6.
Der S.-Begriff der Sozialwissenschaften. – Der akademische S. beginnt laut
A. Gehlen – zumindest in Deutschland – mit
J. G. Fichte: Dieser sei «der erste deutsche theoretische Sozialist» gewesen
[1].
W. Sombart dagegen nennt
L. Stein als denjenigen, der, obgleich «nicht eigentlich Sozialist der Weltanschauung nach, sondern ‘reinerʼ Theoretiker»
[2], als erster den S. in Deutschland bekannt gemacht habe. Sozialistische Theoretiker waren beide in dem Sinne, daß ihre Schriften zwar in der sozialistischen Theorietradition rezipiert wurden, aber keinen direkten Bezug zu irgendwelchen Kräften der sozialen Veränderung fanden. Allerdings gilt nicht Fichte (der den Terminus ‹S.› nicht kennt), sondern Stein als derjenige, der historisch die Konjunktur des S.-Begriffs in Deutschland eingeleitet hat.
Stein ist nicht nur ein sozialistischer Akademiker in dem Sinne, daß er sich mit dem S. eher theoretisch als praktisch befaßt, sondern auch derjenige, der von vornherein den S. sowohl als soziale Bewegung wie auch als Wissenschaft auffaßt. Kritikern, die die Wissenschaftlichkeit der sozialistischen Theorien abstreiten, hält Stein entgegen, daß man zwar «ihre Deduktionen nicht für wissenschaftlich» habe «gelten lassen wollen, weil sie bei der Organisation der Industrie als deren eigentlichen Ziel anlange»
[3]. Doch dies wäre Unrecht. «Das Dasein des Proletariats» zwinge nämlich dazu, «die Betrachtungen über die menschliche Gesellschaft zur Wissenschaft der Gesellschaft zu erheben»
[4]. Einer solchen «Wissenschaft der Gesellschaft» komme der gleiche Rang zu wie der Staats- und Wirtschaftswissenschaft
[5]. Ähnlich versteht
K. Biedermann (1847) die «Sozialwissenschaft oder den S.» als die Wissenschaft, die im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften wie Politik, Rechtswissenschaft, Staats- und Volkswirtschaftslehre nicht bloß «einzelne Seiten oder Beziehungen der gesellschaftlichen Zustände berücksichtigen ..., [sondern] das Zusammenleben der Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in größter Allgemeinheit zum Gegenstande der Betrachtung erheben» will
[6].
Parallel zur vermehrten Verwendung des S.-Begriffs in Deutschland wird der Versuch unternommen, den S. als Theorie und Wissenschaft unter einem neuen Fachterminus, nämlich dem der «Socialistik» zu fassen
[7]. Eine systematische Verwendung dieses Begriffs findet sich allerdings erst im Jahre 1900, und da auch zum letzten Mal, bei
E. Dühring: «Der S., ein völlig modernes Wort, bezeichnet vorherrschend einen Kreis von Ideen und Sätzen, und wie man zwischen Wirtschaft
und Wirtschaftslehre unterscheidet, so darf man auch die Geschichte der socialen Gestaltungen nicht mit derjenigen der Socialtheorie unkritisch vermischen. Letztere hiesse besser Socialistik»
[8].
Neben ‹S.› und ‹Socialistik› tritt im Laufe des 19. Jh. der von
A. Comte eingeführte Terminus ‹Soziologie› auf. Er glaube, schreibt Comte 1839, «devoir hasarder, des à présent, ce terme nouveau, exactement équivalent à mon expression, déjà introduite, de
physique sociale»
[9]. Comte, der das Wort ‹S.› selbst nicht gebraucht, vertritt eine Verbindung von Ordnung und Fortschritt
[10], die erst durch die Soziologie hergestellt und garantiert werden kann. Innerhalb der Hierarchie der Wissenschaften betrachtet er sein Fach als das komplizierteste und wichtigste. Dessen Vertretern, den Soziologen (als «savants positifs»), will Comte «confier ... le travail théorique de la réorganisation sociale»
[11], während «le pouvoir temporel appartiendra aux chefs des travaux industriels»
[12].
In Deutschland wird die Verbindung von S. als wissenschaftlicher Theorie und Soziologie von
F. Tönnies hergestellt. Sozialistische Theorien, gekennzeichnet durch Antiliberalismus und kritische Analyse, seien schon von Saint-Simon und Comte entwickelt worden
[13]. «Eine sozialistische Theorie heißt hier nicht: eine Theorie, die bestimmte Werturteile (über Kapitalismus, Privateigentum, Proletariat) fällt, eine bestimmte Politik oder gar eine Gesellschaftsordnung postuliert, sondern gemeint ist nur eine Theorie, die nicht die entwickelten und als selbstverständlich geltenden Werturteile des Liberalismus und also der vorherrschenden sozialphilosophischen Ansicht ohne weiteres gelten läßt. ... Die Theorie stellt sich kritisch, d.h. erkennend, betrachtend, beobachtend, theoretisch, zu den Dingen und ihrer Entwicklung»
[14]. In dieser Beurteilung des Liberalismus als Gegenpart des S. dürfte Tönnies durch die Kritik von
K. Marx an J. S. Mill
[15], einem Schüler von J. Bentham und D. Ricardo, beeinflußt worden sein. Marx rechnet Mill der ‘bürgerlichenʼ Ökonomie zu und stellt ihn damit in den Augen nicht nur der Marxisten auf die Seite der Gegner des
S. Tönnies nimmt Mill in einem Überblick über den S. in England überhaupt nicht zur Kenntnis
[16]. Tatsächlich aber gehört
J. S. Mill, der im Laufe seiner theoretischen Arbeiten mit den Gedanken von Owen, Saint-Simon, Comte und Fourier in Berührung gekommen ist
[17], zu den Vätern des S. In seiner ‹Autobiographie› ordnete er sich selbst «under the general designation of Socialists»
[18] ein. Während Mill allen Konzeptionen eines despotischen Kommunismus eine Absage erteilt, beschreibt er in seiner berühmt gewordenen Passage seines Hauptwerks ‹Principles of Political Economy› (1848) die wahrscheinliche Zukunft der Arbeiterklasse in einem kooperativen S. als eine «association of the labourers themselves on terms of equality, collectively owning the capital with which they carry on their operations, and working under managers elected and removable by themselves»
[19].
F. Oppenheimer vertritt einen «liberalen S.», der nicht zuletzt von dem «sozialen Liberalismus»
[20] Mills, bes. «seiner zweiten halbsozialistischen Periode»
[21], seine Herkunft ableitet. Oppenheimer stellt sich mit seinem Konzept des liberalen S. zwischen die Theorien des Kapitalismus und des Kommunismus, diskutiert sie aber an den Programmen der «sozialdemokratischen Partei» und des «Programms des Rechts-S.»
[22]. Seine Zentralthese: «Wo das Land Volkseigentum ist, ist Kapitalismus unmöglich»
[23], läuft auf die Forderung
einer moderaten Landreform hinaus. Neben Oppenheimer ist es
J. A. Schumpeter, der ausdrücklich an Mill als einen «evolutionary socialist»
[24] anknüpft. Schumpeters Begriffsdefinition ist geprägt vom Gegensatz zwischen «kommerzieller» und «sozialistischer Gesellschaft»
[25]. Sein S. ist ein allein auf die Regelung der ökonomischen Probleme beschränkter «Centralist Socialism»
[26]. Der Einfluß Mills macht sich auch bei
A. Wagner bemerkbar, der zwar davon ausgeht, daß «S. der Gegensatz zum ‘Individualismusʼ» ist, der dann jedoch konstatiert: Das «richtige ist aber nicht: S. oder Individualismus, sondern S. und Individualismus»
[27]. Der S. in der Tradition von Mill möchte weder der Gesellschaft noch dem Individuum den Primat über die jeweils andere Seite einräumen. Den gesuchten Kompromiß findet man in der Beschränkung des S. auf den Sektor der Ökonomie. In diesem Sinne plädiert
A. Schäffle für einen «‘praktischenʼ S.»
[28] im Gegensatz zu einem «demokratischen S.»
[29] oder auch zu «demokratisch-kommunistischer Realisierung des S.»
[30]. Während in letzterem Fall der «Untergang der höchsten und idealsten Güter der Zivilisation» bevorstehe, beschränke sich der «praktische S.» auf den «volkswirtschaftlichen Kern»
[31], nämlich auf die Frage der «Verwandlung der privaten Konkurrenzkapitale in einheitliches Kollektivkapital»
[32].
Daß in der zweiten Hälfte des 19. Jh. das Wirtschaftsgeschehen in Deutschland in steigendem Maße auf monopolistischer Grundlage organisiert worden sei, ist Ausgangsbeobachtung des S.-Konzepts von
E. Jaffé. Der Krieg trage nun dazu bei, bemerkt er 1914, daß die Kartelle und Trusts nur Übergangserscheinungen seien bis zu ihrer Übernahme in Besitz und Verwaltung der Allgemeinheit. Eine Etappe zu diesem Ziel sei die durch den Krieg forcierte Militarisierung des Wirtschaftslebens
[33]. Noch während des Kriegs (1916) schließt sich
L. von Wiese dieser Einschätzung weitgehend an. Was im System der Politik der Militarismus, das sei im System der Wirtschaft und des Sozialen der S.; denn beide seien ihren Grundkräften nach gleich, die letztlich die straffe Organisation und genaue Regulation der menschlichen Aktionen beförderten
[34]. Bei dem, was hier entstehe, handle es sich nicht etwa um einen Klassen-S., sondern um einen Staats-S. Im Unterschied zum Klassen-S., der einer gesellschaftlichen Klasse, den Besitzlosen oder dem Proletariat die Aufgabe der sozialistischen Umgestaltung zuschreibe, seien es beim Staats-S. die einzelnen Staaten, die durch Gesetzgebung und Verwaltung den S. herbeiführten
[35]. Wiese hält es in mancher Hinsicht für legitim, anstelle von ‹Staats-S.› von ‹Staatskapitalismus› zu sprechen
[36]. Auf jeden Fall bringe der Staats-S. die Gefahr mit sich, die Freiheit der Individuen allzusehr zu beschränken. Zwar sei seine Heraufkunft nahezu unvermeidlich, aber es komme darauf an, durch Kompromisse zwischen ihm und den liberalen politischen Grundsätzen unerwünschte Wirkungen abzuschwächen
[37].
Ähnlich wie von Wiese und Jaffé sieht auch
J. Plenge eine neue Zeit, nämlich die Zeit des S., heraufziehen. ‹S.› ist für ihn gleichbedeutend mit ‹Organisation›
[38]. Da für Plenge der S. bewußte und freiwillige Bindung des Einzelnen an das gesellschaftliche Ganze bedeutet, spricht er sich für eine Beibehaltung des Privateigentums aus, sofern es im Interesse des Gesamtwohls eingesetzt wird. Die Realisierung eines solchen Gesellschaftsmodells setzt allerdings sowohl wissenschaftlich fundierte Kenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge
als auch die Etablierung einer Führerschicht, die die Gesellschaft im Sinne des S. zu führen vermag, voraus. Mit dem Konzept eines «aufbauenden S.», eines «S. der sozialen Funktionäre»
[39], kommt Plenge den Modellen Saint-Simons und Comtes nahe. Die neue Ordnungselite soll nicht parlamentarisch-demokratischer Kontrolle, sondern allein dem Sachverstand verpflichtet sein. Außerdem ist für sie eine volkswirtschaftlich-soziologische Ausbildung vorgesehen. Offensichtlich eignen sich die Gedanken der frühen französischen Soziologie für Versuche, einen Weg zwischen Staats-S. und Staatskapitalismus einerseits und liberalem Konkurrenzkapitalismus andererseits zu finden. Der Eindruck bestätigt sich kurz nach dem Krieg, als
E. Troeltsch im Anschluß an die Konzeption Plenges konstatiert, daß sich «in Deutschland und den östlichen Nachbarländern» nicht die «reine Demokratie westlichen Stiles», sondern eine «mit S. durchsetzte Demokratie» verwirklicht habe
[40]. Demokratie und S., jeweils von ganz verschiedener geistiger und historischer Herkunft, können Troeltsch zufolge in einem «organisatorischen S.»
[41] oder einem «S. der Organisation»
[42] fusionieren. Letztlich handle es sich bei diesem Vorschlag um einen Kompromiß zwischen einem «organisatorischen Not-S.» und einem «Handarbeiter-S.»
[43]. Träger eines solchen S. sollen nicht mehr die sozialistischen Intellektuellen sein, auch nicht das Proletariat oder der Staat mit seinen Organen, sondern die «Ingenieur-Sozialisten»
[44].
Aus vergleichbarer Perspektive, nämlich der Unvermeidbarkeit des S., macht auch
M. Scheler einen Kompromißvorschlag: Im Unterschied zum Konzept jenes an Comte erinnernden ‘positivenʼ Ingenieurs bei Troeltsch sucht Scheler eine christlich abgeschwächte Variante des S.: «in einer Welt, in der ein gewisses Maß von S. die Selbstverständlichkeit einer allgemeinen Weltüberzeugung anzunehmen beginnt und eigentlich nur noch über die Art und Richtung des S. gestritten wird»
[45], müsse man sich, um wenigstens das Schlimmste, nämlich einen «Zwangskommunismus»
[46] zu verhindern, auf einen «prophetischen» bzw. «christlichen S.»
[47] verständigen. Dieser Weg der Zügelung des heraufkommenden S. durch seine Vermischung mit liberalen, ingenieurwissenschaftlichen und christlichen Elementen wird auch von
G. Schmoller vorgeschlagen. Der Gefahr eines despotischen S. könne durch Wissenschaft begegnet und der «berechtigten Aufgabe»
[48] des S. entsprochen werden. Besonders in Krisenzeiten hätten solche Konzepte Konjunktur. Diese Auffassung ist nicht nur während des Ersten Weltkriegs verbreitet. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs fordert
A. J. Toynbee ebenfalls «a working compromise ... between unrestricted free enterprise and unlimited socialism»
[49]. Der sich zu seiner Zeit schon abzeichnenden Konfrontation der beiden großen Machtblöcke will er mit einer «Mischung zwischen Freiwirtschaft und S.»
[50] zuvorkommen. Zur Verhandlung der hierbei aufkommenden Probleme schlägt er, jenseits von Fanatismus und Glauben, eine pragmatische Haltung vor, die Vor- und Nachteile, Irrtümer und Bewährung überprüft
[51].
Eine solche Haltung zeichnet auch
M. Weber aus, der, selbst kein Sozialist, zum Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck der Russischen Revolution das Thema ‹S.› unter rein ökonomischen Gesichtspunkten abhandelt: «der Gegensatz zu S. ... ist: privatwirtschaftliche Ordnung»
[52]. Weber dekliniert die verschiedenen Varianten des S. wie «Staats-S.»
[53], «Konsumenten-S.»
[54] unter folgender Fragestellung durch: «was innerhalb einer Gesellschaft unternehmungsmäßig, also privatwirtschaftlich und was nicht privatwirtschaftlich, sondern – in diesem weitesten Sinne des Wortes – sozialistisch, das heißt: planvoll organisiert, an Bedarf gedeckt wird, hat geschichtlich gewechselt»
[55]. In der streng wissenschaftlichen Einstellung gegenüber dem S. stimmt
E. Durkheim mit Weber überein. Durkheim analysiert den S. als ein historisches Phänomen. «Mais, pour celà, il ne faut pas considérer le socialisme dans l'abstrait, en dehors de toute condition de temps et de lieu, il faut, au contraire, le rattacher aux milieux sociaux où il a pris naissance ... Nous nous efforcerons de déterminer en quoi il consiste, quand il a commencé, par quelles transformations il a passé et ce qui a déterminé ces transformations»
[56].
Hier ist schon die Herangehensweise einer wissenssoziologischen Perspektive auf den S. angedeutet, die dann von
K. Mannheim konsequent ausformuliert wird. Von konservativen Quellen inspiriert, hat die sozialistische Theoriebildung nunmehr gelernt, die historische Bedingtheit der Ideen und der politischen Konzepte in Rechnung zu stellen
[57]. So gesehen, ist der S., was
Engels zufolge die Utopisten übersehen haben
[58], nicht Ausdruck einer absoluten Wahrheit, die nur entdeckt zu werden brauchte, sondern eine zeitbedingte Theorie.
Aus dieser Perspektive lassen sich nun die einzelnen Varianten der Theorien des S. auf ihre gesellschaftliche Geschichtsbedingtheit hin untersuchen. Diese Soziologie, die das ideologiekritische Erbe des S. antritt und das Verfahren der Ideologiekritik auf diesen selbst anwendet, rückt nach
Mannheim immer mehr in die Position einer «Zentralwissenschaft»
[59]. Zugleich wirkt sie ernüchternd, sobald sie auf die Theorie des S. angewendet wird, denn sie «zerstört die sozialvitale Intensität seiner Idee»
[60], besonders ihren utopischen Gehalt. Dies hat erhebliche Folgen für die freischwebenden sozialistischen Intellektuellen, von denen eine Gruppe sich völlig von der Ideologie löst. Sie «wird skeptisch und vollzieht in der Wissenschaft im Namen der Echtheit die soeben charakterisierte Ideologiedestruktion»
[61]. Was hier stattfindet, ist so etwas wie eine Transformation des S. von einer Ideologie in eine Einzelwissenschaft, nämlich in die Soziologie.
Daneben haben aber auch ältere akademische Disziplinen sozialistisches Gedankengut integriert. Dies gilt nicht nur – wie schon beobachtet – für die Ökonomie, sondern auch für die Staatsrechtslehre. Der Rechtsphilosoph
H. Ahrens erklärt 1870, der S. wolle «irgend eine, das Princip der individuellen Persönlichkeit mehr oder minder achtende Form der Association»
[62] verwirklichen. Mit Hilfe seiner Unterscheidung zwischen einem «Privat-S.», der «keine gesellschaftliche Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung» darstellt, und einem «Staats-S.»
[63], dessen «Theorien ... die ganze gesellschaftliche Ordnung in hohem Grade gefährden», will Ahrens den Privat-S. als eine vom Genossenschaftsgedanken ausgehende Arbeitsordnung einführen. Genossenschaftsrechtlich argumentiert auch der Rechtshistoriker
O. von Gierke[64], den man als Vertreter des ‘juristischen S.ʼ bezeichnet
[65]. Um so erstaunlicher, daß ein dem genossenschaftsrechtlichen Gedanken entgegengesetzter Rechtspositivismus, wie
H. Kelsen ihn vertritt, den S. nicht von vornherein kategorisch ablehnt. So hat Kelsen in seiner Schrift ‹S. und Staat› betont, daß diese «sich nicht gegen den S. richtet. Nur der Marxismus und auch
von diesem nur seine politische Theorie ist es, mit der ich mich auseinandersetze»
[66]. Kelsen wendet sich vehement gegen die marxistische Vorstellung, es könne eine Gesellschaft ohne Staat gedacht werden
[67]. Weit weniger distanziert argumentiert
H. Heller. Für Heller gründet der S. «in der Idee der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, in dem Willen zu gegenseitiger Hilfe und gerechter Gemeinschaft, in der sittlichen Gestaltung unserer gegenseitigen Beziehungen»
[68]. Sozialistische Politik läßt sich demnach erst dann auf die Fragen der Zeit ein, wenn sie das nationale Schicksal und den parlamentarisch-demokratisch organisierten Staat bejaht, wozu keine konsequent marxistische Position, die an Internationalismus und Staatsverneinung festhalte, in der Lage sei
[69].
Diese Verbindung von Staat, Kulturnation und S. ist auch als «nationaler Kultur-S.» charakterisiert worden
[70]. Hiermit ist zugleich die Stoßrichtung von
W. Sombarts Konzept eines S. als Ordnungsprinzip angegeben. In seinem Spätwerk ‹Deutscher S.› (1934) will er den S. nicht als «rein wirtschaftliches Problem betrachten», sondern als «Ordnung aller gesellschaftlichen Verhältnisse»
[71] verstanden wissen. «Die logische Anordnung dieser Auffassung ist also folgende: Erster (abstrakter) Oberbegriff: S.; erster (konkreter) Unterbegriff: Nationaler S.; zweiter (individueller) Unterbegriff: Deutscher S.»
[72]. Wortgeschichtlich hat Sombart Vorläufer. So beschreibt
E. Dühring das S.-Konzept von F. Lassalle als «National-S.»
[73].
G. Schmoller bezieht den Terminus «deutscher S.»
[74] auf Theorien, die in Deutschland entwickelt worden sind. Interessanterweise vermutet
H. Spencer, daß die Konjunktur des S. in Deutschland kein Zufall sei, sondern aufgrundder inneren Verwandtschaft von S. und perfekter Heeresorganisation, wie sie hier durchgeführt sei, geradezu naheliege
[75]. Als ob
Sombart die Hellsicht Spencers hätte bestätigen wollen, bestimmt er als Agenten der sozialistischen Bewegung nicht eine soziale Gruppe oder Klasse, sondern den Staat. «Da der Deutsche S. nationaler S. ist ..., so kommen als die Mächte, die [ihn] ... herbeiführen sollen, nur die staatlichen Mächte, kommt nur der Staatsmann in Betracht»
[76]. Ausgehend von dem Thema «S. und soziale Bewegung», hat sich Sombart über den «proletarischen S.»
[77] auf den deutschen S. hinbewegt. Auf das gleiche Ziel hin, wenn auch aus anderer Richtung kommend, orientiert sich
A. Gehlen. Nachdem
H. Dietzel schon 1888 J. G. Fichte als deutschen Sozialisten bezeichnete
[78] und
Marianne Weber sich 1900 mit einem S. Fichtes befaßt hat
[79], führt
Gehlen 1935 erneut Fichte als Vorläufer des «Deutschen S.» ein
[80]: «die berühmte Schrift über den ‘geschlossenen Handelsstaatʼ (1800) muß man ... in Hinsicht auf die Begründung eines nationalen S.» sehen
[81]. Da die privatwirtschaftliche «Produktionsanarchie» weder das Recht auf Eigentum noch das auf Arbeit garantieren könne, sei es Aufgabe des Staates, «durch Überwachung und Leitung der gesamten Wirtschaft und Produktion» diese zu sichern
[82]. Nicht Überwindung des Privateigentums und des Staates, sondern gerade deren Bestandserhaltung ist Programm dieses Deutschen S.
|
A. Gehlen: Deutschtum und Christentum bei Fichte (1935). Ges.ausg. 2, hg. L. Samson (1980) 227. |
|
W. Sombart: S. und soziale Bewegung (1896, 51905) 50. |
|
L. Stein: Proletariat und Ges., Text nach: Der S. ..., a.O. [21 zu 1.] (1971) 10. |
| |
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|
K. Biedermann: Vorles. über S. und soziale Fragen (1847) 5. 7. |
|
Vgl. G. Gutzkow: 25. Brief (18. 4. 1842). Briefe aus Paris. Ges. Werke 12 (1845–46) 293; Marlo [Winkelblech], a.O. [2 zu 5. a)] 347 (Anm.). |
|
E. Dühring: Krit. Gesch., a.O. [1 zu 3.] (1900) 228. |
|
A. Comte: Cours de philos. positive 4: Partie dogmatique de la philos. sociale, 47 e leçon (1839). Oeuvr. 4 ( 51893, ND Paris 1969) 201 (Anm. 1). |
|
Catéchisme positiviste ou sommaire exposition de la religion univ. ... (1852). Oeuvr. 11 (ND Paris 1970) 1. |
|
Plan des travaux scient. nécessaires pour réorganiser la société. Ecrits de jeunesse (1816–28), suivis du mém. sur la cosmogonie de Laplace (1835), hg. P. E. de Berrêdo Carneiro/P. Arnaud (Paris/Den Haag 1970) 241–321, hier: 264; dtsch.: Plan der wiss. Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind (1973) 68; vgl. Art. ‹Soziologie›. |
| |
|
Vgl. F. Tönnies: Gemeinschaft und Ges. ( 21912) Vorrede (ND 1991) XXIX. |
| |
|
Vgl. K. Marx: Grundrisse der Kritik der polit. Ökonomie (1857/58). MEGA 2 II/1, 1 (1976) 24f. |
|
Vgl. F. Tönnies: Ethik und S. Erster Artikel (Schluß). Arch. Soz.wiss. Soz.politik 26 (1908) 78. |
|
Vgl. G. Claeys: Justice, independence, and industrial democracy: The developm. of J. S. Mill's view of socialism. J. Politics 49 (1987) 122–147, bes. 126; R. Ottow: Why J. S. Mill called himself a socialist. History Europ. Ideas 17 (1993) 479–483, 480f. |
|
J. S. Mill: Autobiography (1873), in: Autobiogr. and lit. essays (Toronto 1981) 238. |
|
Princ. of polit. econ. IV, 7, 5 (1848). Coll. works 3 (Toronto 1965) 775; dtsch.: Grundsätze der polit. Oekonomie nebst einigen Anwend. ders. auf die Ges.wiss. (1864) (1913–21) 581. |
|
F. Oppenheimer: Weder Kapitalismus noch Kommunismus ( 21932) 186. |
| |
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|
J. A. Schumpeter: History of economic reasoning, hg. E. B. Schumpeter (New York 1954) 531; dtsch.: Gesch. der ökon. Analyse (1965) 650. |
|
Capitalism, socialism, and democracy (London 1942) 167; dtsch.: Kapitalismus, S. und Demokratie ( 31972) 267. |
| |
|
A. Wagner: Grundleg. der polit. Ökon., in: W. Sombart: Grundlagen und Kritik des S. 2 (1919) 278 (Anhang). |
|
A. Schäffle: Die Quintessenz des S. ( 221919) V (Vorw. zu 131891). |
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|
E. Jaffé: Der treibende Faktor in der kapitalist. Wirtschaftsordnung. Arch. Soz.wiss. Soz.politik 40 (1915) 3–29, 28. |
|
Vgl. L. von Wiese: Staats-S. (1916) 13. |
|
a.O. 34; vgl. auch oben 5. a). |
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|
Vgl. J. Plenge: Marx und Hegel (1911) 178. |
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|
Vgl. E. Troeltsch: S. Kunstwart Kulturwart 33 (1. Febr.heft) (1920) 97–107, 97. |
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|
Anon. [E. Troeltsch]: Um den S. 4, a.O. [40] (2. Märzheft 1920) 254–257, zit. 256. |
|
M. Scheler: Prophet, und marxist. S.? (1919). Ges. Werke 6 ( 31986) 261. |
| |
| |
|
G. Schmoller: Grundr. der Allg. Volkswirtschaftslehre 1 (1901) 99. |
|
A. J. Toynbee: Civilisation on trial (New York 1948) 147; dtsch.: Kultur am Scheidewege (1949) 155. |
| |
| |
|
M. Weber: Der S. (1918) 11. Akad.-A. I/15 (1984) 599–633, hier: 609. |
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|
E. Durkheim: Le socialisme (Paris 1928) 10f. |
|
Vgl. K. Mannheim: Ideologie und Utopie (1929, 71985) 211; Sombart, a.O. [2] 54ff. |
|
Engels, a.O. [5 zu 3.]. MEW 19, 200f. |
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|
H. Ahrens: Naturrecht oder Philos. des Rechts und des Staates (1870/71) 1, 197. |
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|
Vgl. O. Gierke: Das dtsch. Genossenschaftsrecht 1: Rechtsgesch. der dtsch. Genossenschaft (1868, Graz 1954). |
|
Vgl. G. Dilcher: Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein ‘Juristen-S.ʼ O. von Gierkes? Quaderni Fiorentini 3–4 (1974/75) 319–365. |
|
H. Kelsen: S. und Staat. Eine Unters. der polit. Theorie des Marxismus (1920, 21923) V. |
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|
H. Heller: S. und Nation (1925, 21931) 9. Ges. Schr., hg. M. Drath u.a. (Leiden 1971) 1, 437–526, hier: 442. |
|
Vgl. W. Schluchter: Entscheidung für den Rechtsstaat. H. Heller und die staatstheoret. Diskussion in der Weimarer Republik ( 21983) 125. |
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|
W. Sombart: Dtsch. S. (1934) 59. |
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Dühring, a.O. [1 zu 3.] (1900) 541. |
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H. Spencer: The princ. of ethics 2 (New York 1893, ND 1966) 44. |
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a.O. 160; Der prolet. S. 1–2 (1924) [= 10., neugearb. Aufl. von ‹S. und soz. Bewegung› (1896)]. |
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Vgl. H. Dietzel: Rodbertus. Darst. seiner Sozialphilos. (1888) 19f. |
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Vgl. M. Weber: Fichtes S. und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin. Volkswirtschaftl. Abh. der bad. Hochschulen 4/H. 3 (1900). |
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