Thymos (griech.
θυμός). An den ältesten Fundstellen, die der frühgriechischen Epik entstammen, ist Thymos (
θυμός [θ.]) eine seelisch-geistige Entität, die Menschen (seltener: Götter, Tiere) ‘belebtʼ und ihr Verhalten in vielfältiger Weise beeinflußt (wie ‘Herzʼ, ‘Gemütʼ, ‘Sinnʼ u.ä.). Später treten andere Termini, v.a.
ψυχή ‹Seele›, zu
θ. in Konkurrenz und ziehen viele seiner Funktionen an sich. Längerfristig verengt sich die Bedeutung von
θ. im aktiven Wortschatz auf den leidenschaftlich-zornigen Affekt (‘Wutʼ, ‘Jähzornʼ) und die Bereitschaft und Entschlossenheit zum Kampf (‘Beherztheitʼ, ‘Mutʼ). Der vielfältige epische Sprachgebrauch bleibt freilich, schon wegen der Berühmtheit der großen Epen, immer bekannt und kann, v.a. in poetischen Texten, bis hin zur Spätantike reproduziert werden
[1]. Als aggressiver Affekt (‘Zornʼ, ‘Rasereiʼ) findet sich
θ. noch im Neugriechischen.
Wenig deutet darauf, daß
θ. ursprünglich als Teil oder Organ des Körpers verstanden worden wäre
[2]. Etymologisch bestehen Verbindungen einerseits zwischen
θ. und
θύω ‘tobenʼ, ‘aufwallenʼ, ‘stürmenʼ (von Mensch, Flüssigkeit und Wind)
[3], andererseits zwischen
θ. und einem urindogermanischen Wort für ‘Qualmʼ
[4]; die ursprüngliche Grundbedeutung ist umstritten
[5].
Die erhaltene Epik (‹Ilias›, ‹Odyssee›, ‘homerischeʼ Hymnen, die Epen
Hesiods u.a.) weist die ältesten Vorkommen für
θ., die größte Bedeutungsbreite (s. unten) und die mit Abstand höchste Vorkommensdichte in der griechischen Literatur auf (gefolgt bezeichnenderweise von den Homerkommentaren des Bischofs
Eustathios von Thessalonike und den Homerscholien)
[6]. Klärungsbedürftig sind einerseits die semantischen und funktionalen Beziehungen innerhalb dieses Wortfelds, andererseits die Gemeinsamkeit der disparat wirkenden
θ.-Belege. Beides wird durch Unwägbarkeiten erschwert, die mit der Entstehungsgeschichte unserer auf mündlichen Vorstufen aufruhenden epischen Texte zusammenhängen: Einerseits muß damit gerechnet werden, daß die Wahl bestimmter Termini zuweilen, wie in ‘oral traditionʼ üblich, rein pragmatisch (metrisch) bedingt ist
[7], andererseits sind bei Verwendung vorgeprägter Formulierungen Umdeutungen und Katachresen nicht auszuschließen
[8]. Semantische Analysen, die verläßlich bleiben wollen, sollten sich also nicht zu sehr auf vereinzelte und aus dem Rahmen fallende Belegstellen stützen.
Die weitaus meisten epischen Belege lassen sich einer von folgenden vier Kategorien zuordnen: 1) Der
θ. ist eine Energie, die Menschen (und Tiere) ‘belebtʼ; er schwindet bei Ohnmacht und Tod ihres Trägers. Beim Erwachen aus Ohnmacht ‘sammeltʼ sich der
θ. wieder, beim Tode scheint er sich spurlos zu verflüchtigen
[9]. 2) Der
θ. ist eine (potentiell) handlungsauslösende seelische Energie, die sich allgemein als Verlangen, Laune, Stimmung oder Temperament äußert
[10], nur selten speziell als Zorn oder Kampflust
[11]. 3) Der
θ. ist ‘Ortʼ (oder ‘Organʼ) seelisch-geistiger Regungen und Vorgänge. Diese (oft formelhaften) Wendungen sind nicht selten semantisch entbehrlich; sie dienen der Komplettierung des Hexameters
[12]. 4) An rund der Hälfte der epischen Fundstellen ist der
θ. eine seelische Instanz mit einem spezifischen Erkenntnisvermögen und eigenen Willensregungen, Träger von Stimmungen, Leidenschaften oder dauerhaften Eigenschaften der Person wie Mut oder Feigheit. Der
θ. kann, z.B. als Objekt von Beeinflussung
[13], für die Person stehen, ihr aber auch als eigenständige Größe gegenübertreten
[14], etwa als ‘Gesprächspartnerʼ beim Selbstgespräch
[15] (das aber auch ohne
θ. stattfinden kann
[16]). Da der
θ. den Menschen auch zu Handlungen bewegen kann
[17], die nicht gut für ihn sind, ist seine ‘Bändigungʼ und ‘Beherrschungʼ (durch die ‘vernünftige Instanzʼ
νόος) notwendig
[18]; dieser Punkt gewinnt später an Bedeutung
[19].
Der epische
θ. ist beteiligt an Empfindungen wie Freude, Schmerz, Wohlwollen, Zorn, Mut, Angst, Hoffnung, Stolz, Verlangen u.a.
[20], zeigt aktive Willensregungen
[21] und wirkt mit an intellektuellen Prozessen wie (zweifelnder) Überlegung
[22]; dabei dominiert freilich eindeutig der emotional-voluntative Bereich
[23].
Schärfe gewinnen die Konturen des Begriffs im Kontrast zu
ψυχή, mit der
θ. in späterer Zeit oft gleichgesetzt wird
[24]: Im Gegensatz zur epischen
ψυχή, die im lebenden Menschen inaktiv bleibt und nach dessen Tod unter Bewahrung individueller Züge fortexistieren kann
[25] – erst seit dem 5. Jh. wird die
ψυχή zur ‘personalen Mitteʼ des lebenden Menschen und zum ‘Ortʼ oder ‘Trägerʼ seelisch-geistiger Vorgänge
[26] – beeinflußt der epische
θ. das Handeln des lebenden Menschen, verfügt aber weder über individuelle Charakteristika, noch überdauert er den Tod
[27].
Daß
θ., wie auch andere Termini aus dem Wortfeld ‹Seele-Geist›, emotionale, voluntative und rationale Aspekte in sich vereint, erklärt sich nicht mit der Annahme, daß im Epos ‘noch nichtʼ, sondern damit, daß dort
anders differenziert wird
[28]: Unterschieden werden nicht Akte des Erkennens, des Wollens und des Fühlens, sondern verschiedene komplexe Akte, bei denen Erkennen, Fühlen und Wollen stets ineinandergreifen; dies wird später in der klassischen Philosophie aufgenommen
[29].
Bei
Archilochos begegnet ft. auch als ‘sexuelles Begehrenʼ
[30], bei den Vorsokratikern u.a. als vernunftwidriges ‘Verlangenʼ
[31], im ‹Corpus Hippocraticum› auch als physiologischer ‘Reizʼ
[32], ein Wortgebrauch, der im 2. Jh. n.Chr. erläutert werden muß:
τουτέστι προθυμία[33]. Der Hinweis auf eine pythagoreische Dreiteilung der Seele in
νοῦς, φρένες und
θ. ist unglaubwürdig
[34].
Seit dem 5. Jh. nehmen relative Häufigkeit und Bedeutungsbreite von
θ. stark ab. In den Vordergrundtreten 1) der aggressiv-zornige ‘Affektʼ – nicht selten erscheint
θ. in Verbindung mit oder als Synonym zu
ὀργή (Zorn)
[35]; bei
Xenophon findet sich der Hinweis,
θ. sei beim Tier, was
ὀργή beim Menschen
[36] –, sowie 2) die (aus ihm gespeiste
[37]) Bereitschaft zum Kämpfen, der ‘Mutʼ; nur diese beiden Bedeutungen halten sich längerfristig im aktiven Wortschatz. Daneben ist der
θ. zunächst noch 3) ‘Ortʼ oder ‘Trägerʼ unterschiedlicher seelischer Vorgänge (‘Herzʼ) oder 4) ein unspezifischer Handlungsantrieb (‘Verlangenʼ)
[38]; konserviert werden solche Bedeutungen v.a. in festen Redewendungen (
ἐμβάλλειν θυμῷ ‘sich zu Herzen nehmenʼ
[39];
θυμός τινί ἐστιν ‘man hat Lust (auf)ʼ
[40] u.a.). Als Verlangen wird
θ. bald eingeengt auf das vom Zorn diktierte Verlangen nach Rache
[41]; in hellenistischer Zeit verblaßt offenbar die (in
ἐπι-θυμία fortlebende) voluntative Komponente
[42]. Vergleichsweise selten begegnen daneben, vorwiegend in
poetischen Texten, Reminiszenzen an älteren Sprachgebrauch, etwa
θ. als ‘Lebensenergieʼ
[43] oder als ‘Gesprächspartner des Menschenʼ
[44], Seit dem 5. Jh. finden sich auch Pluralvorkommen von
θ.
[45].
Die epische Vorstellung einer eigenständig agierenden seelischen Instanz reaktiviert
Platon in seinem Dialog ‹Politeia›; da
θ. mittlerweile anders besetzt ist, verwendet er hierfür das seit dem 5. Jh. belegte
[46] Kunstwort
θυμοειδής (‘
θ.-artigʼ)
[47]. Wo man
τὸ θυμοειδές in der Nachfolge Platons wieder durch
θ. ersetzt, gewinnt
θ. eine neue, terminologische Bedeutung als ‘der mittlere Seelenteilʼ (zwischen dem ‘vernünftigenʼ und dem ‘begehrlichenʼ)
[48]. Ob der
θ. ein ‘Teilʼ (
μέρος) oder ein ‘Affektʼ (
πάθος) der Seele ist, bleibt an anderer Stelle ausdrücklich offen
[49]; in den Dialogen kann
θ. sowohl den Affekt bezeichnen als auch dessen (potentiellen) ‘Trägerʼ, wobei die Bedeutung auch innerhalb geschlossener Partien schwankt
[50]. Als selbständig agierender, mit Gewalttätigkeit konnotierter Handlungsantrieb wird
θ. entschieden negativ bewertet
[51]; als (richtig erzogener
[52]) ‘gerechter Zornʼ und ‘Kampfbereitschaftʼ unter der Leitung der Vernunft kann er hingegen eine positive Kraft sein, etwa bei der Beherrschung der
ἐπιθυμίαι (‘Triebeʼ)
[53]. Unter
θ. ist ebenso der spontan reagierende ‘Jähzornʼ zu verstehen wie der nachtragende, zur Ausführung von Racheplänen bewegende ‘Grollʼ
[54]. Eine Tat unter dem Einfluß des
θ. ist weder als gänzlich ‘freiwilligʼ (
ἑκούσιον) noch als gänzlich ‘unfreiwilligʼ (
ἀκούσιον) anzusehen
[55], sondern steht dazwischen
[56]. Physiologisch wird der
θ. (in Ausdeutung gängiger Metaphorik) mit Hitze, Feuer, Aufwallung und heftiger Bewegung in Verbindung gebracht
[57]; angesiedelt wird er zwischen Zwerchfell (
φρένες) und Hals (
αὐχήν)
[58].
Aristoteles analysiert den Sprachgebrauch und präzisiert die Bedeutungen von
θ.: Unterschieden wird einerseits der durch den
θ. verursachte Mut von anderen Arten des Muts
[59], andererseits
θ. als eine Art des Strebens (
ὄρεξις) von anderen Arten wie
βούλησις ‘(vernünftiges) Wollenʼ und
ἐπιθυμία ‘(triebhaftes) Begehrenʼ (im Hintergrundsteht hier Platons Dreiteilung der Seele)
[60].
Ἐπιθυμία und
θ. werden dem ‘unvernünftigen Teilʼ (
ἄλογον) der Seele zugeordnet und auch Tieren zugeschrieben
[61]. Wie Platon diskutiert auch Aristoteles, ob Handeln unter dem Einfluß des
θ. ‘freiwilligesʼ Handeln sei
[62]. Der durch die Vernunft kontrollierte, auf das rechte Maß beschränkte (usw.) ‘Zornʼ wird positiv gewertet
[63]. Singulär ist die Angabe, der
θ. sei das seelische Vermögen (
ἡ τῆς ψυχῆς δύναμις), mittels dessen wir lieben
[64].
In epikureischen Texten gerät
θ. als negativ bewerteter ‘maßloser Zornʼ in Gegensatz zum ‘natürlichen Zornʼ
[65]. Auch in der Affektenlehre der Stoa wird er als eine spezielle Art von anderen Arten des Zorns unterschieden
[66], eine Differenzierung, für die nach
Senecas Auskunft im Lateinischen die Begriffe fehlen
[67]. Senecas Argumentation gegen peripatetische Aussagen zum
θ.
[68] basiert im übrigen z.T. auf Mißachtung der Tatsache, daß ‹ira› für den Römer etwas anderes ist als
θ. für Aristoteles; dies betrifft nicht nur die seitdem erfolgte Bedeutungsverengung von
θ., sondern auch den folgenreichen Konzeptionswandel der sog. ‘Affekteʼ in der hellenistischen Philosophie
[69].
Die späteren Verwendungsweisen und fremdsprachlichen Übersetzungen des Begriffs
θ. (z.B. lat. ‹animus›) wiederholen oder variieren die bereits genannten Muster.