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Tatbestand

Tatbestand 4226 10.24894/HWPh.4226Petra Gehring
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie corpus delicti énoncé des faits Delikt10 901 delicta facti transeuntis/permanentis10 901 delictum/peccatum10 903 Zurechnung10 904 Sachverhalt10 906f Tatsache10 906f Rechtssatz10 906
(lat. corpus delicti; engl. facts of the case; frz. énoncé des faits)
1. Strafrecht. – Der Verfahrensgrundsatz, zunächst müsse das Vorliegen eines Verbrechens erwiesen sein, bevor man gegen den Täter verhandelt («Judici ante omnia constare debet de delicto»), geht zurück auf Ulpian[1] und erhält eigenständige Bedeutung im italienischen Inquisitionsprozeß des 13. Jh. Albertus Gandinus (ca. 1245–1311) gilt als erster Vertreter des Prinzips «constare de delicto», das die Vorfrage nach der Tat zur Voraussetzung macht für den Verfahrensschritt von der General- in die gegen den Täter gerichtete Spezialinquisition [2]. Die Lehre galt zwar nur in Fällen eines «delictum ordinarium» – obwohl Verfahren «extra ordinem» zur Regel wurden –, hatte jedoch für die Dogmatik Folgen. Man begann, tat- von täterbezogenen Deliktsmerkmalen sowie tat- von täterbezogenen Beweismitteln zu unterscheiden. Als abstrakte Verfahrensbedingung benennt der Ausdruck ‹constare de delicto› den – zunächst: sinnlichen – Tatbeweis. Augustinus Ariminensis († 1479) läßt allein die Inaugenscheinnahme von Tatspuren gelten, Bartolus de Saxoferrato (1313/14–1357), Baldus de Ubaldis (1327–1400), A. Bossius (1487–1546) lassen für bestimmte Verbrechen die bloße Zeugenaussage bzw. Anzeige zu [3]. 1568 führt J. Clarus die fortan maßgebliche Differenz von «delicta facti transeuntis» und «delicta facti permanentis» ein; für erstere soll das Geständnis als Tatbeweis ausreichen. Der Subjektivierung der Lehre vom «constare de delicto» leistet dies Vorschub [4]. «Primum inquisitionis requisitum, est probatio corporis delicti» («erstes Erfordernis der Inquisition ist Prüfung/Beweis des Corpus delicti»), heißt es 1581 beim Kasuisten P. Farinacius, und weiter: «De corpore delicti quando, et quomodo judici constare debeat, antequam procedat ad inquisitionem, capturam, torturam, seu condemnationem» («Hinsichtlich des Corpus delicti muß der Richter Wann und Wie feststellen, ehe man zur Inquisition, Einsperrung, Folter oder Verurteilung fortschreitet») [5]. Eher beiläufig prägt damit einer der letzten Vertreter der Lehre vom «constare de delicto» den neuen Terminus «corpus delicti». Vielleicht eine Anspielung auf das «corpus mortuum», ist der Ausdruck jedenfalls doppeldeutig. Bildhaft legt er nahe, was die Lehre bereits überwunden hat: die Vorstellung vom sinnlichen Beweisstück als Mittelpunkt der Feststellung der Tat [6].
Prozessuale Erwägungen beherrschen die frühneuzeitliche Corpus-delicti-Dogmatik. Die ‹Carolina›, das reichseinheitliche Strafgesetzbuch Karls V. von 1532, enthält eine deutschsprachige Fassung der Regel «Judici ante omnia ...»: «Darzu soll auch ein jeder Richter in diesen grossen sachen vor der peinlichen frage, sovil muglich nach gestalt und gelegenheitt einer jeden sachen bescheen kann, sich erkundigen vnd vleissigs nachfragen haben, ob die missethat, darumb der angenomen beruchtiget und verdacht, auch beschehen sey oder nit» [7]. Von hier aus behandelt die zeitgenössische Kommentarliteratur nun auch für den deutschen Inquisitionsprozeß die zentralen Verfahrensfragen: Inaugenscheinnahme, Indizien-, Zeugen-, Geständnisbeweis usw. Der Anschluß an die italienische Terminologie erfolgt mit L. Gilhausen, dessen «Primum inquisitionis [= specialis] requisitum est probatio corporis delicti» [8] der ‹Carolina›-Kommentar B. Carpzovs 1635 in folgender Weise wendet: «Primum requisitum Inquisitionis [= specialis] legitime formandae est apparentia delicti; ut nempe de ipso facto seu crimine constet» («erstes Erfordernis einer rechtmäßig gestalteten Inquisition ist das Offenkundigsein des Delikts; daß nämlich das Faktum oder Verbrechen selbst feststeht») [9]. Drei Verfahrensstufen der Spezialinquisition rechnet Carpzov dem Corpus delicti zu: die Ermittlung der Tatverwirklichung, das peinliche Verhör, das Sprechen des Urteils («Quare in foro Saxonico, Indagationem corporis delicti triplicem esse puto. Unam ad effectum inquirendi. Alteram ad torquendum Reum. Tertiam ad condemnandum») [10]. Daß der Schuldspruch hinzugehört, geht über die italienische Lehre hinaus. Auch kann die bloße Wahrscheinlichkeit der Tat zur Verfahrenseinleitung genügen – eine Tendenz, die sich in der Folgezeit festigt: «mala fama», bloßes Gerücht oder Nachrede, reicht zwar nicht zur Folter aus, erlaubt aber die Befragung [11]. Neben der klaren verfahrensrechtlichen Bedeutung von ‹corpus delicti› findet sich der Ausdruck auch bei Carpzov vereinzelt in der Bedeutung des die Tat dokumentierenden sinnlich gegebenen Objekts [12], aber die prozessuale Bedeutung dominiert, bis materiellrechtliche Gesichtspunkte sie überlagern.
Die 1718 erschienene deutsche Fassung des Lehrbuchs von J. Brunnemann übersetzt «corpus delicti» deliktsbezogen als «die That selbsten» oder «That selbst» [13]. Älter ist die deutschsprachige Umschreibung des J. C. Frölich von Frölichsburg, es sei «erforderlich, daß man wisse, ob eine Ubelthat in der Warheit beschehen seye, so man das Corpus delicti zu nennen pflegt ... Zur Erlehrnung aber dises Requisiti oder Haubtstuck, ist zu wissen, daß die Ubelthaten oder Delicta in zweyerley Geschlecht abgetheilt werden, nemblich, in jene, die nach der Verübung sichtbare und vor Augen stäts ligende Merckzeichen nach sich lassen, und dann, welche nach der Verübung keine sichtbare Vestigia sehen lassen» [14]. Der konservative ‹Codex Juris Bavarici› spricht von der «Erfindung der Uebelthat, zu Latein Corpore Delicti» als dem «Haupt-Grund-Stein ..., worauf die ganze peinliche Inquisition beruhet» [15]. F. A. Hommel unterscheidet 1737 zwischen der «certitudo corporis delicti», der (vom sinnlichen Beweisstück abgelösten) Evidenz, und dem «corpus delicti» selbst. Erstere, eine «scientia de delicto ipso» bzw. «notitia» (Wissenschaft, Kunde), und nicht das körperliche Beweismittel bedinge den Prozeß [16].
Der objektive Tatbeweis als Verfahrensetappe verschwindet, wo sich mit der Aufklärung der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durchsetzt. Statt äußerer Voraussetzungen zählt die richterliche Überzeugung aus Vernunft. Bei A. Leyser fallen «corpus delicti» und richterliches Endurteil zusammen [17]. J. H. G. von Justi bekräftigt diese Lehre: Das «corpus delicti» ist «nichts anderes als die vollkommene Überzeugung des Richters, daß eine Missethat wahrhaftig geschehen sei» [18], und bei erwiesener Tat ist ein Geständnis verzichtbar [19]. Um die Rechtssicherheit fürchten Leysers Gegner. Ab 1759 reagiert namentlich J. S. F. Böhmer mit einem neuen, abstrakten Verbrechensbegriff. Das «corpus delicti», die Berufung auf Erweis und Existenz des Verbrechens, soll als «solam veritatem in abstracto notat» [20] alle Tatumstände umfassen.
Durch Gesetz klar umschriebene Verbrechensbilder – diese Forderung stellen auch die philosophischen Naturrechtslehrer. S. Pufendorf behandelt die Frage, ob staatliche Gesetze beliebige, vom Naturrecht unabhängige Tatumschreibungen für Verbrechen geben können («An eadem crimina pro lubitu definire possit?») [21], und Ch. Thomasius trennt in aller Deutlichkeit den kriminellen Rechtsverstoß («delictum», «crimen») von der religiösen Sünde («peccatum»), wobei die Verfolgung von Verbrechen an die Form des geschriebenen Rechts («lex scripta») geknüpft sein soll [22]. Die «Weitläufftigkeiten» naturrechtlicher Regeln durch eindeutige Bestimmungen zu überwinden sowie eine «Anbringung» derartiger Gesetze «in allen vorkommenden Fällen» verlangt Ch. Wolff[23].
Während bei der Ausarbeitung einer systematischen Ordnung der Delikte eine materiellrechtliche Denkweise sich in der Strafrechtslehre durchsetzt, tritt zum lat. ‹corpus delicti› das deutsche ‹T.› hinzu. E. F. Klein prägt den Begriff 1796 mit folgender Definition: «Diejenigen Thatsachen, welche zusammengenommen den Begriff einer gewissen Gattung von Verbrechen bestimmen, machen den Thatbestand aus (corpus delicti). Zum Thatbestande des Verbrechens gehört zweyerley: 1) die Wirkung, in deren Hervorbringung das Verbrechen besteht, 2) die willkührliche Handlung, wodurch diese Wirkung hervorgebracht worden» [24]. Das Wort transportiert einen neuen Blickwinkel: Logische Merkmale sollen den T. prägen, Gesichtspunkte der konsistenten Definition und schlüssigen Gruppierung der Verbrechen. Die Täterabsicht beispielsweise zu ermitteln gehört «nur in sofern zum Corpus delicti, als dabey die Klasse der Verbrechen bestimmt wird» [25]. Neu ist der ins Zentrum der Verbrechensfeststellung gerückte Handlungsbegriff: «Die blosse Wirkung kann nur in sofern den Thatbestand begründen, als sie allein aus einer vorhergehenden freyen menschlichen Handlung erklärbar ist» [26]. Wenig später heißt es bei dem Naturrechtler K. A. Tittmann: «Was für eine Art von Verbrechen oder Vergehen ... vorhanden sey, muß aus den Eigenthümlichkeiten entschieden werden, welche bei einem jeden derselben eintreten können. Diese Eigenthümlichkeiten begründen den Thatbestand (corpus delicti), d.h. den Inbegriff aller derjenigen Umstände, welche zu dem Wesen (Begriffe) einer gewissen Art von unerlaubten Handlung gehören» [27].
Einschneidend wirkt die T.-Lehre A. von Feuerbachs, die ausschließlich die objektive Erscheinung der Tat relevant sein läßt. «Der Inbegriff der Merkmale einer besondern Handlung oder Thatsache, welche in dem gesetzlichen Begriff von einer bestimmten Art rechtswidriger Handlungen enthalten sind, heißt der Thatbestand des Verbrechens (corpus delicti)» [28]. «Nulluni crimen sine poena legali», so lautet der Grundsatz: «Die gesetzlich bedrohte That ... ist bedingt durch die gesetzliche Strafe» [29]. Feuerbach kann erstmals diejenigen täterbezogenen Elemente, die das Gesetz ausdrücklich formuliert, als objektive T.-Merkmale betrachten, denn alle weiteren sollen nurmehr den Strafbarkeitsgrad betreffen und gehören nicht mehr zum Urteil über die Tat. Die liberale, von prozessualen oder pragmatischen Überlegungen freie Lösung Feuerbachs wird sofort heftig kritisiert, u.a. durch C. C. Stübel, der den Präventionsgedanken vertritt. Die verbrecherische Gesinnung soll bestraft werden, weswegen Stübel von Schuldformen ausgeht und variable Corpora delicti vorsieht [30]. Durch den Feuerbachschen Positivismus, aber auch durch konkrete rechtspolitische Fragen herausgefordert, entwickeln die Strafrechtswissenschaftler des 19. Jh. eine weitverästelte Dogmatik des Verhältnisses von T. und Rechtswidrigkeit, der Stellung subjektiver Merkmale, der Zurechnung, der Schuld, der normativen Wertung usw. – und darin der Frage, wie die systematische Begrenzung und Gruppierung der Delikte zu erfolgen habe. H. Luden arbeitet die Geschichte der Corpus-delicti-Lehre auf, der historische Begriff eines «allgemeinen T.» soll widerstreitende Positionen integrieren. Luden erneuert traditionelle, prozessual orientierte Vorstellungen. Mit der Überlegung, «auf keinen Fall» könnten «dolus und culpa mit der Zurechnungsfähigkeit zu einem Ganzen unter der Benennung allgemeiner Thatbestand vereinigt werden» [31], bereitet er die Theorie Belings vor, die als der Beginn der modernen T.-Lehre gilt.
E. Beling trennt drei Bereiche: die (objektiv-deskriptive) T.-Mäßigkeit, die (objektiv-normative) Rechtswidrigkeit und die (subjektive) Schuld. Die Einteilung ist systematischer Art, bedeutet aber auch eine Prüfreihenfolge. Die «T.-Mäßigkeit» oder auch «T.-Bestimmtheit» stellt damit das zentrale Wesensmerkmal eines Verbrechensbegriffs dar, der die Bezugnahme auf naturalistische Vorstellungen von der strafwürdigen kausalen Handlung weitestgehend entbehrlich macht. «Verbrechen ist die tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte, einer auf sie passenden Strafandrohung unterstellbare und den Strafandrohungsbedingungen genügende Handlung» [32]. Ausgehend von dieser Definition ordnet Beling die Delikte gemäß der «Typizität» ihrer Tatbestände, wobei die erwiesene T.-Mäßigkeit eines Handelns noch keinerlei rechtliche Wertung impliziert: «die tatbestandlichen Erfolge als solche sind diesseits von Gut und Böse» [33]. Belings Typentheorie macht ‹T.› zum Grundbegriff, den die Strafrechtslehre in seinem Kern nicht mehr anfechten wird: «Das Ob des Tatbestandes macht dem Wie Platz» [34].
Die Dreigliederung trägt den Subsumtionserfordernissen Rechnung; umstritten ist bis heute ihr formaler Charakter und die Frage, wie strikt die Trennung zwischen T.-Mäßigkeit und Rechtswidrigkeit, T. und Schuld, zwischen subjektiven und objektiven, deskriptiven und normativen Aspekten tatsächlich aufgefaßt werden kann. M. E. Mayer sieht neben den deskriptiven «normative T.-Elemente» [35], K. Bindings «objektiver Verbrechenstatbestand» wendet den Gesichtspunkt der Sozialschädlichkeit gegen den Psychologismus im Bereich der Schuld [36]. Die Lehre von den «negativen T.-Merkmalen», zurückgehend auf A. Merkel und R. Frank und vertreten von A. Baumgarten[37], deutet den T. von einer in ihm materiell bereits implizierten Rechtswidrigkeit her. An der Frage der von Beling aus dem T. eliminierten Rechtswidrigkeit scheiden sich fortan die Geister: Nach W. Sauer muß der T. als «vertypte materiale Rechtswidrigkeit» betrachtet werden [38]; E. Mezger, später L. Zimmerl, werten ihn als «Unrechtstyp» [39]. 1930 erkennt Beling selbst normative T.-Gehalte an, indem er seine Theorie um den Gedanken eines «Deliktstypus» ergänzt, der Wertungen des Gesetzgebers enthält und dem gesetzlichen T. übergeordnet ist: «Im Lateinischen könnte man dem typus delicti (ipsius) den T. als den typus (typum delicti) regens gegenüberstellen» [40]. Die Normativität aller T.e behauptet 1931 E. Wolf; es entspreche dem teleologischen Charakter von Rechtsfindung, daß die Wertung der «Tat-» und «Tätertypen» dem Richter obliegt [41]. Im Zeichen von Volksgemeinschaft und konkretem Ordnungsdenken fordert 1935 ähnlich G. Dahm, «Begriff und Wort des Tatbestandes sollten aus der Strafrechtsdogmatik verschwinden», die T.-Lehre sei «schädlich», züchte «unvolkstümliches Denken» [42], eine ganzheitliche Betrachtung solle an ihre Stelle treten. – Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt die Einbeziehung von Gesichtspunkten der Gesamtwertung die Weiterentwicklung der Theorie. H. Welzel, Vertreter der finalen Handlungslehre, konzipiert «offene T.e» und verteidigt die Dreiteilung nach Beling sowie den T. als deskriptives, dem Rechtswidrigkeitsurteil und dem Schuldvorwurf vorgelagertes Element [43]. Bis heute befürworten Lehrbücher, den T. als eigene Deliktstufe zu verstehen [44]. Demgegenüber haben Autoren wie W. Gallas und C. Roxin den T. als «Unrechtstyp» zum Teil eines Gesamt-T. gemacht, der mit der Rechtswidrigkeit identifiziert werden soll [45].
[1]
Ulpian: Dig. 29, 5, 1, 24.
[2]
Der Text der Quelle ist strittig, dazu: H. Kantorowicz (Hg.): Alb. Gand. und das Strafrecht der Scholastik 2: Krit. Ausg. des Tract. de Maleficiis (1926).
[3]
A. Bossius: Tract. varii (Lyon 21562).
[4]
J. Clarus: Receptarum sent. opera omnia (Frankfurt 1596); zur Einordnung vgl. K. A. Hall: Die Lehre vom corpus delicti (1933) 35.
[5]
P. Farinacius: Operum criminalium (Nürnberg o.J.) I, tit. 1, q. 1 (Argumenta singularum quaestionum).
[6]
Das vermutet Hall, a.O. [4] 39.
[7]
Constit. Criminalis Carolina, Art. 6.
[8]
L. Gilhausen: Arbor judicaria criminalis [ca. 1604] c. 3, p. 1 de inquis., n. 6.
[9]
B. Carpzov: Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1635, Wittenberg 1646) p. 3, q. 108, n. 1.
[10]
a.O. n. 9.
[11]
Vgl. p. 1, q. 16, n. 27.
[12]
Vgl. Hall, a.O. [4] 54.
[13]
Vgl. J. Brunnemann: Tract. iuridicus de inquisit. processu (1647, Wittenberg T. 679); dtsch: Inquisitions-Process ins Teutsche übers. (1718).
[14]
J. C. Frölich von Frölichsburg: Comm. in Kayser Carl dess Fünfften und dess Hl. Rom. Reichs Peinl. Hals-Gerichts-Ordnung, Th. 1, I, 4. Tit., n. 2 (1709) 11.
[15]
Codex Juris Bavarici Criminalis 2, cap. 3 (1751) § 1.
[16]
Vgl. F. A. Hommel: Diss. An et quatenus certitudo corporis delicti in processu criminali necessaria sit (1737) § 3.
[17]
A. Leyser: Medit. ad Pandectas (1717–47) IX, Spec. 598.
[18]
J. H. G. von Justi: Anzeigung derjenigen Mängel unserer Peinl. Rechte, die aus einigen gemeinen Lehren der Rechtsgelehrten von dem Corpore Delicti entspringen, in: J. H. G. von Justi: Hist. und Jurist. Schr. 1 (1760) 354f.
[19]
a.O. 383.
[20]
J. S. F. Böhmer: Medit. in Constit. Crim. Carol., Art. 6, § 10 (1770) 40f.
[21]
S. Pufendorf: De jure nat. et gent. 8, 1 (1672).
[22]
P. Burian: Der Einfluß der dtsch. Naturrechtslehre auf die Entwicklung der T.-Def. im Strafgesetz (1970) 83 sieht schon bei Thomasius eine «Vertatbestandlichung» des Strafrechts.
[23]
Vgl. Ch. Wolff: Vera. Gedancken von dem gesellschaftl. Leben der Menschen ... (Deutsche Politik) (41736) § 401. Ges. Werke I/5, hg. H. W. Arndt (1975) 417f.
[24]
E. F. Klein: Grundsätze des gemeinen dtsch. Peinl. Rechts nebst Bem. der Preuss. Gesetze (21799) 57.
[25]
a.O. 59.
[26]
57.
[27]
K. A. Tittmann: Grundlinien der Strafrechtswiss. und der dtsch. Strafgesetzkunde (1800) §§ 32f. 25.
[28]
A. von Feuerbach: Lehrb. des gemeinen in Deutschland gültigen peinl. Rechts (1801) § 81.
[29]
a.O. § 20.
[30]
Vgl. C. C. Stübel: De perversa interpret. legum criminalium in constituendo quorundam delictorum corpore (1798); Über den Thatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben und die zu einem verdammenden Endurtheile erforderliche Gewissheit der erstem (1805).
[31]
Vgl. H. Luden: Über den Thatbestand des Verbrechens nach gemeinem teutschem Rechte (1840) 83.
[32]
E. Beling: Die Lehre vom Verbrechen (1906) 7.
[33]
a.O. 207.
[34]
H. Bruns: Kritik der Lehre vom T. (1932) 14.
[35]
Vgl. M. E. Mayer: Der Allg. Teil des dtsch. Strafrechts (1915) 182ff.
[36]
K. Binding: Der objektive Verbrechens-T. in seiner rechtl. Bedeutung. Der Gerichtssaal. Z. Zivil- Militärstrafrecht 76 (1910) 1–86.
[37]
A. Merkel: Lehrb. des Strafrechts (1889) 82; R. Frank: Über den Aufbau des Schuldbegriffs (1907) 16ff.; A. Baumgarten: Der Aufbau der Verbrechenslehre (1913) 182ff.; Baumgarten erwägt erneut den weiten Sinn von ‹T.› «nach der allgemeinen Rechtstheorie»; er ersetzt ihn a.O. 69ff. mit von Liszt durch «Verbrechen».
[38]
Vgl. W. Sauer: Grundlagen des Strafrechts (1921) 307. 339. passim.
[39]
E. Mezger: Vom Sinn der strafrechtl. Tatbestände, in: Festschr. L. Traeger zum 70. Geb., hg. Jurist. Fak. Univ. Marburg (1926) 187–230, hier: 187ff.; L. Zimmerl: Zur Lehre vom T. [Strafrechtl. Abh. 237] (1928).
[40]
E. Beling: Die Lehre vom T. (1930) 16.
[41]
Vgl. E. Wolf: Die Typen der T.-Mäßigkeit (1931).
[42]
G. Dahm: Verbrechen und T., in: G. Dahm/E. R. Huber/K. Larenz u.a.: Grundfragen der neuen Rechtswiss. (1935) 62–107, hier: 89. 91.
[43]
H. Welzel: Das dtsch. Strafrecht (101967) 52ff.
[44]
Vgl. etwa: G. Jakobs: Strafrecht Allg. Teil (21991) 155.
[45]
Vgl. W. Gallas: Zum gegenwärt. Stand der Lehre vom Verbrechen. Z. ges. Strafrechtswiss. 67 (1955) 1–47; C. Roxin: Strafrecht Allg. Teil (1992) 165ff.
Literaturhinweise. K. A. Hall s. Anm. [4]. – H. Schweikert: Die Wandlungen der T.-Lehre seit Beling (1957). – P. Burian s. Anm. [22].
2. Rechtsphilosophie; Philosophie allgemein. – Außerhalb des Strafrechts faßt die Rechtssprache ‹T.› sachlich anders [1] und der Form nach weniger klar. Das Wort dient als Inbegriff aller Tatsachen, an die eine Rechtsfolge geknüpft ist, oder auch: all derjenigen Merkmale, die ein rechtlich relevantes Urteil begründen. Ganz technisch bezeichnet es denjenigen Passus, der im Urteilstext selbst die entsprechenden Angaben enthält; so enthalten gemäß der deutschen Zivilprozeßordnung (ZPO) Urteile stets «den T.», in ihm soll Relevantes «knapp dargestellt werden»; nur unter bestimmten Umständen kann von der «Darstellung des Tatbestandes» abgesehen werden [2]. Oft fließen die Grenzen zwischen ‹T.›, ‹Sachverhalt› (s.d.) und ‹Tatsache› (s.d.) – auch in Texten, die von Juristen stammen.
Bei Kant findet man ‹T.› nicht, wohl aber im Neukantianismus, der einerseits urteilslogische Theorien der Rechtsnorm bzw. des Rechtssatzes entwickelt, andererseits juridisch bebilderte Theorien des Vernunfturteils überhaupt. «Der Rechtssatz ist ein hypothetisches Urteil. Er besteht aus Voraussetzung und Folge, indem sich ein rechtliches Wollen an einen T. als Rechtsgrundfolgeweise anknüpft», definiert R. Stammler[3]. F. Sander, der aus ähnlicher Perspektive auf die Instanz der «Rechtserfahrung» abhebt, versteht den Rechtssatz als «ein Gesetz bestimmter synthetischer Funktionen, der T.-Funktionen» [4]. Folgt man O. Tesar, so hätte das Strafrecht eine logische Vorbildfunktion für das juridische Denken generell; in der «Gegenüberstellung der Mannigfaltigkeiten als T. und Rechtsfolge des Strafrechts kommt die gesellschaftliche Unveränderlichkeit rechtswissenschaftlichen Denkens zum Ausdruck» [5]. Schon 1888 hebt H. Rickert die spezifische Qualität hypothetischer Urteile der Rechtswissenschaft lobend hervor: Sind die Merkmale zur Subsumtion «in einem Begriff genau fixiert ..., so braucht man nur die betreffende Folge an jeden T. zu knüpfen, welcher dieselben Merkmale zeigt, wie der im Gesetz verwendete Begriff ... Wesentlich werden wir daher in einem juristischen Begriff diejenigen Merkmale nennen, welche dazu beitragen, daß der Wille des Gesetzgebers ausgeführt werde» [6]. Wo es nicht um rechtswissenschaftliche, sondern allgemein um Vernunfturteile geht, hat der T.-Begriff seinen Platz neben dem prominenteren Begriff der Tatsache – zumeist ohne explizite Unterscheidung. Eine frühe Ausnahme bildet H.Gomperz, dessen Urteilstheorie eine klare Definition des T. als tatsachenauffassenden Satzinhalt enthält: «Unter einem T. verstehe ich ... einen gegliederten Komplex von Begriffsinhalten, unter einer Tatsache ein ungegliedertes Stück Wirklichkeit, unter einem Sachverhalt ein mit der Tatsache zusammenfallendes Stück Wirklichkeit, welches jedoch eine der Gliederung des ‘Tatbestandesʼ entsprechende Gliederung aufweist» [7]. Der logische Begriff kann sich gänzlich vom juridischen Kontext lösen, so bei B. Bauch, der ‹T.› schlicht auffaßt als Tatsache, die Bestand hat: Einen «T. im Bewusstsein» nennt Bauch «Tatsachenbestand», neben dem «Geltungsbestand» bzw. «Gültigkeitsbestand» von Sätzen [8].
In H. Kelsens Rechtstheorie ist der Ausdruck ‹T.› allgegenwärtig. Die juristische Bedeutung im engeren Sinne erhält einen neuen, normenlogisch umgreifenden Sinn. Die ‹Reine Rechtslehre› konzipiert Rechtsphänomene, das Rechtsgeschäft z.B., als «rechtserzeugenden T.», «wenn und insoferne die Rechtsordnung dem T. diese Qualität verleiht» – letztere setzt «das Rechtsgeschäft als rechtserzeugenden T. ein» [9]. Gegen C. Schmitt, der darauf abhebt, «der Ausnahmefall, der in der Rechtsordnung nicht umschriebene Fall» könne höchstens «bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden» [10], argumentiert H. Kelsen 1931 mit dem Gedanken allgemeiner, Recht verwirklichender Tatbestände: «Der T., der bei den Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes unter die Verfassungsnorm zu subsumieren ist, ist nicht die Norm ..., sondern die Erzeugung der Norm» [11]. Dieser Begriff des die Norm konstituierenden T. wird von Kelsen einerseits realistisch verstanden als «Akt», «Verhalten», andererseits impliziert er immer schon den normativen Bezug. Der rechtlich sanktionierte Akt des Rechts konstituiert, «aktualisiert», «verwirklicht» Recht. Neben dieser selbstbezüglichen, normentheoretisch-konstruktiven Bedeutung verwendet auch Kelsen ‹T.› in der empirisch weiteren Bedeutung von ‹Sachverhalt› [12].
Der rechtspositivistische Wortgebrauch hat die weiter ausgreifende Semantik ‘sozialerʼ, ‘geschichtlicherʼ oder empirischer ‘T.eʼ nicht verdrängt, auch dort nicht, wo vom Recht die Rede ist. So kann G. Husserl 1955 den «gedanklichen Rückgang auf Rechtssachverhalte fordern, denen wir in der Rechtswirklichkeit begegnen» [13], in seinen rechtsphänomenologischen Analysen jedoch nicht nur von «Tatbeständen der sozialen Wirklichkeit», «Tatbeständen mangelhafter Zweckerfüllung» sprechen, sondern auch von «Lebenstatbeständen» und vom «T. des einzelnen Schuhs» [14].
Im geschichtstheoretischen Kontext ist es schwierig, Verwendungsweisen des Begriffs, die mehr oder aber weniger bewußt auf Juridisches abzielen, zu differenzieren. «Wir müssen die Art der Beziehung aufsuchen, welche in den Geisteswissenschaften zu dem T. der Menschheit besteht», heißt es 1910 programmatisch bei W. Dilthey, der aber auch «Staaten, Kirchen, Institutionen, Sitten, Bücher, Kunstwerke» als T.e bezeichnet und damit, zumindest der Sache nach, geschichtlich überlieferte T.e und soziale T.e (s.d.) einander annähert [15]. Ein kantkritischer Ton klingt mit, wenn G. Simmel vom «angenommenen Thatbestand der Freiheit» spricht oder feststellt: «alle Versuche, die Sittlichkeit, sowohl nach ihrer Thatsächlichkeit wie nach ihren Forderungen und Urtheilskriterien, auf einen einheitlichen Begriff zu bringen», seien «nichts als Symbolisirungen des sittlichen Thatbestandes» [16]. Demgegenüber arbeitet E. Husserl konsequent mit dem Sachverhaltsbegriff, auch wenn er die Phänomenologie unter das Zeichen einer «Rechtslehre des Urteilens» stellt [17]. Einen phänomenologischen T.-Begriff setzt aber A. Reinach. Ihm zufolge wird einem «Gesamt-T. der Welt» etwas Neues hinzugefügt [18], wenn aus sozialen Akten wie dem Versprechen Ansprüche und Verbindlichkeiten entstehen. Juristischer und historischer T. greifen ineinander. «Geschichtliche Tatbestände» kennt auch R. Stammler, ununterschieden allerdings von «geschichtlichen Tatsachen», von denen er ebenfalls spricht [19].
Als punktuelle Wortwahl, dezidierte Anspielung oder auch dem Recht entlehnte Metapher kann man ‹T.› bei so unterschiedlichen Autoren antreffen wie F. Nietzsche, der feststellt, die Notwendigkeit des Subjekts sei «kein T., sondern eine Interpretation» [20], K. Jaspers, der die Wissenschaft als Leidenschaft charakterisiert, die kein Verschleiern dulde: «Ihre erbarmungslose Kritik bringt T.e und Möglichkeiten an den Tag» [21], oder Th. W. Adorno, der Heidegger vorwirft, «unter dem Hauch» seiner Philosophie «das Seiende zum ontologischen T.» gemacht zu haben [22]. Ob neben dem juridischen Anklang die latente Opposition ‹T.›/‹Tatsache› oder ‹T.›/‹Sachverhalt› solche Metaphern leitet, ist eine Frage des Einzelfalls.
Petra Gehring
[1]
Aus der Warte des Zivilrechts apodiktisch A. Thon: Rechtsnorm und subjektives Recht (1878) 367: «Niemals wird sich ... der Thatbestand eines Delikts mit dem eines Rechtsgeschäfts decken».
[2]
Vgl. ZPO §§ 313ff. 543.
[3]
R. Stammler: Lehrb. der Rechtsphilos. (1922) 255.
[4]
F. Sander: Die transzendentale Methode der Rechtsphilos. und der Begriff des Rechtsverfahrens. Z. öffentl. Recht 1 (1919/20) 468–507, zit. 475.
[5]
O. Tesar: Die Überwindung des Naturrechts in der Dogmatik des Strafrechts (1928) 93.
[6]
H. Rickert: Zur Lehre von der Def. (1888) 30f.
[7]
H. Gomperz: Weltanschauungslehre II/1 (1908) 75.
[8]
B. Bauch: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit (1923) 75f.
[9]
Vgl. H. Kelsen: Reine Rechtslehre (21960) 261f.
[10]
C. Schmitt: Polit. Theol. (1922) 12.
[11]
H. Kelsen: Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Die Justiz 6 (1930/31) 576–628, zit. 590.
[12]
Vgl. etwa: Allg. Theorie der Normen (1979) 119.
[13]
G. Husserl: Recht und Zeit (1955) 14.
[14]
a.O. 74. 80. 15; vgl. auch 25: «Wenn ein Rechtssatz in einem konkreten Schöpfungsakt seine Daseinswurzel hat, so haben wir es auch hier mit dem T. einer Vorgeschichte zu tun».
[15]
W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtl. Welt in den Geisteswiss.en (1910). Ges. Schr. 7 (1958) 81. 84.
[16]
G. Simmel: Einl. in die Moralwiss. 2 (1893) 139. 281.
[17]
E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenolog. Philos. 1 (1913) § 94. Husserliana 3/1 (Den Haag 1976) 218.
[18]
A. Reinach: Die aprior. Grundlagen des bürgerl. Rechts (1913) 178.
[19]
Vgl. R. Stammler: Recht und Willkür (1895), in: Rechtsphilos. Abh. und Vorträge 1 (1925) 85–118, 103f.
[20]
F. Nietzsche: Nachgel. Frg. 1887–1888, Nr. 9[91]: Zur Bekämpfung des Determinismus. Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 8/2, 47.
[21]
K. Jaspers: Vom europ. Geist (1947) 15.
[22]
Th. W. Adorno: Negat. Dialektik (1966) 122.