. Bulloch u.a. (Hg.): Images and ideologies. Self-def. in the Hellenistic world (Berkeley, Cal. 1993) 330–353; vgl. auch: Ch. Gill: Peace of mind and being yourself: Panaitios to Plutarch, in: W. Haase (Hg.): Aufstieg und Niedergang der röm. Welt II/36, 7 (1994) 4599–4640.
[7]
Plotin: Enn. VI, 5 (23), 7; vgl. VI, 9 (9), 11, 38.
[8]
Vgl. dazu H. Krämer: Die Grundleg. des Freiheitsbegriffs in der Antike, in: J. Simon (Hg.): Freiheit. Theoret. und prakt. Aspekte des Problems (1977) 239–270, bes. 258ff.
[9]
Porphyrius: Sent. 40, 50, 16–51, 2.
[10]
F. W. J. Schelling: Abh. über die Quelle der ewigen Wahrheiten (1850). Sämmtl. Werke, hg. K. F. A. Schelling (1856–61) II/1, 585.
[11]
L. Trilling: Sincerity and authenticity (Cambridge, Mass. 1972); dtsch.: Das Ende der Aufrichtigkeit (1983).
[12]
J. G. Herder: Br. zur Beförd. der Humanität 25; Zweite Samml. (1793). Sämmtl. Werke, hg. B. Suphan (1877–1913) 17, 115.
[13]
S. Kierkegaard: Abschließende unwiss. Nachschr. Ges. Werke, 16/II (1958) 267f.
[14]
H. Ibsen: Peer Gynt, 5. Akt.
[15]
F. Nietzsche: Die fröhl. Wiss. 3, § 290 (1887). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 5/2, 197; vgl. 4, § 335, a.O. 243; vgl. auch: Schopenhauer als Erzieher. Unzeitgem. Betr. 3 (1874), a.O. 3/1, 334ff.; Also sprach Zarath. 4 (1885), a.O. 6/1, 293.
[16]
Die fröhl. Wiss. 4, § 335, a.O. 5/2, 243.
[17]
Vgl. E. Tugendhat: Zum Verh. von Wiss. und Wahrheit, in: Collegium Philos. Stud. J. Ritter zum 60. Geb. (1965) 389–402, bes. 392.
[18]
E. Husserl: Cartes. Medit. 3, § 24 [1931]. Husserliana 1 (Den Haag 1950) 92f.; vgl. auch: Log. Unters. II/2, VI, § 16 (1901, 21921). Husserliana 19/2 (1984) 596ff.; Formale und transz. Logik §§ 58f. (1929), a.O. 17 (1974) 163ff.
[19]
M. Heidegger: Sein und Zeit § 2 (1927, 91960). Ges.ausg. I/2 (1977) 7.
[20]
a.O. 16 (§ 4).
[21]
17.
[22]
458ff. (§ 68).
[23]
168 (§ 27).
[24]
a.O.
[25]
172.
[26]
173.
[27]
356 (§ 54).
[28]
358.
[29]
192f. (§ 31); vgl. Die Grundbegr. der Met. § 18 [1929/30], a.O. II/29/30 (1983) 116; Einf. in die Met. § 38 [1935], a.O. II/40 (1983) 108.
[30]
Sein und Zeit, a.O. 334 (§ 50).
[31]
a.O. 353 (§ 53).
[32]
427 (§ 64).
[33]
353.
[34]
Vgl. 356.
[35]
358.
[36]
376 (§ 58).
[37]
377.
[38]
Vgl. die Kierkegaard-Referate: K. Jaspers: Psychol. der Weltanschauungen (1919, 41960) 419–432.
[39]
Von der Wahrheit (1947) 76.
[40]
a.O. 83.
[41]
Philos. 2 (1956) 176.
[42]
a.O. 182.
[43]
182.
[44]
Der philos. Glaube angesichts der christl. Offenbarung, in: G. Huber (Hg.): Philos. und christl. Existenz (1960) 1–92, bes. 29.
[45]
a.O. [41] 209.
[46]
a.O. 204ff.
[47]
199.
[48]
a.O. [39] 378.
[49]
a.O. [41] 65ff. 234f. 242ff.; vgl. auch a.O. [39] 666ff.
[50]
a.O. [39] 76.
[51]
Vernunft und Existenz (1935, 1973) 46.
[52]
M. Heidegger: Beitr. zur Philos. (Vom Ereignis) [1936–38]. Ges.ausg. III/65 (1989) 51.
[53]
a.O.
[54]
321.
[55]
320.
[56]
320 bzw. 318.
[57]
54.
[58]
Vgl. K. Jaspers: Philosophie, frz. Übers. J. Hersch (Paris 1986); ebenso bei M. Dufrenne/P. Ricœur: K. Jaspers et la philos. de l'existence (Paris 1947) z.B. 164.
[59]
Vgl. in der Nachwirk. von ‹Sein und Zeit› den Begriff ‹S.› bei H. Lipps: Unters. zu einer hermeneut. Logik (1938, 31968). Werke 2 (1976) 66ff.
[60]
Einzig größeren Nachhall hat der Jasperssche Begriff des S. gefunden bei: E. Mayer: Dialektik des Nichtwissens (1950) bes. 1ff. 131ff.
[61]
J.-P. Sartre: L'être et le néant (Paris 1943) 148; dtsch.: Das Sein und das Nichts (1993) 213.
[62]
a.O. frz. 149/dtsch. 214.
[63]
a.O. 148/214.
[64]
149/214.
[65]
312ff./461ff.
[66]
319f./472f.
[67]
429/635.
[68]
321/473.
[69]
321/474; 430/636.
[70]
433/641.
[71]
432/640.
[72]
343/507.
[73]
a.O.
[74]
346/511.
[75]
Vgl. mit fast gleichem Wortlaut: F. W. J. Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philos. § 8 (1795), a.O. [10] I/1, 180.
[76]
Sartre, a.O. [61] 433/642.
[77]
3e partie, ch. 3, a.O. 428ff./633ff.
[78]
H. Kunz: Die anthropolog. Bedeut. der Phantasie 2 (1946) 115.
[79]
M. Heidegger: Was ist Metaphysik? (1929). Ges.ausg. I/9: Wegmarken (1976) 115.
[80]
Kunz, a.O. [78] 179.
[81]
a.O. 181.
[82]
W. Keller: Über philos. Anthropol. Studia philos. 20 (1960) 37–57, bes. 43f.
[83]
S. und Selbststreben im Licht der philos. Anthropol. (1965), in: Dasein und Freiheit, hg. H. J. Braun (1974) 33–59, bes. 40 u.a.
[84]
a.O. 41.
[85]
40f. 47f.
[86]
L. Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschl. Daseins (1942, 31962) 192. 481.
[87]
a.O. 481.
[88]
192.
[89]
a.O.; zustimmend auch: J. Neumann: Die Entsteh. des Selbst aus der Angst (1959), in: W. Bitter (Hg.): Angst und Schuld in theol. und psychotherapeut. Sicht (51971) 122–132, bes. 130.
[90]
a.O. 126.
[91]
240.
[92]
M. Theunissen: Ὁ αἰτῶν λαμβάνει. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins (1976), in: Negative Theol. der Zeit (1991) 321–337, bes. 325f.; zu Theunissens positiver Würdigung Binswangers vgl.: Der Andere §§ 86f. (1965, 21981).
[93]
Gebetsglaube, a.O. 360.
[94]
a.O. 336.
[95]
337f.
[96]
337.
[97]
336.
[98]
337.
[99]
336.
[100]
345.
[101]
358.
[102]
361.
[103]
Vgl. dazu kritisch: R. Schacht: Alienation (London 1970).
[104]
E. Fromm: The sane soc. (New York 1955) 114.
[105]
a.O. 130.
[106]
K. Horney: Neurosis and human growth (London 1951) 158.
[107]
C. R. Rogers: On becoming a person. A therapist's view of psychotherapy (Boston 1961) 193; dtsch.: Entwickl. der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten (41983) 192.
[108]
Vgl. kritisch dazu: N. O. Engelen: Das innere Selbst. Die Geburt der Selbstverwirkl. aus dem Geist der Erziehung (1991) bes. 295ff.
[109]
M. Theunissen: Selbstverwirkl. und Allgemeinheit (1981) 1f.; vgl. auch: F. Kambartel: Universalität als Lebensform (1977), in: Philos. der humanen Welt (1989) 15–26, bes. 21ff.
[110]
H. Krämer: Selbstverwirklichung, in: G. Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück (1978) 21–43; vgl. auch: Integrative Ethik (1992) 165f. 246f.
[111]
Vgl. etwa W. Schmid/H. Schmidt: Gespräch. Philosophieren über Lebenskunst. Dtsch. Z. Philos. 41 (1993) 127–141.
[112]
R. Spaemann: Glück und Wohlwollen (1989, 21990) 9.
[113]
H. Krämer: Selbstverw., a.O. [110] 29.
[114]
Spaemann, a.O. [112] 150.
[115]
a.O. 112.
[116]
169.
[117]
151.
[118]
Theunissen, a.O. [109] 13.
[119]
Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit (1964). Ges. Schr., hg. G. Adorno/R. Tiedemann (1970ff.) 6, 490.
[120]
So im Anschluß an Hegel: Theunissen, a.O. [109] 48; vgl. auch: M. Theunissen: Begriff und Realität, in: R.-P. Horstmann (Hg.): Seminar. Dialektik in der Philosophie Hegels (21989) 324–359, bes. 346ff.
[121]
R. Wiehl: Die Komplementarität von S. und Bewußtsein, in: K. Cramer u.a. (Hg.): Theorie der Subjektivität (1987) 44–75, bes. 66.
[122]
a.O. 64.
A. Vogt: Das Problem des S. bei Heidegger und Kierkegaard. Diss. Gießen (1936). – K. Salamun: Das ‘eigentliche S.ʼ in der Kommunikation bei K. Jaspers (Graz 1965).