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Unbegrifflichkeit

Unbegrifflichkeit Erkenntnistheorie vorbegrifflich nonconceptuality Begriffsloses 5507 10.24894/HWPh.5507David AdamsChristiane Schildknecht
(engl. nonconceptuality)
I. – Der Sammelbegriff ‹U.› bezeichnet, was in Anschauung und Erfahrung außerhalb der Verweisungsfähigkeit von Begriffen bleibt und bleiben muß: theoretische Redeformen, «die in die begreifend-begrifflich nicht erfüllbare Lücke und Leerstelle» einspringen, «um auf ihre Art auszusagen» [1]. H. Blumenberg, der das Konzept 1979 ausformuliert hat, spricht von Metaphern, von Mythen und Symbolen – von Darstellungsmitteln, die aus dem theoretischen Diskurs heraus auf «Lebenswelt» verweisen.
Blumenbergs Interesse gilt dem Phänomenbestand und dem Leistungspotential «philosophischer Sprachwirklichkeit» [2]. 1957 klingt der Begriff erstmals an: «Die Philosophie, die es immer wieder mit dem Unbegriffenen und Vorbegriffenen aufzunehmen hat, stößt dabei auch auf die Artikulationsmittel des Unbegreifens und Vorbegreifens, übernimmt sie und bildet sie, abgelöst von ihrem Ursprung, weiter» [3]. Die wenig später erschienenen ‹Paradigmen zu einer Metaphorologie› (1960) nehmen diese Fragestellung auf und verweisen auf die Vorgänger G. Vico[4], I. Kant[5] und F. Nietzsche[6], bei denen der Begriff noch fehlt. Indem die ‹Paradigmen› darauf abzielen, «die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein» zu bringen, «innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren», formulieren sie ein Programm, das sich in ein Verhältnis der «Dienstbarkeit» [7] zu einer Begriffsgeschichte (s.d.) gestellt sieht, die aus darstellungsökonomischen Gründen auf die Behandlung von U. verzichtet [8]. Zwei Jahrzehnte später weitet sich die metaphorologische Perspektive endgültig zur «Theorie der U.», deren Aufmerksamkeit nun verstärkt «die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt» [9] einbezieht. Die Fragerichtung ist vorgegeben durch eine philosophische Anthropologie, derzufolge U. auf eine «Bedürfnislage» verweist, deren historisch variable Erfüllungen Blumenberg in umfangreichen Monographien thematisch erschließt. Dabei ist das Symbol (s.d.) von besonderem Interesse, sofern es die Möglichkeit bietet, die – so Blumenbergs Heidegger-Kritik – Frage nach dem Sinn von Sein funktional zu entkräften. Die symbolische und damit bilderlose «Verkoppelung von Dasein und Sein» [10] bietet reinere Formen von U. als die Metapher.
Zweifel an der vom aufklärerischen Finalismus geweckten Erwartung der Erschöpfbarkeit philosophischer Gegenstände durch anschaulich erfüllbare Begriffe haben andernorts zu vergleichbaren Konsequenzen geführt. So ist die «Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbegrifflichen im Begriff» für Th. W. Adorno Bedingung für die erfolgreiche Befreiung vom «Identitätszwang»; die Begrifflichkeit «dem Nichtidentischen zuzukehren», versichert Adorno, sei «das Scharnier negativer Dialektik» [11]. Der Weg zur entwickelten philosophischen Theorie führe über die «Anstrengung des Begriffs, das nichtbegriffliche Moment zu vertreten und es durch den Inbegriff selber zur Geltung kommen zu lassen» [12]. Ein vergleichbares Verständnis davon, was philosophische Begriffe seien und zu leisten hätten, lassen Vertreter des französischen Poststrukturalismus erkennen. Ebenfalls Nietzsche folgend, betrachtet J. Derrida «le concept comme intuition différée-différante» [13]. Ähnlich der Theorie der U. versucht die «Archäologie» M. Foucaults, die Regeln des «niveau ‘préconceptuelʼ» einer diskursiven Praxis aufzudecken: «Das vorbegriffliche Feld [le champ préconceptuel] läßt die Regelmäßigkeiten und diskursiven Zwänge erscheinen, die die heterogene Multiplizität der Begriffe [la multiplicité hétérogène des concepts] möglich gemacht haben» [14].
David Adams
[1]
H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960] (1998) 177; vgl. Art. ‹Begriff›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 780–787; ‹Metapher›, a.O. 5 (1980) 1179–1186.
[2]
Die sprachl. Wirklichkeit der Philosophie. Hamb. Akad. Rdsch. 1 (1946/47) 428–431, 428.
[3]
Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philos. Begriffsbildung. Studium Generale 10 (1957) 432–447, 432.
[4]
Parad., a.O. [1] 8; vgl. G. Vico: Scienza nuova II, 2 (1725); dtsch.: Prinzipien einer neuen Wiss. über die gem. Natur der Völker 2 (1990) 188ff.
[5]
a.O. 11f.; I. Kant: KU A 195. 251ff.; vgl. Art. ‹Hypotypose›. Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 1266f.
[6]
a.O. 24. pass.; F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermor. Sinne 1 (1873). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 3/2, bes. 373ff.
[7]
Parad., a.O. [1] 13.
[8]
J. Ritter: Vorwort, in: Hist. Wb. Philos. 1 (1971) bes. VIIIf.; vgl. H. Blumenberg: Beobacht. an Metaphern. Arch. Begriffsgesch. 15 (1971) 161–214, bes. 161f.
[9]
H. Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der U., in: Schiffbruch mit Zuschauer (1979) 77.
[10]
a.O. 91f.
[11]
Th. W. Adorno: Negat. Dialektik (1966). Ges. Schr. (1970ff.) 6, 24; vgl. Ästhet. Theorie (1970), a.O. 7, 208. 382f.
[12]
Philos. Terminologie 1, hg. R. zur Lippe (1973) 87.
[13]
J. Derrida: La différance, in: Théorie d'ensemble (Paris 1968) 56f.
[14]
M. Foucault: L'archéologie du savoir (Paris 1969) 84; dtsch.: Die Archäologie des Wissens (1973) 93.
D. Adams: Metaphors for mankind. The development of H. Blumenberg's anthropol. metaphorology. J. Hist. Ideas 52 (1991) 152–166. – R. Konersmann: Geduld zur Sache. Ausblick auf eine Philos. für Leser. Neue Rdsch. 109 (1998) 30–46.
II. – In der gegenwärtigen analytischen Philosophie wird der Begriff ‹U.› zur Charakterisierung des Gehalts von (mentalen) Zuständen als vorbegrifflich verwendet. Paradigmatisch sind demgemäß insbesondere folgende Bereiche, die sich der (ausschließlichen) Spezifikation durch Begriffe entziehen: Zustände informationsverarbeitender kognitiver Systeme (etwa des visuellen Systems); der (speziell in demonstrativer und indexikalischer Form gegebene) Gehalt bewußter Wahrnehmungserfahrungen; Bewegungen und Handlungen im egozentrischen Raum sowie Fähigkeiten der Wiedererkennung. Während die Individuierung von Zuständen mit begrifflichem Gehalt – wie Überzeugungen und anderen sogenannten propositionalen Einstellungen – verlangt, daß das Subjekt im Besitz derjenigen Begriffe sein muß, die den Gehalt des jeweiligen Zustands auf wesentliche Weise charakterisieren, gilt dies nicht für Zustände mit nichtbegrifflichem Gehalt [1]. So kann man sich etwa in einem Zustand der Verarbeitung visueller Informationen befinden, ohne die zur Beschreibung dieses Zustands notwendigen komplexen mathematischen Begriffe zu besitzen.
Während Erkenntnis bei I. Kant[2] auf einer Komplementarität von Begriff und Anschauung beruht, geht G. Evans von einer «belief-independence» [3] vorbegrifflicher Wahrnehmungserfahrung aus und argumentiert auf dieser Grundlage für die vollständige U. der entsprechenden Informationszustände, die in der Form eines «input to a thinking, concept-applying, and reasoning system» [4] zu bewußter Erfahrung werden. Inhaltlich an die Überlegungen von Evans anschließend, plädiert C. Peacocke für einen zumindest nichtbegriffliche Gehalte einschließenden Begriff von Erfahrung und beschreibt den Gehalt von Wahrnehmungserfahrungen als «scenario», d.h. durch eine Menge unterschiedlicher Arten, den perzeptiven Raum eines Wahrnehmenden mit Eigenschaften und Relationen auszufüllen [5]. Als Kriterien für den nichtbegrifflichen Gehalt von Erfahrung gelten neben der Überzeugungsunabhängigkeit die Abweichung von der logisch-syntaktischen Struktur [6]. In Auseinandersetzung mit Evans und Peacocke verteidigt J. McDowell einen ausnahmslos begrifflichen Gehalt von Erfahrung unter Rekurs auf Kant [7]. Für ihn bedeutet die U.-These einen Rückfall in den von W. Sellars kritisierten «Myth of the Given» [8], d.h. in die fundamentalistisch geprägte Vorstellung eines in der Erfahrung unbegrifflich Gegebenen (s.d.).
Im Zentrum der Diskussion steht insbesondere das Problem der phänomenologischen Reichhaltigkeit wahrgenommener Farbtöne. Wie für Evans gilt für Peacocke die begrifflich nicht ausschöpfbare Feinkörnigkeit von Farberfahrungen als Beleg für deren U., während McDowell dies unter Rekurs auf die begrifflich aufgefaßte Fähigkeit der Wiedererkennung von Farben bestreitet: «one can give linguistic expression to a concept that is exactly as fine-grained as the experience, by uttering a phrase like ‘that shadeʼ, in which the demonstrative exploits the presence of the sample» [9]. Die aktuelle Diskussion konzentriert sich insbesondere auf das Problem der Artikulierbarkeit nichtbegrifflicher Gehalte sowie auf die Frage nach deren epistemischem Status. Mit Blick auf die konstitutive Rolle der Begriffe für die Bildung von Urteilen (s.d.) bzw. Propositionen (s.d.) geht es dabei letztlich um die Anerkennung nichtpropositionaler, insbesondere vorpropositionaler Erkenntnis.
Christiane Schildknecht
[1]
A. Cussins: The connectionist construction of concepts, in: M. Boden (Hg.): The philos. of artif. intelligence (Oxford 1990) 368–440, hier: 382f.; J. L. Bermúdez: Non-conceptual content: From perceptual experience to subpersonal computational states. Mind Language 10 (1995) 333–369.
[2]
I. Kant: KrV A 50ff./B 74ff.
[3]
G. Evans: The varieties of reference, hg. J. McDowell (Oxford 1982) 123.
[4]
a.O. 158. 227.
[5]
C. Peacocke: A study of concepts (Cambridge, Mass./London 1992) 61–98 (ch. 3).
[6]
T. Crane: The nonconceptual content of experience, in: T. Crane (Hg.): The contents of experience (Cambridge 1992) 136–157; M. Martin: Perception, concepts and memory. Philos. Review 101 (1992) 745–763.
[7]
J. McDowell: Mind and world (Cambridge, Mass./London 1994) 46–65.
[8]
W. Sellars: Empiricism and the philos. of mind, in: H. Feigl/M. Scriven (Hg.): Minnesota studies in the philos. of sci. 1 (Minneapolis, Minn. 1956) 253–329.
[9]
McDowell, a.O. [7] 57f., zit. 57.
G. Evans s. Anm. [3]. – C. Peacocke: Perceptual content, in: J. Almog u.a. (Hg.): Themes from Kaplan (New York/Oxford 1989) 297–329; s. Anm. [5]; Nonconceptual content defended. Philos. phenomenolog. Res. 58 (1998) 381–388. – T. Crane (Hg.) s. Anm. [6]. – J. McDowell s. Anm. [7]. – Ch. Schildknecht: Sense and self. Perspectives on nonpropositionality (2001) ch. 3.