Wohlgefallen, interesseloses (engl. disinterestedness; disinterested pleasure; frz. plaisir sans intérêt; désintéressé). Das Kompositum ‹i.W.› ist konstitutiv für die Ästhetik, wie sie sich als eigenständige theoretische Disziplin am Anfang des 18. Jh. zu formieren beginnt und die Erkenntnis des Schönen auf das Gefühl (der Lust)
[1] bzw. auf das Gefallen
[2] zu gründen sucht. Parallel zum Begriff ‹Interesse›, der gegen Ende des 17. Jh. in Frankreich in die poetologische Diskussion über die affektive Teilnahme des Zuschauers am dramatischen Geschehen eingeht
[3], avanciert ‹Interesselosigkeit› zum zentralen Terminus, um den besonderen Gemütszustand in der ästhetischen Kontemplation zu bestimmen, der zugleich Grundlage einer adäquaten Beurteilung des Schönen sein kann
[4].
Vorbereitet wird die Konzeption der ästhetischen Erfahrung als i.W. in Frankreich durch den quietistischen Gedanken des «amour désintéressé»
[5], der selbstlosen Gottesliebe, den Père
André in die ästhetische Sphäre überführt
[6] und den
Ch. Batteux für seine Analyse des Geschmacks fruchtbar macht: «Pour que les objets plaisent à notre esprit, il suffit qu'ils soient parfaits en euxmêmes. Il les envisage sans intérêt»
[7]. Doch als ihr eigentlicher Begründer gilt A. A. C. Lord
Shaftesbury[8]: Er verwendet den Begriff ‹disinterested› im Kontext seiner Moralphilosophie, um gegen Hobbes an einer genuinen Neigung des Menschen zum Wohl der Gattung festzuhalten, die sich von der Selbstbezüglichkeit anderer Affekte unterscheidet
[9]. Ihr Prinzip ist der «moral sense», der auf eine Ausgeglichenheit von Bestrebungen im eigenen und allgemeinen Interesse spontan mit W. reagiert; als ‹uninteressiert› bezeichnet Shaftesbury das W. deswegen, weil es sich – losgelöst «from everything worldly, sensual, or meanly interested» und darin der enthusiastischen Gottesliebe ähnlich – an die ‘schöne Formʼ der Seele knüpft, die die harmonische Ordnung des Kosmos widerspiegelt
[10]. Im Kern enthält seine Lehre vom moralischen Sinn also auch eine der ästhetischen Erfahrung, die
F. Hutcheson ausdifferenziert und zu einer (allerdings ‘sensualistischenʼ) Theorie von einem eigenständigen «sense of beauty» fortentwickelt, der ästhetische Qualitäten ohne die Vermittlung eines theoretischen oder praktischen Interesses als angenehm wahrnimmt
[11].
D. Hume nimmt zwar nicht den Begriff, wohl aber in wirkmächtiger Weise das Motiv der Interesselosigkeit auf, wenn er in der Frage nach der Allgemeingültigkeit von Geschmacksurteilen eine von aller persönlichen Affiziertheit absehende, unparteiliche Beurteilungsperspektive zu deren (idealer) Voraussetzung erklärt; ‘uninteressiertʼ urteilt ihm zufolge nur der erfahrene Kritiker, der einen übergeordneten Standpunkt der Wahrnehmung einzunehmen versteht
[12].
Zwar ist in Deutschland schon bei
G. W. Leibniz die Idee des i.W. präsent («C'est ainsi que la contemplation des belles choses est agreable par elle même, et qu'un tableau de Raphael touche celuy qui le regarde avec des yeux éclairés, quoyqu'il n'en tire aucun profit»
[13]), doch wird der Terminus selbst von
F. J. Riedel geprägt, der – angeregt insbesondere durch die englische «sense of beauty»-Tradition – von einem eigenständigen ästhetischen Gemütsvermögen neben dem Erkennen und Begehren ausgeht, das ohne weitere Absichten und ohne Besitzverlangen Vergnügen am Objekt empfindet: «Fragt man nach dem Probierstein der Schönheit, so ist dieser das aus der Schönheit entspringende und an sich unintereßirte W.»
[14].
M. Mendelssohn folgt ihm in dieser Dreiteilung der Vermögen, doch spricht er, um deren charakteristische Wirkung in der Seele zu beschreiben,
von «ruhigem W.», mit dem das «Billigungsvermögen» auf die Schönheit von Natur und Kunst reagiere
[15]. Unter dem Einfluß von Mendelssohns Vollkommenheitsgedanken entwirft
K. Ph. Moritz eine Theorie des Kunstwerks als etwas «in sich selbst Vollendetes, das also ein Ganzes ausmacht» und aus diesem objektiven Grund «ein höheres und uneigennütziges Vergnügen»
[16] gewährt – ein W., das Züge auch religiöser Erfahrung trägt, wenn Moritz es als «das süße Staunen, das angenehme Vergessen unsrer selbst» charakterisiert
[17].
I. Kant rekurriert in seiner Geschmackslehre auf Riedels Terminologie wie auch auf die der englischen Empfindsamkeit, doch setzt er sich der Sache nach von ihnen ab, wenn er das ästhetische W. ganz aus seiner Beziehung auf die Sinnlichkeit löst und es transzendental begründet
[18]: Das W. am Schönen ist im Unterschied zu demjenigen am Angenehmen und Guten eine Lust «ohne alles Interesse»
[19], d.h. gänzlich «rein» und frei von jeglicher «Beimischung der Reize und Rührungen»
[20]. Folglich knüpft es sich an gar keine bestimmte (materiale) Beschaffenheit des Objekts, sondern ist das «Bewußtsein der bloß formalen Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntnißkräfte des Subjects bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird»
[21], d.h. der Harmonie von Verstand und Einbildungskraft. Solcherart «uninteressiert», ist das W. prinzipiell kein Modus empfangenden Genießens, sondern der Zustand freier, unbestimmter Gemütstätigkeit und darf insofern den Anspruch auf subjektive Allgemeingültigkeit erheben
[22].
F. Schiller, der den Kantischen Autonomiegedanken direkt aufgreift und die ästhetische Kontemplation ebenfalls auf ein «freyes W.» gründet, das «ohne alle Rücksicht auf Besitz, aus der bloßen Reflexion über die Erscheinungsweise» des Schönen entspringt
[23], will den Gedanken des Interesses am Stofflichen gleichwohl nicht preisgeben und prägt die an sich paradoxe Formel vom «uninteressirten Interesse»
[24].
J. G. Herder hält Kants Rede vom i.W., die letztlich für die Vorstellung einer entsinnlichten ästhetischen Erfahrung stehe, schlicht für falsch: «denn nichts kann ohne Interesse gefallen, und die Schönheit hat für den Empfindenden gerade das höchste Interesse»
[25]. Anders
A. Schopenhauer, der Kants Auffassung vom uninteressierten W. folgt, es aber als einen Zustand der Willenlosigkeit bestimmt, in dem das Subjekt für den Augenblick «schmerzlos» ist und «rein objektiv» die Dinge erkennt
[26].
Mit dem sich wandelnden Selbstverständnis der Ästhetik seit dem 19. Jh. verliert der Begriff an Bedeutung
[27]. Zwar greifen Vertreter der «aesthetic attitude»-Ästhetik (
J. Stolnitz) auf den Terminus ‹disinterested› zurück als Bezeichnung für die spezifische Distanziertheit der ästhetischen Einstellung
[28] und sehen in Shaftesbury einen ihrer Vorläufer, doch wird von seiten der analytischen Ästhetik (
G. Dickie) bezweifelt, ob man überhaupt sinnvoll von einer ästhetischen Einstellung im Sinne einer ‘Interesselosigkeitʼ sprechen könne
[29]. Auch für die psychologische Ästhetik, die die besonderen Prozesse des ästhetischen Erlebens untersucht, wird der Begriff obsolet: «Es haben sich sehr viel kompliziertere und dynamischere Vorgänge ergeben, als mit der alten Bestimmung des i.W. oder des reinen Anschauungswertes mit Forderungscharakter gedeckt werden kann»
[30]. Die marxistische Ästhetik vermag im i.W. ohnehin nur ein Signum für die Entfremdung des Subjekts zu erkennen
[31], während
P. Bourdieu seine soziale Bedingtheit herausstellt: Es kennzeichne die kulturelle Einstellung der bürgerlichen Klasse und deren Anspruch, sich
von der ‘vulgären Sinnlichkeitʼ der Angehörigen unterer Schichten unterscheiden und distanzieren zu wollen
[32]. Gleichwohl spielt das i.W. auch in der gegenwärtigen Ästhetik eine wichtige Rolle. Bei aller kontroversen Beurteilung der Struktur wie der Bedeutung der ästhetischen Erfahrung wird deren Eigenart gerade darin gesehen, daß die Betrachtung eines Gegenstandes hier für sich selbst lohnend ist und nicht im Dienst unmittelbarer Zielsetzungen steht.