Vita activa/vita contemplativa (theoretische/praktische Lebensform; griech.
βίος θεωρητικός/πρακτικός; engl. contemplative/active life; frz. vie contemplative/active).
Aristoteles hat als erster Theorie (s.d.) und Praxis (s.d.) als zwei Lebensweisen einander gegenübergestellt
[1]. Die platonische, auch bei Aristoteles nachweisbare
[2] Tradition leitet aus der Dreiteilung der Seele, wie sie im
Gleichnis des geflügelten Seelenwagens (s.d.) vorgenommen wird, nicht zwei, sondern drei Lebensweisen ab: Dem Begehren (
ἐπιθυμία) entspricht das Lustleben (
βίος ἀπολαυστικός), dem Mut (
θυμός)
[3] das praktische Leben (
βίος πρακτικός), der Vernunft (
λόγος) schließlich das theoretische Leben (
βίος θεωρητικός)
[4].
In der Aristotelischen Ethik nimmt die Frage nach dem Glück einen wesentlichen Platz ein. So entspricht das als ein Leben gemäß vollendeter Tugend (
κατ' ἀρετὴν τελείαν) verstandene Glück
[5] an erster Stelle dem kontemplativen Leben des Philosophen, der seine höchste «geistige Tugend» (
ἀρετὴ διανοητική)
[6], die Weisheit, ausübt. Gleichwohl findet der kluge Mensch (
φρόνιμος) sein Glück auch im tätigen, politischen Leben, das sich besonders in der Freundschaft verwirklicht, so daß die Aristoteles-Kommentare später von den «duo optima», von den zwei besten Lebensformen, sprechen können
[7]; schon bei Aristoteles finden sich zwei entsprechende Formen des Glücks: das vollendete (
τελεία εὐδαιμονία) im kontemplativen Leben des Philosophen und das weniger vollkommene im tätigen Leben des klugen Menschen
[8].
Im Unterschied zum griechischen Geist bevorzugt der römische Pragmatismus eher die «vita activa» [v.a.] (
Cicero[9]). Gleichwohl ermöglicht der stoische Rückgriff auf die Natur durchaus auch eine ausgewogenere Stellungnahme: Weil die Natur den Menschen nach
Seneca ebenso zum Handeln wie zum Nachdenken geschaffen hat («natura nos ad utrumque genuit, et contemplationi rerum et actioni»), wird der Weise den Staat nicht verachten und sich nur dann völlig aus ihm zurückziehen, wenn er ihn hoffnungslos verderbt findet oder ihm die Kräfte fehlen
[10].
Für
Plotin ist die Kontemplation (s.d.) die Einung mit Gott, in welcher die Seele sich über sich selbst erhebt. Er zieht so die Konsequenz aus einem Paradox, das schon bei Aristoteles dadurch entsteht, daß das glückliche Leben in der Ausübung des höchsten Seelenteiles, des Intellekts, vollkommen und ununterbrochen das Leben von Göttern ist, das der Mensch jedoch nur momentan erlangt und für seine Unsterblichkeit erlangen muß
[11]. Für Plotin ist jedoch der Akt der Kontemplation ein Rückstieg der Seele auf ihren höchsten Teil, über sich hinaus in den Nus hinein und weiter zu Gott hin, mit dem sie sich auf diese Weise vereinigt
[12]. Demzufolge ist die «vita contemplativa» [v.c.] für Plotin nicht mehr nur, wie noch für Aristoteles, das Leben des Weisen, der Erkennen und Reflexion bevorzugt, sondern, wie bei den Stoikern, das des Asketen, der sich von der Welt absondern muß, um Gott zu treffen, gleichsam eine «Flucht des Einsamen zum Einsamen» (
φυγὴ μόνου πρὸς μόνον)
[13].
In der ‹Heiligen Schrift› und der jüdisch-christlichen Tradition findet sich eine vergleichbare Unterscheidung zwischen v.a./v.c.
Philon von Alexandrien nennt als Beispiel für die v.c. das asketische Leben der Therapeuten, einer gemischten Gemeinschaft, die in der Zurückgezogenheit Studium und Lobpreis Gottes pflegen
[14]. Der Gegensatz von v.c. und v.a. wird nach einer verbreiteten Deutung im NT (Luk. 10, 31–42) durch die Figuren der Martha und der Maria veranschaulicht, aber auch im AT (Gen. 29–30) durch Lea und Rachel, ja selbst durch die Apostel Petrus und Johannes und sogar Paulus. Diese Themen werden in der Patristik und im Mittelalter weiterentwickelt
[15]. Im christlichen Zusammenhang bleibt die v.c. eher den Mönchen vorbehalten (
Cassian[16]), wohingegen das tätige Leben das der Nächstenliebe ist.
Augustinus denkt an ein Leben des Ausgleichs zwischen diesen beiden Extremen, er identifiziert jedoch die v.c. mit der Schau, der Visio (s.d.), die die Seligen im himmlischen Vaterland (s.d.) genießen und die so einen Beginn auf Erden hat
[17]. Ebenso bezeichnet die v.a. für
Julianus Pomerius das Leben eines Weltgeistlichen, dem er empfiehlt, auf seine persönlichen Reichtümer zu verzichten, aber mit Strenge die Kirchengüter zu verwalten. Die v.c. ihrerseits ist im wesentlichen die Schau der Seligen («visio beatifica»), der die Ordensleute gnadenhaft schon auf Erden, jedoch nur vorübergehend und unvollständig, teilhaft werden können. In dieser eschatologischen Sicht der v.c. wird der Gegensatz zur v.a. verinnerlicht: Die v.a. ist Reinigung durch Tugenden und gute Werke, die v.c. ist «beata quiete ... ineffabili gaudio divinae contemplationis»
[18]. Diese Tendenzen ziehen sich durch das gesamte frühe Mittelalter hindurch
[19]. Seine ganze Entfaltung erfährt dieses Thema bei den Viktorinern. Im Anschluß an
Hugo von St. Victor[20] macht
Richard von St. Victor die Kontemplation zum Ziel des spirituellen Lebens, die nicht nur dessen Höhepunkt, sondern sogar dessen Überschreitung ist
[21]. Am Ende des 12. Jh. unterscheidet
Guigo II der
Kartäuser vier Stufen: die Schriftlesung, die Meditation (s.d.), das Gebet (s.d.) und die Kontemplation
[22]. Die v.c. wird von ihm wie auch von
Bernhard von Clairvaux[23] ausdrücklich mit dem Leben der Mönche gleichgesetzt.
In der flämischen Mystik kommt es zu einer zusätzlichen Verinnerlichung, die – beispielsweise bei
Meister Eckhart, der freilich in bezeichnender Weise die Figur der Martha über die der Maria setzt
[24] – den Gegensatz von v.c. und v.a. minimiert, um ihre Einheit zu betonen. Für
Jan van
Ruysbroeck repräsentiert die v.a. das tugendhafte Leben. Darüber hinaus führt die «vita interna» und schließlich die v.c., die als ekstatischer Ausgang der Seele aus sich verstanden wird, so daß sie sich mit der ewigen Idee verbindet, die Gott sich von ihr vor dem Schöpfungsakt gemacht hat
[25]. Diese mystische Auffassung des Verhältnisses von v.a. und v.c. findet ihre Fortsetzung bis ins 17. Jh. hinein
[26].
Seit dem 13. Jh. läßt die Wiederentdeckung des Aristoteles die Frage wiederaufleben, wie sich die Glückseligkeit in der Kontemplation des Philosophen zu der der Seligen im Himmel verhält. Hier liegt ein neuralgischer Punkt der Verurteilungen von 1270–1277
[27].
Thomas von Aquin behebt diese Schwierigkeit, indem er nicht zwei, sondern drei Arten der Glückseligkeit unterscheidet: Während die vom Philosophen in dieser Welt erreichte Glückseligkeit gegenüber derjenigen, die in der «visio beatifica» gewonnen wird, noch unvollkommen ist, gibt es noch die mystische Schau. Deren vollkommenes Modell stellt die Entrückung des Paulus dar
[28]. Bei
Dante findet man drei Formen der Glückseligkeit: die der v.a., die den moralischen Tugenden entspricht, die der v.c. entsprechend den intellektuellen Tugenden – die Dante für fast vollkommen hält – und die der Seligen im Himmel
[29]. Gleichwohl nimmt er an anderer Stelle nur zwei Arten der Glückseligkeit («felicitas») an: die sterbliche («mortalis») in der Ausübung der Tugenden und die unsterbliche («immortalis») in der Betrachtung Gottes, die jeweils den zeitlichen und den geistlichen Gewalten zugehörig ist
[30].
Im Bereich des politischen Denkens im Herzen Italiens im 15. Jh. erreicht die Frage nach dem Verhältnis von v.a. und v.c. eine neue Schärfe. In Anknüpfung an die lateinische Tradition bemühen sich die meisten Autoren um eine Synthese zwischen beiden Lebensweisen, beziehen
diese Alternative jedoch auf die zwei Bereiche des Rechts und der Medizin (so etwa
C. Salutati[31]), so daß es tendenziell zu einer Überordnung der v.a. über die v.c. kommt.
Die Denker der Renaissance geben sich jedoch nicht damit zufrieden, gegen das monastische Leben zu opponieren, vielmehr übertragen sie, von
F. Petrarca bis
M. de
Montaigne, dessen Wertschätzung der Einsamkeit auf den Bereich der Laien
[32].
L. Bruni[33] kehrt zum aristotelischen Gleichgewicht zurück, wenn er daran erinnert, daß jede der beiden Lebensformen ihre eigene Stärke hat und daß, wenn die v.c. göttlicher und seltener, so die v.a. doch nützlicher ist. Dies ist eine Synthese beider Wege – vielleicht zum Nachteil des ersteren –, die im Begriff der «vita civilis» gemeint ist, in der sich der Honnête Homme des Humanismus hervortun soll (so etwa bei
M. Palmieri oder
L. B. Alberti[34]). Indem sie ihr den höchsten Platz zuweist, stellt die ‹Platonische Akademie› die Kontemplation unter den Schutz Minervas, während das tätige Leben auf Juno zurückgeführt wird und das Lustleben auf Venus.
M. Ficino nimmt diese Allegorie auf und kommt zu einem plotinischen Begriff der Kontemplation
[35]. Nach Ficino geht die Debatte weiter, besonders bei
C. Landino[36], und zwar zugunsten der v.c.
Die Moderne gibt deutlich der Praxis den Vorzug, wie schon der Aufschwung dieses Begriffs in der Zeit nach Hegel dokumentiert, während die v.c. vielfach als eine Sache der Muße (s.d.) angesehen wird
[37]. Es ist das Verdienst von
H. Arendt, auf die unheilvollen Konsequenzen einer schrittweisen Degradierung («abasement») der v.a. hingewiesen zu haben
[38], die immer mehr jeden menschlichen und politischen Wert verloren hat, so daß sie gegenwärtig auf reine Arbeitsprozesse und Massenkonsum reduziert ist
[39]. Um für die Gliederungen und Unterschiede innerhalb der v.a. – «labor, work, and action» – neu zu sensibilisieren, ist daher nach Arendt der traditionelle Vorrang der v.c. über die v.a. zurückzunehmen
[40].