Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Selbstsorge

Selbstsorge 3842 10.24894/HWPh.3842 Wilhelm Schmid
Ethik und Moralphilosophie cura sui care of oneself souci de soi epimeleia heautu (ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ) Kultur des Selbst Sorge um sich Seelsorge9 530f merimna to biu (μέριμνα τοῦ βίου)9 531 culture de l'âme9 532 Selbstvervollkommnung9 533 Fürsorge9 534 Selbstbekümmerung9 535 Verhalten zu sich selbst
Selbstsorge (griech. ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ; lat. cura sui; engl. care of oneself; frz. souci de soi)
1. Der Begriff ‹S.› taucht zum erstenmal bei Platon auf, und zwar vorzugsweise in den frühen (sokratischen) Dialogen. Selbst das Wort ἐπιμέλεια (Sorge, Fürsorge) – als Ableitung vom älteren μελέτη – ist erst aus der Zeit des Sokrates belegt. Der ethische und zugleich politische Charakter der S. steht bei Platon im Vordergrund. Von Anfang an ist die S. nicht, wie es der Begriff nahelegen könnte, eine Sorge nur um sich. In der ‹Apologie› hält Sokrates seine Mitbürger dazu an, sich um sich zu sorgen; er leistet diesen Dienst an der Polis um der Polis willen, denn die S. ist zugleich die Sorge um den Bestand der Polis. Das Selbst wird lokalisiert in der Seele und wird mit der Sorge in einem Genitiv verbunden, der sowohl als Genitivus subiectivus wie obiectivus verstanden werden kann: Die Sorge ist die charakteristische Tätigkeit der Seele, zugleich richtet sich diese Tätigkeit und Bewegung auf die Seele selbst, die zum Objekt wird. «Sich zu sorgen um die Seele» (ἐπιμελεῖσθαι τῆς ψυχῆς) [1] geschieht letztlich um der Tugend bzw. Vortrefflichkeit (ἀρετή) willen, die ebensowohl die Vortrefflichkeit der individuellen Seele herstellt wie auch das Gemeinwesen zusammenfügt. Im (pseudo-)platonischen Dialog ‹Alkibiades I› wird die S. als Voraussetzung angesehen, Macht über andere maßvoll auszuüben: Diese «Sorge für uns selbst» (ἐπιμέλεια ἡμῶν αὐτῶν) [2] bedarf aber der Selbsterkenntnis: Sich auf das Seinige verstehen, ist die Voraussetzung dafür, das, was die anderen betrifft, zu verstehen und ein politischer Mensch zu werden. Diese S. muß beizeiten beginnen. Mit fünfzig Jahren «wäre es dir wohl schwer geworden, noch Sorgfalt auf dich zu wenden» [3]. Die Forderung des Sokrates, sich um sich selbst, sich um die Seele zu sorgen, ist ein immer wiederkehrendes Thema der platonischen Dialoge. Wie zentral die S. für das Konzept der Philosophie im Platonismus ist, zeigt sich darin, daß der Lektürekanon in der platonischen Akademie mit dem ‹Alkibiades› begann, «auf daß man sich wende und rückwende auf sich selbst» und so erkenne, «was man zum Gegenstand seiner Sorgen machen müsse» [4]. Und noch Proklos bezeichnet ‹Alkibiades I› als «Anfang aller Philosophie» (ἀρχὴ ἁπάσης φιλοσοφίας) [5].
Wenn es in der S. zentral um die Seele geht, bedeutet dies keine Leibfeindlichkeit – für den Leib «vorzüglich Sorge zu tragen», legitimiert sogar Platon zumindest für die Heranwachsenden [6]. Zur S. gehören diätetische Fragen und Fragen des Umgangs mit den Lüsten. Es ist nicht gleichgültig, was man ißt und trinkt und wie man die Aphrodisia pflegt, ob man Gymnastik betreibt und sich Maßnahmen zur Abhärtung angelegen sein läßt, welches Maß in allem angebracht ist, welche Übungen hierfür sinnvoll sind: Die Grenzen zwischen medizinischem und philosophischem Diskurs sind fließend. Die leibliche Seite der S. (als «cura sui corporis» und τοῦ σώματος ἐπιμέλεια[7]) bleibt die ganze griechische und römische Antike hindurch in der Traditionslinie der antiken Diätetik mit ihrer minutiösen und bisweilen hypochondrischen Sorge um das leibliche Wohlbefinden noch verbindlich.
Wie schon in den Dialogen Platons ist die Sorge (ἐπιμέλεια) bei Aristoteles auf die Realisierung der Vortrefflichkeit (ἀρετή) gerichtet, und sie dient dazu, die Glückseligkeit (εὐδαιμονία) zu erlangen [8]. Auch wenn der Begriff der S. nicht ausdrücklich genannt wird, so plädiert Aristoteles doch für ein pointiertes Selbstverhältnis, das im Begriff der φιλαυτία (‹Selbstliebe›, s.d.) zum Ausdruck kommt. Bei Epikur findet im Unterschied zu Sokrates eine deutliche Entpolitisierung der S. statt: Es geht allein um das Individuum, Philosophieren heißt, das einzuüben (μελετᾶν), was zur Glückseligkeit führt [9]. Das Festhalten an der Beziehung der Freundschaft zeigt zugleich, daß die S. auch hier nicht zu einer Fixierung des Selbst auf sich führt. In der jüngeren Stoa erreicht der Gedanke der S. einen Höhepunkt. Hier wird nun auch deutlich unterschieden zwischen ängstlicher Besorgnis (sollicitudo, griech. μέριμνα), die abgewiesen wird, und kluger Sorge um sich (cura sui), um die es ausschließlich geht. Der Sorge entgegen steht die Nachlässigkeit (negligentia). ‹Cura sui› meint nicht die Sorge um den eigenen Vorteil oder den Nutzen für sich selbst, sondern nicht gleichgültig zu sein gegen sich selbst und die Veränderung seiner selbst (mutatio sui) zu bewirken. Es gibt nichts, was die «intensive und gewissenhafte Sorge» nicht erreichen könnte. Dies bezieht sich vor allem auf die Seele, die zu formen ist und leicht die gewünschte Gestalt annimmt [10].
Die Sorge um sich dient bei Seneca der Selbstaneignung, um sich nicht der Verfügung durch andere Menschen oder gar durch Geschäfte und Dinge zu überlassen. Immer ist sie verbunden mit einer strikten Zeitdisposition und einer Reihe weiterer Verhaltensweisen, Regeln und Prozeduren; die Tätigkeiten, die diversen Übungen, die Selbstbeobachtung werden immer genauer festgeschrieben: Kontrolle der eigenen Gedanken, morgendlicher Vorsatz, abendliche Prüfung, Meditation, Lektüre, Memorieren von Sentenzen, Gespräche, Briefeschreiben, um sich wechselseitig Rat zu geben, Konzentration nur auf Eines, Wissen, welche Dinge gleichgültig sind, Vorbereitung auf den Tod, Befolgung von Maximen und immer wieder als wichtigste Aufgabe die Zeiteinteilung für den Tag wie für das ganze Leben. Für den eigenen Körper Sorge zu tragen, darf nicht vernachlässigt werden, vollkommen aber ist der Zustand eines Menschen, «der sich um Körper und Seele sorgt» und so schließlich weder Unruhe in seiner Seele noch Schmerz im Körper empfindet [11].
Es lassen sich damit folgende verschiedene, nicht immer gleichzeitig auftretende Aspekte der S. ausmachen. Selbstrezeptiver Aspekt: Das Selbst wird wahrgenommen und ernstgenommen; die Folge dieser ‘Selbsterkenntnisʼ ist eine große Aufmerksamkeit auf sich bis in die kleinsten Dinge des täglichen Lebens hinein. Selbstreflexiver Aspekt: Die Wendung auf sich selbst ist verbunden mit einer Rechenschaftslegung und Prüfung, meist vermittelt über den Blick eines anderen von außen auf das Selbst. Selbstproduktiver Aspekt: Das Selbst ist nicht einfach nur gegeben, sondern wird hergestellt, wird zum ‘Werkʼ; eine regierende Instanz wird in Kraft gesetzt. Therapeutischer Aspekt: Die wunde und verletzte Seele ist zu pflegen und zu heilen, um das Selbst, das nun mehr als jemals auf sich selbst gestellt ist, zu stärken; die Affekte und Leidenschaften sind im Maß zu halten. Asketischer Aspekt: Nicht nur eine bloße Einstellung oder Haltung steht in Frage, sondern eine praktische Übung, Einübung und Ausübung (ἄσκησις, μελέτη) ist zu vollziehen, mit einer ganzen Serie möglicher Maßnahmen, zu denen die Lektüre, die Schrift, das Denken an den Tod, das Wappnen gegen Entbehrungen zählen. Parrhesiastischer Aspekt: Die S. ist damit verbunden, freimütig die Wahrheit über sich zu sagen oder gesagt zu bekommen; dies kann zum Anlaß werden, in das eigene Leben einzugreifen und es zu verändern. Mutativer Aspekt: S. bedeutet letztlich eben diese Selbstveränderung, ja geradezu eine Selbstverwandlung, nicht um ihrer selbst willen, sondern im Sinne einer Verbesserung auf dem Weg zur Vortrefflichkeit, bis hin zur Vollendung. Prospektiver und präventiver Aspekt: Die Sorge richtet sich auf Künftiges; sie besteht darin, das, was kommen kann, vorweg zu bedenken, insbesondere Schicksal und Tod; und sie besteht darin, Vorsorge zu treffen hierfür, Prävention durchaus nach medizinischem Modell. Pädagogischer Aspekt: Über die bloße Sorge für sich selbst hinaus sind auch andere anzuleiten zur Sorge um sich. Politischer Aspekt: Die Wahrnehmung der S. ist als Vorbereitung zur Sorge für andere zu begreifen; die Fähigkeit zur Regierung seiner selbst als Grundvoraussetzung dafür, andere und eine ganze Polis zu regieren.
2. Die philosophische S. und ‘Seelsorgeʼ geht mit dem Aufkommen des Christentums in eine kirchliche ‘Seelsorgeʼ über. Auch in der Stoa bedurfte die S. des Anderen, der dem Selbst behilflich war; wichtig war das Exemplum, an dem man sich orientieren, der Custos, den man zum Wächter und Aufseher über sich selbst wählte und der durch Rat und Ermahnung auf die Besserung des Selbst hinwirkte bis in die intimen Fragen der Lebensführung hinein. Der Akzent wird nun aber zunehmend stärker hin zu dieser Seite verschoben, bis die Seelsorge nur noch die Führung durch den Anderen meint.
Bis weit in die Kaiserzeit hinein war die S. auch die Sorge für den Leib. Bei Clemens von Alexandrien muß man der Harmonie der Seele wegen für den Leib sorgen (ἐπιμελεῖσθαι), denn nur mit Hilfe des Leibes ist es möglich zu leben, d.h. richtig zu leben und die Wahrheit zu verkünden. Die gute Verfassung des Leibes trägt zum ‘gutgewachsenen Geistʼ bei. Clemens wendet dies gegen diejenigen ein, die leichtfertig den Leib vernachlässigen und sich sogar in den Tod stürzen [12]. Plotin entfaltet nun, Platon aufnehmend, eine gänzlich andere Sorgelehre mit Bezug auf eine Stelle im ‹Phaidros›: «Die ganze Seele sorgt sich um alles Unbeseelte» (ψυχὴ πᾶσα παντὸς ἐπιμελεῖται τοῦ ἀψύχου) [13]. Die Seele ist das Erzeugende, sie umwandert den ganzen Kosmos, bald in dieser, bald in jener Gestalt; so erhalten wir, jeder Teil unseres Körpers, aus dem All die Seele: aufgrundihrer Sorge. Aus der Sorge um die Seele ist die Sorge einer Allseele um alles Unbeseelte geworden.
Plotin markiert eine Zäsur, die ihre Spuren hinterläßt, etwa wenn Athanasios im 4. Jh. die Seele gegen den Leib stellt: Die erste Angelegenheit der Seele ist die Liebe zu Gott und nicht etwa die Sorge um den Leib (τοῦ σώματος ἐπιμέλεια). «Pflege des Leibes, Katastrophe der Seele; Vernachlässigung des Leibes, Erneuerung der Seele. Verachtung des Leibes, Rettung der Seele; die Sorge um den Leib ist eine Falle für die Seele. Vernachlässigung des Leibes ist Erleuchtung der Seele. Den Geist immer nach oben zu wenden, erzeugt die Liebe für Gott; die Sorge um das Leben [μέριμνα τοῦ βίου] eliminiert die Tugenden» [14].
In einer Interpretation des Matthäusevangeliums betont Johannes Chrysostomos, daß Jesus die Sorge um die Seelen mit der Therapie der Leiber verband, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Christus sei aber nicht nur gekommen, um Leiber zu therapieren, sondern um Seelen zur «Philosophie» zu führen: «so gab er uns auch hier die Lehre, daß man sich um die Seele sorgen muß» (τῆς ψυχῆς ἐπιμελεῖσθαι χρῆ) [15], um sie zu reinigen und die Arete zu verwirklichen. Christus nimmt die Stelle des Sokrates oder des Pädagogen in der Stoa ein, sorgt sich um die Seele anderer und hält sie zur Sorge um die eigene Seele an. Getreu der mittlerweile vollzogenen Lösung der Seele vom Leib kommt es jedoch auch zum Ausfall gegen die, die nicht die Sorge um die Seele, sondern nur die Heilung des Leibes im Auge haben und nur deswegen zu Christus kommen. Es bedarf einer reinen Seele, dazu wiederum bedarf es aber der Sorge: «lernen wir also zu philosophieren» [16]. ‹Philosophie› ist nur ein anderes Wort für ‹S.›. Wir aber sind unbesorgt um unsere Seele, als wäre sie ein Feind und Gegner. Es kommt darauf an, die Seele nicht zu vernachlässigen, sondern sie von Übeln zu befreien und zu heilen. Mittel dieser ‘Heilungʼ ist die Autarkie, sie dient zur Abwendung von allem Irdischen (denn die Sorge um das Äußere ist häßlich), um alle Mühe auf die Sorge um die Seele zu verwenden [17]. «Richte deine ganze Sorge auf deine Seele», aber nicht um der S. willen, sondern um im Herzen Sehnsucht nach dem Himmel zu entzünden [18].
Auch die leibliche Sorge wird umgedeutet: Die Kirche ist der Leib Christi (σῶμα τοῦ Χρίστοῦ; corpus Christi); der Vorsteher der Kirche muß diesen Leib pflegen, und zwar ganz im antiken Sinne der Sorge um den Leib, bei der man Ärzte und Turnlehrer, eine genau geregelte Lebensweise (διαῖτα) und beständige Übung (ἄσκησις, exercitatio) nötig hat, um eine gute Konstitution zu erreichen. So müssen erst recht die Kirchenvorsteher sich aller therapeutischen Mittel bedienen, da doch die Sorge um den Leib in Frage steht, der der Leib Christi ist und der zu pflegen ist (τὸ σῶμα θεραπεύειν; corporis Christi cura) [19]. Der Begriff der Seelsorge, wie er noch im 20. Jh. geläufig ist, ist die «Sorge um die Herde Christi» (ἐπιμέλεια τῆς ποίμνης τοῦ Χρίστοῦ), die «Sorge um die Seelen» (ψυχῶν ἐπιμέλεια), als Aufgabe des Vorstehers der Kirche. Von allen Seiten muß dieser Seelsorger den Zustand der Seelen durchschauen, aber als Voraussetzung muß er selbst eine außerordentliche Seelenstärke mitbringen, die den Leidenschaften widersteht. Wer dieses Amt der Sorge für die vielen Seelen (ψυχῶν δὲ ἐπιμέλεια μελλῶν; cura multarum animarum) annimmt, muß zuerst sich selbst prüfen [20].
Den von Platon und Plotin her gesponnenen Faden nimmt Gregor von Nyssa wieder auf. Die Sorge muß darauf gerichtet sein, die Seele von allem Schmutz der Sünde zu reinigen. S. ist hier erneut die Abkehr vom ‘Fleischʼ und der Verzicht auf alle irdischen Bindungen. Dazu ist es nötig, auf sich selbst zu achten und jeden Winkel der Seele auszuleuchten. Die von Anfang an eng an die S. gebundene Selbsterkenntnis wird als immer neue Durchleuchtung der geheimsten Vorgänge der Seele zu einer Form von Selbstpeinigung. Nicht mehr die Handlungen sind wichtig, sondern die Gedanken, die genauestens zu erfassen sind. Diese Sorge ist nun darauf gerichtet, Sünden und Begierden ausfindig zu machen. Diese Ablösung der Selbsterkenntnis von der S. hat tief auf die Kulturgeschichte des Abendlandes eingewirkt. Bestimmte Techniken der philosophischen S. wie die ‘Gewissenserforschungʼ stoischer und epikureischer Herkunft, das seelsorgerische Gespräch, das freimütige, ‘parrhesiastischeʼ Sagen der Wahrheit gegenüber einem anderen, all dies findet Eingang in die Praktiken der christlichen Seelsorge, bes. in die Beichte [21].
Die alte Form der S. verschwindet mit dem Vordringen des Christentums für lange Zeit aus der abendländischen Kulturgeschichte. Dem christlichen Vorwurf, der verderblichen Selbstsucht Vorschub zu leisten, hielt die antike S. nicht stand. Erhalten bleibt – in umgewandelter Form – die Sorge um die eigene Seele (aber nicht als Pflege seiner selbst, sondern um eines jenseitigen Heiles willen) sowie die Anleitung zur Sorge um die eigene Seele in diesem Sinne; nicht die Führung seiner selbst, sondern die Führung aller Seelen durch die Kirchenvorsteher geht daraus hervor und besetzt allein den neuen Begriff der Seelsorge.
3. Es bedurfte eines mit den antiken Texten vertrauten Autors wie M. de Montaigne, um auf die S. und Seelsorge im Sinne der heidnischen Antike zurückzukommen. Er spricht von der «Sorge, die wir für uns haben» («le soing que nous avons de nous», «le soing pour soy-mesmes») [22]. Er bezieht sich zwar zustimmend auf Epikur mit der Forderung, im Verborgenen zu leben «und nur für uns zu sorgen» («et de n'avoir soing que de nous»), doch glaubt er nicht daran, daß dies wirklich möglich ist, verwenden doch die Menschen «wenig Sorge auf die Kultur der Seele» («peu de soing de la culture de l'ame»); ihre Sorge gilt meist nur den eigenen Reichtümern und dem Renommee [23]. Der S. steht nicht nur eine zu große Menge von Pflichten, sondern auch die schlimme Angewohnheit entgegen, sich gehen zu lassen und sich selbst seiner Sorge nicht für wert zu erachten. So würde auch Montaigne sich gerne vollkommen der Sorge und Regierung eines anderen überlassen, wenn er nur wüßte, wem [24]. Die Natur hat den Lebewesen die Sorge um sich eingepflanzt, den Menschen aber sollte sie besser abgenommen werden durch eine gute Regierung. Prinzipiell ist es nicht gut, sich allzuviel zu sorgen: «Wir trüben das Leben durch die Sorge um den Tod, und den Tod durch die Sorge um das Leben.» Das Leben hängt letztlich nicht von uns, sondern von der Sorge des Schöpfers ab [25].
Auch bei J. Lipsius, der 1605 die Werke Senecas herausgibt, findet man Elemente der antiken Sorgetradition. Die Beständigkeit und Festigkeit des Selbst, wie sie Ziel der stoischen S. gewesen war, ist nun die Aufgabe der Selbsterhaltung (s.d.)[26]. Im Unterschied zur antiken S. wird jedoch die Notwendigkeit geordneter politischer Verhältnisse als Bedingung für die Möglichkeit der Konstituierung seiner selbst mitbedacht. Daraus ergibt sich die Funktion eines Curators außerhalb des Selbst – eine Analogiebildung zum christlichen Seelsorger. Die Ordnung des Staates gewinnt Vorrang, die Untertanen müssen geführt werden, um ihrer selbst willen. Zum Curator wird der Herrscher, der Inhaber staatlicher Macht.
Montaigne und Lipsius stehen für die vorsichtige Wiederaufnahme der Inhalte der S., die im 17. und 18. Jh. bei den Autoren der Moralistik vor allem unter dem Stichwort ‹Selbstliebe› (s.d.) eine gewisse Rolle spielen werden. S. ist eine Technik des Umgangs mit sich selbst, Selbstliebe ein Gefühl, aus dem diese Technik resultieren kann. War ursprünglich die S. der Weg zur Vortrefflichkeit, zur ‘Tugendʼ, so sollte nun die Selbstliebe dazu motivieren. Aber der Vorwurf der ‘Selbstbezogenheitʼ für diese Selbstbeziehung kann natürlich im einen wie im anderen Fall zutreffen: Daher ist auch der unvollkommene Ersatzbegriff der Selbstliebe unentwegt umstritten. In seinem ‹Essay on the history of Civil Society› von 1767 plädiert A. Ferguson für die wohlverstandene «Sorge um uns» («care of ourselves»), die nicht «selbstisch» sein darf, also nicht zum Exzeß ausarten soll, sich nur noch um sich selbst zu kümmern, sondern im richtigen Gebrauch unserer Vernunft besteht. Wir seien aber, als moderne Menschen, zu sehr daran gewöhnt, als einziges Objekt der Sorge das persönliche Glück anzusehen [27]. Das schon bekannte Problem bricht damit im 18. Jh. wieder durch: Ist die S. eine Fixierung auf sich selbst, oder ist sie vielmehr ein pfleglicher Umgang mit sich und anderen? Beim Baumgarten-Schüler G. F. Meier erscheint in seiner ‹Philosophischen Sittenlehre› von 1754 neben einem Kapitel über die Selbstliebe ein weiteres mit dem Titel: ‹Von der Sorge für uns selbst›. Die beiden Begriffe werden damit klar unterschieden: ‹Selbstliebe› als anthropologische Kategorie, ‹S.› als Frage der praktischen Philosophie. Bei der S. geht es um die Realisierung der Vollkommenheit unserer selbst; wenn sie auch nie erreicht wird, so kommt es doch darauf an, «beständig aufs mögliche für sich zu sorgen, und sich zu verbessern», die stoische Meliorisierung. Das ist nicht mit einem sorgenvollen Leben zu verwechseln, sondern als «Lebens-Kunst» zu verstehen [28].
J. A. Eberhard thematisiert in seiner ‹Sittenlehre der Vernunft› von 1781 die tägliche Selbstprüfung, um sich selbst zu beurteilen, durchaus christlich geprägt, aber mit Bezug auf die antike Philosophie. Es überrascht nicht, auch hier die Bedeutung der «Selbstliebe» wiederzufinden, die zur Selbstvervollkommnung anhält und die Quelle aller Verbindlichkeit in moralischen Fragen ist; sie darf nicht mit Eigennutz und Selbstsucht verwechselt werden, wird ausdrücklich betont. Und schließlich die S.: «Wir sorgen für uns, wenn wir uns bemühen, die Mittel zu erkennen und zu gebrauchen, wodurch wir uns als Zweck vollkommner machen; wir bessern uns, wenn wir unsere Unvollkommenheiten heben. Wir dürfen also nicht sorglos in Ansehung unserer und unserer Angelegenheiten seyn.» Gewisse Handlungen der Seele und des Leibes seien hierzu zu gebrauchen, und die Herrschaft über uns selbst ist auf diese Weise herzustellen; darunter wird die «Fertigkeit der Seele» verstanden, sich selbst und den Körper zu regieren. Ein eigener Abschnitt wird der Sorge um den Körper gewidmet, einbegriffen die «Kunst sich zu vergnügen», um die Lust am Leben zu befördern [29].
Elemente der S. finden sich in I. Kants Begriff der «Pflichten gegen sich selbst», wie auch in anderen Aspekten der «Tugendlehre» in der ‹Metaphysik der Sitten›: «Regierung» seiner selbst; «Vervollkommnung seiner selbst»; «Cultur (als thätiger Vollkommenheit) seiner selbst»; Bildung der Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte als «Besorgung» an sich selbst; Übungen seiner selbst, wobei er sich ausdrücklich auf die Stoa bezieht und die «Mönchsascetik» mit ihrer Erziehung des Menschen zur «Abscheu an sich selbst» ablehnt (dieser stellt er die «ethische Gymnastik» entgegen, die dazu dient, das rechte Maß zu finden) [30]. Kant kommt nicht umhin, auf das starke, selbstbeherrschte Subjekt der S.-Tradition zurückzukommen, um seiner Vorstellung von Autonomie eine tragfähige Grundlage zu geben. Konsequenterweise notiert er sein Entsetzen über ein Subjekt, das sich – in der Tradition der verselbständigten Selbsterkenntnis (Rousseau mag ihm vor Augen gestanden haben) – nur noch bloßer Selbstbeobachtung anheimgibt. Mit der Sache der S. ist auch bei ihm ausdrücklich nicht ein egoistisches Nur-sich-um-sich-selbst-Kümmern gemeint: Es sei traurig zu sehen, wie manche «nur immer für sich sorgen». Es gehe vielmehr darum, sich nicht zu vernachlässigen, nicht von der Vorsorge anderer abzuhängen, sich nicht in die Hände anderer zu begeben, nur um sich die Mühe der Selbstkonstituierung zu ersparen; vielmehr sich zu kultivieren und zu verbessern und zu lernen, «sich selbst zu führen» [31].
Nachdem der Begriff ‹S.› im 19. Jh. gänzlich zu fehlen scheint, kommt im 20. Jh. M. Heidegger auf S. in Abhebung zur «Fürsorge» für andere zu sprechen. Da seine eigene begriffliche Konstruktion der Sorge (s.d.) als existenziale Grundstruktur des Daseins den Bezug auf sich selbst impliziert, muß für ihn ‹S.› zur Tautologie werden. «Sorge kann nicht ein besonderes Verhalten zum Selbst meinen, weil dieses ontologisch schon durch das Sich-vorweg-sein charakterisiert ist». «Die Sorge birgt schon das Phänomen des Selbst in sich, wenn anders die These zurecht besteht, der Ausdruck ‘S.ʼ in Anmessung an Fürsorge als Sorge für Andere sei eine Tautologie» [32].
Aus der Antike erneut aufgegriffen und aktualisiert wird ‹S.› dann wieder bei M. Foucault in seinen beiden letzten Büchern ‹L'usage des plaisirs› und ‹Le souci de soi› von 1984. Auf der Suche nach «Selbsttechnologien», mit deren Hilfe ein Subjekt sich selbst konstituieren kann, statt nur ein Produkt heteronomer Mächte und Praktiken zu sein, stößt er auf die S. In einer Vorlesung von 1981 am Collège de France in Paris, ‹Subjektivität und Wahrheit›, und erneut 1982 unter dem Titel ‹Hermeneutik des Selbst›, erschließt er diese «Kultur» bzw. «Regierung seiner selbst» und bezeichnet sie als zur antiken Form der Selbsterkenntnis gehörig. Er aktualisiert den Begriff der S. und bringt ihn als Konzept für eine moderne Gesellschaft ins Gespräch, in der die Subjekte schon allzusehr ans Regiertwerden und damit an die Abgabe der Sorge gewöhnt worden sind: politischer und agonaler Index der S., nämlich Macht über sich selbst zu gewinnen und diese Macht ins Spiel zu bringen gegen die Bevormundung durch eine herrschende Macht. Aber als Erben der christlichen Moraltradition und ihrer Betonung der Selbstlosigkeit sind wir «geneigt, in der Sorge um sich selbst etwas Unmoralisches zu argwöhnen, ein Mittel, uns aller denkbaren Regeln zu entheben» [33]. Es sei interessant zu sehen, daß «in unseren Gesellschaften ab einem bestimmten (und sehr schwierig anzugebenden) Punkt die S. zu etwas ein wenig Anrüchigem geworden ist» [34]; sie sei nämlich als eine Selbstliebe, als eine Form von Egoismus angeprangert worden. In Wahrheit handelt es sich um eine Beziehung des Selbst zu sich, die erforderlich ist, um eine Praxis der Freiheit zu realisieren. Tautologisch kann der Begriff der S. nicht sein, da er diejenige Sorge bezeichnet, die das Selbst erst herstellt und transformierend auf es einwirkt – über das hinaus, was an ihm schon gegeben ist. Dieses Selbst ist keine Substanz, sondern eine Form, die zu gestalten ist.
In Kenntnis der antiken Tradition und ihres zeitweiligen Vergessens nimmt auch H. Krämer die S. wieder auf und macht sie im Rahmen einer ‹Integrativen Ethik› zu einem konstitutiven Bestandteil der Strebensethik im Unterschied zur grundlegenden Selbstlosigkeit in der Moralphilosophie. Die eigene Lebensführung des Individuums kann auf S. und «Selbstbekümmerung» nicht verzichten [35].
[1]
Platon: Apol. 30 b; vgl. 29 d ff.
[2]
Alc. I 129 a.
[3]
127 d–e.
[4]
Albinus: Isag. 4–5, in: Platonis dial. sec. Thras. tetr. disp., hg. C. F. Hermann 6 (1870) 149.
[5]
Proclus: Sur le prem. Alc. de Platon, hg. A. Ph. Segonds 1–2 (Paris 1985/86) 1, 9.
[6]
Platon: Resp. 498 b.
[7]
Galen: De sanit. tuenda II, 1, 3ff.
[8]
Aristoteles: Eth. Nic. 1099 b 20.
[9]
Epikur: Br. an Menoikeus, in: Diog. Laërt. X, 122.
[10]
Seneca: Ep. ad Luc. 50, 6.
[11]
a.O. 66, 46; vgl. 49, 12.
[12]
Clemens Alex.: Strom. IV, 4, § 18, 1; vgl. IV, 5, § 22, 1.
[13]
Platon: Phaedr. 246 b; hierzu Plotin: Enn. III, 4 (15), 2; IV, 3 (27), 1. 7.
[14]
Athanasius: Sermo pro iis qui seculo renunt. MPG 28, 1413.
[15]
Joh. Chrysostomus: In Matth., Hom. 25, 2; vgl. Hom. 15, 1.
[16]
Hom. 50, 3; vgl. 31, 1.
[17]
Hom. 83, 4; vgl. 74, 4 (mit Bezug auf 1. Tim. 6, 6).
[18]
In ep. ad Rom., Hom. 30, 5.
[19]
De sacerd. IV, 2.
[20]
a.O. IV, 1; II, 2.
[21]
Vgl. hierzu P. Rabbow: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike (1954) 276f.
[22]
M. de Montaigne: Ess. II, 3, hg. A. Thibaudet/M. Rat (Paris 1962) 339; I, 3, a.O. 20f.
[23]
II, 16f., a.O. 603. 642.
[24]
III, 9, a.O. 924. 930.
[25]
III, 13, a.O. 1050; 12, a.O. 1028; 13, a.O. 1048.
[26]
J. Lipsius: De constantia (1584), dtsch. (1601, ND 1965); Politica (1589).
[27]
A. Ferguson: An ess. on the hist. of civil soc. (Edinburgh 1767) 78f.
[28]
G. F. Meier: Philos. Sittenlehre (1754, 21762) 654. 667.
[29]
J. A. Eberhard: Sittenlehre der Vernunft (1781) 191.
[30]
I. Kant: Met. der Sitten (1797). Akad.-A. 6 (1907) 408. 419. 445. 477. 485.
[31]
Pädagogik (1803), a.O. 9 (1923) 444. 453.
[32]
M. Heidegger: Sein und Zeit § 41 (1927) 193; § 64, a.O. 318.
[33]
M. Foucault: Technologies of the self (1988) 22; dtsch.: Technologien des Selbst (1993) 31.
[34]
L'éthique du souci de soi comme pratique de la liberté. Interview 1984, dtsch.: Freiheit und Selbstsorge (1985) 12.
[35]
H. Krämer: Integr. Ethik (1992) 144. 226.
P. Rabbow s. Anm. [21]. – I. Hadot: Seneca und die griech.-röm. Trad. der Seelenleitung (1969). – F. Hieronymus: ΜΕΛΕΤΗ. Übung, Lernen und angrenzende Begriffe 1–2. Diss. Basel (1970). – P. Hadot: Exercices spirit. et philosophie ant. (Paris 1981), dtsch.: Philos. als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike (1991). – M. Foucault: L'usage des plaisirs (Paris 1984), dtsch: Der Gebrauch der Lüste (1986); Le souci de soi (Paris 1984), dtsch.: Die Sorge um sich (1986). W. Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault (1991). – D. Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philos. und poet. Konzepte der S. (1993).