Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 

Auf Augenhöhe mit den Grossmächten

SZG Band 69Auf Augenhöhe mit den Grossmächten10.24894/2296-6013.00039 01.08.2019Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Band 69:254-281Niko RohéKurzbeschreibung On Equal Footing with the Great Powers: Swiss Military Attachés as Wartime Observers in 1897 in Greece and the Ottoman Empire In the 1890s, the arms race between the Great Powers alarmed the military in Switzerland and sparked lively debates about the future orientation of the army. In this context, military events elsewhere seemed a valuable source of inspiration. Thus, when a brief war broke out between Greece and the Ottoman Empire in 1897, the Swiss general staff sent more official observers to the battlefield than any other army. This article investigates why Swiss officers were so invested in a military theater in distant Thessaly. By examining the linkages between the Swiss Confederation and the ‘Orient’, the present article shows how military professionals contributed to Switzerland’s global entanglement. It thereby extends recent research on Swiss global connections during the ‘long 19th century’, which has thus far mostly concentrated on the foreign engagement of civilian actors. While Switzerland’s neutrality and lack of international representation made it difficult to carry out the missions, transnational networks and interactions helped Swiss military attachés during their journeys. Through the analysis of the actors’ comparisons, the final part of the paper demonstrates how Swiss officers used their observations of foreign battlefields to give voice to their political views, both in national debates and in international military competitions. Auf Augenhöhe mit den Grossmächten: Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und im Osmanischen Reich 1897 Niko Rohé On Equal Footing with the Great Powers: Swiss Military Attachés as Wartime Observers in 1897 in Greece and the Ottoman Empire In the 1890s, the arms race between the Great Powers alarmed the military in Switzerland and sparked lively debates about the future orientation of the army. In this context, military events elsewhere seemed a valuable source of inspiration. Thus, when a brief war broke out between Greece and the Ottoman Empire in 1897, the Swiss general staff sent more official observers to the battlefield than any other army. This article investigates why Swiss officers were so invested in a military theater in distant Thessaly. By examining the linkages between the Swiss Confederation and the ‘Orient’, the present article shows how military professionals contributed to Switzerland’s global entanglement. It thereby extends recent research on Swiss global connections during the ‘long 19th century’, which has thus far mostly concentrated on the foreign engagement of civilian actors. While Switzerland’s neutrality and lack of international representation made it difficult to carry out the missions, transnational networks and interactions helped Swiss military attachés during their journeys. Through the analysis of the actors’ comparisons, the final part of the paper demonstrates how Swiss officers used their observations of foreign battlefields to give voice to their political views, both in national debates and in international military competitions. Einleitung1 Im Frühjahr 1897 berichteten Journalisten aus aller Welt aus einem kurzen Krieg zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich. Unter ihnen war auch der Zeitungskorrespondent Carl Adolf Fetzer, der den Feldzug für den Berliner Lokalanzeiger verfolgte. In seiner Buchpublikation, in der er ein Jahr später die Erlebnisse bündelte, findet sich eine Fotografie der europäischen Militärattachés im osmanischen Generalstab.2 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 «Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern.» Ich danke Angelika Epple, Michael M. Olsansky, Philipp Schulte und den anonymen GutachterInnen der SZG für ihre hilfreiche Kritik und die wertvollen Kommentare. 2 Carl Adolf Fetzer, Aus dem thessalischen Feldzug der Türkei Frühjahr 1897. Berichte und Erinnerungen eines Kriegskorrespondenten, Stuttgart/Leipzig 1898, S. 155. Die Aufnahme ist vermutlich ein Abzug der am 23. Mai 1897 entstandenen Fotografie. Vgl. Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E27 12584, Bd. 4a, Journal de la Mission militaire suisse à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai-17 Juin 1897, 1897, 23. Mai 1897. 1 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 | Artikel / Articles / Articoli Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 Abb. 1: Die Militärattachés im Griechisch-Türkischen Krieg aus (stehend v. links) Norwegen, Frankreich, Deutschland, Schweiz, (sitzend v. links) Serbien, Schweiz, Schweiz und Österreich. Quelle: Carl Adolf Fetzer, Aus dem thessalischen Feldzug der Türkei Frühjahr 1897. Berichte und Erinnerungen eines Kriegskorrespondenten, Stuttgart/Leipzig 1898, S. 155. Neben Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Norwegen und Serbien, die jeweils einen Beobachter entsandt hatten, waren drei der acht abgebildeten Personen Schweizer. Die Eidgenossenschaft hatte damit ebenso viele Militärs in offizieller Mission in das osmanische Hauptquartier geschickt wie die europäischen Grossmächte zusammen.3 Dieses Verhältnis wirft Fragen auf: Wie lässt sich das offensichtlich grosse Interesse der Schweizer Offiziere am griechischtürkischen Krieg erklären? Worauf zielten ihre Beobachtungen und welche Schlüsse zogen sie aus dem Krieg? Die Forschung hat den Auslandsaktivitäten von Schweizer Militärs Ende des 19. Jahrhunderts bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt.4 Obwohl HistoriFetzer zufolge hatten weder Grossbritannien noch Russland Attachés im osmanischen oder griechischen Generalstab. Er vermutete jedoch zahlreiche informelle Beobachter. Fetzer: Aus dem thessalischen Feldzug, S. 171. 4 Am nächsten an die Beobachtermissionen von 1897 kommt David Rieders Biografie zu Fritz Gertsch, die dessen Beobachtermission im Russisch-Japanischen Krieg behandelt. Vgl. David Rieder, Fritz Gertsch. Enfant terrible des schweizerischen Offizierskorps, Zürich 2009. 3 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 255 256 Niko Rohé kerinnen und Historiker in jüngster Zeit ein vermehrtes Interesse an den globalen Aktivitäten von Akteuren aus der Alpenrepublik zeigten, beschränkte sich ihr Blick zum Grossteil auf zivile Professionen.5 Selbst bei der Militärgeschichte sind die Schweizer Auslandsmissionen vor 1900 noch weitgehend unbeschrittenes Terrain.6 Das vom Militärhistoriker Michael Olsansky geleitete Forschungsprojekt an der ETH Zürich verspricht zwar für die Zeit des Ersten Weltkriegs neue Erkenntnisse, die Zeit vor 1914 riskiert in diesem Zuge allerdings aus dem Blick zu geraten. Die umfangreichen Überlieferungen zu den Schweizer Missionen von 1897, die im Zentrum der nachfolgenden Analyse stehen, bieten exemplarische Einblicke in die geschichtlichen Rahmenbedingungen, individuellen Motivationen und Schwierigkeiten von Schweizer Beobachtermissionen. Indem der vorliegende Beitrag nach den Auslandsaktivitäten von Militärs der Eidgenossenschaft fragt, erweitert er darüber hinaus das historische Wissen über die globalen Aktivitäten und Vernetzungen von professionellen Akteuren aus der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg.7 Die Untersuchung folgt den Schweizer Militärmissionen in Griechenland und im Osmanischen Reich mit einem mikrogeschichtlichen Fokus und untersucht ihre Reise-, Beobachtungs- und Vergleichspraktiken: Worin liegt der Erkenntniswert einer solchen Perspektive? Die detaillierten Marschtagebücher, Berichte und Briefe geben Einblick in die Organisation der Reisen, ihren Verlauf und die dabei genutzten Kontakte und Unterstützungen; so werden inter- und transnationale Verbindungen der Schweiz über ihre Nachbarstaaten hinaus sichtbar. Was die professionellen Akteure beobachteten und wie sie es verglichen, das heisst, welche Kriterien und Referenzen sie auswählten, kann darüber hinaus erklären, worin für sie die Relevanz des Kriegs bestand. Akteure setzten über Vergleiche jedoch nicht nur Räume in Relation,8 sie dienten auch der In den letzten Jahren sind einige Beiträge zur globalen Geschichte der Schweiz bzw. von SchweizerInnen erschienen. Einen guten Forschungsüberblick liefert Christof Dejung, Jenseits der Exzentrik. Aussereuropäische Geschichte in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 64/2 (2014), S. 195–209. 6 Michael Olsansky stellte diese Forschungslücke zuletzt für die Zeit des Ersten Weltkriegs heraus. Vgl. Michael Olsansky, «Geborgte Kriegserfahrungen»: Kriegsschauplatzmissionen schweizerischer Offiziere und die schweizerische Taktikentwicklung im Ersten Weltkrieg, in: ders., Rudolf Jaun, Sandrine Picaud-Monnerat, Adrian Wettstein (Hg.), An der Front und hinter der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder, Baden 2015, S. 114–127, hier S. 116. Olsansky weist darauf hin, dass es zwischen 1914 und 1918 86 Militärmissionen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gab, an denen ca. 200 Offiziere teilnahmen. 7 Der vorliegende Aufsatz steuert so auch etwas zur von Daniel Marc Segesser eingeforderten transnationalen Perspektivierung der Schweiz bei. Daniel Marc Segesser, Nicht kriegführend, aber doch Teil eines globalen Krieges. Perspektiven auf transnationale Verflechtungen der Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63/3 (2013), S. 364–381. 8 Angelika Epple hat in diesem Zusammenhang die relationierende Wirkung des Vergleichens herausgearbeitet, d. h. den Umstand, dass Akteure über Vergleiche Beobachtungen de- und re-kontextualisieren. Angelika Epple, Doing Comparisons. Ein praxeologischer Zugang zur Geschichte der Globalisierung/en, in: dies., Walter Erhart (Hg.), Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, 5 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 Selbstverortung, etwa in nationalen Militärdebatten oder im internationalen Wettbewerb um militärische Überlegenheit.9 Die Bedeutung dieser Praktiken zeigt sich besonders in den Abschlussberichten, welche die Entsandten unmittelbar nach Kriegsende verfassten. Die praxeologische Untersuchung der Beobachtungsmissionen verspricht neue Erkenntnisse darüber, wie militärische Akteure zu den transnationalen Verflechtungen und den internationalen Beziehungen der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts beitrugen. Aus diesen theoretisch-methodischen Überlegungen resultiert der folgende Aufbau des Aufsatzes: Ein erster Teil führt in den geschichtlichen Kontext ein und erläutert die historischen Verbindungen der Schweiz zur Konfliktregion. Der zweite Teil blickt auf das grosse Interesse von Schweizer Offizieren an dem fernen Krieg. Er verdeutlicht anhand institutioneller Korrespondenzen, welche Chancen und Risiken Schweizer Armeeführer in der Entsendung von Beobachtern in die Welt erkannten, bevor ein kurzer dritter Teil thematisiert, wie sehr das Schweizer Vorhaben auf internationaler Ebene von der Kooperation mit den europäischen Grossmächten abhing. Der vierte Teil wendet sich den Akteuren zu, insbesondere den (Inter‐)Aktionen ihrer Reisen. Ihre Beschreibungen von Kontakten und Kooperationen zeigen, wie sich die Schweizer Emissäre auf der interkulturellen und transnationalen Ebene verorteten. Der fünfte und letzte Teil blickt in die Abschlussberichte der Missionen und erklärt, was die darin gesammelten Beobachtungen und Lehren über die Positionierung der Akteure selbst verraten. In der abschliessenden Zusammenführung der Ergebnisse bieten sich neue Erkenntnisse zur globalen Verortung von Schweizer Militärs Ende des 19. Jahrhunderts. Der griechisch-türkische Dualismus im 19. Jahrhundert und die Rolle der Schweiz Der Krieg zwischen Griechenland und der Türkei beruhte auf einem langen Antagonismus der beiden Staaten, der sich durch das gesamte 19. Jahrhundert zog und in dem Schweizer Vertreter früh aktiv Partei ergriffen. Wie in vielen europäischen Staaten gründeten sich in Bern, Lausanne, Genf und Zürich während des griechischen Befreiungskriegs gegen den Sultan in Konstantinopel Frankfurt am Main 2015, S. 161–202. Vgl. ebenfalls: Shu-mei Shih, Comparison as Relation, in: Rita Felski und Susan Stanford Friedman (Hg.), Comparison, Baltimore 2013, S. 79–98. 9 Auf die zentrale Funktion des Vergleichens in Situationen der Konkurrenz hat der Soziologe Tobias Werron hingewiesen. Tobias Werron, Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der «Soziologie der Konkurrenz», in: Tyrell Hartmann, Otthein Rammstedt, Ingo Meyer (Hg.), Georg Simmels grosse «Soziologie». Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld 2011, S. 227–258. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 257 258 Niko Rohé 1821–1826 philhellenische Vereine.10 Sie versorgten zunächst Kriegsfreiwillige aus Europa auf dem Weg nach Griechenland, unterstützten den griechischen Freiheitskampf jedoch bald auch mit Spenden. Der Konflikt im «Orient» war für liberal-nationale Kreise ein Sinnbild des Widerstands gegen die restaurative Ordnung in Europa nach 1815. Das Comité Grec de Genève nahm dabei ab 1826 bei der Verteilung Schweizer Spenden eine Führungsrolle ein. Nach dem Sezessionskrieg gegen das Osmanische Reich hatte die junge Regierung in Athen auf der Suche nach Geldgebern Antwort aus der Schweizer Stadt erhalten. Jean-Gabriel Eynard, ein erfolgreicher Financier aus einer Genfer Kaufmannsfamilie und eidgenössischer Unterhändler auf dem Wiener Kongress 1815, unterstützte die junge Republik ab den 1820er-Jahren finanziell.11 Im Einklang mit Liberalen in Europa setzte Eynard grosse politische Hoffnungen auf Griechenland. Seine enge Freundschaft zum erstem Präsidenten des Landes, Ioannis Kapodistrias, und seine guten internationalen Beziehungen machten ihn schnell zu einer führenden Persönlichkeit im Genfer Comité Grec und zu einem europaweit geachteten Unterstützer des griechischen Staates. Die transnationalen Verbindungen zwischen Griechen und Schweizern blieben im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bestehen. Anfang 1869 veröffentlichte das Journal de Genève einen, vom griechischen Konsul übersetzten, offiziellen Brief. Der Präsident des Parlaments in Athen adressierte darin sein Beileidsbekunden an den Neffen der kurz zuvor verstorbenen Witwe Eynards. Er betonte die Dankbarkeit seines Volkes für die Hilfe der Eidgenossenschaft und erklärte dessen Wunsch, dass «diese beiden Zivilisationen, die so viele beiderseitige Beziehungen in der Entwicklung ihrer Unabhängigkeit aufweisen, sich in Zukunft noch enger verbänden […].»12 Konkret hob der Parlamentspräsident besonders hervor, wie Eynards Witwe sich nach dessen Tod mit der Gründung des Comité au secours pour les Crétois für die Belange der in der osmanischen Provinz Kreta lebenden Griechen eingesetzt hatte. Mehrheitlich muslimisch, jedoch mit einem starken christlichen Bevölkerungsanteil, war die Insel ab 1866 ein steter Unruheherd des Osmanischen Reichs geworden.13 Vgl. dazu ausführlich Robert Dünki, Aspekte des Philhellenismus in der Schweiz 1821–1830, Bern 1984 und Konstadinos Maras, Philhellenismus. Eine Frühform europäischer Integration, Würzburg 2012, S. 89–96. 11 Korinna Schönhärl, Finanziers in Sehnsuchtsräumen. Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 75–110 und Michelle Bouvier-Bron, Jean-Gabriel Eynard (1775–1863) et le philhellénisme genevois, Genf 1963. 12 Drsos: Étranger. Grèce, in: Journal de Genève, Genf 06. 01. 1869, S. 3. Alle Übersetzungen vom Autor. Im Original: «[Aussi font-ils les vœux les plus ardents pour] qu‘à l’avenir ces deux nations, qui ont tant de rapports mutuels dans le développement de leur indépendance, s’unissent plus étroitement encore […].» 13 Vgl. dazu Pınar Şenişik, The Transformation of Ottoman Crete. Revolts, Politics and Identity in the Late Nineteenth Century, London/New York 2011. 10 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 Erneute Ausschreitungen auf Kreta mündeten schliesslich in den griechisch-türkischen Krieg von 1897. Zeitgleich mit den Massakern an den Armeniern 1894–1896,14 kam es auf der osmanischen Insel 1896 zu Revolten der griechisch-orthodoxen Bevölkerung. Der Konflikt führte bald zu Kämpfen zwischen Christen und Muslimen.15 Diesen Umstand versuchte die Regierung in Athen zu nutzen und entsandte im Februar 1897 eine griechische Invasionstruppe unter General Vassos auf die Insel. Ihn begleitete unter anderem Karl Suter, ein ehemaliger Schweizer Militärbeobachter und überzeugter Philhellene.16 Die europäischen Grossmächte wollten jedoch den Status Quo wahren und erneute religiöse Ausschreitungen verhindern. In einer koordinierten Aktion besetzten internationale Marineabteilungen die strategisch wichtigen Punkte Kretas.17 Nationalistische Organisationen in Griechenland, denen die «Megali Idea», die Vorstellung eines grossgriechischen Reichs rund um die Ägäis vorschwebte, hofften von dieser angespannten Lage profitieren und die griechisch-orthodoxe Bevölkerung in Mazedonien zu einem Aufstand bewegen zu können.18 Irreguläre Verbände begannen, die osmanischen Posten entlang der griechischen Nordwestgrenze in Thessalien zu überfallen. Am 17. April 1897 erreichten sie ihr Ziel: Sultan Abdülhamid II. erklärte der griechischen Regierung den Krieg und mobilisierte seine Truppen. Vgl. zum regen Engagement für die Armenier in der Schweiz, Hans-Lukas Kieser (Hg.), Die armenische Frage und die Schweiz, 1896–1923, Zürich 1999. Eine vergleichbare Studie zu Kreta liegt leider nicht vor. 15 Şenişik verweist in diesem Zusammenhang auf die Aktionen griechischer Konsuls und Agenten, vgl. Şenişik: The transformation, S. 137–170. 16 Die Biografie Karl Suters bringt die beiden hier behandelten Stränge zusammen: Suter, der sich zunächst in der französischen Fremdenlegion in Mexiko engagierte, war hernach im Schweizer Militär aktiv, wo er unter anderem den Carlistenkrieg von 1874 mitverfolgte. Kurz darauf quittierte er seinen Dienst im Schweizer Militär. Während des Russisch-Türkischen Kriegs 1878 führte Suter eine Freiwilligenlegion aus Philhellenen der Eidgenossenschaft nach Epirus und Albanien. Wie der Historiker Ioannis Zelepos bemerkt, scheiterte das Unternehmen jedoch schnell. Vgl. Ioannis Zelepos, Die Ethnisierung griechischer Identität, 1870–1912. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der «Megali Idea», München 2002, S. 119. Zu Suters Werdegang, vgl. Hans von Mechel, Major Karl Suter, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung 50/2 (1904), Beilage. 1897 schloss sich Suter dem befreundeten, griechischen General Vassos an; gleichzeitig berichtete er für die Gazette de Lausanne aus Kreta. Vgl. bspw. Karl Suter, La Grèce et la Crète. La protestation des Crétois, in: Gazette de Lausanne, Lausanne 6. März 1897, S. 1. Er starb 1903 in Athen. 17 Vgl. Davide Rodogno, Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815–1914, Princeton 2011, S. 216–218. 18 Ein östlicher Nebenschauplatz des Krieges existierte zwischen dem osmanischen Albanien und der griechischen Provinz Epirus. Die wesentlichen Kampfhandlungen ereigneten sich jedoch innerhalb Thessaliens im Westen. Einschlägig zur «Megali Idea» und zum griechisch-türkischen Krieg insgesamt, Theodore George Tatsios, The Megali Idea and the Greek-Turkish War of 1897. The Impact of the Cretan Problem on Greek Irredentism, 1866–1897, Boulder/New York 1984, S. 83–115. 14 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 259 260 Niko Rohé Die Neuigkeiten über den Kriegsausbruch zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich sorgten weltweit für Interesse.19 Auch in der Schweiz war die Anteilnahme gross und das nicht nur bei den vielen osmanischen Oppositionellen, die Genf neben Paris in den 1890er‐Jahren zum Zentrum ihres politischen Exils erkoren hatten.20 Die Gazette de Lausanne erinnerte ihre Leserschaft im März 1897 mit einem Leitartikel über Eynard an die philhellenischen Verbindungen des Landes und wie viele europäische und amerikanische Zeitungen sandten auch Schweizer Blätter Korrespondenten auf den Kriegsschauplatz.21 Ende April waren die französischsprachigen Zeitungen des Landes voll von Berichten, Briefen und Bitten von Privatleuten und Assoziationen aus Griechenland. Das Schweizer Rote Kreuz warb mit Nachdruck dafür, humanitäre Missionen auf den Kriegsschauplatz zu entsenden.22 Als die griechische Regierung dieses Angebot ablehnte und die Hilfsorganisation ihre Bemühungen einstellte,23 entbrannte eine Kontroverse um die Schweizer Neutralität: Hätte dem Osmanischen Reich nicht dennoch Unterstützung angeboten werden müssen? Mitte Mai reagierte das Rote Kreuz mit einer offiziellen Erklärung, in der es hiess: «Es war uns schlicht unmöglich nach der Ablehnung Griechenlands dem Wunsch des Roten Halbmonds nachzukommen; das Schweizer Volk hätte uns nicht die notwendigen Ressourcen zukommen lassen.»24 Schweizer Mediziner versorgten Kranke und Gefallene schliesslich auch ohne offizielle, institutionelle Unterstützung.25 Das individuelle Engagement konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kollektiven Sympathien der Alpenrepublik im Krieg von 1897 eindeutig bei Griechenland lagen. Die globale Dimension des Ereignisses ist bisher unbeachtet geblieben. Die Resonanz im englischsprachigen Raum behandelt teilweise: David Roessel, In Byron’s Shadow. Modern Greece in the English and American Imagination, New York 2001, S. 124–131. 20 Vgl. Hans-Lukas Kieser, Osmanische Oppositionelle in Genf (1868–1908), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 52/3 (2002), S. 264–286. 21 Jean-Gabriel Eynard, in: Gazette de Lausanne, Lausanne 25. März 1897, S. 1; A. Z., Grèce. Correspondance particul. du Journal de Genève, in: Journal de Genève, Genf 12. Mai 1897, S. 2–3. 22 Confédération suisse. Une ambulance suisse en Grèce, in: Gazette de Lausanne, Lausanne 28. April 1897, S. 1. 23 BAR, E27 12585, Frage der Entsendung einer Ambulanz des SRK nach dem griech.-türk. Kriegsschauplatz, 1897. 24 A., Stehelin, Confédération suisse. L’ambulance suisse, in: Journal de Genève, Genf 13. Mai 1897, S. 1. Im Original: «il nous était simplement impossible, après le refus de la Grèce, de satisfaire au désir du ‘Croissant Rouge’; le peuple suisse ne nous aurait pas procuré les ressources nécessaires.» 25 Mediziner waren auf beiden Seiten aktiv: Armin Müller, Erinnerungen eines Schweizerarztes aus dem griechisch-türkischen Krieg 1897, Zürich 1898 und Georges Terrier, Edmond Lardy, in: Revue Médicale de la Suisse romande 121/Januar (2001), S. 401–406. Vgl. auch Niko Rohé: European medical experts in wars of «others»: the Greco-Turkish War of 1897, in: European Review of History: Revue européenne d’histoire 26 /2 (2019), S. 163–177. 19 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 Schweizer in Kriegen Dritter – Neutralität und Pragmatik Der griechisch-türkische Krieg weckte auch bei Schweizer Militärs ein grosses Interesse. Unmittelbar nach Beginn der Kampfhandlungen erreichte das eidgenössische Generalstabsbüro in Bern das Gesuch von Oberst Alfred Boy de la Tour und Major Fritz Gertsch.26 Die beiden Instrukteure der Infanterie wünschten, als offizielle Beobachter dem griechischen Hauptquartier zugeteilt zu werden. Der Waffenchef der Infanterie war angesichts der Ausbildungstätigkeit der Offiziere vom Mehrwert überzeugt, plädierte aber dafür, beide Kriegsparteien zu beobachten. Die Bewilligung hing darüber hinaus von einer Reihe von administrativen Fragen ab: Budgetfragen seien zu klären, Genehmigungen auf diplomatischem Wege einzuholen und weitere Anträge zu prüfen. Auf eine armeeinterne Ausschreibung der Mission verzichteten die eidgenössischen Militärbehörden allerdings, denn mit Theodor Fierz und Armin Müller, beide Oberstleutnants der Artillerie, Major Castan, Instruktionsoffizier der Infanterie, und Moritz von Wattenwyl, Instruktionsoffizier der Artillerie, meldeten sich in den folgenden Tagen weitere Interessenten. Bis auf von Wattenwyl, dessen Bewerbung vom Waffenchef der Artillerie «angeregt»27 worden war, standen so individuelle Initiativen von Heeresangehörigen am Anfang der Schweizer Beobachtermissionen.28 Ihre Abreise verzögerte sich jedoch. Wie war die Entsendung von Attachés in fremde Kriege völkerrechtlich geregelt? Anlässlich der Bewerbungen von Boy de la Tour und Gertsch wollte das Schweizer Militärdepartement Gewissheit über diese Fragen haben und konsultierte das eidgenössische Generalstabsbüro. Die mehrseitige Antwort vom 21. April 1897 gewährt einen Einblick in die Geschichte und Bedeutung der Schweizer Kriegsbeobachtungen. Der Vertreter des Generalstabs verdeutlichte zunächst die rechtliche Situation. Wie er anhand von früheren Fällen zwischen 1859 und 1877 ausführte, handelte es sich bei der «Abordnung von Offizieren neutraler Staaten zu Informationszwecken nach den Kriegsschauplätzen» um BAR, E27 12584, Bd. 1, Abkommandierung von Oberst Boy de la Tour, Major L. Bornand und Hptm M. von Wattenwyl an die türk. Front. Abkommandierung von Oberst Weber an die griech. Front, 1897. Dieser frühe Versuch von Fritz Gertsch, als offizieller Kriegsbeobachter empirische Einblicke zu erhalten, wird von Rieder nicht erwähnt. Dafür behandelt er seinen späteren Einsatz im Russisch-Japanischen Krieg ausführlich, vgl. Rieder, Fritz Gertsch, S. 201–224. 27 BAR 27 12584/1 Waffenchef der Artillerie an das Schweizer Militärdepartement, 26. 04. 1897, S. 12584. 28 Dies war nicht der Regelfall, wie Franz von Erlachs Erinnerungen an seinen inoffiziellen Beobachterdienst im Deutsch-Französischen Krieg belegen, der ihm zufolge an ihn herangetragen worden war. Vgl. Franz von Erlach, Aus dem französisch-deutschen Kriege, 1870–1871, Beobachtungen und Betrachtungen eines Schweizer-Wehrmanns, Leipzig/Bern 1874, S. 12–13. Es bedarf allerdings weiterer Studien zur Schweizer Kriegsbeobachtung im 19. Jahrhundert, um festzustellen, ob es sich bei den Initiativbewerbungen um eine Ausnahme handelte. 26 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 261 262 Niko Rohé «eine allgemeine internationale Gepflogenheit.»29 Völkerrechtlich verbindliche Regelungen fehlten zwei Jahre vor der ersten Haager Friedenskonferenz noch.30 Dafür gab es nach Ansicht des Verfassers gute Gründe: Zum einen sei es stets möglich, dass neutrale Beobachter aus Notwehr zur Waffe gegen eine der Kriegsparteien greifen müssten. Zum anderen werde der neutrale Beobachter durch seine Nähe zum kriegführenden Generalstab notwendigerweise zum stillschweigenden Komplizen, da er die interne Planung der Befehlshaber kenne. Dieses Dilemma sei jedoch unvermeidbar, denn Kriegsbeobachter müssten sich zwangsläufig für eine Seite entscheiden: «Die Notwendigkeit des Krieges duldet keine Unbeteiligten zwischen oder neben den Armeen. Der Neutrale, der den Krieg studieren will, muss sich also einer Partei anschliessen.»31 Für das Prozedere bedeutete dies: Reisten die Entsandten in amtlicher Mission, so war eine diplomatische Anfrage unumgänglich. Die notwendige Positionierung der Beobachter sorgte für eine weitere Hürde: Sie gefährdete das Ende des 19. Jahrhunderts breit diskutierte, politische Prinzip der Schweizer Neutralität.32 Der Generalstab begegnete dieser Problematik in seinem Auskunftsschreiben mit zwei Argumenten: Zum einen sei die Schweiz im Kriegsfall «nicht anders neutral als jeder andere unbeteiligte Staat.»33 Zum anderen schufen die Beobachtermissionen keinen Präzedenzfall, denn die Eidgenossenschaft habe bisher «in den neueren Kriegen nicht gezögert, von dem Informationsmittel der offiziellen Militärdelegationen stets Gebrauch zu machen.» Schweizer Offiziere hätten so an den preussischen Feldzügen gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 teilgenommen, wenn auch in unterschiedlichem Masse. Im letzten Fall, dem Konflikt zwischen den BAR, E27 12584, Bd. 1, Eidgenössisches Generalstabsbureau an Schweizer Militärdepartement, 21. April 1897, Bl. 2. Die Originalakten enthalten keine Seitennummerierung; hier und im Folgenden wird daher die Blattnummer angegeben. 30 Vgl. zur Institution des Militärattachés und seiner diplomatischen Rolle im 19. Jahrhundert, Alfred Vagts, The Military Attache, Princeton 1967, S. 15–36, zur Kriegsbeobachtung, vgl. S. 258– 278. 31 BAR, E27 12584, Bd. 1, Eidgenössisches Generalstabsbureau an Schweizer Militärdepartement, Bl. 3. 32 Thomas Maissen hat zuletzt die Vorstellungen über den Ursprung und die Konnotationen der Neutralität als Schweizer Staatsprinzip aufgearbeitet. Dabei hat er die Zeit um 1900 als besonders konstitutiv für die Rückbindung der Schweizer Neutralität auf Marignano hervorgehoben. Vgl. Thomas Maissen, Seit wann ist die Schweiz «neutral seit Marignano»? Zu den Wurzeln eines nationalpädagogischen Topos, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 68/2 (2018), S. 214–239, hier 219–221. Vgl. zur Neutralität im 19. Jahrhundert allgemein, Maartje Abbenhuis, An Age of Neutrals. Great Power Politics, 1815–1914, Cambridge 2014. Eine gute Übersicht zu den Diskussionen um eine «aktive Neutralität» der Schweiz, die Militärs und Politiker Ende des 19. Jahrhunderts führten, liefert Dimitry Queloz. Er betont, dass es vor allem darum ging, wie die Schweiz ihre Neutralität im Fall eines Krieges der Grossmächte zum eigenen Nutzen auslegen konnte. Dimitry Queloz, La Suisse entre quatre grandes puissances. Bd. IV, Baden 2010, S. 272–279. 33 BAR, E27 12584, Bd. 1, Eidgenössisches Generalstabsbureau an Schweizer Militärdepartement, Bl. 3. 29 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 beiden grossen Nachbarstaaten, hatte der Bundesrat sich lange zurückgehalten und erst Beobachter entsandt, als die deutschen Kräfte vor Paris standen. Wie später im Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 hatte die Mission den Auftrag erhalten, die Befestigungs- und Belagerungsarbeiten zu studieren. Militärs der Alpenrepublik hatten zudem den Carlistenkrieg von 1874 und den serbisch-bulgarischen Krieg 1885 beobachtet. Der Bericht beleuchtete zwar, wie sehr die entsandten Offiziere darum bemüht gewesen waren, den Anschein strikter Neutralität zu wahren, etwa wenn sie es gegenüber Preussens Befehlshabern ablehnten, auf in Dänemark beschlagnahmten Pferden zu reisen. Insgesamt zeigte der historische Exkurs jedoch, dass Schweizer Militäremissäre nach 1850 auf allen europäischen Schlachtfeldern gewesen waren.34 Der Generalstab schloss daher, dass «der zur Zeit ausgebrochene Krieg zwischen der Türkei & Griechenland die Absendung einer schweizerischen Abordnung für das Interesse unserer Armee nicht weniger wünschenswert erscheinen lasse als die geschilderten früheren Anlässe.»35 Die historische Kontinuität der Schweizer Kriegsbeobachtung im 19. Jahrhundert, so der Generalstab, legitimiere auch die Entsendung in den Krieg von 1897. Neben historischen gab es pragmatische Gründe, die aus Sicht des Schweizer Militärs dafür sprachen, die Anträge der eigenen Offiziere aufzunehmen und zu fördern. Die 1890er-Jahre waren für die Armee eine Periode, in der zwei Lager kontrovers über militärische Neuausrichtungen diskutierten.36 Eine Gruppe von Instruktionsoffizieren, die sogenannte «Neue Richtung», um den späteren General Ulrich Wille sprach sich für eine Abkehr vom bisherigen Konzept des republikanischen Bürgersoldaten aus, wie ihn die Anhänger der als «Nationale Richtung» betitelten Offiziere der höheren Militärverwaltung vor Augen hatten. Inspiriert vom deutschen Vorbild forderten sie vor allem eine veränderte Ausbildung, während der die Milizsoldaten Disziplin und Gehorsam verinnerlichen sollten. Die vom Bundesrat abgelehnte Bewerbung von Gertsch, einem massgeblichen Unterstützer Willes, auf den griechisch-osmanischen Kriegsschauplatz zu gelangen, verdeutlicht die Relevanz der Beobachtungsmissionen für den Richtungsstreit.37 Vor diesem Hintergrund ist auch die folgende Feststellung des Generalstabs zur Mission von 1897 zu lesen: Der Bericht enthielt allerdings keinerlei Angaben darüber, weshalb die Schweizer Armee in vielen Fällen nur eine der beiden Kriegsparteien observierte. 35 BAR, E27 12584, Bd. 1, Eidgenössisches Generalstabsbureau an Schweizer Militärdepartement, 1897, Bl. 6. 36 Vgl. Rieder, Fritz Gertsch, S. 13–20. Rudolf Jaun, Preussen vor Augen. Das schweizerische Offizierskorps im militärischen und gesellschaftlichen Wandel des Fin de Siècle, Zürich 1999. 37 Das Gesuch von Fritz Gertsch, der sich ebenfalls gemeldet hatte, wurde vom Bundesrat zurückgewiesen. Die Begründung geht aus den Akten nicht hervor. Sein darauffolgender Antrag auf Urlaub, um als Kriegsberichterstatter für eine Schweizer Zeitung zum Kriegsschauplatz zu reisen, wurde ihm hingegen bewilligt. Vgl. BAR, E27 12584, Bd. 1, Telegramm Bundesrath an Waffenchef der Infanterie, 30. April 1897. Für andere Fälle, etwa der Bewerbung des Oberstleutnants Armin Müller, begründete 34 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 263 264 Niko Rohé Die Sammlung von Erfahrungen über den Wert der heutigen Kriegsmittel & über die Zweckmässigkeit taktischer Formationen & Grundsätze dürfte auch heute wieder für die Taxierung unserer eigenen Ausbildung & Ausrüstung viele lehrreiche Vergleichspunkte bieten & die gebirgige Natur des Kriegsschauplatzes wird den Wert der zu sammelnden Erfahrungen für unsere eigenen Verhältnisse noch erhöhen. Das Zitat unterstreicht das wichtigste Ziel der Schweizer Beobachtermissionen auf fremden Kriegsschauplätzen: die Informationsakquirierung unter realen Bedingungen. Die Formulierung verdeutlicht jedoch auch, dass der Vergleichbarkeit, und damit dem Vergleichen selbst, eine zentrale Bedeutung zukam. Wie das Militärdepartement festhielt, ging der Wunsch, zur griechischen Seite entsandt zu werden, darauf zurück, dass diese «mit der schweiz. am meisten Aehnlichkeit hat» und sie dort «demgemäss für die hierseitigen Verhältnisse am meisten Nutzen ziehen zu können glauben.»38 Nach langer Zeit des Friedens in Europa versprach der griechisch-türkische Krieg Militärbeobachtern erstmals empirische Einblicke in die zeitgenössische Kriegsführung und damit Erkenntnisse für die eigene militärtaktische und ‐technische Ausrichtung. Das internationale Parkett – Neutralität und Abhängigkeit Nur wenige Militärbeobachter europäischer Mächte begleiteten Griechen und Osmanen von Beginn des Feldzugs an. Eine Ausnahme bildete das Deutsche Kaiserreich, dessen Militärs davon profitierten, dass sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts an der Ausbildung und Reformierung der osmanischen Armee beteiligt gewesen waren. Der Artillerieoberst Grumbkow Pascha war so dem amerikanischen Kriegsberichterstatter George Warrington Steevens zufolge bereits am dritten Tag des Feldzugs im osmanischen Hauptquartier zugegen.39 Er hatte den Auftrag, Bewaffnung und Munition zu überwachen und über den Gesamtzustand des osmanischen Heeres zu berichten. Als wenige Tage später jedoch Meldungen kursierten, nach denen der ausländische Offizier im Zuge der osmanischen Eroberung Larissas aktiv geworden sei, wurde er vom Kriegsschauplatz der zuständige Waffenchef seine ablehnende Haltung damit, dass er «es nicht ohne Noth verantworten [wolle], einen Familienvater in unangenehmen Verhältnissen einiger Gefahr auszusetzen.» BAR, E27 12584, Bd. 1, Waffenchef der Artillerie an das Schweizer Militärdepartement, 26. April 1897. Es handelte sich bei ihm zudem sehr wahrscheinlich um den Cousin des Bundesrats Eduard Müller, der 1897 dem Schweizer Militärdepartement vorstand. 38 BAR 27 12584/1 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrathes an das Militärdepartement, 23. 04. 1897. 39 George Warrington Steevens, With the conquering Turk. Confessions of a bashibazouk, Edinburgh 1897, S. 295. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 abgezogen.40 Der einzige offizielle Militärbeobachter von deutscher Seite blieb der Attaché Curt von Morgen. Er erhielt bald Gesellschaft von seinen Kollegen aus Österreich-Ungarn und Frankreich.41 Wie die amtlichen und diplomatischen Korrespondenzen zeigen, war es für die Schweiz schwierig, ohne die Unterstützung der europäischen Grossmächte eigene Beobachter nach Thessalien zu entsenden. Der Eidgenossenschaft fehlten die nötigen Vertretungen in den kriegführenden Staaten, um ein offizielles Gesuch abzugeben.42 In Konstantinopel existierte keine Vertretung, in Athen nur eine konsularische, und diese erst seit 1895.43 Schweizer Diplomaten sollten das Anliegen daher über Berlin und Paris vermitteln. Zur Überraschung erreichte die politische Abteilung in Bern am 22. April 1897, noch vor der offiziellen Anfrage, ein Telegramm aus Wien, in dem der Schweizer Gesandte Alfred de Claparède mitteilte, die Regierung in Konstantinopel sei mit der Präsenz dreier Schweizer Offiziere im osmanischen Hauptquartier einverstanden. Bei der Anfrage hatte es sich jedoch zunächst um eine informelle Erkundigung gehandelt. Am 23. April 1897 erhielt das Auswärtige Amt in Berlin daher eine offizielle Bitte, formell «bei der Kaiserlich Türkischen Regierung geneigtest anzufragen, ob dieselbe gestatten würde, dass ein oder zwei Offiziere in ausserordentlicher Mission und im Auftrag des schweizerischen Bundesrats in Uniform sich auf den Kriegsschauplatz begeben»44 dürften. Die Bestätigung aus Berlin erfolgte erst eine Woche später, am 30. April. Berlin gab an, der Sultan sei «misstrauisch gewesen, gegen die Zulassung von Offizieren aus einem Lande, in welchem nach seiner Vermuthung die Armenischen Comite’s besonders thätig gewesen seien.»45 In Paris gestaltete sich die Angelegenheit noch schwieriger. Am 29. April wartete der Schweizer Gesandte, Charles-Edouard Lardy, weiterhin auf eine Antwort Griechenlands. In Folge der ersten Kriegsniederlagen gegen die vorrückende osmanische Armee war es in Athen Ende April zu politischen Unruhen Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA-AA), R 12257, Telegramm Saurma an AA, 29. April 1897. 41 PA-AA, R 12252, Telegramm Saurma an AA, 21. April 1897. 42 Vgl. dazu Beat Witschi, Schweizer auf imperialistischen Pfaden. Die schweizerischen Handelsbeziehungen mit der Levante 1848–1914, Stuttgart 1987, S. 188–227. 43 Stefan Sigerist sieht zwei Gründe für die Abwesenheit einer Schweizer Vertretung in Konstantinopel. Zum einen versprachen sich Schweizer Kolonisten im Osmanischen Reich juristisch mehr Rückhalt, wenn sie sich unter den diplomatischen Schutz einer Grossmacht stellten (bis 1810 war Frankreich Schutzmacht, danach war die Wahl frei, traf jedoch zunehmend häufiger auf ÖsterreichUngarn oder Deutschland). Zum anderen wäre es für den Bundesrat kostspielig gewesen, eigene konsularische Vertretungen aufzubauen. Vgl. Stefan Sigerist, Schweizer im Orient, Schaffhausen 2004, S. 21–28. 44 PA-AA, R 12253, Verbalnote der Schweizerischen Gesandtschaft an das AA, 23. April 1897. 45 BAR, E27 12584, Bd. 1 Schweizerische Gesandtschaft Berlin an das schweizerische Politische Department in Bern, 30. April 1897. In der Korrespondenz zwischen Berlin und der deutschen Gesandtschaft in Konstantinopel, wie sie im Archiv des Auswärtigen Amts vorliegt, lässt sich diese Mutmassung nicht finden, vgl. PA-AA R 12256, Telegramm Saurma an AA, 28. April 1897. 40 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 265 266 Niko Rohé gekommen. Lardy vermutete, «die griechische Regierung dürfte auch nicht wünschen, ausländischen Offizieren zu zeigen, was von der griechischen Armee übrig ist.»46 Am 4. Mai konnte er jedoch nach Bern vermitteln, dass Athen der Entsendung zugestimmt habe.47 Der Mangel an direkten Kommunikationswegen mit der osmanischen und griechischen Regierung kostete die Schweizer Beobachtermissionen drei Wochen – und damit fast den gesamten Krieg. Am 1. Mai beschloss der Schweizer Bundesrat, drei Militärbeobachter auf den türkischen und einen auf den griechischen Schauplatz zu schicken. Die Ursachen für die ungleiche Verteilung sind vermutlich auf die zu diesem Zeitpunkt weiter ausstehende Antwort aus Athen und dem fortgeschrittenen Kriegsverlauf zurückzuführen.48 Auf osmanischer Seite sollten Alfred Boy de la Tour und Moritz von Wattenwyl nun zusätzlich Infanterie-Major Louis Bornand verstärken. Er begleitete die beiden zunächst privat, jedoch in Erwartung der ausstehenden Erlaubnis der türkischen Armeeleitung.49 Generalstabsoberst Robert Weber wiederum wurde unter Vorbehalt der Zusage aus Athen zu den griechischen Streitkräften delegiert. Der Schweizer Botschafter in Wien kümmerte sich um die nötigen Passierscheine, die es Boy de la Tour, von Wattenwyl und Bornand ermöglichten, Österreich-Ungarn und Serbien zu durchreisen.50 Am 5. Mai trafen sie im osmanischen Saloniki ein, wo sie Schweizer Funktionäre der Eisenbahnlinie Saloniki-Monastir am Bahnhof empfingen.51 Die Militärs bezogen das Hotel Imperial.52 Zum selben Zeitpunkt durchquerte Weber noch die Schweiz und Österreich, ehe er am 6. Mai mit dem österreichischen Llyoddampfer Maria Teresa von Brindisi nach Athen reiste, wo ihn am Abend des 9. Mai der Schweizer Konsul im Hôtel d‘Angleterre empfing.53 Beide Missionen griffen so bei ihren Reisen auf landeseigene Netzwerke zurück, stützten sich organisatorisch und logistisch jedoch auf fremde imperiale Infrastrukturen. BAR, E27 12584, Bd. 1, Lardy (Paris) an Schweizer Politisches Department, 29. April 1897. Im Original: «Le Gouvernement grec ne doit pas non plus désirer beaucoup montrer à des officiers étrangers ce qui reste de l’armée grecque.» 47 BAR, E27 12584, Bd. 1, Telegramm Lardy (Paris) an Schweizer Politisches Department, 4. Mai 1897. 48 Im Beschluss des Dossiers BAR, E27 12584 wird die Entscheidung nicht begründet, Meldungen in Schweizer Zeitungen deuteten jedoch an, dass der dritte Beobachter, Louis Bornand, ursprünglich für die griechische Seite vorgesehen war, vgl. etwa: Auf den Kriegsschauplatz, in: Zuger Volksblatt, Zug 08. 05. 1897, 54. Ausgabe, S. 1. 49 BAR, E27 12584, Bd. 1, Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrathes an das Militärdepartement, 1. Mai 1897. 50 BAR, E27 12584, Bd. 2, Brief Boy de la Tour (Wien) an Colonel Müller, Militärabteilung (Bern), Wien 7. Mai 1897. 51 Vgl. zur prominenten Rolle von Schweizern in den internationalen Konsortien des Osmanischen Reichs, Sigerist: Schweizer im Orient, S. 143–150. 52 BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 5. Mai 1897. 53 BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, Bern 30. August 1897, S. 151. 46 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 Interkulturelle Kontakte – Reisepraktiken Schweizer Militärs im Ausland Als die Schweizer Offiziere im Mai endlich in Griechenland und dem Osmanischen Reich eintrafen, war der Krieg weit fortgeschritten. Angeführt von General Edhem Pascha hatten die türkischen Truppen inzwischen grosse Teile Thessaliens besetzt. Die griechische Armee unter Kronprinz Konstantin war nach anfänglichen Angriffen entlang der Grenze in die Defensive geraten. Am 25. April hatten sie die Provinzhauptstadt Larissa aufgegeben. Der griechische General Smolenski konnte in der Folge zwar Angriffe der osmanischen Armee bei Velestino zunächst erfolgreich abwehren, nach der Schlacht bei Pharsalos am 5. Mai befahl Konstantin jedoch, die Truppen aus strategischen Gründen ins südliche Domokos zurückzuziehen.54 Edhem Paschas Armee lag knapp dreissig Kilometer entfernt, als die entsandten Schweizer Offiziere in Saloniki und Athen eintrafen. Die nächste Gelegenheit, eine Schlacht zu beobachten, stand somit unmittelbar bevor; der Weg dorthin war allerdings beschwerlich und die Reiseerfahrungen der Militärs sollten die abschliessende Beurteilung der angestellten Beobachtungen massgeblich beeinflussen. Die Schweizer Offiziere haderten zunächst auf beiden Seiten mit widrigen Reiseumständen. Das von Boy de la Tour geführte Marschtagebuch betont die logistischen Schwierigkeiten, die ihm, von Wattenwyl und Bornand auf dem Weg von Saloniki ins über zweihundert Kilometer entfernte türkische Hauptquartier nahe Pharsalos begegneten. Da die griechische Marine den Seeweg blockierte und nur auf einem kurzen Reiseabschnitt eine Eisenbahnlinie existierte, mussten die Attachés die gebirgige Strecke auf Pferden zurücklegen. Um Zeit zu gewinnen, trennten sie sich daher von ihrem zuvor mit Hilfe der Schweizer Repräsentanten in Saloniki akquiriertem Gepäck, ritten bei Nacht und selbst im Regen. Wie Reiseberichte anderer Augenzeugen belegen, waren die Wege in den kargen Bergen kaum ausgebaut und schon bei trockenen Bedingungen eine Herausforderung.55 Für Elassona, einhundert Kilometer vor dem Ziel, schildert das Reisetagebuch: «Die Strassen sind steil, eng, gewunden, steinig und ganz und gar nicht beleuchtet. Wir haben Schwierigkeiten vorwärts zu kommen. Eines unserer Pferde fällt und stirbt auf der Stelle. Wir haben grosse Mühe das Rathaus zu Für die Zusammenfassung der Kriegsereignisse bis zu diesem Punkt und stellvertretend für die zeitgenössische Einordnung der Schlacht von Domokos vgl. die Darstellungen, A. Hilliard Atteridge, The Greco-Turkish War, 1897. The Battle of Domokos, in: Charles Welsh (Hg.), Famous Battles of the Nineteenth Century, New York 1903, S. 246–262. Vgl. auch Gaston Bodart (Hg.), Schlacht von Domokos, in: Militär-historisches Lexikon (1618–1905), Wien/Leipzig 1908, S. 582. 55 Vgl. Steevens, With the conquering Turk, S. 58–71. Edmond Lardy: La guerre gréco-turque, Neuchatel 1899, S. 43–71. Ein später in der Gazette de Lausanne abgedruckter Brief, den Boy de la Tour am 22. Mai in Volo verfasst hatte, berichtete, dass die Gruppe zweimal in Gewitter geraten war. Alfred Boy de la Tour: Dans le camp turc, in: Gazette de Lausanne, Lausanne 03. 06. 1897, S. 1. 54 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 267 268 Niko Rohé finden.»56 Als die Schweizer schlussendlich am 11. Mai in der thessalischen Provinzhauptstadt Larissa eintrafen, stellten sie ernüchtert fest: «Wir haben den Marschall noch nicht gesehen. Physischer und moralischer Zustand exzellent, aber wir haben den Eindruck, dass uns die für die Existenz notwendigen Dinge fehlen werden.»57 Wie unerwartet diese Strapazen die Schweizer Offiziere trafen, belegt die später ausgedrückte Freude über die Möglichkeit, Gerste und Brot zu erwerben und über den Cognac sowie das Eau de Vichy, das ihnen ein osmanischer General schenkte.58 Ähnlich dankbar reagierte die Gruppe um Boy de la Tour auf die Einladung des Schweizer Arztes Edmond Lardy, der seit 1889 Chefchirurg des französischen Krankenhaus in Konstantinopel gewesen war und im Krieg im Auftrag der Banque Imperiale Ottomane ein Feldlazarett leitete.59 Er bewirtete sie bei einem Mittagessen mit einem «Weisswein aus Neuchâtel», der den Eindruck gab, «in der Schweiz zu sein.»60 Dieser abschliessende Zusatz im Marschtagebuch Boy de la Tours spitzt die Diskrepanz zwischen Erwartung und Entbehrung zu: Die entsandten Offiziere schienen bei ihrer Abreise aus der friedlichen Schweiz nicht damit gerechnet zu haben, bei ihrer offiziellen Beobachtermission auf Versorgungsengpässe zu stossen. Ähnlich erging es Weber auf griechischer Seite, obwohl er eine andere Ausgangssituation vorfand. In Athen hatte er sich gründlich auf seinen Einsatz vorbereitet und dies in seinem Bericht unter anderem durch eine detaillierte Darstellung seiner Ausrüstung nachgewiesen. Sie umfasste nach Einschätzung des Attachés alles, was ich für ein paar Wochen unentbehrlich hielt: Dem Reitzeug in einem Dillichsack, zwei Segeltuchpacktaschen, die ich zu beiden Seiten auf ein Packtier schnallen, die auch ein Mann leicht, in jeder Hand eine, tragen konnte. – Ich hatte den Mantel 56 BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 10. Mai 1897. Im Original: «Les rues sont rapides, étroites, tortueuses, rocailleuses et pas éclairées du tout. Nous avons peine à avancer. Un de nos chevaux tombe et crève sur place. Nous arrivons à grand peine à trouver l’hôtel de ville.» 57 Ebd., 11. Mai 1897. Im Original: «Nous n’avons pas encore vu le maréchal. Etat physique et moral excellent, mais nous avons l’impression que nous allons manquer des choses les plus nécessaires à l’existence.» 58 Boy de la Tour bemerkt zu diesem Präsent: «C’est le luxe côtoyant la misère.» Ebd., 12. Mai 1897. 59 Vgl. zu Edmond Lardy, dem Bruder des Schweizer Gesandten in Paris, und seiner Sympathie und späteren Unterstützung der osmanischen Opposition in Genf, S. 278–281. Lardy stand Sultan Abdülhamid nach den Massakern an den Armeniern kritisch gegenüber und wollte 1897 in die Schweiz zurückkehren. Er nahm jedoch das prestigeträchtige Angebot der Banque Imperiale Ottomane an, im griechisch-türkischen Krieg ein Feldlazarett zu leiten, vgl. dazu Rohé, experts in wars of «others», S. 163–177. 60 Ebd., 11. Mai 1897. Im Original: «M. le Dr. Lardy nous offre à déjeuner et nous fait boire du vin blanc de Neuchâtel, marque Cloten-Bernard[?], à St. Blaise. Nous avons l’impression d’être en Suisse.» Lardy erinnert sich, Lardy, La guerre gréco-turque, S. 125. Die Begegnung ist auch photographisch festgehalten auf S. 123. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 mit Pelerine, Waffenrock, eine zweite Hose & Schnürschuhe eingepackt, dazu etwas Wäsche, einige Büchsen Conserven, eine Flasche Cognak & ein «Nécessaire» mit kleiner Apotheke u.s.w.61 Zudem hatte er den Vorteil, dass er ab dem 12. Mai die grösste Distanz per Schiff zurücklegen konnte. Trotz Empfehlungsschreiben gab es jedoch weder in Athen noch in der küstennahen Stadt Lamia, südlich von Domokos, ein Pferd. Weber musste seine Reise ins griechische Hauptquartier daraufhin in Kutschengespannen fortsetzen. Dort angekommen beklagte auch er die «steilen, winkligen, vom Regen & Unrat sumpfigen, dicht mit Soldaten aller Truppengattungen angefüllten Gassen,» durch die er sich «durcharbeiten» musste, um zu seinem Quartier zu kommen, ein «von seinen Bewohnern verlassenes Häuschen,»62 welches er sich mit anderen Attachés teilte. Am 21. Mai hielt Weber fest: «Seit 5 Tagen Tag & Nacht in denselben Kleidern & Wäsche & ohne irgend eine regelmässige Verpflegung oder Aussicht auf eine solche, war, nachdem uns unsere Konserven ausgegangen waren, unser Dasein auf Nichts gestellt.»63 Beide Berichte schilderten so Momente, in denen sich die Attachés ohne Verpflegung wiedergefunden hatten.64 Einerseits unterstrichen diese Narrative das Pflichtbewusstsein der entsandten Militärs, die, um Zeit zu sparen und mobil zu sein, auf Komfort und Verpflegung verzichteten. Andererseits allerdings konnten sie nicht verschleiern, dass die neutralen Beobachter Schwierigkeiten hatten, sich mit den Kriegsumständen zu arrangieren. Die ausländischen Offiziere aus der Schweiz hofften daher, ihre Situation auf dem fremden Kriegsschauplatz im interkulturellen Kontakt zu verbessern. Generell genossen die Militärs als offizielle ausländische Berichterstatter die Gastfreundschaft der beiden Kriegsparteien. Dies hatte sich über das 19. Jahrhundert für die Kriege Europas etabliert und beruhte auf Gegenseitigkeit. Der Schweizer Generalstab hatte 1897 in seinem historischen Überblick in den Worten des deutschen Generals Julius von Verdy darauf hingewiesen, «dass die Anwesenheit von Vertretern fremder Mächte unter Umständen dem kriegführenden selbst ‘sogar recht erwünscht sein kann.’»65 In der Tat zeigten sich osmanische Befehlshaber ausländischen Beobachtern gegenüber ausgesprochen gast- Robert Weber: BAR 27 12584/6 Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, Bern 30. 08. 1897, S. 157–158. 62 Ebd., S. 160. 63 Ebd., S. 171. 64 Boy de la Tour hält am 14. Mai fest: «Nous n’avons plus de vivres.» BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 14. Mai 1897. 65 BAR, E27 12584, Bd. 1, Eidgenössisches Generalstabsbureau an schweizer Militärdepartement, 1897. Zit. nach Julius Adrian Friedrich Wilhelm von Verdy du Vernois: Im Grossen Hauptquartier, 1870/71: Persönliche Erinnerungen, Berlin 1896, S. 44. 61 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 269 270 Niko Rohé freundlich.66 So luden sie auch Boy de la Tour, von Wattenwyl und Bornand wiederholt zum Essen ein. In Larissa empfing sie Seyfullah Pascha aus dem Osmanischen Generalstab «als Kamerad, [er] bringt uns zu sich und behält uns zum Abendessen da. Wir verbringen in seiner Gesellschaft einige angenehme und interessante Stunden.»67 Am 12. Mai gewährte ihnen der osmanische Marschall Edhem Pascha Audienz. «Der einfache und herzliche Empfang»68 beeindruckte die Schweizer genauso wie die «vollkommene Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit,»69 mit der ihnen der renommierte Chemiker des Sultans und Leiter des Sanitätswesens Bonkowsky Pascha ihre Unterkunft organisierte. Allerdings verdeutlichen die wiederholten Begegnungen mit Armeeführern und Befehlshabern auch, dass es für die neutralen Beobachter ein verpflichtendes Ritual war, bei ihren Gastgebern vorstellig zu werden. Dies zeigte sich besonders deutlich bei der Begegnung Webers mit Kronprinz Konstantin im griechischen Hauptquartier. Vermutlich bedingt durch die Kriegsumstände, traf Weber dort auf einen reservierten Gastgeber: Der Kronprinz empfieng [sic] mich in seinem kleinen Schlafzimmer mit kalter Höflichkeit & sagte in kurzen, schnell gesprochenen Sätzen etwa Folgendes: «Wir haben keine Pferde & nichts zu essen.– Ich kann Ihnen kein Pferd geben, die Kavallerie ist weit weg. – Wir haben keine Soldaten, die bewaffneten Menschen, die Sie da sehen, sind nicht ausgebildet & nicht zuverlässig. – Sie werden übrigens die weite Reise umsonst gemacht haben, denn die [Gross‐]Mächte haben sich nun behufs Vermittlung des Friedens in die Sache gemischt, was sie schon längst hätten thun sollen.»70 Nachdem der Kronprinz Webers anschliessend vorgebrachten, strategischen Vorschlag eines taktischen Rückzugs in eine bessere Stellung ablehnte, holte der Schweizer Offizier nur noch die Erlaubnis ein, «bei den Stäben und Truppen Informationen einzuziehen»71 – was Konstantin bewilligte. Begegnungen zwischen den Schweizer Militärs und den griechisch-türkischen Armeerepräsentanten waren ritualisierte Praktiken, die internationalen Gepflogenheiten folgten. Neutrale Beobachter waren zur Anmeldung verpflichtet und mussten ihre BeweVgl. dazu die lobenden Ausführungen des britischen Kriegsberichterstatters George Warrington Steevens. Steevens, With the conquering Turk, S. 68–69 und 185–186. 67 BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 10. Mai 1897. Im Original: «Il nous reçoit en camarade, nous conduit chez lui et nous garde à dîner. Nous passons en sa société quelques heures agréables et intéressantes.» 68 Ebd., 12. Mai 1897. Im Original: «La réception sous la tente simple et cordiale nous impressionne.» 69 Ebd. Im Original: «Grâce à l’amabilité de Bonkowsky Pacha, qui a pour nous toutes les attentions et toutes les prévenances, nous nous installons au mieux.» 70 BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 161. Unterstreichungen im Original hervorgehoben. 71 Ebd. 66 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 gungen mit den Hauptquartieren abstimmen. Sie profitierten jedoch auch von den Audienzen, denn die offizielle Stellung erlaubte es ihnen, sich auf privilegierten Positionen im (Versorgungs‐)Netzwerk der fremden Armeen zu bewegen. Diese waren allerdings je nach Kriegslage unterschiedlich ausgeprägt. Zwar durften sich beide Schweizer Missionen in der Endphase des griechisch-türkischen Kriegs 1897 frei bewegen, die Versorgungslage verbesserte dies jedoch nur geringfügig. Unterstützung fanden die entsandten Offiziere daher vor allem im Kontakt mit Beobachtern anderer Nationen. Bereits auf der Überfahrt von Athen ins nördliche Lamia hatte Weber den norwegischen Militärbeobachter Tysland kennengelernt, mit dem er als «Schicksalsgenossen» ab diesem Moment zusammen reiste.72 Im griechischen Hauptquartier machten sie Bekanntschaft mit ihrem französischen Kollegen von Wimpffen und dem japanischen Militärattaché in Italien, Otsiai, der sich ihnen ebenfalls anschloss. Als die Gruppe internationaler Beobachter am Abend nach der Schlacht von Domokos, dem 18. Mai, im allgemeinen Rückzug der griechischen Truppen und Zivilbevölkerung noch immer keine Reittiere hatte, «beschlossen wir 3 ‘Fremden’, eine Petition an den Kronprinzen zu richten. Er möge uns wenigstens für den nächsten Tag irgend ein Transportmittel anweisen: Pferd, Esel oder Wagen.»73 Das gemeinsame Vorgehen schien zunächst erfolgreich, die abgestellten Pferde eines griechischen Artillerieregiments waren jedoch in schlechtem Zustand: «Das eine blutete aus einer frischen Schramme an der Brust, am anderen eiterte eine alte Wunde an der Hüfte. Erst nach wiederholten energischen Reklamationen beim Regimentskommandanten wurde ein drittes gestellt.»74 Auf der osmanischen Seite fanden sich Boy de la Tour, von Wattenwyl und Bornand ebenfalls schnell unter internationalen Kriegsbeobachtern wieder. Bereits im osmanischen Hauptquartier hatten sie ihren französischen Kollegen kennengelernt.75 Beim Anmarsch auf Domokos am 17. Mai trafen sie auch die dortigen deutschen und österreichisch-ungarischen Attachés. Boy de la Tour berichtet, wie er zunächst eigene Beobachtungen anstellt, dann jedoch zu den «Militärattachés und Korrespondenten auf dem Gipfel» zurückkehrt, von wo «man alle Peripetien verfolgen konnte, als wäre man in der ersten Loge eines Theaters gewesen.»76 Als ihr Dragoman sie nach der Schlacht von Domokos mit einem geschlachteten Lamm erwartete, nahmen am Essen auch «die 3 norwegiEbd., S. 159. Ebd., S. 166. 74 Ebd. 75 Vgl. dazu Lardy, La guerre gréco-turque, S. 125. 76 BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 17. Mai 1897. Im Original: «[…] j’allai retrouver les attachés militaires et les correspondants sur le sommet du rocher. La situation était un peu exposée au feu de l’artillerie, mais on dominait le combat, et on pouvait suivre toutes les péripéties comme si on avait été dans la première loge d’un théatre [sic].» 72 73 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 271 272 Niko Rohé schen Offiziere, zwei britische Offiziere in Zivil und einige Zeitungskorrespondenten»77 teil. Die Schweizer Militärs fanden sich so am Kriegsschauplatz auf beiden Seiten schnell in einer Gruppe von internationalen Beobachtern wieder, mit denen sie sich austauschten und abstimmten. Auf griechischer Seite half diese Kooperation dabei, die dringend benötigten Pferde zu erhalten, von denen der Erfolg der Mission massgeblich abhing. Auch für die auf die osmanische Seite Entsandten sollte der Kontakt zu Emissären anderer Mächte noch hilfreich sein. Unter der Vermittlung der Grossmächte war am 19. Mai ein Waffenstillstand zustande gekommen, womit die durch den Generalstab auf maximal dreissig Tage festgelegten Missionen frühzeitig endeten. Die Beobachter der Alpenrepublik hatten jedoch vor ihrer Heimreise noch offizielle Besuche abzustatten.78 Am 25. Mai 1897 reisten die erschöpften Offiziere Boy de la Tour, Bornand und von Wattenwyl auf einem Dampfer des Österreichischen Llyods von Volo über Saloniki nach Konstantinopel, wo sie der deutsche Botschafter am 29. Mai empfing.79 Während Weber zeitgleich griechische Offizielle in Athen besuchte, fand sich die Gruppe um Boy de la Tour im kosmopolitischen Konstantinopel schnell in europäischen Kreisen wieder. Bis zum 8. Juni sah die tägliche Routine vor: «Morgens ab 7 Uhr: Arbeit im Zimmer, Redaktionen, etc. – Besuche ab 11 Uhr – Nachmittag frei.»80 Dabei kam es zu beinahe täglichen Treffen und zu einem regen Austausch mit den Militärattachés der europäischen Grossmächte. Um ein umfassendes Bild der Kriegsereignisse zu bekommen, komplettierten die Schweizer Offiziere gemeinsam mit ihren deutschen, österreichisch-ungarischen und französischen Kollegen ihre jeweiligen Aufzeichnungen und diskutierten die Ereignisse.81 Wie kollegial die Beziehungen dabei waren, demonstriert unter Ebd., 19. Mai 1897. Im Original: «Inutile de dire que nous fîmes honneur au repas, auquel prirent part les 3 officiers norvégiens, deux officiers anglais en civil et quelques correspondants de journaux.» 78 Sie besuchten nicht nur die Botschafter der vermittelnden Mächte, Frankreich und Deutschland, sondern bekamen auch Audienzen beim griechischen König und dem osmanischen Sultan. Ibid, 4. Juni 1897. BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 173. 79 Von Wattenwyl war so krank, dass er auf Anraten Edmond Lardys die Reise nach Volo erst später antrat. Bornand war ebenfalls angeschlagen, sein Gesundheitszustand besserte sich allerdings, während die Gruppe auf ein Schiff nach Konstantinopel wartete. BAR, E27 12584, Bd. 4a, Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai–17 Juin 1897, 1897, 20./21. Mai 1897. 80 Ebd., 30. Mai 1897. Im Original: «Matin à partir de 7 h: Travail en chambre, rédactions etc. – Visites à partir de 11 h – Après midi libre.» 81 So besuchten etwa am 2. Juni die Attachés des deutschen Kaiserreichs und Frankreichs die Schweizer Offiziere. Sie ergänzten die Aufzeichnungen gemeinsam und assen zusammen zu Mittag. Vgl. Ebd., 2. Juni 1897. Boy de la Tour verwies vor einigen Abschnitten seines Abschlussberichts explizit darauf, dass wesentliche Informationen darin von seinen deutschen und österreichischungarischen Kollegen stammten. Vgl. etwa Alfred Boy de la Tour, BAR 27 12584/3 Rapport de la Mission suisse auprès de l’armée Ottomane de Théssalie en 1897, 15. 08. 1897, Abschnitt zu 2e Période du 5 au 16 Mai. 77 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 anderem eine Notiz Boy de la Tours zu einem Abendempfang beim österreichischen Attaché, während dem «man die Kampagne von Thessalien nachspielte, das Glas in der Hand.»82 Die enge Zusammenarbeit und der rege Austausch mit den europäischen Kollegen blieben nicht ohne Einfluss auf die Deutung des Kriegs, wie die nachfolgende Analyse der Schweizer Abschlussberichte zum griechisch-türkischen Krieg zeigt. Vergleichen und Kooperieren – Relevanz und Relativierung des Beobachteten Als Boy de la Tour Mitte Mai mit seinen Kollegen von Wattenwyl und Bornand auf dem Weg zum osmanischen Hauptquartier die Grenze zwischen dem osmanischen Mazedonien und dem griechischen Thessalien passierte und dabei die Spuren der ersten Schlachten des Kriegs inspizierte, wunderte er sich: Weshalb hatte sich die griechische Armee auf breiter Front aufgestellt, anstatt sich auf schwer einnehmbare, strategische Punkte in der Bergkette zu konzentrieren?83 Auf diese Art, so Boy de la Tour, sei sie der osmanischen Armee numerisch unterlegen gewesen und hätte sich bald zurückziehen müssen. Auch die aus Erde und Stein aufgehäuften Verschanzungen hätten nur einen «relativen Schutz» dargestellt. Die griechischen genau wie die von türkischen Soldaten während der Kämpfe errichteten Befestigungen «böten schwerlich Schutz vor dem Feuer moderner Waffen, vor allem wegen der Splitter.»84 Die Offiziere der Schweizer Militärmissionen betrachteten den Kriegsschauplatz unter professionellen Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund der eigenen Verhältnisse. Zwischen Griechenland und der Schweiz bestand nicht nur jene topographische Ähnlichkeit des Gebirgskampfs, die der Generalstab bereits herausgestrichen hatte. Parallelen eröffneten sich auch in der numerischen Unterlegenheit, mit der die Schweizer Armee gegenüber ihren potenziellen Feinden, den angrenzenden Grossmächten, ebenso zu kämpfen hätte. Das Geschehen im nördlichen Griechenland bot so nicht nur Erkenntnisse über den Stand der Kriegsführung, sondern, wenngleich auf abstrakte Art, auch eine Vergleichs- Alfred Boy de la Tour, BAR 27 12584/4a Journal de la «Mission militaire suisse» à l’armée ottomane de Thessalie, 1 Mai-17 Juin 1897, 1897, 4. Juni 1897. Im Original: «Le soir dîner chez l’attaché militaire Autrichien: Lieut. Colonel Baron de Giessl. – Belle soirée à laquelle assiste l’attaché militaire Russe et durant laquelle on refait la campagne de Thessalie, le verre en main.» 83 Ebd., 9. Mai 1897. 84 Ebd. Im Original: «Les uns et les autres ne constituent que des protections relatives: ils couvriraient difficilement contre le feu des fusils modernes, surtout à cause des éclats.» Weber kam zu einer ähnlichen Feststellung in seinem Bericht, vgl. BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 35–38. 82 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 273 274 Niko Rohé folie zu den heimischen (geo‐)strategischen Verhältnissen.85 Daher ist es interessant, auf die Vergleichspraktiken zu blicken, mit denen die Akteure ihre Beobachtungen ins Verhältnis setzten, denn sie geben Aufschluss darüber, wie die Offiziere das eigene Militär im Spiegel des fremden Kriegs verorteten.86 Wie positionierten sich Schweizer Militärangehörige über das Vergleichen zu den Ereignissen auf dem fremden Kriegsschauplatz? Weber, der nur die Schlacht von Domokos selbst verfolgt hatte,87 sah in der griechischen Kriegsführung vor allem vergebenes Potential. In seinem Rapport, in dem er im Monat nach dem Feldzug zusammengetragene Informationen und eigene Beobachtungen bündelte, beschuldigte er den griechischen Generalstab, frühe, kriegsentscheidende Fehler begangen zu haben. Es ist nicht das erste Mal, dass Generalstäbe, welche über Jahr & Tag in langen Friedensperioden mit Kriegsvorbereitungen zu thun haben, bei einem wirklichen Kriegsausbruch in den Fehler verfallen, einen wolvorbereiteten Operationsplan durchführen zu wollen, der auf Voraussetzungen aufgebaut ist, die in der Wirklichkeit dann nicht eintreffen.88 Weber verglich die fehlende Flexibilität der griechischen Militärführung mit der Fehleinschätzung der Heiligen Allianz im Kampf gegen Napoleon 1814. Er war überzeugt: Eine bessere Führung hätte die aus seiner Sicht ausreichend ausgerüstete und schlagkräftige Armee Athens zu strategischen Erfolgen führen können. In seinem Resümee des Feldzugs entwarf er dazu eine Reihe von strategischen Alternativen. So seien die Befehlshaber bei Domokos zu unentschlossen gewesen, um nach einem erfolgreich abgewehrten, osmanischen Angriff ausreichend Truppen für einen direkten Gegenschlag zu verschieben. «Ein Regiment mehr an zuverlässigen Truppen, richtig eingesetzt, hätte die Schlacht noch am 18. zu Gunsten der Griechen wenden können,»89 war sich Weber sicher. Stattdessen hätten die Verantwortlichen «eine Art der Furcht, die bei kriegführenden Dilettanten allgemein» sei, gezeigt und damit gegen die Grundprinzipien militärischer Kriegsführung verstossen.90 Wer diese universelle Norm der Kriegführung Weber führte zu Beginn seines Abschlussberichts den umfassenden Missionsauftrag im Wortlaut an, vgl. BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, Einleitung. 86 Diese finden sich häufiger in den abschliessenden Berichten als in den täglichen Aufzeichnungen der Militärs. 87 Wohl auch weil er den Grossteil des Kriegs verpasst hatte, betonte Weber: «In der Schlacht von Domokos lag die Entscheidung des Feldzuges». BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 85. 88 Ebd., 35. 89 Ebd., 86. 90 Ebd. Weber führte in diesem Zusammenhang ein Zitat an, welches auch Moltke ähnlich gebrauchte: «Zur Schlacht muss man sein letztes Bataillon heranziehen – ein Bataillon mehr an richtiger Stelle kann entscheiden.» 85 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 festlegte, offenbart sein abschliessendes Fazit: «Die griechische Armee war im Frühjahr 1897 in jeder Beziehung kriegsunbereit & weit von dem entfernt, was nach westeuropäischen Begriffen feldtüchtig heisst.»91 Boy de la Tour kam in seinem abschliessenden Bericht über den Vormarsch der siegreichen, osmanischen Armee zu einer ambivalenten Einschätzung. Er attestierte den türkischen Truppen eine grosse individuelle Disziplin im Gefecht und beste, soldatische Anlagen.92 Der Krieg von 1897, so der Schweizer Offizier, ergänze in diesem Sinne die Feststellungen des Russisch-Türkischen Kriegs knapp dreissig Jahre zuvor: «Nach 1878 hat man schreiben können, dass der türkische Soldat in der Defensive exzellent sei. Was ich gesehen habe, hat für mich belegt, dass er in der Offensive nicht viel schlechter war.»93 Allerdings bemerkte Boy de la Tour vergleichend, dass die Ausbildung der Soldaten zwar gut sei, jedoch «ohne das Niveau europäischer Armeen zu erreichen.»94Als Beleg führte er in einem späteren Abschnitt etwa das ungeordnete Marschieren an, das den «in europäischen Armeen geltenden Konzepten nicht entsprach.»95 Gleichzeitig spiegelte diese Akzentuierung einer fehlenden Marschdisziplin auch Boy de la Tours Positionierung im nationalen Richtungsstreit zugunsten einer stärkeren Disziplinierung im Sinne Willes. Ähnlich wie Weber hatte er jedoch noch gravierendere Versäumnisse auf der militärischen Entscheidungsebene beobachtet. So unterstellte Boy de la Tour dem osmanischen Marschall, Edhem Pascha, er habe nach der Besetzung Larissas zu lange gezögert, weiter vorzurücken und damit die Gelegenheit verpasst, «die gesamte griechische Armee gefangen zu nehmen.»96 Vor der Schlacht um Volo habe es die osmanische Führung zudem versäumt, ausreichend Informationen einzuholen. Ein Kavallerievorstoss scheiterte daraufhin verlustreich: für Boy de la Tour eine klare «Nichtbeachtung der elementaren Regeln der Kriegskunst.»97 Bei Domokos schliesslich habe der Ibid., 134. «Le soldat turc est d’une bravoure incontestable. Il marche au combat comme il va à la mosquée, c’est-à-dire avec un calme qui est fait pour étonner.» BAR, E27 12584, Bd. 3, Rapport de la Mission suisse auprès de l’armée Ottomane de Théssalie en 1897, 15. August 1897, Abschnitt «Notice concernant l’organisation des forces militaires ottomanes». 93 Ebd. Abschnitt «Tactique des trois armes. Infanterie». Im Original: «Après 1878, on a pu écrire que le soldat turc était excellent dans la défensive. Ce que j’ai vu m’a prouvé qu’il était non moins bon dans l’offensive.» 94 Ebd., Abschnitt «Instruction. Infanterie». Im Original: «Sans atteindre le niveau des armées d’Europe, l’instruction professionnelle des nizams est bonne.» 95 Ebd., Abschnitt «Tactique des trois armes. Infanterie». Im Original: «La composition des colonnes ne répondait pas aux notions en vigueur dans les armées Européennes.» 96 Ebd., Abschnitt «Première période 16–25 Avril». Im Original: «Si le maréchal n’avait pas tardé sans raison à avancer du 19 au 23 et avait poussé vivement sur Larissa il avait chance de faire prisonnière toute l’armée grecque.» Wie Boy de la Tour in seinem Rapport erwähnt, konnte er beim Abfassen seines Berichts auf die Aufzeichnungen von Weber zurückgreifen, die dieser ihm nach Kriegsende zur Verfügung gestellt hatte. 97 Ebd., Abschnitt «Première période 16–25 Avril». Im Original: «on peut sans se tromper, soutenir que c’est à cette inobservation des règles élémentaires de l’art de la guerre qu’il faut faire remon91 92 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 275 276 Niko Rohé «Kommandoapparat der türkischen Armee denkbar schlecht funktioniert»98 und damit die mangelhafte Organisation endgültig belegt. Wenn weder die griechische noch die osmanische Armee in den Augen der Schweizer Beobachter den Regeln des modernen Krieges folgten: Liess sich dann überhaupt etwas aus dem Krieg in Thessalien lernen? Überaschenderweise fand Weber eine positive Antwort auf diese Frage. Zwar räumte er ein, dass «die Nutzanwendungen welche sich […] für unser schweizerisches Wehrwesen ergeben, nur zum kleinsten Teil auf Nachahmungswertes fussen», die «wahrgenommenen Mängel»99 böten dafür umso mehr Anregungen. Erstens sah Weber Einsparungspotential bei Ausrüstung und Bekleidung. Schweizer Soldaten könnten wie Türken und Griechen auf Gepäck verzichten und ihre Patronen zudem in Gurten statt in Taschen tragen. Beides würde die Soldaten erleichtern, und brächte «einen wesentlichen Vorsprung an Operationsfähigkeit»100 mit sich. Zweitens lieferte der Krieg für ihn Anschauungsmaterial in der Schweizer Debatte um grössere Bataillonsstärken. So hätten sich die osmanischen Einheiten mit ihren oft halb so grossen Kompagnien als «beweglicher, manövrierfähiger & fester in der Hand der Führung»101 gezeigt. «Unter der modernen Waffenwirkung (die modernste war übrigens kaum vertreten)»102 hätte sich ausserdem herausgestellt, dass Truppen für den Angriff in Zukunft eine weit bessere Ausbildung als verteidigende verlangten. Drittens, so Weber, habe die griechische Niederlage offenbart, wie wichtig es sei, bereits im Frieden Pläne für Befestigungsarbeiten zu erstellen. «Die Griechen haben das zu ihrem Schaden versäumt, obgleich sie mehr Zeit zur Verfügung hatten, als der Gang der Ereignisse auf einem westeuropäischen Kriegsschauplatz vom ersten Mobilmachungstage an unserer Landverteidigung jemals einräumen wird.»103 Viertens zog Weber aus der Schlacht um Domokos die Lehre, dass moderne Waffen nicht automatisch mehr Schaden verursachten. Für die Schweiz verlangte er daher unter anderem frühere und ter les causes de l’insuccès du projet du général en chef.» Boy de la Tour warf abschliessend die Frage auf, weshalb der Marschall gegen alle Regeln des Krieges verstossen habe. «Est-ce par ignorance ou par oubli de ses devoirs que l’Etat major d’Edhem a ainsi pêché contre toutes les règles de la guerre?» 98 Ebd., Abschnitt «Observations concernant les opérations des 17–19 mai». Im Original: «En résumé, l’appareil du commandement de l’armée turque a fort mal fonctionné le 17 mai, et a démontré l’insuffisance de son organisation.» 99 BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 136. 100 Ebd. Als Argumente führte Weber zum einen die wenigen Krankheitsfälle im Aprilwetter 1897 heran und verwies zum anderen auf die gute Infrastruktur der Schweiz, dank derer fehlende Ausrüstungs- oder Ersatzgegenstände schnell zur Front geschafft werden könnten. 101 Ebd., S. 138. 102 Ebd., S. 139. Weber bezieht sich mit seiner Bemerkung auf das Fehlen der in den 1890er-Jahren neu eingeführten Kleinkaliber-Waffen. Im Krieg von 1897 verfügte jedoch nur ein Truppenteil der Osmanen über diese Bewaffnung, so dass weder fremde Militärs noch Ärzte deren Wirkung tatsächlich beobachten konnten. 103 Ebd., S. 141. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 vermehrte Schiessübungen im Rahmen des Wehrdienstes. Fünftens und sechstens sei es zudem für die Kohäsion der Armee zentral, dass Truppeneinheiten und höhere Truppenführer regelmässig praktische Übungen durchführten.104 Dass sich dies bei der Mobilisierung nicht nachholen lasse, habe die Eingliederung von Reservisten in die griechische Armee gezeigt. Insgesamt zog Weber somit aus dem griechisch-türkischen Krieg vor allem die Lehre, die Militärausbildung in der Eidgenossenschaft qualitativ auszuweiten und plädierte für eine straffere Führung, ähnlich wie sie die osmanische Armee mit ihren deutschen Ausbildern an den Tag gelegt hatte. Beide Schlussfolgerungen stützten die Forderungen der «Neuen Richtung». Boy de la Tour sprach dem Feldzug jeden Erkenntniswert ab. Er habe «nichts Neues gezeigt, weder theoretisch, noch methodisch, noch in der praktischen Anwendung derzeitig geltender oder empfohlener Kriegsregeln.»105 Im Gegenteil, die Kampagne habe allenfalls veranschaulicht, wie Kriege nicht zu führen seien. Dennoch liess Boy de la Tour diesem abschliessenden Urteil eine Reihe von militärischen Prinzipien folgen, die sich für ihn während der Mission bestätigt hatten. Er habe feststellen können, welche Bedeutung die Faktoren «Zeit und Raum»,106 Verpflegung und Gesundheit, Aufklärung und Logistik auf den Ausgang militärischer Aktionen hätten. Vor allem aber belege, «das, was während des griechisch-türkischen Kriegs passierte, […] einmal mehr den entscheidenden Einfluss des Oberbefehlshabers auf den Erfolg oder Misserfolg eines Krieges.»107 Boy de la Tour listete die erforderlichen Qualitäten dieses Amtes auf, ohne sie jedoch nochmals in direkten Bezug zur osmanischen Führung zu stellen. Im Gegensatz zu Weber stellte er in seinem Fazit kaum direkte Verbindungen zum Schweizer Militärwesen her; stattdessen bestand es im Wesentlichen aus einer Reformulierung der eigenen militärischen Grundsätze. Anders als es sein Schlusswort zunächst suggerierte, hatte Boy de la Tour dennoch eine ganze Reihe von Fragen und Lehren aus dem griechisch-türkischen Krieg von 1897 mit in die Schweiz zurückgenommen. Bei der Verschriftlichung des Rapports verbanden sich diese jedoch zumeist unmittelbar mit den Weber sprach sich in diesem Kontext auch explizit gegen die Militärpublizistik aus: «Die Spekulationen des Einzelnen am Schreibtisch können nur zu schädlicher Einseitigkeit führen, wenn sie nicht immer wieder im anregenden geistigen Verkehr mit Männern, die im gleichen Ideenkreis arbeiten, abgeklärt werden.» Ebd., S. 149–50. 105 BAR, E27 12584, Bd. 3, Rapport de la Mission suisse auprès de l’armée Ottomane de Théssalie en 1897, 1897, Abschnitt «Tactique des trois armes». Im Original: «La Campagne de Thessalie ne nous a rien montré de nouveau comme principes et comme méthodes, ni comme application pratique des règles de la guerre actuellement en vigueur ou préconisées.» 106 Ebd., Abschnitt «Tactique des trois armes». Im Original: «Le rôle des facteurs ‘temps’ et ‘espaces’ dans les opérations est prépondérant.» 107 Ebd., Abschnitt «Tactique des trois armes». Im Original: «Ce qui s’est passé durant la guerre Greco-Turque prouve une fois de plus l‘influence décisive du commandant en chef sur la réussite ou la non réussite de la guerre.» 104 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 277 278 Niko Rohé direkten Betrachtungen auf dem Schlachtfeld. Bei Domokos hatte Boy de la Tour die mangelnde Feuerdisziplin osmanischer Soldaten beobachtet, bei denen «jeder Mann schiesst, wo er will, ohne sein Visier zu nutzen, oft ohne anzulegen und die meiste Zeit ohne zu zielen.»108 Die Folge war eine geringe Trefferquote. Diese Eindrücke, so schildert er, hätten ihn nach der Schlacht und bis zu seiner Rückkehr sehr beschäftigt. In seinem Bericht setzte der Generalstabsoffizier sie in Analogie zu den Schilderungen eines Gefechts bei Königgrätz 1866 und Schweizer Manövern. Seine Folgerung: Das auf Basis von Schiessübungen entwickelte Reglement zur Visiereinstellung könne nach seinen Erfahrungen im Krieg nicht gelten und sollte daher überdacht werden. Ähnliche Anregungen entnahm er dem osmanischen Truppeneinsatz. Die Einsichten von Domokos lehrten, alle Soldaten einer Angriffseinheit sofort in die Schützenlinien zu bringen, denn unter den Bedingungen des weitreichenden Artilleriefeuers Ende des 19. Jahrhunderts sei es zu riskant, einen Teil als Nachschub bereitzuhalten. Militärtechnische Einsichten zur «Kanone der Zukunft»,109 einer 12 cm Feldhaubitze, und den Vorteilen des Schrapnellfeuers komplettierten die taktischen Erkenntnisse. Der Krieg von 1897 hatte also auch bei Boy de la Tour Reflexionen angestossen. Wie lässt es sich erklären, dass diese nicht in seinem Fazit auftauchen? Schweizer Militärs hoben vor allem die militärischen Defizite der griechischen und osmanischen Armee in ihren Abschlussberichten nach Kriegsende hervor. In der Retrospektive und im Fall Boy de la Tours, der Webers Bericht nutzen konnte,110 als auktoriale Erzähler entdeckten sie bei beiden Generalstäben Fehlentscheidungen und Zögern. Die Ex-post-Perspektive erlaubte es ihnen, in Alternativen zu denken. Gleiches gestanden sie jedoch in Fragen der Organisation und Taktik weder der griechischen noch der osmanischen Armee zu. Im festen Glauben an die eigene militärische Norm und Ausbildung, wie er sich etwa in Boy de la Tours Fazit zeigte, glichen sie stattdessen die Kriegsentscheidungen der fremden Mächte mit ihren eigenen Grundsätzen, den «Regeln der Kriegskunst», ab. Wie sie in diesem Kontext zu Vergleichen griffen, offenbart darüber 108 Ebd., Abschnitt «Observations concernant les opérations des 17–19 mai». Im Original: «Chaque homme tire où il veut, sans utiliser sa hausse, souvent sans épauler et la plupart du temps sans viser.» 109 Ebd., Abschnitt «Tactique des trois armes». 110 Eine direkte Begegnung hatte es erst nach Kriegsende gegeben. Weber war von Athen aus über Konstantinopel und Wien zurück in die Schweiz gereist. Eine Begegnung der beiden Offiziere ist jedoch nur für Wien verzeichnet, wo Boy de la Tour Weber am Bahnhof trifft. Ebd., 13. Juni 1897. Boy de la Tour verweist in seinem abschliessenden Bericht auf Webers Aufzeichnungen, denen er die Stärke der griechischen Armee entnimmt. Ebd., Dislocation de l’armée Grecque. Weber, dessen Bericht erst im November 1897 fertiggestellt war, zeigt sich zwar gut über die türkischen Truppenstärken unterrichtet, führt jedoch als Quellen einleitend nur die eigenen Beobachtungen und «die Mitteilungen griechischer und bei der griechischen Armee anwesender ausländischer Offiziere […], sowie Zeitungsberichte» und einige allgemeine Buchpublikationen an, BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, Einleitung. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 hinaus, dass sie diese Prinzipien nicht als national, sondern als explizit «westeuropäisch» verstanden. Schweizer Beobachter fanden daher nur in einem sehr geringen Masse Anregungen bei der griechischen oder türkischen Armee. Stattdessen nutzten die Offiziere den Krieg als Fundgrube für empirische Beispiele, mit denen sie sich den Fragen der europäischen und nationalen Militärdebatten der Zeit, wie der Stellung von Milizheeren, der Volksbewaffnung oder dem Angriffsverfahren, annahmen und dabei vor allem die Position der «Neuen Richtung» stärkten. An ihrem Urteil über den Krieg selbst änderte dies jedoch nichts.111 Fazit Am 18. habe ich den Rückzug im letzten Nachtrupp mitgemacht. Allerdings nicht ganz freiwillig soweit hinten; denn die fremdländ. Offciere (neben mir ein Japanese und ein Norweger) sind beim nächtlichen Abzug der Armee vergessen worden, als sie den Schlaf der Neutralen schliefen.112 Diese Worte schickte Weber am 25. Mai 1897 aus Athen an den Vorstehenden des Schweizer Militärdepartments Eduard Müller. Die Analyse der Militärmissionen auf den griechisch-türkischen Schlachtfeldern in Thessalien hat allerdings gezeigt, dass es sich allenfalls um einen leichten Schlaf handelte. Im Verhältnis zu den europäischen Grossmächten waren die Schweizer Beobachter stark vertreten, was das grosse Bedürfnis nach Orientierung innerhalb der Armee verdeutlicht. Zwar konnte die Entsendung von Kriegsbeobachtern auf eine lange Tradition zurückblicken, eine mehr als zehnjährige Friedenszeit in Europa hatte allerdings empirische Einblicke in rezente taktisch-technische Entwicklungen verhindert. Zu wissen, wie Krieg jenseits von Manövern und Theorien aussah, schien vor dem Hintergrund des Richtungsstreits essentiell und war daher ein Hauptmotiv der 1897 ausgewählten Offiziere Boy de la Tour, von Wattenwyl, Bornard und Weber.113 Boy de la Tour zeigte sich im Nachhinein sehr dankbar für diese Erfahrung, obwohl, wie er sich zu seinen Eindrücken vor der Schlacht von Domokos erinnerte, «ich [nachts] mehrfach durch Träume und Albträume geweckt wurde. Ich hörte den Lärm von Kanonen und Schüssen, die Schreie von 111 Noch im Januar 1898 kam ein Zuhörer von Boy de la Tours Vortrag im stadtbernischen Offiziersverein zu dem Schluss, dass man nun zwar «ein vollständiges Bild» des Krieges habe. Dieses gehöre «allerdings in seiner Gesamtheit nicht zu den schönen und hervorragenden Schlachtenbildern […].» Eidenossenschaft: Bern. Vortrag von Oberst Boy de la Tour über den türkisch-griechischen Krieg, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung XLIV, Bd. 7, 1898, S. 62. 112 BAR, E27 12584, Bd. 5, Brief Weber an Bundesrath Oberst Müller, Athen 25. Mai 1897. 113 Auch ein Artikel in der Patrie suisse wies auf die Endsendung als eine Reaktion auf die mangelnde Kriegserfahrung hin, vgl. La mission militaire suisse à la guerre gréco-turque, in: La Patrie suisse 4, Bd. 96, 1897, S. 121–122. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 279 280 Niko Rohé Verwundeten, das wilde Geschrei, das Schlachtengetöse ähnlich wie den fernen Lärm des Gewitters.»114 Im April 1897 war der Kriegsschauplatz indes nah und fern zugleich. Einerseits rückten historische Verbindungen und geostrategische Vergleiche den Konflikt an die Schweiz heran. Neben Ähnlichkeiten im Terrain und Analogien im Kräfteverhältnis der Kriegsparteien zu Schweizer Szenarien, begründete so auch der in der Eidgenossenschaft seit den 1830er-Jahren weit verbreitete Philhellenismus die expliziten Wünsche der Offiziere, in das griechische Hauptquartier entsandt zu werden.115 Die staatliche Neutralität stand diesem Wunsch allerdings entgegen. Andererseits verdeutlichte die lange Dauer der diplomatischen Anfrage, dass die Anrainerstaaten der Ägäis für die Schweizer Aussenpolitik weit entlegene Gebiete waren. Der Umweg führte über deutsche und französische Vermittler und hätte beinahe den Erfolg der Missionen riskiert. Vor Ort half den Schweizern dann jedoch die logistische Unterstützung einflussreicher Landsleute. Die Analyse der militärischen Reiseberichte hat gezeigt, dass trotz fehlender internationaler Vertretungen vielfältige transnationale Verbindungen der Schweiz ins Osmanische Reich und nach Griechenland bestanden. Die untersuchten Reise- und Vergleichspraktiken in den Briefen, Berichten und Journalen offenbaren schliesslich auch, dass die entsandten Schweizer Militärs sich selbst deutlich positionierten. Ohne eigene Kriegserfahrung beklagten sie nach kurzer Zeit am Kriegsschauplatz die schlechte Versorgung und suchten die europäische Gesellschaft ihrer Kollegen. Obwohl sie die Begegnungen mit griechischen und osmanischen Befehlshabern, trotz deren offizieller Natur, positiv protokollierten, verurteilten sie in ihren abschliessenden Berichten an den Schweizer Generalstab die Kriegführung beider Parteien.116 Diese verglichen sie dabei nicht etwa mit dem nationalen Heerwesen, sondern mit «(West‐)Europa» als der von ihnen suggerierten modernen Militärnorm. Die Leistungen osmanischer und griechischer Offiziere erschienen gegenüber dieser oft retrospektiv BAR, E27 12584, Bd. 3, Rapport de la Mission suisse auprès de l’armée Ottomane de Théssalie en 1897, 1897, Abschnitt «Tactique des trois armes». Im Original: «Je fus réveillé plusieurs fois par des rêves et des cauchemars. J’entendais le bruit du canon et de la fusillade, des cris de blessés, des clameurs sauvages, le fracas de la bataille semblable au bruit lointain de l’orage.» 115 Gegenüber dem griechischen König betonte Weber, «dass bei strikter Neutralität der Regierung, die Sympathien unseres Volkes in überwiegender Mehrheit bei den Griechen seien.» BAR, E27 12584, Bd. 6, Bericht an das Schweizerische Militärdepartement über meine Mission bei der griechischen Armee im Mai 1897, 1897, S. 174. Zu Webers eigenem Philhellenismus siehe die vielen griechenfreundlichen Orientalismen in Webers 1898 erschienenem Reisebericht: Robert Weber, Aus dem Feldzuge in Thessalien 1897. Erinnerungen und Studien eines schweizerischen Offiziers, Zürich 1898 (Neujahrsblatt der Feuerwerker-Gesellschaft in Zürich 93). Wie Othmar Uhl gezeigt hat, wirkten ähnliche Vergleiche 1899, als viele Schweizer sich mit den Buren im Krieg gegen das Britische Empire solidarisierten. Vgl. Othmar Uhl, Die diplomatisch-politischen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der Schweiz in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg (1890–1914), Stuttgart 1961, S. 77. 116 Ob der positive Ton im Missionsjournal auf eine mögliche Selbstzensur zurückgeht, lässt sich aus den Quellen nicht erkennen. 114 SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 Schweizer Militärs als Kriegsbeobachter in Griechenland und dem Osmanischen Reich 1897 bestärkten Vergleichsfolie defizitär. Einerseits nutzten die entsandten Instruktionsoffiziere diese Feststellungen und ihre Autorität als Beobachter, um im nationalen Richtungsstreit Partei zu ergreifen. Andererseits legen die häufigen Begegnungen in Konstantinopel jedoch auch nahe, dass Kriege fremder Mächte den neutralen Beobachtern der Schweiz darüber hinaus halfen, sich mit ihren europäischen Militärattachés über gemeinsame Referenzrahmen auszutauschen. Der Krieg von 1897 bot Schweizer Offizieren so eine Gelegenheit der Selbstvergewisserung: Im Spiegel der fremden Konfliktparteien und im Austausch mit den Vertretern der Grossmächte stellten sie für sich sicher, die militärischen Entwicklungen Westeuropas nicht zu verschlafen. Niko Rohé, SFB 1288 «Praktiken des Vergleichens», Universität Bielefeld, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, niko.rohe@uni-bielefeld.de. SZG/RSH/RSS 69/2, 2019, 254–281 281