Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Vernunftschluß

Vernunftschluß 4606 10.24894/HWPh.4606 Bernd Buldt
Logik inference of reason ratiocinatio mittelbarer Schluss Schluss, mittelbarer Schluss, vernünftelnder11 868 vernünftelnder Schluss11 868
Vernunftschluß (engl. inference [of the reason]; frz. inférence [de la raison]). Der Terminus ‹V.› ist die Eindeutschung von lat. ‹ratiocinatio› im Umkreis der Wolffschen Schule. Während Ch. Wolff in seinen deutschen Schriften stets von «Schluß» spricht, verwenden z.B. G. F. Meier, J. N. Frobesius und J. Ch. Gottsched ‹V.› [1]. ‹Ratiocinatio› meint ursprünglich einen Syllogismus im engeren Sinn, d.h. einen formgerechten syllogistischen Schluß aus zwei Prämissen auf eine Konklusion. Hierfür ist auch die Bezeichnung ‹mittelbarer Schluß› üblich geworden. ‹Ratiocinatio› kann – neben Ausdrücken wie ‹dianoia›, ‹discursus›, ‹ratio›, ‹ratiocinium› oder ‹syllogismus› – aber auch für einen Syllogismus im weiteren Sinn, d.h. für jedweden Schluß, stehen [2]; letztere Bestimmung entspricht auch eher der ursprünglichen Aristotelischen Definition des συλλογισμός[3]. Gemäß seiner durchgängigen Unterscheidung zwischen mentalem Akt und behauptender Äußerung trennt Wolff die «ratiocinatio» als syllogistische Geisteshandlung («mentis operatio») [4] vom Syllogismus als Behauptung von deren Inhalt («Syllogismus est oratio, qua ratiocinium ... distincte proponitur») [5]. Der Ausdruck ‹V.› bürgert sich dann in der nachfolgenden deutschsprachigen Philosophie als Synonym für ‹Syllogismus› (teils i.e.S., teils i.w.S.) ein [6].
In der Philosophie I. Kants erhält der V. als Syllogismus i.e.S. eine systematisch ausgezeichnete Stellung, welche noch die nachfolgende Diskussion im Deutschen Idealismus, bes. bei G. W. F. Hegel, beeinflußt. Doch geht mit der idealistischen Bewegung auch die systematische Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft und damit die philosophische Relevanz der Unterscheidung von Verstandesschluß (s.d.) und V. verloren. Der Terminus ‹V.› findet sich bei späteren Autoren nur noch in historischer Absicht [7] und wird von ‹Schluß› abgelöst.
Charakteristisch für Kant ist, daß er große Teile seiner Erkenntnistheorie als Logik, von ihm «transzendentale Logik» genannt, konzipiert. Äußerlich geschieht dies so, daß er parallel zur neuzeitlichen Dreiteilung der formalen Logik in die Lehre von Begriff, Urteil und Schluß das obere, d.h. nicht-sinnliche Erkenntnisvermögen unterteilt in den Verstand als Vermögen der Begriffe, die Urteilskraft als Vermögen zu urteilen, und die Vernunft als Vermögen zu schließen [8]. Auch unterteilt Kant alle Schlüsse in Verstandesschlüsse [9], Schlüsse der Urteilskraft [10] und V.e [11]. Hierbei ist ein Schluß allgemein als «die Ableitung eines Urtheils aus dem andern» [12] und der V. im speziellen als ein «mittelbarer Schluß» oder Syllogismus i.e.S. definiert [13]. Darüber hinaus gilt, daß Kant die V.e auf solche der ersten Figur beschränkt sehen möchte [14]. Im Gegensatz zu dieser Einengung des Begriffs ‹V.› auf Syllogismen i.e.S. der ersten Figur wird andererseits, und zwar ebenfalls aus systemimmanenten Gründen, die Bedeutung von ‹V.› um eine transzendentale Komponente erweitert [15], nämlich die «dialektischen V.e» bzw. «vernünftelnden» Schlüsse [16]. Kants Konzeption der transzendentalen Dialektik ordnet den drei großen Themen der traditionellen Metaphysik (Unsterblichkeit der Seele, Freiheit des moralischen Subjekts, Gott) [17] jeweils einen prosyllogistisch aufsteigenden Abschluß der drei Vernunftschlußarten (kategorisch, hypothetisch, disjunktiv) zu [18], der durch drei reine Vernunftbegriffe, die transzendentalen «Ideen» Ich, Welt und Gott [19], einen Abschluß zum Unbedingten hin findet [20]. Die Vernunft als Schöpferin der Metaphysik ist demgemäß bei Kant als das Vermögen zu schließen bestimmt, und die Widersprüche der traditionellen Metaphysik resultieren aus den – formal korrekten, doch inhaltlich falschen – dialektischen V.en. In diesen supponiert die Vernunft, deren Natur es ist, stets zum Unbedingten aufsteigen zu wollen, daß den Ideen auch ein Gegenstand möglicher Erfahrung entspricht [21]. Doch im Gegensatz zu diesem illegitimen «konstitutiven Gebrauch» ist Kantisch nur ein «regulativer Gebrauch» der Ideen zu rechtfertigen, bei welchem das prosyllogistische Aufsteigen keinen Abschluß in einem Gegenstand möglicher Erfahrung findet [22]. So entsprechen den drei genannten Ideen die transzendentalen Fehlschlüsse der reinen Vernunft (Paralogismus, Antinomie, Ideal der reinen Vernunft), worum Kant seine ganze Kritik der traditionellen Metaphysik gruppiert [23].
G. W. F. Hegel baut einerseits auf der Kantischen Trennung von Verstand und Vernunft auf [24], andererseits entwickelt er sie gegen Kant weiter [25]. Denn der Verstand ist bloß das Bewußtsein des Gegenstandes als Erscheinung [26] in seiner begrifflich aufgearbeiteten Form [27], die jedoch den Widerspruch zwischen konkretem Einzelding und allgemeinem Begriff nicht aufhebt [28]. In diesem Sinne ist alle bisherige Logik bloße «Verstandeslogik», und die ihr zugehörigen Verstandesschlüsse verfehlen die Wahrheit [29]. Erst die Vernunft erreicht die «an und für sich seyende Wahrheit ..., die einfache Identität der Subjectivität des Begriffs und seiner Objectivität und Allgemeinheit» [30]. Diese Vermittlung leistet der V. [31], der – richtig aufgefaßt – «das Vernünftige und Alles Vernünftige» ist [32].
[1]
G. F. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre §§ 354ff. (1752); J. N. Frobesius: Ch. Wolfii Philos. rat. sive Logica (1746, ND 1980) Index s.v. ‹ratiocinatio›; J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der ges. Weltweisheit § 77 (71762, ND 1983) 133f.
[2]
F. Ueberweg: System der Logik § 74 (1857, 41874) 184ff.; Art. ‹Schluß›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 1303–1306; ‹Syllogismus›, a.O. 10 (1998) 687–707.
[3]
Aristoteles: Anal. pr. I, 1, 24 b 19f.; vgl. auch: Top. I, 1, 100 a 25–101 a 24.
[4]
Ch. Wolff: Philos. rat. sive Logica § 50 (1728, 31740). Ges. Werke I/2 (1983) 135.
[5]
§ 332, a.O. 289.
[6]
W. Risse: Logik der Neuzeit 1–2 (1964–70) Index s.v. ‹Syllogismus›.
[7]
So z.B. bei B. Bolzano: Wiss.lehre § 255, 3 (1837).
[8]
I. Kant: KrV B 169f.; um den transz. Gebrauch erweitert, heißen Verstand und Vernunft jedoch Vermögen der Regeln bzw. Prinzipien, vgl. B 355f. 359.
[9]
B 360; Logik, hg. G. B. Jäsche §§ 43f. (1800). Akad.-A. 9, 114f.; vgl. Art. ‹Verstandesschluß›.
[10]
Schlüsse der Urteilskraft als Induktion und Analogie: Logik §§ 81–84, a.O. 131ff.; als subsumierend: KrV B 172ff. 360 bzw. subsumierend und reflektierend: KU B XXVff.; vgl. Art. ‹Subsumtion›. Hist. Wb. Philos. 10 (1998) 560–562; ‹Urteilskraft›.
[11]
KrV B 359ff.; Logik §§ 42f., a.O. 114.
[12]
Logik § 41, a.O.
[13]
KrV B 387f.; Logik §§ 56–58, a.O. 120f.
[14]
Logik §§ 69f., a.O. 126f.; Falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren (1762).
[15]
KrV B 349ff.
[16]
B 366. 397; vgl. B 396ff.
[17]
B XXIXf.
[18]
B 361; Logik §§ 60f., a.O. [9] 121ff.
[19]
Vgl. die in KrV B 379. 391 getroffene Spezifizierung von Ich, Welt und Gott.
[20]
B 379f. 391f.; vgl. B 355ff.
[21]
B 396ff.
[22]
B 379f.; vgl. B 536ff. 670ff.
[23]
B 396ff.
[24]
G. W. F. Hegel: Enzykl. der philos. Wiss. § 467, Zus. (1817, 31830). Werke, hg. E. Moldenhauer/K. M. Michel (1969ff.) 10, 285f.
[25]
§ 182, Zus., a.O. 8, 334; Ideen als Vernunftbegriffe: Wiss. der Logik 2 (1816). Akad.-A. 12 (1981) 173–178; vgl. Ch. Taylor: Hegel (Cambridge 1975) 225–231; dtsch. (1978) 297–305.
[26]
Enzykl. § 422 (1830). Akad.-A. 20 (1992) 426f.
[27]
§ 467, a.O. 464.
[28]
§§ 214. 421f., a.O. 216f. 426; vgl. §§ 194ff., a.O. 204ff.
[29]
Log., a.O. [25] 106–110.
[30]
Enzykl. § 438, a.O. [26] 433; vgl. §§ 213ff., a.O. 215ff.
[31]
§§ 206–210, a.O. 212f.
[32]
§ 181, a.O. 191; vgl. Log., a.O. [25] 90–126; Taylor, a.O. [25] 407–415.