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Subjektivität, transzendentale

Subjektivität, transzendentale 4129 10.24894/HWPh.4129 Ulrich Claesges
Husserl Phänomenologie transzendentale Subjektivität Bewusstsein, reines reines Bewusstsein Urstätte aller Sinngebung10 472 absolute Subjektivität10 472 Subjektivität, absolute10 472 Ego, transzendentales10 472f transzendentales Ego10 472f transzendentale Intersubjektivität Sinngebung10 472 Seinsbewährung10 472 Monade10 473
Subjektivität, transzendentale (engl. transcendental subjectivity) heißt in der transzendentalen Phänomenologie (s.d.)E. Husserls das in der phänomenologischen Epoche thematisierte reine Bewußtsein in seiner noetisch-noematischen Struktur [1], sofern es sich als «Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung» [2] erweist. In diesem Sinn heißt die t.S. auch «absolute S.» [3], da alles Konstituierte auf sie relativ, d.h. auf sie in seinem Sinn und Sein angewiesen ist.
Zwei Bestimmungen setzen Husserls Begriff der t.S. von der Tradition ab. Die t.S. ist in keinem Sinne ein «Bewußtsein überhaupt», sondern je meine – des Philosophierenden – S. [4], weshalb sie auch «transzendentales Ego» [5] genannt wird. Die t.S. ist ferner «nicht ein Produkt spekulativer Konstruktionen», sondern «ein absolut eigenständiges Reich direkter Erfahrung», der «transzendentalen Erfahrung» [6]. Zwei Unterscheidungen präzisieren den Begriff der t.S. Gemäß der Unterscheidung zwischen «phänomenologisch-psychologischer Reduktion» und «transzendentaler Reduktion» [7] gewinnt das reine Bewußtsein erst durch die letztere, sofern diese die mundane Selbstapperzeption des Bewußtseins außer Geltung setzt, den Sinn der t.S. [8]. Die zweite für den Begriff der t.S. entscheidende Unterscheidung ist die zwischen «statischer» und «genetischer» Phänomenologie. In der statischen Phänomenologie (s.d.), welche die Konstitution der Gegenstandsregionen erforscht, zeigt sich die t.S. als ein System von «Regelstrukturen» [9], als Bereich des «konstitutiven Apriori» [10]. In der genetischen Phänomenologie (s.d.) wird sie hinsichtlich ihrer zeitlichen Strukturen thematisiert.
Dadurch wird sie einerseits auf den «absoluten zeitkonstituierenden Bewußtseinsfluß» als auf ihren konstitutiven Ursprung zurückgeführt [11]; andererseits zeigt sich im Zusammenhang damit, daß das zeitlich verlaufende intentionale Leben den Charakter einer immanenten Geschichte hat [12], in der die t.S. ihre volle Konkretion als «Monade» gewinnt [13]. In seiner Spätzeit glaubt Husserl eine zureichende genetische Bestimmung der t.S. im Begriff der «lebendigen Gegenwart» gefunden zu haben [14]. Die t.S. ist über das je meinige transzendentale Ego hinaus letztlich als transzendentale Intersubjektivität (Vergemeinschaftung der transzendentalen Egoitäten) zu fassen [15], die als konstitutiver Grund der einen und selben objektiven Welt anzusehen ist [16].
[1]
Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenolog. Philos. 1, § 60 (1913). Husserliana [Hua.] 3 (Den Haag 1950) 114ff.; 3/1 (1976) 128ff.
[2]
Ideen ... 3, Nachwort [1912]. Hua. 5 (1952) 139.
[3]
Zur Phänomenol. des inneren Zeitbewußtseins §§ 34ff. Jb. Philos. phänomenolog. Forsch. 9 (1928) 367–496, hier: 427ff. Hua. 10 (1966) 73ff.; vgl. Ideen ... 1, §§ 60. 95, a.O. [1] 114ff. 198; 128ff. 220f.
[4]
Vgl. Erste Philos. (1923/24) 2: Theorie der phänomenolog. Reduktion. Hua. 8 (1959) 173. 242.
[5]
Vgl. Cartes. Medit. §§ 8. 22 [1931]. Hua. 1 (21963) 58. 90.
[6]
Ideen ... 3, a.O. [2] 141.
[7]
Die Krisis der europ. Wiss.en und die trl. Phänomenol. § 69 (1936). Hua. 6 (21962) 239; vgl. Erste Philos. (1923/24), a.O. [4] 275f.; Vgl. Art. ‹Reduktion, eidetische›; ‹Reduktion, phänomenologische›; ‹Reduktion, transzendentale›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 374–377.
[8]
Vgl. Cartes. Medit. § 45, a.O. [5] 130; Ideen ... 3, a.O. [2] 141.
[9]
Pariser Vortr. [1931]. Hua. 1 (21963) 22; Cartes. Medit. § 22, a.O. 90; vgl. Phänomenolog. Psychologie. Vorles. SS 1925. Hua. 9 (1962) 475.
[10]
Formale und trl. Logik § 98 (1929) 218. 220. Hua. 17 (1974) 253ff.
[11]
a.O. [3].
[12]
a.O. [10] 221; Cartes. Medit. § 37, a.O. [5] 109.
[13]
Cartes. Medit. § 33, a.O. 102; vgl. Ideen ... 2, § 29 [1912]. Hua. 4 (1952) 111.
[14]
K. Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des trl. Ich bei E. Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik (Den Haag 1966) 61ff.
[15]
Husserl, a.O. [4] 173ff.; Die Krisis ... § 54 b, a.O. [7] 188.
[16]
Vgl. Cartes. Medit. § 55, a.O. [5] 149ff.
Literaturhinweise. E. Fink: Die phänomenolog. Philos. Husserls in der gegenwärtigen Kritik. Kantstud. 38 (1933) 321–383; ND, in: Studien zur Phänomenol. 1930–1939 (Den Haag 1966) 79–156. – Q. Lauer: The triumph of subjectivity: An introd. to transc. phenomenology (New York 1958, 21978). – R. Boehm: Zum Begriff des Absoluten' bei Husserl. Z. philos. Forsch. 13 (1959) 214–242. – L. Landgrebe: Husserls Abschied vom Cartesianismus. Philos. Rdsch. 9 (1961) 133–176, ND, in: Der Weg der Phänomenol. (1962) 163–206. – J. M. Broekman: Phänomenol. und Egologie. Faktisches und trl. Ego bei E. Husserl (Den Haag 1963). – M. Brelage: Trl.philos. und konkrete S., in: Studien zur Trl.philos. (1965) 72–229. – A. Diemer: Phänomenolog. Beschreibung, essentiales Apriori, t.S. und was dann? in: Man World 7 (1974) 323–352. – E. Marbach: Das Problem des Ich in der Phänomenol. Husserls (Den Haag 1974). – C. Warnke: Husserl's transc. subject. Dialectics Humanism 3 (1976) 103–109. – M. Deutscher: Husserl's transc. subjectivity. Canad. J. Philos. 10 (1980) 21–45. – R. Lüthe: The development of the concept of concrete subjectivity from Kant to Neokantianism. J. Brit. Soc. Phenomenology 13 (1982) 154–167. – J. N. Mohanty: The possibility of transc. philosophy (Den Haag 1985). – J. R. Kuehl: Transc. subjectivity and reductionism. Idealistic Studies 16 (1986) 97–111. – J. A. Tuedio: The source and nature of E. Husserl's transc. turn. Philosophy today 30 (1986) 192–209. – D. Zahavi: Husserl und die trl. Intersubjektivität (1996).