Übersinnlich; das Übersinnliche (lat. supra sensum, super sensus; engl. supersensible). Der Begriff des Übersinnlichen [Ü.] in der Bedeutung dessen, was über dem Bereich des sinnlich Erfaßbaren hinaus liegt, ist terminologisch der griechischsprachigen Antike und Spätantike weitgehend unbekannt
[1] und begegnet in der Latinität erstmals bei
Tertullian[2]; im Mittelalter wird ‹übersinnlich› meist zur Bezeichnung einer von sinnlichen Anschauungsinhalten freien oder auch einer überrationalen, gnadenhaft geschenkten Erkenntnisweise
[3] sowie eines sinnlich nicht mehr erfaßbaren, höheren Seinsbereichs
[4] verwendet, der zumeist mit dem Mundus intelligibilis
[5] identisch ist. Nach
Raimundus Lullus übersteigt die natürliche Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Intellekts die Sinne, d.h. das sinnliche Wahrnehmungsvermögen, sowie die sinnlich gebundene Vorstellungskraft
[6], während
Alcher von Clairvaux bereits die menschliche Vorstellungskraft selbst als ‹übersinnlich› («post sensum vel supra sensum») bezeichnet
[7].
Durch
J. Böhme dem neuzeitlichen Denken vermittelt
[8], wird das Ü. von
I. Kant seit 1786 terminologisch streng als dasjenige bestimmt, was nicht empirisch erkennbar
bzw. von dem keine theoretische Erkenntnis möglich ist, da es kein Gegenstand der Sinne sein kann
[9], sondern diesen gegenüber transzendent
[10] ist. Unbeschadet dieser Unmöglichkeit der sinnlichen Anschauung einer übersinnlichen, rein intelligiblen (Verstandes-) Welt
[11] ist nach Kant die Annahme eines übersinnlichen Vermögens im menschlichen Gemüt zu einer übersinnlichen, rein intellektuellen Anschauung notwendig, um die Forderung der Vernunft, sich das Unendliche als ganzes gegeben widerspruchsfrei denken zu können, zu erfüllen
[12]. Übersinnliche Gegenstände der menschlichen Erkenntnis sind nach Kant die drei «Ideen des Ü.» als Postulate der reinen praktischen Vernunft, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Daher können nur die moralisch-praktischen Prinzipien der Sittlichkeit eine Erkenntnis des Ü. erreichen
[13].
Diese drei von der praktischen Vernunft gegebenen Ideen des Ü. nimmt in direktem Anschluß an Kant auch
J. G. Fichte an, der die übersinnliche, rein intelligible, nicht unter Naturgesetzen stehende Welt der Geister einschließlich Gott selbst als das über alle Vergänglichkeit unendlich erhabene Ewige, letztlich einzig Gewisse versteht, das aller sinnlichen Erscheinung als seinem Widerschein und Bild als dessen wahres Ansich zugrunde liegt und das sich einem freien und reinen Geist offenbart
[14]. Wie
I. Kant hält auch
F. Schlegel eine sinnliche Anschauung des Ü. für unmöglich, weil sie in sich widersprüchlich ist
[15]. Nach
F. H. Jacobi ist die Vernunft des Menschen wesenhaft «das Organ der Vernehmung des Ü.», durch die der menschliche Verstand «von Gott, Freiheit und Tugend, vom Wahren, Schönen und Guten» weiß
[16].
Novalis verwendet den Terminus ‹übersinnlich› grundsätzlich synonym mit dem Begriff ‹überirdisch› (s.d.) und faßt den Bereich des Ü. als den eigentlichen Inhalt der Religion auf
[17]; weil der Mensch für diesen übersinnlichen Bereich empfänglich und aufgeschlossen ist, bezeichnet ihn Novalis ausdrücklich als etwas, das «in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu seyn», d.h. «außer sich zu seyn, mit Bewußtseyn jenseits der Sinne zu seyn» vermag. In dieser Fähigkeit sieht er das spezifisch Menschliche, das den Menschen zum Weltbürger macht und vom Tier unterscheidet
[18].
Am umfassendsten wird in der neuzeitlichen Philosophie der Begriff des Ü. von
G. W. F. Hegel bestimmt: Er bezeichnet die an und für sich seiende Welt der in sich reflektierten Erscheinung bzw. des Gesetzes als die übersinnliche Welt, «insofern die existirende Welt als sinnliche, nemlich als solche bestimmt wird, die für die Anschauung, das unmittelbare Verhalten des Bewußtseyns, ist». Diese übersinnliche, wesentliche Welt ist die Totalität der reflektierten, wesentlichen Existenz, so daß nichts anderes außer ihr ist. Auf Grund der ihr eigenen absoluten Negativität enthält sie den Gegensatz der Welt der Erscheinung oder des Andersseins, und zwar als zugleich aufgehobenen, in sich. Als das Reich der Gesetze ist die an und für sich seiende, übersinnliche Welt die Totalität des Inhalts und der setzende, bestimmte Grund der erscheinenden Welt. Zugleich steht sie zu dieser in der Beziehung der Entgegensetzung und ist insofern die zu ihr verkehrte Welt
[19].
Eine dezidiert ablehnende Haltung nimmt
A. Schopenhauer gegenüber dem Ü. ein, indem er dieses nur als einen sehr abstrakten, inhaltsleeren, negativen Begriff auffaßt, der unzulässigerweise die dem menschlichen Erkennen gesetzte Begrenzung auf das Erfahrbare überschreite
[20]. Daher bestreitet er die Annahme, mit seiner Vernunft besitze der Mensch ein Vermögen unmittelbarer
übersinnlicher Erkenntnis bzw. ein Vermögen zu einem unmittelbaren Vernehmen des Ü. als des Göttlichen
[21].
Als ein vorbildliches, ewiges, von den Mängeln der Sinnlichkeit befreites und insofern übersinnliches Reich, «das in dem System der Vernunftbegriffe sich widerspiegelt»
[22], versteht
W. Wundt die platonische Welt der Ideen, deren Scheidung von der Sinnenwelt er auf den Gegensatz zwischen Sein und Schein zurückführt. In der Bedeutung eines Jenseits der Erfahrung, welches den Gegenstand der Metaphysik bildet, von dem allerdings nur eine hypothetische Erkenntnis möglich sei, wird das Ü. von
A. Drews bestimmt
[23].
E. Lask kritisiert im Anschluß an
H. Lotze die traditionelle Zweiweltentheorie, weil sie die Sphäre des Geltenden als ein drittes Reich unberücksichtigt gelassen habe. An ihre Stelle setzt er eine als vollständig intendierte Einteilung des Alls des Denkbaren in das sinnlich Seiende einerseits und das nicht sinnlich Seiende und insofern Nicht-Seiende andererseits, welches er in das Unseiende des Geltenden (bes. das Reich der Wahrheit) und in das Überseiende oder Überwirkliche des Ü. unterteilt. Gemeinsam sind den im übrigen voneinander unterschiedenen Sphären der Geltung und der des Ü. ihr Wert- und Forderungscharakter sowie ihre Bezogenheit auf die erlebende Subjektivität, für die sie gleichsam greifbare Objekte sind; Ü. und Sinnlichem ist nach
E. Lask allerdings gemeinsam, das Ur-Material gegenüber dem Geltenden als der Form zu sein
[24].
M. Heidegger unterscheidet zwischen dem «Unsinnlichen», das nicht durch die Sinne zugänglich ist, und dem «Ü.» als dem göttlichen Gegenstand der theologischen Erkenntnis, das als ein eigenes Seiendes über das sinnlich Erfaßbare hinausliege
[25].
In den letzten Jahrzehnten und besonders in jüngster Zeit wird ‘das Ü.ʼ in der Bedeutung einer das Fassungsvermögen der natürlichen Sinne übersteigenden Wirklichkeit überwiegend in esoterischen (New Age) und parapsychologischen Kontexten gebraucht
[26].