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Urimpression

Urimpression 4485 10.24894/HWPh.4485 Klaus Held Redaktion
Husserl Phänomenologie Zeitbewusstsein, inneres Urbewusstsein Uraffektion Urempfindung
Urimpression bezeichnet in der phänomenologischen Analyse des inneren Zeitbewußtseins bei E. Husserl neben ‹Retention› (s.d.) und ‹Protention› (s.d.) eine Grundart der Intentionalität, die in doppelter Hinsicht zu kennzeichnen ist [1]: Sie stellt erstens als die fließende und nur abstraktiv heraushebbare Phase größter Präsenz eines bewußtseinsmäßig Gegebenen innerhalb der aus Retention, Urimpression und Protention bestehenden Einheit einer Präsentation den ursprünglichsten Modus [2] des Zeitbewußtseins dar. Sie ist zweitens als diese Phase größter Präsenz zugleich die Phase der Urbegegnung des Bewußtseins mit Bewußtem und kann daher auch als ‹Uraffektion› oder ‹Urempfindung› [3] gekennzeichnet werden.
Husserls spätere Einsicht, daß auch die passivsten Eindrücke des Bewußtseins bereits von Urgestalten der Aktivität durchwaltet sind, ließ ihm den in Anknüpfung an die sensualistische Tradition gebildeten Begriff ‹U.› fragwürdig werden. Es gelang ihm nicht, die U. phänomenal eindeutig auszuweisen: Die U. ist «absoluter Anfang», «Urquellpunkt», zugleich aber auch «Nullpunkt», «ideale Grenze» sowie «Durchgangspunkt» und «absolutes Übergehen», da sie stetig im «Fluß» ist [4]. Sie bedingt zwar die Retention, ist aber erst aus dieser her bewußt; sie selbst ist daher «Urbewußtsein» [5]. Husserl hielt das Zeitbewußtsein selbst zunehmend für unzeitlich; dies markiert bereits den Übergang zur «absoluten Subjektivität» der transzendentalen Phänomenologie [6]. Kritiker Husserls griffen die Fixierung auf die U. als «Präsenzmetaphysik» an [7]: Bereits im Jetzt walte «Differenz». «Denn die Ursprünglichkeit muß von der Spur her und nicht umgekehrt gedacht werden» [8].
[1]
E. Husserl: Vorles. zur Phänomenol. des inneren Zeitbewußtseins §§ 11. 31. 42 [1905], hg. M. Heidegger. Jb. Philos. phänomenol. Forsch. 9 (1928) 367–498. Husserliana [Hua.] 10 (Den Haag 1966) 29ff. 64ff. 88ff.; Beilage 1 (zu § 11), a.O. 99ff.
[2]
Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenolog. Philos. I, § 78 (1913). Hua. 3/1 (1976) 167f.
[3]
Vorles. ... § 31, a.O. [1] 67.
[4]
§§ 17. 32, a.O. 40. 70; Beilage 1, a.O. 100; Erg. Texte, Nr. 15: Zeit und Erinnerung [1901], a.O. 176; Nr. 33 [1904/04], a.O. 232; Nr. 53: Die Intentionalität des inneren Bewußtseins [1911], a.O. 360; Nr. 54: Bewußtsein (Fluß), Erscheinung (immanentes Objekt) und Gegenstand, a.O. 379.
[5]
§ 16, a.O. 38; Beilage 9 (zu §§ 39f.), a.O. 119; vgl. M. Sommer: Husserl und der frühe Positivismus (1985) 216.
[6]
§ 36, a.O. 74f.; Erg. Texte, Nr. 50: Die primäre Erinnerungsmodifikation [1908/09], a.O. 333; Nr. 54, a.O. 370f.; Ideen I, a.O. [2] 166f.; Analysen zur passiven Synthesis [1920–26]. Hua 11 (1966) 125ff.; vgl. R. Bernet: Einl., in: E. Husserl: Texte zur Phänomenol. des inn. Zeitbew. (1893–1917) (1985).
[7]
M. Heidegger: Sein und Zeit §§ 68. 72 (1927, 171993) 338. 348. 374; vgl. Grundprobleme der Phänomenol. § 19 d [1927]. Ges.ausg. II/24 (21989) 379ff.
[8]
J. Derrida: La voix et le phénomène (Paris 1967) 95; dtsch.: Die Stimme und das Phänomen (1979) 142.
K. Held: Lebendige Gegenwart (1966). – Th. W. Adorno: Zur Metakritik der Erk.theorie (1970). – E. W. Orth (Hg.): Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger (1983) 16–57. – R. Bernet s. Anm. [6]. – M. Sommer s. Anm. [5] 207–223. – M. Frank: Zeitbewußtsein (1990). – R. Bernet: E. Husserl. Darst. seines Denkens (1996) 96–107. – K. Mai: Die Phänomenol. und ihre Überschreitungen (1996) 275–290. – A. Kortooms: Fenomenologie van de tijd (Nimwegen 1999).