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Substitutionstheorie

Substitutionstheorie 4143 10.24894/HWPh.4143 Herbert Jochum Karlfried Gründer
Theologie Judentum/Christentum
Substitutionstheorie (von lat. substitutio, im altröm. Erbrecht: Bestellung eines Nach- oder Ersatzerben). Die Kirche aus Juden und (Heiden-)Christen sah von vornherein eine fortdauernde Präsenz lebendiger jüdischer Tradition neben sich. Früh bildete sich die Überzeugung, daß sie heilsgeschichtlich an die Stelle Israels getreten und insofern mit den Privilegien Israels (Röm. 9, 4f.) ausgestattet sei; Israel hingegen wurde nur eine das Kommen der Kirche vorbereitende Heilsbedeutung zugebilligt, die ihm wegen religiöser und moralischer Verfehlungen (bes. Vorwurf des ‘Gottesmordesʼ) entzogen worden sei. Dies ist in vielfältiger Weise ausgesprochen und geschrieben, aber nie als offizielle Lehre kanonisiert worden. Für das Verhältnis von Christen und Juden schien ein beständiger Begriff zu fehlen. Der kirchliche Antijudaismus blieb in Lehre und Predigt, in Katechese und kirchlicher Kunst, auch in den reformatorischen Bekenntnissen und in den säkularisierten Formen der Judenfeindschaften bis in die Gegenwart wirksam. Er hat zu einem folgenreichen Antagonismus der beiden Religionen geführt, der den Juden zum religiösen Antitypos und gesellschaftlichen Negativsymbol machte.
Das kirchengeschichtliche Bewußtsein fand für die Beschreibung des Verhältnisses Wendungen wie ‘Kirche als Nachfolge Israelsʼ, ‘heilsgeschichtliche Ablösungʼ, am häufigsten aber ‘Ersatzʼ Israels und des Judentums durch das Christentum, der Synagoge durch die Kirche. Im Umkreis des christlich-jüdischen Dialogs nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde die Revision dieser traditionellen Überzeugung nötig. Nun erst fand das Wort ‹S.› mit diesem Sinn Verwendung und wurde zu einem bestimmten, ja strengen Terminus und zum Leitbegriff breiter und heftiger innerkirchlicher Polemiken. Zentral für die Revision wurde ein Synodalbeschluß der Rheinischen Landeskirche von 1980. Die S. wurde in der evangelischen, katholischen und jüdischen Theologie zu einem bleibenden Thema, die Bedenken gegen diese Revision mit starken exegetischen Argumenten bestritten und das Verhältnis zwischen Judentum und christlicher Kirche in unterschiedlichen Typologien zu bestimmen versucht: «Modelle der Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche, die auf die Eliminierung der Besonderheit Israels hinauslaufen»; «Modelle der Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche, die auf die Wahrnehmung der bleibenden Erwählung Israels hinauslaufen» [1].
[1]
B. Klappert: Israel und die Kirche. Erwägungen zur Israellehre K. Barths (1980) 14–22. 26–37.
Literaturhinweise. B. Klappert s. Anm. [1]. – F. Mussner: Traktat über die Juden (1979, 21988). – B. Klappert/H. Gollwitzer/E. Bethge/P. Lapide: Krit. Stellungnahmen zu einem Theologenpapier über das Verhältnis von Christen und Juden, in: Dokumente. Evang. Pressedienst (29. Sept. 1980). – B. Klappert/H. Starck (Hg.): Umkehr und Erneuerung. Erläut. zum Synodalbeschluß der Rhein. Landeskirche (1980). – H. Schreckenberg: Die christl. Adversus-Judaeos-Texte und ihr lit. und hist. Umfeld 1–3 (1982–94).