Germanistik in der Schweiz 

Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt

GiS Band 17Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt10.24894/1664-2457.00014 01.04.2021Germanistik in der Schweiz Band 17:110-116Ulrich Weber, Rudolf Probst110 Berichte aus dem SLA Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt Ulrich Weber, Rudolf Probst Was im Mai 2021 als Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt in fünf schmucken, reich illustrierten Bänden1 und parallel und ergänzend dazu in einer online-Edition2 erscheint, geht auf eine lange Entstehungsgeschichte zurück, wie unter anderem ein Beitrag in der gleichen Zeitschrift vor acht Jahren bezeugt.3 Dass sich im Verlaufe der Planung und Realisierung grösserer Editionsprojekte die Standards entwickeln und wandeln, gehört traditionell zu deren unausweichlicher Crux, hat sich jedoch mit dem Aufkommen der Digital Humanities in atemberaubender Weise gesteigert. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Stoffe-Projekts kann exemplarisch für die Herausforderungen und Möglichkeiten einer Hybrid-Edition heute gelten und zugleich als Reflex der Dynamik, die in den letzten 30 Jahren die Felder Archiv, Text und Edition erfasst hat. I. Digitales Archiv – Digitale Edition Wie ediert man heute Nachlass-Manuskripte? Grundlegendes und nach über zehn Jahren trotz aller technischen Veränderungen nach wie vor Gültiges zum Verhältnis von digitalem Archiv und digitaler Edition hat Patrick Sahle 2007 formuliert.4 Er geht davon aus, dass sich das Verhältnis von Archiv und Edition durch die Digitalisierungsprozesse nicht nur äusserlich, sondern im Kern verändert. Archiv und Edition sind im digitalen Bereich «zwei Begriffe, die scheinbar strikt getrennte Konzepte markieren», die jedoch «so sehr in Bewegung geraten können, dass sie sich nicht nur aufeinander zu bewegen, sondern dass es letztlich Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Textgenetische Edition in fünf Bänden. Zürich 2021. Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Online-Präsentation. Hg. von Rudolf Probst und Ulrich Weber. Online unter: www.fd-stoffe.ch [freigeschaltet ab Mai 2021]. 3 Ulrich Weber: Vernetzungen. Die textgenetische Edition des ‹Stoffe›-Projekts von Friedrich Dürrenmatt im Umfeld anderer Nachlass-Editionen, in: Germanistik in der Schweiz, Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik, 9, 2012, S. 79–90. Vgl. auch die erste Ankündigung des Projekts: Ulrich Weber, Rudolf Probst: «Das ist natürlich ein ziemliches Abenteuer». Zur genetischen Edition von Friedrich Dürrenmatts «Stoffen», in: Stéphanie Cudré-Mauroux, Annetta Ganzoni, Corinna Jäger-Trees (Hgg.): Vom Umgang mit literarischen Quellen. Internationales Kolloquium vom 17.–19. Oktober 2001, Genf und Bern 2002, S. 219–237. 4 Patrick Sahle: Digitales Archiv – Digitale Edition. Anmerkungen zur Begriffsklärung, in: Michael Stolz (Hg.): Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien, Zürich 2007, S. 64–84. Zitiert nach online-Version als PDF: http://patrick-sahle.de/publications.html [15. 11. 2020]. 1 2 GiS 17/2020, 110–116 Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt schwierig wird, überhaupt noch eine klare Grenze zwischen den beiden Ansätzen zu bestimmen.» (6.) Im digitalen Bereich erscheint das Archiv als «die Sammlung jener Repräsentationsformen von Dokumenten, die für die Erarbeitung einer digitalen Edition von Bedeutung sind. Es ist das Fundament und jener Informationspool, aus dem die Edition hergestellt wird.» (7.4.) Wo nicht mehr das gedruckte Buch die einzige Form ist, in der der Text ans Publikum gelangt, wird der Begriff der Publikation vieldeutig: «Die Grenze zwischen dem abgeschlossenen Archiv und den öffentlichen Publikationsmedien verschwindet. Das digitale Archiv ist – z. B. als Internet-Angebot – bereits eine Form von Veröffentlichung.» (7.6.) Nicht nur die äusserlichen Erscheinungsformen unterscheiden sich mit dem Aufkommen digitaler Publikationsformate, auch das Textverständnis zielt nicht mehr auf den einzig richtig edierten Text in der Edition: Nach dem Textbegriff der Druckkultur ist die Edition die perfekte und endgültige Realisierung eines Textes. Nach dem Textbegriff der digitalen Kultur ist die Edition (1.) die Sammlung und Wiedergabe von Dokumenten, die zu einem Text gehören, (2.) die Setzung einer Ordnungsstruktur, (3.) die Anlagerung von kritischem Wissen des Editors, (4.) die Bereitstellung eines temporären Interfaces zur Benutzung der Edition und sie enthält (5.) eventuell einen qualifizierten Lese- und Deutungsvorschlag. (9.10.) Das soll jedoch nicht zu einer Vervielfältigung der Textgrundlagen führen, sondern meint eine Vielfalt der Textausgabeformate der gleichen Grunddaten: Der digitale Text ist vom Prinzip her eine potentiell komplex und vielschichtig strukturierte Datensammlung. Aus dieser werden algorithmisch beliebige Textformen für verschiedene Zielmedien und intendierte Benutzer generiert. Die gleichen Daten werden nach Bedarf für eine Druckausgabe, für ein PDF-Dokument oder für eine Online-Präsentation in HTML ausformatiert – u. U. auch mit unterschiedlichen Funktionalitäten und unter Nutzung unterschiedlicher Ausdruckskanäle der einzelnen Publikationsformen. (…) Der richtige Text ist eine Funktion der Fragestellung. (9.12.) Diese Prinzipien – fliessende Grenzen zwischen digitalem Archiv und Edition, Vervielfältigung der Publikationsformate, Einheitlichkeit der Datengrundlagen – liegen auch der Edition des Stoffe-Projekts zugrunde. Die Online-Zugänglichkeit des digitalen Archivs, mithin der Quellentexte, hat eine weitere Konsequenz: Die hohe Kunst der textkritischen Darstellung und ihrer oft komplexen Siglen verliert einiges von ihrem Stellenwert; Transkription wird in einer textgenetischen Edition ein Hilfsmittel zur Lesbarkeit der Dokumente, die jederzeit als digitale Reproduktionen zur Überprüfung zur Verfügung stehen. Wie diese Voraussetzungen in der Edition des Stoffe-Projekts konkret umgesetzt wurden, soll in der Folge erläutert werden. GiS 17/2020, 110–116 111 112 Ulrich Weber, Rudolf Probst II. Die Stoffe-Manuskripte im Dürrenmatt-Nachlass und das Editionsprojekt Am Anfang stand die Erschliessung des Nachlasses von Friedrich Dürrenmatt, der 1991 dem neu gegründeten Schweizerischen Literaturarchiv übergeben wurde. In den 1990er Jahren entstand das Inventar der Manuskripte im Dürrenmatt-Nachlass. Heute ist es in einer Datenbank und in strukturierten und codierten HTML-Listen online zugänglich: https://ead.nb.admin.ch/html/fda. html. Einer der Funde im Bestand des Dürrenmatt-Nachlasses war die ungeheure Menge der Manuskripte zum Projekt der Stoffe, das der Autor in zwei Bänden 1981 und in seinem Todesjahr 1990 (Labyrinth: Stoffe I–III und Turmbau: Stoffe IV–IX) als «Geschichte [s]einer Schriftstellerei» publiziert hatte.5 Das Projekt der Stoffe als ein Textkomplex, der Autobiographie, Fiktion und Essayistik verschränkt, war bereits bei seinem Erscheinen als kapitales Spätwerk Dürrenmatts gewürdigt worden.6 Im Spiegel der Manuskripte erwies sich das Stoffe-Projekt als Schreibprozess von über 20 Jahren Dauer, im Verlaufe dessen sich rund 30’000 Manuskriptseiten akkumulierten,7 und als eigentliches Rückgrat des Spätwerks, das vom Erinnerungsgestus her etwa auch Texte wie den Mitmacher-Komplex und den Israel-Essay Zusammenhänge, aber auch verschiedene Preisreden, den Roman Durcheinandertal und periphere autobiographische Texte wie Vallon de l’Ermitage umfasst. Die vertiefte Beschäftigung mit diesem Manuskriptgebirge war vor allem durch die Beobachtung motiviert, dass sich mit dem Projekt ein fundamentaler Wandel im Schreiben des weltbekannten Autors von Komödien und Kriminalromanen vollzog, wobei die Textgenese und der Schreibprozess im Selbstverständnis des Autors einen neuen poetischen Vgl. z. B. Ulrich Weber: Dürrenmatts Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv, in: Schweizerisches Literaturarchiv, Kunsthaus Zürich (Hg.): Friedrich Dürrenmatt: Schriftsteller und Maler, Zürich 1994, S. 308–310. 6 Vgl. etwa die Rezensionen von Klara Obermüller in Die Weltwoche vom 4. November 1981, von Friedrich Luft in der Buch-Beilage zu Die Welt am 2. Oktober 1990 und Arnd Rühle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. Dezember 1990, sowie Dieter Bachmann: Mein Jahrhundertbuch: «Stoffe» von Friedrich Dürrenmatt, in: Die Zeit, 27. 5. 1999. 7 Der Begriff «Manuskripte» ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen: Neben den handschriftlichen Manuskriptseiten von Dürrenmatts Hand (er schrieb nach seinem ersten Herzinfarkt 1969 nur noch von Hand) zählen wir dazu auch die zahlreichen, von F. D.s Sekretärinnen erstellten Reinschriften auf Typoskriptseiten und die daraus wiederum entwickelten Arbeitsfassungen mit Dürrenmatts handschriftlichen Überarbeitungen. Ab Mitte der 1980er Jahre vollzog sich der Schreibprozess mit einem IBM-Computer und einem frühen Textverarbeitungsprogramm; neben den – teilweise handschriftlich überarbeiteten – Ausdrucken sind auch digitale Dateien auf Floppy-Disks erhalten. Die Zahl der Manuskriptseiten zum Stoffe-Projekt musste im Verlauf der genauen Erfassung und Digitalisierung wiederholt nach oben korrigiert werden. Nicht in der Zählung enthalten sind die digitalen Dateien sowie verwandte, aber nicht direkt integrierte Textkonvolute wie etwa die Manuskripte zum Mitmacher-Komplex, zum Essay Zusammenhänge oder zum Roman Durcheinandertal (ab dem Punkt der Verselbständigung aus dem Stoffe-Projekt). 5 GiS 17/2020, 110–116 Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt Stellenwert gewann. Nicht mehr der souveräne Demiurg, der seine Figuren allmächtig in Fallen und Abgründe lenkt, sondern einer, der sich selbst im Labyrinth seines Werks verirrt, tritt uns hier entgegen: Indem ich meine alten Fabeln aufgriff, griff ich mich selber auf, allzusehr bin ich mit meinen Stoffen verwoben und in sie eingesponnen. Mein Irrtum, mein Schreiben sei dem gewachsen. Allzu leichtfertig tastete ich mich durch diese Gedankengespinste. Ungestraft gerät keiner ins Labyrinth seiner selbst: Ich stand und stehe immer wieder mir und doch nicht mir gegenüber, mich von einem Gespinst in ein anderes verirrend.8 Es ist hier nicht der Ort, die poetische Dimension und die Relevanz von Dürrenmatts Stoffen im Kontext seines eigenen Werks wie der Autobiographie-Geschichte und der deutschsprachigen Erzählprosa des späten 20. Jahrhunderts näher zu bestimmen. Es mag der Hinweis genügen, dass es entgegen der gängigen Publikumsresonanz zunehmend als zentraler Werkkomplex in Dürrenmatts Schreiben erkannt wird und in seiner Modernität und Vielschichtigkeit über Dürrenmatts Erfolgswerke der 1950er und frühen 1960er Jahre hinausführt.9 Der Manuskriptbestand zum Stoffe-Komplex wurde im Rahmen von Forschungsprojekten im Schweizerischen Literaturarchiv über die archivalische Verzeichnung hinaus textgenetisch erschlossen.10 Zum einen enthält dieser Bestand unzählige Überarbeitungsvarianten, die das allmähliche Reifen, aber auch Umdeuten und Umschreiben des zuletzt Publizierten dokumentieren. Dies wird hier in einem separaten Beitrag von Angela Moser am Beispiel des Stoffs Das Hirn exemplifiziert und dokumentiert.11 Zum andern finden sich im Konvolut über die von Dürrenmatt publizierten Fiktionen hinaus weitere Stoffe in unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad, sei es die Skizze Die Schachspieler um mordende Richter und Staatsanwälte, die Sciencefiction-Geschichte Der Versuch mit einer Perspektive des Rückblicks auf unsere Gegenwart aus dem Jahr 10‘000, oder die grotesken Parabeln Die Dinosaurier und das Gesetz oder Die Virusepidemie in Südafrika. Hinzu kommen all die alten Stoff-Fragmente wie das fragmentarische Turmbau-Stück von 1948 oder die Ärzte-Geschichte Transplantationen aus den 1960er Jahren, deren «Rekonstruktion» Dürrenmatt im Verlauf Friedrich Dürrenmatt: Stoffe-Manuskript, Signatur SLA-FD-A-a43 VII, fol.2 f. Vgl. dazu Rudolf Probst und Ulrich Weber: Das Stoffe-Projekt. In: Ulrich Weber, Andreas Mauz und Martin Stingelin (Hgg.): Friedrich Dürrenmatt-Handbuch, Berlin 2020, S. 166–180. 10 Vgl. die Schlussberichte in der SLA-Dürrenmatt-Dokumentation: Gemeinschaftsprojekt Universität Bern – Schweizerisches Literaturarchiv: Exemplarische Untersuchung zur Genese von Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Lichte der Manuskriptentwicklung. Zweiter Teil: Die späten Stoffe (1999) und Gemeinschaftsprojekt Universität Bern – Schweizerisches Literaturarchiv: Exemplarische Untersuchung zur Genese von Friedrich Dürrenmatts Spätwerk im Lichte der Manuskriptentwicklung. Dritter Teil: Die späten Stoffe II (2000). 11 Siehe dazu Angela Moser: Die Welt als Imagination. Eine textgenetische Analyse zu Friedrich Dürrenmatts Stoff IX, Das Hirn in dieser Ausgabe. 8 9 GiS 17/2020, 110–116 113 114 Ulrich Weber, Rudolf Probst der Arbeit an der Geschichte seiner Schriftstellerei in Erwägung zog, allerdings nur zum Teil umsetzte. Wie wird aus einem textgenetischen Korpus eine Edition generiert? Dass in einer Druckausgabe sinnvoll nur eine Auswahl publiziert werden konnte, war eine Voraussetzung des ganzen Editionsprojekts: Zu gross ist der Umfang, zu stark der Wiederholungscharakter, der sich durch die unzähligen, weitgehend vollständig dokumentierten Überarbeitungsschritte ergibt. Eine Hybridedition mit einer digitalen Komponente war von Anfang an vorgesehen, wenn sich auch deren Charakter im Verlaufe des Editionsprojekts grundlegend veränderte. War beim Projektvorschlag von 2003 für die Edition im Diogenes Verlag zunächst an eine beiliegende CD-ROM gedacht, auf der komplette Transkriptionen von Manuskriptfassungen gespeichert werden sollten, die in der Druckausgabe nur in Auszügen publiziert würden, so führte die Entwicklung der Digitalisierung und der Speichermöglichkeiten 2011 zur Option einer DVD mit weiterem Tonund Filmmaterial, das die Bedeutung des mündlichen Erzählens für Dürrenmatts Arbeitsprozess dokumentiert, weiter zur Entscheidung für einen OnlineZugang statt eines beigelegten Datenspeichers, und schliesslich 2015 zur Entscheidung, das gesamte Manuskriptmaterial in der Schweizerischen Nationalbibliothek zu digitalisieren12 und zugänglich zu machen. Die Digitalisierung wurde von 2016 bis 2018 realisiert. Damit entstand das eigentliche «Digitale Archiv» mit der Gesamtheit der für die geplante Edition zu berücksichtigenden Manuskripte in Form digitaler Bilder, bezeichnet mit den Signaturen der Nachlass-Erschliessung im Schweizerischen Literaturarchiv. Mit der Präsentation des gesamten ‹Datenpools›, der der Auswahledition zugrunde liegt, auf der Webseite der Edition (Bereich «Archiv») ist die Überprüfbarkeit sowohl der Auswahl als auch der editorischen Aufbereitung, insbesondere der Transkription, gewährleistet. Damit signalisieren die Herausgeber zugleich, dass ihre Auswahl und editorische Präsentation nicht als die alleingültige verstanden wird, sondern als eine Auswahl und Darstellung unter vielen möglichen. Alle digitalisierten Manuskripte sind durch archivalische Metadaten erschlossen. Teile dieses digitalen Archivs wurden editorisch aufbereitet durch Transkription, XML-Codierung13 und Kommentar in Sachanmerkungen. Diese Daten bilden die Grundlage sowohl für die Online-Präsentation des Textmateri- Die Manuskripte wurden vom Fotoatelier der Schweizerischen Nationalbibliothek hochauflösend digital fotografiert und für die Online-Präsentation auf ein leichteres Bildformat heruntergerechnet. 13 Aufgrund der langen Projektgeschichte wurden die Textdaten nicht im TEI-Standard codiert, da dieser in den Frühphasen zu wenig differenziert für die Zwecke der vorliegenden Textedition war. Eine Konversion des eigenen XML-Codierungssets in TEI-Standards nach Abschluss der Arbeit für die Langzeitsicherung ist geplant. 12 GiS 17/2020, 110–116 Vom Archiv zur Edition: Die textgenetische Hybrid-Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffe-Projekt als als auch für die Druckausgabe. So ist die Kohärenz der beiden Editionsformate gewährleistet. III. Was bieten Druckausgabe und Online-Plattform? Die Druckausgabe der genetischen Edition des Stoffe-Projekts besteht aus 4 Textbänden sowie einem Kommentar- und Dokumentationsband. Die Bände 1 und 3 bieten eine Auswahl der genetischen Textstufen und präsentieren damit einen Leseweg durch die Genese: Band 1 dokumentiert die Entwicklung ab Mitte der 1960er-Jahre in verschiedenen Manuskriptfassungen bis zur Publikation des ersten Stoffe-Bandes im Jahr 1981. Band 3 dokumentiert die Entwicklung in den 1980er Jahren bis zu Dürrenmatts Tod 1990 – Dürrenmatts Schreibprozess führte noch über den im gleichen Jahr publizierten Band Turmbau: Stoffe IV-IX hinaus, was den Charakter des unabschliessbaren Schreibprozesses unterstreicht. Die Bände 2 und 4 unserer Edition bieten die von Dürrenmatt zu Lebzeiten publizierten beiden Stoffe-Bände Labyrinth und Turmbau, erweitert um eine archivbezogene Dokumentation, die zum einen biographische und künstlerische Dokumente enthält, auf die sich Dürrenmatt in seinen autobiographischen Texten bezieht, zum andern – soweit erhalten – jene frühen Fragmente, die er in der «Geschichte [s]einer Schriftstellerei» wieder aufgreift und ‹rekonstruiert›. Band 5 enthält Aufsätze zur Poetik der Stoffe und zur Textgenese, die Darstellung der editorischen Grundsätze, eine Einführung in die Online-Edition, weitere Chroniken, die Dürrenmatts Biographie und deren autobiographische Darstellung abgleichen sowie den Prozess der Textgenese und die damit verbundene Lektüre Dürrenmatts dokumentieren. Weiter enthält der Band die Sachanmerkungen zur ganzen Edition sowie die Register. Die im open access zugängliche, wenn auch urheberrechtlich geschützte Online-Plattform enthält sowohl das gesamte digitale Archiv der Stoffe-Manuskripte als auch die elektronische Version der Ausgabe in fünf Bänden. Die Plattform präsentiert sich in drei Hauptabteilungen bzw. -zugängen: Text, Archiv und Genese. Die Abteilung Text präsentiert den Inhalt der gedruckten Edition in textidentischer Fassung, wobei die Verweise der Druckausgabe und Anmerkungen als Hyperlinks funktionieren, so dass eine erleichterte Navigation besteht. Die Abteilung Archiv enthält das komplette Manuskript-Archiv in der Anordnung und mit den Signaturen des Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in digitalen Abbildungen in guter Auflösung, so dass auch Details der Manuskripte überprüfbar sind. Die maschinenschriftlichen Reinschriften sind zudem als OCR-codierte PDFs abgelegt, in denen Volltextrecherchen möglich sind. Weiter wurde über die Edition hinaus ein Teil dieser 30’000 Manuskriptseiten als Text transkribiert und codiert und ist damit auch mit den RegisterbeGiS 17/2020, 110–116 115 116 Ulrich Weber, Rudolf Probst griffen recherchierbar. Der Anteil der transkribierten und codierten Manuskripte ist durchaus ausbaubar, so dass in diesem Bereich tendenziell ein dynamischer Transformationsprozess vom Archiv zur Edition stattfinden kann. Weiter finden sich im Bereich Archiv Ton- und Filmdokumente mit Interviews, Lesungen und mündlichen Erzählungen des Autors aus dem Kontext der Stoffe. Der Bereich Genese enthält stemmatische Darstellungen sowie die verschiedenen Chroniken aus Band 5, die hier zu einer Timeline zusammengefasst sind, in der die Entstehung der Stoffe in chronologischer Abfolge und die damit zusammenhängenden biographischen Daten verzeichnet sind. Insgesamt ist es das Ziel der Hybrid-Edition des Stoffe-Projekts, auf pragmatische Weise die verschiedenen Bedürfnisse an eine Leseausgabe in Auswahl, an eine textgenetische Edition auf kritischer Grundlage sowie an die Möglichkeit einer vertieften Archivrecherche zu verbinden. GiS 17/2020, 110–116