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Wissenschaftskritik

Wissenschaftskritik 4884 10.24894/HWPh.4884 Michael Anacker
Wissenschaftstheorie und Methodenlehre criticism of science Kulturalismus, methodischer12 965 Vernunftkritik
Wissenschaftskritik (frz. critique de la science). Die W. tritt in der abendländischen Geschichte in einer Vielzahl von Gestalten auf. Als Kritik an der wissenschaftlichen Erkenntnis, an ihrer Möglichkeit, Reichweite, Verläßlichkeit oder Fruchtbarkeit ist sie weder an eine bestimmte Form von Wissenschaft noch an einen bestimmten Wissenschaftsbegriff gebunden. Der Sache nach ist W. so alt wie Wissenschaft selbst und eng mit ihr verbunden, der Terminus ‹W.› ist aber selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. noch selten und etabliert sich erst im 20. Jh. Wichtige Vertreter wissenschaftskritischer Haltungen im 20. Jh. wie etwa M. Heidegger[1] oder L. Wittgenstein[2] kommen ohne ihn aus.
Die moderne W. formiert sich im Anschluß an die Kantische Vernunftkritik wie an die Tradition der Sprachkritik (s.d.). Das nachidealistische Auseinandertreten von Philosophie und Wissenschaft [3] führt zu einer Neubestimmung der Philosophie als Kritik (s.d.), die auch die W. prägt. Philosophie als W., als Kritik am Szientismus (s.d.) verschmilzt im 20. Jh. vielfach mit Formen der Fortschritts-, Gesellschafts-, Kultur- und Zeitkritik.
1. Im Umbruch vom 19. zum 20. Jh. konturiert sich in Auseinandersetzung mit den Beschränkungen, die der Comtesche Positivismus (s.d.) den Wissenschaften auferlegt, eine Strömung der französischen Wissenschaftsphilosophie unter dem Namen «Critique de la science» oder «Nouvelle critique des sciences», zu der Autoren wie A.-A. Cournot, E. Boutroux, H. Poincaré, P. Duhem, J. Wilbois, G. Milhaud und E. Le Roy gehören. Deren Ausrichtung faßt Le Roy in zwei Thesen zusammen: «1° La nouvelle critique est une réaction contre l'ancien positivisme, trop simpliste, trop utilitaire, trop encombré de principes a priori. 2° La nouvelle critique est le point de départ d'un positivisme nouveau, plus réaliste et plus confiant dans les pouvoirs de l'esprit que le premier» [4]. Die kritische Arbeit («travail critique») richtet sich hier auf die Theoriebildung der Wissenschaften, auf die Rolle von Gesetzen und Tatsachen [5] und – sehr deutlich bei Wilbois – auf die Betonung der Rolle der je spezifischen Methode einer Wissenschaft für deren Bestimmung [6]. In Poincarés pragmatischer und konventionalistischer Perspektive zielt die W. darüber hinaus auf die Reichweite und die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis: Indem er die Rolle der Zweckmäßigkeit bei der Hypothesenbildung hervorhebt, schränkt er den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften radikal ein [7].
2. Auch begriffsgeschichtlich wirkmächtig wird E. Husserls W. Sie ist einerseits eine Verteidigung lebensweltlicher Ansprüche gegen eine weltanschauliche Verwissenschaftlichung (s.d.), andererseits aber auch Kritik an einem objektwissenschaftlichen Programm, das die Erkenntnisfunktion der Subjektivität nicht zu ihrem «theoretischen Recht» kommen läßt. Die Orientierung der «ganzen Weltanschauung» an den Wissenschaften hat nach Husserl zu einer Abkehr von den für das «Menschentum» entscheidenden Fragen geführt. Dies manifestiere sich auch durch ein «Zutagetreten von rätselhaften, unauflöslichen Unverständlichkeiten der modernen, selbst der mathematischen Wissenschaften». Die Fragen nach dem Sinn des menschlichen Daseins, nach der Vernünftigkeit menschlichen Handelns fallen aus dem Zuständigkeitsbereich der Wissenschaften und drohen aufgrundder einseitigen Orientierung an den Wissenschaften keiner vernünftigen Beantwortung mehr fähig zu sein [8]. «Radikale W.» ist nach Husserl «eine Kritik am Laufe der ganzen Philosophiegeschichte (welche die Geschichte aller Wissenschaften und den historischen Ursprung der Idee positiver Wissenschaft selbst umspannt) und an der heutigen Gestalt der Wissenschaften – mit ihren hoffnungslosen philosophischen Annexen» [9].
3. In der Perspektive der Kritischen Theorie tritt W. im weiten Horizont der Kritik abendländischer Geschichtsentwicklung besonders als Kritik an einer technologisierten, nutzenorientierten gegenwärtigen Gesellschaft sowie als Ideologiekritik und Kritik der am Empirismus und Positivismus ausgerichteten Wissenschafts- und Erkenntnistheorien auf. Im Anschluß an M. Horkheimer und Th. W. Adorno fokussiert H. Marcuse die W. in der Kritik am eindimensionalen Vernunftbegriff der «advanced industrial society» [10]. An M. Heidegger wie an die Kritische Theorie schließt die ‘postmoderneʼ W. an. M. Foucault hebt den Zusammenhang von Wissenschaft, Macht und gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen hervor [11]. Kritik an einem rein rationalen Verständnis der Wissenschaften ist aber auch in der Tradition des Kritischen Rationalismus [12] selbst entwickelt worden, am radikalsten bei P. K. Feyerabend, der die Demokratisierung der Wissenschaften fordert [13].
4. Die «Konstruktive Wissenschaftstheorie» sieht sich, ausgehend von P. Lorenzens Bemühungen um ein konstruktives Fundament der Mathematik [14], selbst primär als konstruktive W., wobei die Kritik sich zum einen in Abgrenzung vom Kritischen Rationalismus auf eine Rückbesinnung der sprachkritisch orientierten Ansätze zur Wissenschaftsbegründung in der analytischen Philosophie bezieht, zum anderen sich aber auch als «Szientismuskritik ... auf methodische Alternativen, nämlich schrittweise gerechtfertigte Wissenschafts- und Sprachkonstruktionen stützt» [15]. Mit diesem Programm verfolgt sie drei Absichten: 1. die «kritische Beurteilung des faktischen Zustands der Wissenschaften», 2. die Erarbeitung der «methodischen Grundlagen für eine wissenschaftstheoretische Reform» und 3. «die Ausarbeitung von Alternativen zu etablierter Wissenschaftspraxis» [16].
In der neueren Diskussion findet man vor allem den Versuch, die verschiedenen Aspekte der W. zu verbinden, um das Verhältnis von Wissenschaft, Mensch und Gesellschaft neu zu bestimmen [17]. Im Anschluß an den methodischen Konstruktivismus wird es auch im «methodischen Kulturalismus» [18] als ein «Defizit der Wissenschaftstheorie» angesehen, das Kulturprodukt Wissenschaft nicht als Handlung zu verstehen und darum deren normativen Charakter nicht erfassen zu können. Wissenschaftstheorie müsse, um diesen Aspekt zu berücksichtigen, zur W. werden [19].
[1]
Vgl. Art. ‹Wissenschaft III. 6. b)›; K. Gründer: M. Heideggers W. in ihren geschichtl. Zusammenhängen. Arch. Philos. 11 (1962) 312–335.
[2]
Vgl. L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (1921) 4. 11; Vermischte Bemerkungen (1977) 19.
[3]
Vgl. Art. ‹Wissenschaft II.›.
[4]
E. Le Roy: Un positivisme nouveau. Rev. Mét. Morale 9 (1901) 138–153, 140.
[5]
a.O. 142f.
[6]
Vgl. J. Wilbois: La méthode des sciences physiques, a.O. 7 (1899) 579–615, 596f.; Art. ‹Wissenschaftstheorie›.
[7]
Vgl. I. Benrubi: Philos. Strömungen der Gegenwart in Frankreich (1928) 202f.
[8]
Vgl. E. Husserl: Die Krisis der europ. Wiss. und die transz. Philos. § 2 (1936). Husserliana 6 (Den Haag 1962) 3f.
[9]
Erste Philos., Zweiter Teil: Theorie der phänomenolog. Reduktion (1923/24), a.O. 8 (Den Haag 1959) 28.
[10]
H. Marcuse: The one-dimensional man. Studies in the ideology of advanced industrial society (Boston 21964) 172; zur gesellschaftspolit. Kritik an der Wiss. vgl. schon: M. Horkheimer: Bem. über Wiss. und Krise. Z. Sozialforsch. 1 (1932) 1–7.
[11]
Vgl. Art. ‹Wissen VII.›.
[12]
Vgl. Art. ‹Rationalismus, Kritischer›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 49–52.
[13]
Vgl. P. K. Feyerabend: Science in a free society (London 1978); dtsch.: Erkenntnis für freie Menschen (1979).
[14]
P. Janich/F. Kambartel/J. Mittelstrass: Wiss.theorie als W. (1974) 20.
[15]
a.O.
[16]
21.
[17]
Vgl. H. Heuermann: W. Konzepte, Positionen, Probleme (2000) 12.
[18]
Vgl. D. Hartmann/P. Janich: Die kulturalist. Wende. Zur Orientierung des philos. Selbstverständnisses (1998).
[19]
Vgl. M. Weingarten: Wiss.theorie als W. Beiträge zur kulturalist. Wende in der Philos. (1998).
Literaturhinweis. H. Heuermann s. Anm. [17].