Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 

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SZG Band 71Rezensionen / Recensions / Recensioni10.24894/2296-6013.00093 01.12.2021Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Band 71:493-583Rezensionen / Recensions / Recensioni Rafael Wagner, Schwertträger und Gotteskrieger. Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Kriegergesellschaft Alemanniens, Zürich: Chronos, 2019 (St. Galler Kultur und Geschichte, Bd. 42), 524 Seiten, 31 Abbildungen. «Am Anfang stand das Kloster St. Gallen» (S. 11), so leitet Rafael Wagner das Vorwort zur nun gedruckten Fassung seiner Basler Dissertation (2018) ein, und was man sich unter den Schlagworten «Schwertträger und Gotteskrieger» genauer vorzustellen habe, verrät der Untertitel des gewaltigen Werks. «Alemannien und seine Kriegergesellschaft» (S. 13) werden in den Blick gefasst – eine heterogene Gesellschaft, welche beispielsweise «die Truppen des schwäbischen Herzogs Burchard in Italien, die St. Galler Mönche im Kampf gegen die Ungarn, die Haustruppe Bischof Salomos von Konstanz, lokale Aufgebote der Grafen und Centenare, die Kastellbewohner von Arbon, den spezialisierten Teil einer klösterlichen familia oder die freien Schwertträger, die jeder frühmittelalterlichen Urkundenausstellung als Zeugen dienten», miteinschliesst. Ausgehend vom Kloster St. Gallen und dessen Einzugsbereich, also dem (weiteren) Bodenseeraum, wird diese alemannische Kriegergesellschaft als «standesübergreifende Gemeinschaft» (S. 13 f.) betrachtet. Im Anschluss an seine Bemerkungen über den Gegenstand der Untersuchungen definiert der Autor in der umfangreichen Einführung Raum und Zeit (S. 15), Begriffe und Grenzen (S. 18), um schliesslich diejenige «schriftliche Überlieferung in Schwaben» zu definieren und zu charakterisieren, die er für sein Vorhaben vor allem heranziehen will (S. 29–38). Wagner baut die in zwei grosse Teile grobgegliederte Arbeit um die hauptsächlichen Quellenbestände Schwabens aus dem 9. bis 11. Jahrhundert, in erster Linie um das weltweit einzigartige Corpus von bald 900 frühmittelalterlichen Originalurkunden aus dem Galluskloster. Dieses Corpus entstammt der Zeit vor der Jahrtausendwende, vor allem aus dem 8. und 9. Jahrhundert, und blieb im Sanktgaller Stiftsarchiv vorzüglich erhalten. Seit längerem schon zählt es zum Weltkulturerbe, neuerdings auch zum Memory-of-theWorld-Programm. Für die nachfolgende Periode ab 920, als die Zahl der überlieferten dokumentarischen Quellen in St. Gallen stark zurückgeht, um schliesslich im 11. Jahrhundert fast ganz zu versiegen, sieht sich der Autor dann zunehmend auf chronikalische historische Überlieferung aus Alemannien und Schwaben angewiesen. Die alemannische Gesellschaft wird im ersten Hauptteil des Buchs unter den Aspekten «Militarisierung und Reform» (S. 39) analysiert und dabei zunächst in Krieger und Waffenträger einerseits (S. 41) sowie Hörige, Dienstleute und ‹Ministeriale› andererseits (S. 118) eingeteilt. Seinen sozialgeschichtlichen Studien verleiht der Autor Nachhaltigkeit und zusätzliche Tiefenschärfe mittels einer ausführlichen Revue der römischen Kastelle, der städtischen Mauern und der ländlichen Refugien im Untersuchungsgebiet (S. 204). Thematisch knüpft er mit seiner Arbeit an historische ‹Initialerlebnisse› des St. Galler Klosters und der Mönche wie den Ungarnüberfall der Jahre zwischen ca. 923 und 926 an, und an die sich eben damals unter blutigen Fehden und Schlachten vollziehende Geburt des Herzogtums Schwaben. Dem ersten Narrativ «Militarisierung und Reform» lässt Wagner einen zweiten, teils stark strukturgeschichtlichen Durchgang folgen, diesmal unter dem Aspekt «Mutationen der Macht» (S. 293). Dabei gelingt es dem Autor unter anderem, für das 10. und 11. Jahrhundert eine verlässliche ‹Verlängerung› des Borgolteschen Grundlagenwerks über die (karolingischen) Grafen und Grafschaften Alemanniens zu erschaffen. AndererSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 494 Rezensionen / Recensions / Recensioni seits kommen König und Reich, Italien und das Imperium nach meinem Dafürhalten zu kurz. Die Folge ist, dass öfters Facetten dieser zentralen historischen Ebene ausgeblendet bleiben, die sich längst als essentiell für die Formierung und den damals erworbenen Charakter des Herzogtums Schwaben (S. 404) erwiesen haben. Darüber hinaus wird speziell in diesem Zusammenhang, aber auch an anderen Stellen des Buches, häufig auf Ekkeharts Casus Sancti Galli zurückgegriffen – an sich eine grossartige und nicht umsonst hochberühmte Klosterchronik ihrer Zeit! Bei ihrer Benutzung als historische Quelle darf jedoch nie die Aussageabsicht des Chronisten ausser Acht gelassen werden, genauso wie immer in Rechnung zu stellen ist, dass Ekkehart zumeist erst Generationen nach den Ereignissen über diese berichtete. Das Werk ist komfortabel ausgestattet mit 29 zum Teil farbigen Abbildungen, Grafiken und Kartenskizzen, dazu mit zwei für das Verständnis der ausgebreiteten Materie zentralen Kartierungen im Anhang (S. 446). Es folgen Listen der «schwäbisch-alemannischen» Grafschaften und der zugehörigen Grafen für den Untersuchungszeitraum vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (S. 448) sowie ein nützliches «Glossar und lateinisches Sachregister» (S. 455). Im Verein mit dem Personen- und Ortsnamenregister (S. 467) und einem Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur (S. 485) erschliessen diese Listen und Register den Band auf vorbildliche Weise. Zur komfortablen Ausstattung rechnet sich schliesslich noch ein Zeichenband, während der eifrige Wissenschaftler die für die Orientierung in einem solchen Opus magnum höchst wichtigen lebenden Kolumnentitel vermisst. Rafael Wagners «Schwertträger und Gotteskrieger» ist ein höchst komplexes und gehaltvolles Kompendium zur früh- und hochmittelalterlichen (Sozial‐)Geschichte des (weiteren) Bodenseeraumes und wirft nebenbei helles Licht auf die Anfänge und die ältere Geschichte des Herzogtums Schwaben. Zahlreiche Aspekte und Themen werden entlang des roten Fadens der alemannischen «Kriegergesellschaft» verfolgt, viele fruchtbare Seitenlinien und Gedanken werden nebenbei angeschnitten. Da das Buch konsequent aus den Quellen gearbeitet ist, erweist es sich als hervorragendes Grundlagenwerk für die mediävistischen Wissenschaften. Dass es sich dabei zu Teilen auch ganz vergnüglich liest, erscheint mir ein besonders erwähnenswertes Qualitätsmerkmal zu sein. Eine Besprechung in wenigen Zeilen kann einem solchen Opus magnum beim besten Willen nicht gerecht werden. Mögen die «Schwertträger und Gotteskrieger» nicht nur in den einschlägigen wissenschaftlichen Fachkreisen, sondern auch bei einem breiteren Publikum auf die ihnen gebührende Resonanz stossen! Alfons Zettler, Dortmund Carsten Goehrke, Unter dem Schirm der göttlichen Weisheit. Geschichte und Lebenswelten des Stadtstaates Groß-Nowgorod, Zürich: Chronos, 2020, 559 Seiten, 53 Abbildungen. Carsten Goehrke war von 1971 bis 2002 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Nach seiner Emeritierung hat er grundlegende Werke zur Geschichte Russlands veröffentlicht: «Russischer Alltag» (3 Bde., 2003–2005), «Russland. Eine Strukturgeschichte» (2010) und «Lebenswelten Sibiriens. Aus Natur und Geschichte des Jenissei-Stromlandes» (2016). Diese Bücher haben nicht nur Lehre und Forschung des Faches intensiv beeinflusst, sondern überhaupt die Kenntnis Russlands in der Öffentlichkeit wesentlich erweitert. Dass der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung seit einiger Zeit derartige Publikationen emeritierter HochSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni schullehrer nicht mehr unterstützt, erweist sich angesichts der überragenden Forschungsleistungen Goehrkes als offensichtliche Fehlentscheidung. Auch der Druck seines neuesten Werkes musste aus privaten Mitteln finanziert werden. Mit seiner Studie zu Geschichte und Lebenswelten Gross-Nowgorods kehrte Goehrke zu seinen wissenschaftlichen Anfängen zurück: Als frisch gebackener Assistent hatte er 1963/64 einen Vortrag zur Sozialstruktur des mittelalterlichen Nowgorods erarbeitet, der 1966 publiziert wurde. Seitdem hat die Forschung neue Quellen erschlossen und unterschiedliche Interpretationen vorgelegt. Darauf geht Goehrke im ersten Teil seiner Arbeit ein. Neben schriftlichen Quellen sind insbesondere die Birkenbasttexte erwähnenswert, von denen bis jetzt allein in Nowgorod rund 1200 für die Zeit vom 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts gefunden und entziffert worden sind. «Eine vergleichbare Alltagsschriftlichkeit dieses Umfanges kennen wir aus Lateineuropa zumindest für das hohe Mittelalter nicht» (S. 22), stellt der Autor deshalb fest. Hinzu kommen archäologische Ausgrabungen, die wesentliche Hinweise geben. Goehrke schreibt die Geschichte des Nowgoroder Landes von den Anfängen bis zum Ende der Selbstständigkeit 1478, mit einem Ausblick bis in die Gegenwart. Behandelt werden Siedlungswesen, soziale Schichtung, wirtschaftliche Tätigkeit, Verwaltungsstruktur, Innen- und Aussenpolitik, Kirche und Kultur sowie Alltagsleben. Detailliert zeichnet Goehrke nach, wie sich vor allem über den Handel die ökonomische Machtgrundlage des Nowgoroder Herrschaftsgebietes im Rahmen der Fürstentümer der Rus herausbildete. Aus dem ersten Aufstand der Nowgoroder gegen ihren Fürsten 1096 entwickelten sich, begleitet von einem wachsenden Selbstbewusstsein der Bevölkerung, über eine Doppelherrschaft von gewähltem Bürgermeister und Fürst sowie über weitere Wahlämter kollektive Institutionen (Hundertschaften von Kaufleuten und Gewerbetreibenden, Stadtquartiere), von denen die Volksversammlung, das Wetsche, das grundlegende Verfassungsorgan wurde. Dieses bestimmte über entscheidende politische Fragen und wählte nicht nur die städtischen Amtspersonen, sondern auch den Fürsten und den Erzbischof, der neben geistlicher zugleich weltliche Macht besass. Der «Stadtstaat» Nowgorod, wie ihn Goehrke benennt (S. 5, 401 und öfter), gestaltete sich bis zum 13. Jahrhundert als eine «Form archaischer, urwüchsiger Demokratie, in die der Fürst eingebunden war» (S. 228). Kern des Selbstverständnisses «bildete die in der Sophienkathedrale Stein gewordene ‹Weisheit Gottes›» (S. 275). Die Heilige Sophia wurde als die allumfassende Weisheit Gottes verstanden, die sich in Maria und Jesus verkörpere und Nowgorod beschützen werde. In der Folgezeit gestaltete sich diese Ordnung weiter aus. Die orthodoxe Kirche musste sich dabei mit einer häretischen Bewegung auseinandersetzen, welche die Priester für unwürdig hielt und «das Leben nach dem Evangelium ausrichten wollte» (S. 293). Dies hatte nicht zuletzt mit der Formierung einer differenzierten sozialen Schichtung im 13. und 14. Jahrhundert zu tun, die sich zusehends hierarchisierte und polarisierte. Die Elite schottete sich mehr und mehr von den Unterschichten ab. Es kam im 14. und frühen 15. Jahrhundert zu einer «Oligarchisierung des politischen Apparats» (S. 264) durch die verschiedenen Clans der Grossgrundbesitzer. Das Wetsche blieb zwar oberstes Entscheidungsorgan und wurde geradezu gleichgesetzt mit dem Stadtstaat selbst. Doch die herrschenden Familien waren immer weniger auf «die frühere allgemeine Konsensfindung» aus, sondern versuchten, das auf dem Wetsche anwesende «Volk» zu manipulieren und instrumentalisieren. Damit legten sie die «Axt an die Wurzeln des Stadtstaates» SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 495 496 Rezensionen / Recensions / Recensioni (S. 243). Dieser war zu einem «Konglomerat von Monarchie, Demokratie, Oligarchie und Theokratie» geworden (S. 401). Während der Handel noch einmal aufblühte, vermehrten sich im 15. Jahrhundert die «Anzeichen des Niedergangs» (S. 335). Aufstände und Kämpfe zwischen den Stadtquartieren sowie Korruptionsvorwürfe verstärkten die sozialen Gegensätze. Die aussenpolitische Lage gegenüber den umliegenden Mächten verschlechterte sich. Unter diesem Druck spaltete sich die Stadt darüber, ob man sich mehr dem Grossfürstentum Litauen oder dem Grossfürstentum Moskau zuneigen sollte. Als sich der Konflikt mit Moskau verschärfte, war die Elite bereit, das Wetsche zu opfern, während die Unterschicht der Freien seine entschiedensten Verfechter blieben. In dieser Situation war der «Herr und Herrscher Gross-Nowgorod» (S. 359), wie sich der Stadtstaat inzwischen nannte, der Macht des Moskauer Grossfürsten nicht mehr gewachsen. 1478 musste er nach mehreren Niederlagen kapitulieren. Als Zeichen der vollständigen Unterwerfung wurde die Wetscheglocke nach Moskau transportiert. Der Grossfürst enteignete die Elite Nowgorods, liess viele von ihr hinrichten und den Rest umsiedeln. Das Land verteilte er an seine Leute. Der Handel brach zusammen. Gross-Nowgorod, das einmal wirtschaftlich stärker und politisch mächtiger gewesen war als die anderen Fürstentümer der Rus, wurde zu einer Provinz. Nowgorod ging durch den «Eigennutz seiner Elite» unter (S. 378) – was Goehrke auch als Warnung für unsere heutige Demokratie betrachtet. Zudem gelang es dem Stadtstaat nicht, sich etwa durch ein rechtzeitiges Bündnis mit Litauen in eine staatliche Struktur einzubetten, die dem Moskauer Grossfürsten gewachsen gewesen wäre. Die Verfassung Nowgorods stellte durchaus eine Alternative zu dessen Autokratie dar. Der Niedergang des Stadtstaates stand nicht von vornherein fest, sondern hatte konkrete Ursachen. Ebenso war die Autokratie keine Staatsform, die sich für Russland sozusagen naturnotwendig ergab. Bei einer anderen historischen Konstellation hätten sich die demokratischen Verfassungselemente des Wetsche nicht nur auf Pskow (Pleskau) und Wjatka ausgedehnt, die 1489 und 1510 in das Moskauer Grossfürstentum eingegliedert wurden, sondern auf weitere Gebiete, in denen Volksversammlungen in bestimmten Fällen Ausdruck der Selbstorganisation waren. Die Geschichte Russlands und ganz Osteuropas wäre vermutlich anders verlaufen. Im Vergleich mit westeuropäischen Städten zeigt Nowgorod viele Ähnlichkeiten, hatte aber einen anderen Rechtscharakter und war durch eine andere kirchliche Tradition bestimmt. Deshalb war Nowgorod letztlich eine «Sonderform der osteuropäischen Stadt» (S. 405) mit einem «eigenen kulturellen Kosmos» (S. 408). Im Anhang finden sich ausgewählte Quellen in Übersetzung, Tabellen, ein Glossar, eine Zeittafel sowie ein nützliches, ausführliches Personen-, Orts- und Sachregister. Das Buch ist mit Schriftbild, Karten und – teilweise farbigen – Abbildungen sehr schön gestaltet. Die Studie liest sich trotz ihres Detailreichtums spannend. Indem Goehrke immer wieder über die Schilderung persönlicher Schicksale, oft aus Birkenbasttexten rekonstruiert, Lebenswelten entfaltet, gelingt es ihm, auch die Strukturen und deren Entwicklung anschaulich darzustellen. Der Alltag der Menschen tritt lebendig vor unsere Augen, die komplizierten wirtschaftlichen, kirchlichen und politischen Verhältnisse sowie deren Veränderungen werden deutlich. Wenn die Quellenlage eine eindeutige Aussage nicht zulässt, legt Goehrke die unterschiedlichen Forschungsmeinungen dar und begründet seine eigene Interpretation. Damit regt er zur Diskussion und zu neuen Forschungen an. Ein rundum überzeugendes, grosses Werk. Heiko Haumann, Basel / Elzach-Yach SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Stefan Sonderegger, Helge Wittmann, Dorothee Guggenheimer (Hg.), Reichsstadt und Landwirtschaft, Petersberg: Michael Imhof Verlag, 2020 (Studien zur Reichsstadtgeschichte, Bd. 7), 366 Seiten, 74 Abbildungen. Ähnlich wie der menschliche Körper kann auch der Organismus der Stadt nicht ohne den Austausch mit der Umgebung existieren. Die dabei laufenden Prozesse – der Metabolismus der Stadt – sind komplex: Der Einführung von Nahrungsmitteln, Energie, Wasser, Rohstoffen und gewerblichen Produkten stehen Umwandlungsvorgänge in ihrem Inneren und schliesslich die Abgabe von Abfällen, Abwasser, Rauch und Gewerbeprodukten gegenüber.1 Im Sammelband «Reichsstadt und Landwirtschaft» liegt der Schwerpunkt der Beiträge auf der Betrachtung von Lebensmitteln und pflanzlichen bzw. tierischen Rohstoffen, die in der Stadt konsumiert, gelagert oder weiterverarbeitet wurden. Die Zeit vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 19. Jahrhundert umfassend, gibt der Band aufschlussreiche Einblicke in die ökonomischen und herrschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Umland, in Einzelaspekte der städtischen Landwirtschaft und der gewerblichen Verknüpfungen sowie in den Konsum der Stadtbewohnerschaft. Teilweise über die Rechtsform der Reichsstadt hinausgehend und mit einem regionalen Schwerpunkt im weiter gefassten Bodenseeraum (diesen behandeln fünf der zwölf Beiträge) werden unterschiedliche Akteursgruppen untersucht. Einerseits die städtischen Obrigkeiten mit ihrem Agieren, das sich zwischen der Sicherung des Gemeinwohls und ihren eigenen Interessen bewegte, andererseits städtische Korporationen sowie Individuen. Ausserhalb der Mauern standen der Stadt die Landes- und benachbarten Territorialherren gegenüber. In zwei einführenden Beiträgen gehen Stefan Sonderegger und Franz Irsigler im Überblick und unter Heranziehung bewährter Modelle (S. 30–37) auf die Problematik der Stadt-Umland-Beziehungen ein, wobei die Frage nach dem jeweiligen Abhängigkeitsverhältnis (S. 11 f.) genauso wie die Rolle des städtischen Kapitals und der Umfang des von einzelnen Städten benötigten Versorgungsbereichs thematisiert wird (S. 19, 48). Die folgenden, ebenfalls mit qualitätsvollen Abbildungen versehenen Beiträge positionieren sich im gesetzten Rahmen, entwickeln jedoch teilweise darüber hinausgehende Fragestellungen. Die Stadt Mühlhausen in Thüringen steht im Fokus der Beiträge von Helge Wittmann und Christian Stadelmaier. Während Wittmann innerhalb der Analyse des um 1282 entstandenen «Mühlhäuser Rechtsbuchs» lokale Rechtstraditionen betrachtet, die unter anderem den niedergerichtlichen Umgang mit Viehschäden und Felddiebstahl behandeln (S. 80 f.), geht Stadelmaier auf die agrarischen Aktivitäten der Zisterzienser in der Stadt im überlokalen Vergleich ein. Er zeigt anschaulich, wie der Stadthof des Klosters Volkenroda in Mühlhausen als Lager- und Absatzort, aber auch zur Verwaltung nahe gelegener Felder genutzt wurde, wie es aber auch zu lang anhaltenden Konflikten kommen konnte, wenn königliche Privilegien die Position eines Klosters stärkten (S. 124). Reichsstädte waren sehr unterschiedlich mit eigenem Territorium ausgestattet. Ein solches Gegensatzpaar wird in zwei weiteren Aufsätzen anhand von Fallbeispielen aus der Schweiz dargestellt. Rezia Krauer zeigt für St. Gallen im Spätmittelalter wie und warum städtische Akteure im die Stadt umgebenden Territorium der Reichsabtei agierten und über den Kauf von Rechten und Gütern die regionale Landwirtschaft beeinflussten, wobei sie sich als dritter Akteur zwischen Grundherren und Bauern positionierten (S. 130). Peter Niederhäuser macht dagegen am Beispiel von Zürich deutlich, wie eine Reichsstadt 1 Dieter Schott, Europäische Urbanisierung (1000–2000). Eine umwelthistorische Einführung, Wien 2014, S. 17. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 497 498 Rezensionen / Recensions / Recensioni ihr Territorium ausbaute, es aber dennoch für die Stadt schwierig war, daraus ökonomische Vorteile zu erzielen. Am Beispiel des Klosteramts Kappel zeigt er, wie Ausgaben im Almosenwesen und laufende Betriebskosten schwankenden landwirtschaftlichen Erträgen gegenüberstanden und städtische Gewinne reduzierten (S. 162). Auf Nahrungsmittel im städtischen Kontext in einem engeren Sinn beziehen sich die beiden Beiträge von Niels Petersen und Frank Göttmann. Petersen untersucht dabei mithilfe vielfältiger Quellen, wie einer Stadtansicht von Braunschweig und des Gartenzinsregisters von Lüneburg, für die Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts die Lage der städtischen Gärten, die Eigentümerstrukturen sowie ihre Nutzung. Gärten machten nicht nur den Anbau verschiedenster Früchte möglich, die wie der Hopfen teilweise auch gewerblich genutzt wurden, sondern waren auch Orte von Erholung und Repräsentation. Weniger die meist privat gelagerten Gartenfrüchte als das wichtige Getreide wurde häufig innerhalb einer öffentlichen, zentralisierten Vorratshaltung gesammelt, aufbewahrt und verteilt. Göttmann zeigt für die Zeit vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert diese Funktionsweise des städtischen Kornhauses als «Klammer zwischen der Stadt und ihrem Umland» (S. 191) im Reich detailliert auf und behandelt dessen Situierung in der Stadt, seine Architektur, die Lagertechnik und die Organisation, die zum Beispiel über Kornhausordnungen geregelt wurde. Für den Bodenseeraum spricht er dabei von einem Städtenetzwerk, in dem erfolgreich Konkurrenz vermieden und der Getreidehandel koordiniert wurden (S. 198 f.). Zwei weitere Beiträge betrachten städtische Gewerbezweige mit engem Bezug zur Landwirtschaft. Nicole Stadelmann zeigt anhand des Ledergewerbes von St. Gallen, wie sich Stadt und Land einer Region trotz unterschiedlicher politischer Zugehörigkeit gegenseitig beeinflussten und ergänzten und wie um den Bodensee im 17. und 18. Jahrhundert ein komplexes Viehhandelssystem entstand. Während in St. Gallen sesshafte Metzger Rinder aus grösseren Entfernungen bezogen und aus Kostengründen meist in Ställen auf heureichen Höfen in Appenzell Ausserrhoden überwintern liessen, kauften sie Kälber in der direkten Umgebung (S. 238–241). Gleichzeitig waren die städtischen Gerber wichtige Abnehmer der Kuh- und Rinderhäute. Anke Sczesny vergleicht im folgenden Beitrag für das 17. und 18. Jahrhundert die Beziehungen zwischen den Reichsstädten Augsburg und Ulm und dem Landhandwerk in ihrer Umgebung. Beide Städte mussten auf eine grössere Zahl von Landwebern, die sich zunehmend in Weberzünften organisierten, und die damit zusammenhängende Konkurrenz reagieren. Während es Augsburg gelang, im 18. Jahrhundert durch die Konzentration auf den innovativen Kattundruck seine Produkte weiterhin abzusetzen, glückte dies Ulm, das mehr auf Abschottung und Restriktionen setzte, trotz des grösseren Territoriums weniger. Gleichzeitig veränderte sich die soziale Struktur der Dörfer, in denen Landhandwerker grösseren Einfluss gewannen. Die beiden abschliessenden Aufsätze des Bandes lassen sich in die Konsumgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt einordnen. Wolfgang Scheffknecht geht anhand verschiedener Fallbeispiele der Entwicklung des Braugewerbes in der Bodenseeregion vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nach. Er berücksichtigt dabei den Einfluss des Klimas sowie technische Innovationen, behördliche Vorgaben einschliesslich der Besteuerung und städtische Trinkgewohnheiten. Bezüge zur Landwirtschaft stellen zum Beispiel die Zerstörung von Rebstöcken während des Dreissigjährigen Krieges, die Förderung des Anbaus von Gerste sowie der Hopfenanbau in städtischen Gärten dar (S. 293, 312, 314). Thomas Lau untersucht anhand von Bier und Wein Vergemeinschaftungs- und Abgrenzungsprozesse innerhalb der Stadt und gegenüber dem Land, die sich vielfach in Konflikten äusserten. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Neben die sozialen, wirtschaftlichen und ernährungsphysiologischen Funktionen des Alkohols stellt er ein Beispiel aus Schwäbisch Hall, in dem die Einfuhr und der Verkauf von Wein aus dem Rheinland der lokalen Produktion entgegengesetzt wird (S. 341). Insgesamt zeigen die Beiträge des Sammelbands die Breite der Fragestellungen, Quellen und Ansätze, die mit der Thematik «Reichsstadt und Landwirtschaft» verknüpft werden können. Auch wenn nicht jeder Bereich explizit thematisiert wurde – so hatte zum Beispiel die Geflügel- und Schweinehaltung in der Stadt im Alltag grosse Bedeutung – gelingt dem Band eine informative und lesenswerte Zusammenschau langjähriger und aktueller Forschungsarbeit. Ansgar Schanbacher, Göttingen Christine Christ-von Wedel, Die Äbtissin, der Söldnerführer und ihre Töchter. Katharina von Zimmern im politischen Spannungsfeld der Reformationszeit, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2019, 356 Seiten, 83 Abbildungen. Als Katharina von Zimmern, die letzte Äbtissin des Zürcher Fraumünsters, im Dezember 1524 ihre Abtei dem Rat der Stadt Zürich zur freien Verfügung übergab, tat sie dies gemäss der Übergabeurkunde aus freien Stücken und um des Friedens in Zürich Willen. Die Urkunde erwähnt ihren längst verstorbenen Vater und nicht namentlich genannte Freunde, aber keine eigentliche Begründung ihres Handelns. Da von Katharina von Zimmern sehr wenige Quellen überliefert sind, versucht die lesenswerte Studie nun, sich über den zeitgenössischen Kontext der Person und ihrer Motivation anzunähern. So wird dem Konflikt um die Auflösung des Klosters Königsfelden, dessen letzte Äbtissin eine Cousine Katharinas war, viel Platz eingeräumt. Die Königsfelder Schwestern gerieten unter massiven Druck, konnten aber keine Übergaberegelung erzielen. Angesichts dieser Schwierigkeiten sowie Bilderstürmen und Klosterumnutzungen anderswo lässt sich nachvollziehen, dass Katharina von Zimmern lieber frühzeitig ihre Abtei übergab und dabei sehr vorteilhafte Bedingungen für sich aushandeln konnte. Auch wenn sie es nicht zur Begründung beizog, darf doch vermutet werden, dass Katharina von Zimmern mit reformatorischem Gedankengut vertraut war. Zwingli predigte auch im Fraumünster, und es sind zwei Sammelbände mit reformatorischen Schriften aus ihrem Besitz überliefert. Aufschlussreicher ist aber die überzeugende Analyse der Schnitzereien im Fraumünster, die Katharina noch vor der Reformation in Auftrag gegeben hatte. Sie lässt zumindest vermuten, dass Katharina gegenüber neuen theologischen Konzepten aufgeschlossen war. Die Suche nach den Freunden, welche die Äbtissin berieten, führt über die naheliegenden Personen in Zwinglis Umfeld zu Herzog Ulrich von Württemberg. Dieser versuchte in den 1510er- und 20er-Jahren, sein Herzogtum zurückzuerobern, und suchte dazu Hilfe in Zürich. Ausgerechnet sein Diener und wichtigster Söldnerführer, Eberhard von Reischach, heiratete Katharina von Zimmern schon wenige Monate nach der Übergabe der Abtei. Da Reischach zu diesem Zeitpunkt in Zürich wegen illegaler Söldnerwerbung geächtet war, zog das Ehepaar nach Schaffhausen und liess sich später in Diessenhofen nieder. Erst um 1527 konnte sich Reischach Zürich wieder nähern. Er fiel 1531 in der zweiten Schlacht von Kappel. Mit dieser Heirat und der Übergabe der Abtei handelte Katharina von Zimmern ganz offensichtlich sehr selbständig und – wie ein Familienchronist festhielt – gegen den Willen ihrer Brüder. Weiter stellt die Autorin Katharinas Fähigkeit, eigenständig zu siegeln, sowie ihre lange Witwenschaft nach Reischachs Tod als aussergewöhnlich dar. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 499 500 Rezensionen / Recensions / Recensioni Wenn auch ihre Hochzeit mit Reischach überraschend war, so sollte nicht vergessen gehen, dass eine Frau von ihrem Status gegenüber den meisten Frauen der Zeit über einen deutlich grösseren Handlungsspielraum verfügte. Mit über vierzig Jahren gebar Katharina von Zimmern in ihrer Ehe zwei Kinder. Um sich eine Vorstellung von Sexualität und Eheleben zu machen, greift die Autorin wiederum zeitgenössische Vorstellungen auf und kann sich dabei auf ihre Erasmus-Kenntnisse stützen. Wie im ganzen Buch füllen hier allgemeine Erörterungen die Lücken der Quellenüberlieferung in Bezug auf Katharina von Zimmern. Die Autorin greift dabei regelmässig zum Kunstgriff, den Bezug zur Hauptperson des Buches in Form von Fragen herzustellen, die sich nicht beantworten lassen. Das erschien dem Rezensenten auf Dauer etwas ermüdend, und auch unnötig, denn die Ausführungen lassen ein detailliertes, weite Bereiche abdeckendes Bild der Reformationszeit in Zürich entstehen. Die zahlreichen Illustrationen runden dieses Bild in gelungener Weise ab. Viel Raum nimmt auf diese Art die Reformationsgeschichte Zürichs bis zu den Kappeler Kriegen ein. Die Täuferfrage und Bauernunruhen werden ebenso dargestellt wie die Debatten ums Pensionenwesen und die Kappeler Kriege selbst. Eingestreut darin sind in chronologischer Reihenfolge die Abschnitte von Katharina von Zimmerns Leben. Diese lassen erkennen, dass sie über ihren Mann zwar durchaus politisch involviert war, aber sich mit anderen Problemen herumschlug – zumindest gemäss den überlieferten Quellen. So konnte sie das bei der Übergabe ausgehandelte Wohnrecht im Fraumünster der Stadt verkaufen und damit auf dem städtischen Liegenschaftsmarkt aktiv werden. Andererseits errang sie mit Unterstützung des Zürcher Rats einen Anteil am väterlichen Erbe, auf den sie zuvor hatte verzichten müssen. Diese Ausführungen, die auf neu entdeckten und in einem hervorragend erschlossenen Anhang edierten Quellen beruhen, eröffnen eine neue Perspektive, nämlich diejenige einer Adelsfamilie und ihrer zeittypischen Sorgen. Dazu gehört neben Erbfragen zum Beispiel die Situation, über verwandtschaftliche Beziehungen zu beiden Parteien eines Konflikts vielfältige Loyalitäten aufzuweisen, die ausserdem über den eidgenössischen Raum hinausgreifen. Schon im Titel angekündigt ist der letzte hier zu erwähnende Punkt. Die Autorin kann plausibel darlegen, dass die junge Frau, deren Hochzeit Katharina von Zimmern mit Zwinglis Hilfe noch vor der Übergabe der Abtei unterstützte, mit grosser Wahrscheinlichkeit eine uneheliche Tochter von ihr und Eberhard von Reischach war. Das würde auch die schnelle Hochzeit nach der Übergabe erklären, vor allem aber rückt es die Äbtissin in ein neues Licht, das sie erst recht als selbständige Frau erscheinen lässt. Das ist ein wichtiges Verdienst dieses Buches, das sich an ein breites Publikum richtet und dieses auch verdient. Benjamin Hitz, Basel Jonas Schirrmacher, Die Politik der Sklaverei. Praxis und Konflikt in Kastilien und Spanisch-Amerika im 16. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2018, 420 Seiten. Weder die weltberühmten Theologen der Sklaverei noch die versklavten Personen stehen im Mittelpunkt der Dissertation Jonas Schirrmachers. Die Arbeit setzt einen anderen Akzent, indem sie die Sklaverei als «ein kontextabhängiges politisches Instrument, über das zwischen den verschiedenen Fraktionen in unterschiedlichen Situationen verhandelt wurde» (S. 13) versteht. Zur Analyse dieser Konstellation greift die Studie praxistheoretische Ansätze auf und rekonstruiert die politischen und sozialen Praktiken der spanischen Krone und der lokalen Elite. Damit ordnet sich die Arbeit in eine Reihe frühSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni neuzeitlicher Forschungen ein, die sich der Praxistheorie zugewandt haben, um die Spannung zwischen Strukturen und Individuen aufzulösen. Allerdings unterlässt es der Autor, sich innerhalb der verschiedenen praxistheoretischen Ansätze zu positionieren und die methodischen Implikationen zu diskutieren.2 Die Arbeit expliziert erstens das System der Sklaverei auf der Iberischen Halbinsel, indem sie den theologischen, rechtlichen und politischen Grundlagen der frühneuzeitlichen Sklaverei nachgeht. Der Autor verdeutlicht die Relevanz der Sklaverei in der iberischen Gesellschaft, auf die sich die Sklaverei des 16. Jahrhunderts stützte. Zweitens analysiert Schirrmacher die Sklaverei als politisches Instrument; dies anhand des Beispiels der Versklavung der indigenen Bevölkerung auf den Kanaren. Er zeigt auf, wie die Sklaverei in einem Konfliktfeld konkurrierender Interessen stand, was einen flexiblen Verhandlungsprozess zwischen den Akteuren voraussetzte. Im ersten grossen Abschnitt erarbeitet Schirrmacher drittens die morisco-Sklaverei in der guerra de Granada. Dabei galt es, so der Autor, die Funktionen und Dysfunktionen der Sklaverei flexibel zu verhandeln und den ökonomischen, militärischen und politischen Bedürfnissen des Krieges Rechnung zu tragen. In einer zweiten grossen Sektion wird schliesslich die Bedeutung der indio-Sklaverei in der «Neuen Welt» analysiert. Schirrmacher hebt hier erneut die multidimensionale Funktionalität der Sklaverei sowie den komplexen Aufbau der bürokratischen Strukturen hervor, welche die Versklavung, deren Organisation und Besteuerung überhaupt erst ermöglichten. Zwar fragt der Autor nach den Praktiken abseits von theologischen und normativen Postulaten, die Analyse illustriert aber vor allem den engen Zusammenhang diskursiver und politischer Praktiken. Für den Fall der morisco-Sklaverei zeigt Schirrmacher die stetigen Wechselbeziehungen zwischen königlichen sowie individuellen Praktiken und Diskursen auf. Sowohl die Krone als auch die Conquistadores und Encomenderos bemühten regelmässig den theologisch-juristischen Diskurs des «gerechten Krieges» und übersetzten ihn in flexible Entscheidungsgrundlagen. Wie der Autor selbst hervorhebt, war die Politik der Sklaverei eine «spezifische und situative Beurteilung» (S. 357). Trotz dieser Einsicht unterlässt es Schirrmacher, den grundlegenden Orientierungspunkt dieser «Flexibilitätspolitik» klar zu benennen: die koloniale Herrschaft. Trotz aller Dysfunktionen der Sklaverei war den Herrschern und lokalen Akteuren ein Ziel gemeinsam: die Kontrolle der Territorien und deren Bevölkerung auf den Kanaren, in Granada und in Amerika. Das Kapitel «Prolog: Die Eroberung der Kanaren» betont die Verbindung von Sklaverei und Eroberung (S. 95), ein paradigmatisches Exempel der Einbettung der Sklaverei in der kolonialen Praxis – dennoch wird die Kolonialität der Funktionen und Dysfunktionen im Rahmen der übrigen analysierten historischen Kontexte nicht eingehend problematisiert, sondern nur in ihrer praktischen Dimension erörtert. Kolonialität, im Sinne von Machtstrukturen, welche der Kolonialismus aufbaut und die Differenzen sowie Hierarchien, die er reproduziert, wäre aber ein nützliches analytisches Instrumentarium gewesen, dem mehr als nur eine begriffliche Bemerkung zugestanden hätte (S. 18). Dass beispielsweise Indigene zu «feindlichen» caribes erklärt wurden, um damit ihre Versklavung zu rechtfertigen, bestätigt das Postulat Aníbal Quijanos’, wonach Rasse als Klassifikations- und Legitimationsinstrument dient, um die Herrschaft 2 Vgl. Constantin Rieske, Lucas Haasis (Hg.), Historische Praxeologie. Dimensionen des vergangenen Handelns, Paderborn 2015; Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Wien 2015 (Frühneuzeit-Impulse 3); Dagmar Freist (Hg.), Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 501 502 Rezensionen / Recensions / Recensioni über ein Territorium und die Kontrolle über Arbeitskraft zu ermöglichen.3 Aufschlussreich wäre es gewesen, wenn post- und dekoloniale Theorien gerade für eine Analyse vormoderner kolonialer Politik herangezogen worden wären. Auch in einem praxistheoretischen Sinn wäre es gewinnbringend gewesen darzulegen, dass die Analyse der imperial agency von Krone und lokaler Elite die Praktiken rekonstruiert, wie sie Kolonialität produzierten. Nichtsdestotrotz zeigt die Arbeit anschaulich die Vorteile eines praxeologischen Blicks zur Überprüfung makrohistorischer Narrative. In diesem Sinne belegt die Studie, wie etwa die Verbotspolitik von der Versklavung in Amerika keinesfalls in einen abolitionistischen Zusammenhang betrachtet werden sollte oder wie die Sklaverei mitnichten auf Disziplinlosigkeit zurückgeführt werden kann, sondern dass sie vielmehr aus einem breiten Arrangement von Praktiken bestand, das eine flexible Sklavereipolitik überhaupt erst ermöglichte. Jose Cáceres, Zürich Kim Siebenhüner, John Jordan, Gabi Schopf (Hg.), Cotton in Context. Manufacturing, Marketing, and Consuming Textiles in the German-speaking World (1500–1800), Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2019, 424 Seiten, 75 s/w und farbige Abbildungen. Der vorliegende Sammelband basiert auf einer Tagung an der Universität Bern vom 14. bis zum 16. April 2016. Im opulent bebilderten Buch soll der in der englischsprachigen Forschung in den letzten Jahren entwickelte Ansatz der materiellen Kultur in Verbindung mit den derzeit intensiv diskutierten Feldern der Global- und Konsumgeschichte für die frühneuzeitliche Textilgeschichte im deutschsprachigen Raum – und leicht darüber hinaus – Anwendung finden. Das Desiderat ist in diesem Falle besonders frappierend, wie Kim Siebenhüner in der Einleitung aufzeigt. Die Herausgeber:innen wollen allerdings mehr als nur eine regionale Forschungslücke schliessen. Die Baumwollerzeugnisse werden metaphorisch als ein Faden dargestellt, der die mitteleuropäische Geschichte durchzog und mit den globalen Entwicklungen eng verknüpfte. Die thematische Bandbreite des Bandes reicht dabei von der Mikroperspektive der Erzeugung der Gewebe, der Frage nach Mustern und Farbgebung bis hin zur Vermarktung und globalen Handelskreisläufen. Geographisch deckt das Buch vor allem die Schweiz, etwas weniger das Alte Reich und seine Nachfolgestaaten sowie Dänemark ab. Zwei Aufsätze, die eine generelle Übersicht bieten, wurden am Anfang nach der Einleitung und damit ausserhalb der Gliederung platziert. John Styles bietet eine gelungene Übersicht zur europäischen Textilgeschichte, die vor allem von Italien nach Frankreich und von schweren Produkten, die lange getragen wurden, zu leichten Stoffen, die einem Modezyklus unterlagen, weist. Eiluned Ewards beleuchtet die Technik des Baumwolldrucks in Indien über die letzten Jahrhunderte und die Resilienz sowie Adaptationsfähigkeit dieses Gewerbes bis in die Gegenwart. Der erste Abschnitt «The Production of Textiles: Manufacturing and Colouring» beginnt mit einer intensiv aus dem Archivmaterial geschöpften Detailstudie zum Augsburger Baumwollgewerbe im späten 18. Jahrhundert. Karl Borromäus Murr und Michaela Breil können aus der Überlieferung der Augsburger Firma Schöppler & Hartmann viele Details der Erzeugung und des Vertriebs rekonstruieren und dabei nebenbei einen Kontrapunkt gegenüber einer immer noch häufig als Niedergangsgeschichte interpretierten 3 Vgl. Aníbal Quijano, Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America, in: Nepantla: Views from South 1/3 (2000), S. 533–580. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni wirtschaftlichen Entwicklung der Reichsstadt im späten 18. Jahrhundert setzen. Ernest Menolfi präsentiert die Textilgewerbe in der östlichen Eidgenossenschaft im späten 18. Jahrhundert. Dabei fokussiert er insbesondere auf Unternehmer sowie deren Geschäftsstrategien in Graubünden und der Bodenseeregion und stellt nicht nur einen Boom des Textilgewerbes, sondern auch den Übergang zur modernen Industrialisierung in dieser tendenziell wenig urbanisierten und doch gewerblich hoch entwickelten Region heraus. Kim Siebenhüner vollzieht in der Eidgenossenschaft die Erstellung der «Indiennes», kunstvoll bedruckter Baumwolltextilien, nach und insbesondere die hierfür notwendigen Färbetechniken im 18. Jahrhundert. Sie kann nicht nur einen Wissenstransfer zwischen Indien und der Schweiz in Form technischer Manuale nachweisen, sondern thematisiert auch die Probleme, die dies nach sich zog. Claudia Ravazzolo bietet einen Einblick in die komplexe Herstellung von Zitzen, ihren Ursprüngen in Indien und ihre Verwendung in Europa als Schürzen, was sie bis in Berner Privathaushalte nachverfolgen kann. Jutta Wimmler analysiert die Funktion des Königlichen Lagerhauses Preussens, das seit 1750 auch als Manufaktur zur Textilveredelung durch Färbung genutzt wurde, da deren Leitung mit den gefärbten Lieferungen aus den Niederlanden oder Hamburg unzufrieden war. Wimmler betont dabei, dass die Grundstoffe zur Färbung in der näheren Umgebung der Ostseehäfen, insbesondere Stettin, gekauft werden konnten, was auf eine verstärkte Einbettung Preussens in die globalen Handelskreisläufe hindeutet. Der zweite Abschnitt «The Business of Textiles: Marketing and Product Innovation» beginnt mit einem Aufsatz von Barbara Karl zu Colchas, mit Seide verzierten Baumwolldecken aus Ostasien, und ihrer Vermarktung in Europa. Portugiesische Kaufleute brachten diese Produkte seit dem 16. Jahrhundert nach Europa, adaptierten ihre Muster und erzeugten somit Hybridprodukte, die auf dem europäischen Markt eine Käuferschaft fanden. Gabi Schopf zeigt, wie die Vermarktung von Textilprodukten um 1800 im Detail funktionierte und wie man auf die Wünsche der Kundschaft reagierte und dadurch Vertrauen erzeugte. Als Quelle nutzt sie die geschäftliche Korrespondenz zwischen Textilproduzenten und -verkäufern und bezieht die dabei angehängten Muster in die Analyse mit ein. Alexis Schwarzenbach kann zeigen, wie Seidenproduzenten aus Zürich ihre Waren zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach New York verkauften. Die essentiellen Voraussetzungen hierfür waren ein leichter Zugriff auf Rohseide in Norditalien sowie ein «dense network of global Swiss», die als Korrespondenten jenseits des Ozeans die Nähe zum Absatzmarkt sicherstellten. Eric Häusler erörtert, inwieweit sich das heutige Konzept des modernen Marketings auf die Schweizer Stickereibranche des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anwenden lässt. Durch die Aufzählung einer Reihe von Massnahmen, die mit diesem Konzept heutzutage erfasst werden, weist er in der Tendenz die Modernität damaliger Marketingtechniken nach. Der dritte Abschnitt «The Consumption of Textiles: Clothes and Fabrics» wird von Vibe Maria Martens mit einem Aufsatz zur Geschichte des Baumwollimports aus Indien nach Dänemark vom späten 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert eingeleitet. Gestützt auf zahlreiche archivalische Quellen kann sie die Entwicklung detailliert nachzeichnen und dabei zahlreiche Interpretationen der Forschung bestätigen oder relativieren. Isa Fleischmann-Heck analysiert den «Duisburger Intelligenz-Zettel» während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Vermerke von Textilien, vor allem bei Diebstählen und Beschreibungen von gesuchten Kriminellen. Durch die Anreicherung dieser Schriftquelle mit musealen Textilobjekten der Region entsteht ein facettenreiches Bild des verbreiteten Besitzes vielfältiger und hochwertiger Textilien im Gebiet des Niederrheins. Aris KafantoSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 503 504 Rezensionen / Recensions / Recensioni gias betrachtet Verlassenschaftsinventare aus Wien um 1800 und kann mittels mehrerer recht interessanter Analyseverfahren ein differenziertes Bild des Modewandels nachzeichnen. John Jordan zeigt aus der eingehenden Analyse von Konkursakten, die in Bern für die Frühe Neuzeit in einer besonders hohen Zahl überliefert sind, dass manche Annahmen der Consumer Revolution wohl relativiert werden müssen. So kann er zum einen nachweisen, dass exotische Textilien aus Ostasien hauptsächlich dann weitere Käuferkreise fanden, wenn sie lokal veredelt wurden, zum anderen, dass Baumwolle in Bern im 18. Jahrhunderte nicht dominierte, sondern «just another fabric» war. Der Band bündelt bedeutende Erkenntnisse und bringt die Forschung in vielerlei Hinsicht voran. Die Rahmenfragestellung nimmt Anregungen wichtiger Forschungstrends produktiv auf und die einzelnen Aufsätze werden dem eigenen Anspruch rundum gerecht. Die global vergleichende Textilgeschichte erfährt mit diesem Band bedeutende Impulse. Magnus Ressel, Frankfurt am Main Caroline Arni, Delphine Gardey, Sandro Guzzi-Heeb (Hg.), Protest! Protestez!, Zürich: Chronos, 2020 (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte / Annuaire suisse d’histoire économique et sociale, Bd. 35), 268 Seiten, 17 Abbildungen. Die HerausgeberInnen des Sammelbandes «Protest! Protestez!», der einen Einblick in aktuelle Forschungsarbeiten an schweizerischen Universitäten vermittelt, beginnen ihre Einleitung mit dem Satz «Überall ist Protest», und verweisen auf nationale und internationale Bewegungen unterschiedlicher Couleur. Diese Häufung von Protestereignissen hat jedoch in der schweizerischen Geschichtsforschung zu keiner Thematisierungskonjunktur geführt, Protestforschung steht nicht zuoberst auf der Forschungsagenda. Zwar trugen die historischen Jubiläen (Reformation 1517, Landesstreik 1918, Studentenbewegung 1968) zu einem vermehrten Interesse an Protestereignissen bei, in der universitären Lehre war das Thema aber weiterhin wenig präsent. Umso wertvoller sind die Impulse durch das vorliegende Buch. Es enthält zehn Aufsätze, die unter die vier Themenbereiche Geschichte / Erinnerung, Subjekte des Protests, Bäuerlicher Protest, Mobilisierung zum Protest gruppiert werden. Der einleitende Beitrag von Andreas Würgler stellt die frühneuzeitlichen Unruhen in der alten Eidgenossenschaft ins Spannungsfeld von Revolution und Partizipation. An drei Beispielen (Reformation 1525, Bauernkrieg 1653 und Helvetische Revolution 1798) untersucht er, ob wirklich eine revolutionäre Situation vorhanden war. Eine Kontrastfolie bilden die zahlreichen Unruhen, bei denen es nicht um eine Systemänderung ging, sondern um die Partizipation an der Macht oder um die Verteidigung von alten Freiheiten und Privilegien. Ausgehend von diesen Überlegungen zeigt Würgler die ambivalente Bedeutung der Helvetik für die Ausgestaltung des politischen Systems der modernen Schweiz. Zu Recht verweist er auf zwei helvetische Revolutionen: Eine in der Endphase der alten Eidgenossenschaft stark an lokalen Selbstverwaltungstraditionen und vormodernen Partizipationsmodellen orientierte und eine moderne, zentralistisch-repräsentativstaatliche mit der Einführung der helvetischen Verfassung am 12. April 1798. Dieses doppelte Erbe bestimmt die spezifische Entwicklung zur halbdirekten Demokratie. Um dies zu konkretisieren wäre eine kurze Würdigung der Protestbewegungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wünschenswert gewesen, zumal die Ereignisse im politischen Vorfrühling 1798 im kollektiven Bewusstsein eine wichtige Rolle spielen. Mit zeitlich weiter zurückliegenden Protestbewegungen befassen sich noch zwei Aufsätze. Sandro Liniger stellt das Rebellionsritual des «Fähnlilupfs» im frühneuzeitliSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni chen Graubünden in einen neuen Kontext. In einem innovativen Zugriff zeigt er, wie diese Strafgerichte einen Funktionswandel erfahren. Dienten sie ursprünglich dem Abbau politischer Spannungen zwischen Privilegierten und minder Privilegierten, wurden sie während des Dreissigjährigen Krieges zu einem Mittel zur Vernichtung des Feindes. Verantwortlich für diesen Bedeutungswandel war eine Neuinterpretation durch reformierte Prediger. Das Beispiel zeigt, dass Proteste durch mediale Aufarbeitung ihren Charakter verändern können. Einen Einfluss von Protestnarrativen auf spätere Ereignisse zeigt auch der Beitrag von Séverin Duc. Die traumatischen Erfahrungen im gewaltsamen Aufstand der Sizilianer gegen die Unterwerfung durch Karl von Anjou im Jahr 1282 begründeten eine Erinnerungskultur, die auch das Verhalten der Akteure in späteren Auseinandersetzungen prägte. Die weiteren Aufsätze konzentrieren sich auf Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts. Die methodisch originellsten Beiträge finden sich unter der Überschrift «Subjekte des Protests». Sie eröffnen neue Perspektiven, weil sie von subjektiven Erfahrungen ausgehen und diese in einem globalen Kontext verorten. Ausgehend von einem Protestlied indischer Frauen, das provokativ die Pille und Spirale für den Mann fordert, zeigt Anja Suter, wie diese Erfahrungen zu geteilten Erfahrungen werden. Indem der Text seinen Weg in eine Berner Bibliothek fand, löste er innerhalb der Frauengesundheitsbewegung Diskussionen über die neokoloniale Dimension der Bevölkerungspolitik und über eine Familienplanung zu Lasten der Frauen und deren Gesundheit aus. Um die Problematisierung eurozentristischer Perspektiven geht es auch im Beitrag von Milo Probst. Er konfrontiert den während der europäischen Industrialisierung entstandenen Klassenbegriff mit der Darstellung rebellischer Subjekte in der anarchistischen Literatur Argentiniens am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Bild einer «heterogenen Arbeiterklasse» das er entwirft, zeigt nicht nur die Historizität des traditionellen Klassenbegriffs auf, sondern trägt auch zur Problematisierung des eurozentrischen Modernisierungsnarratives bei. Seine Forderung nach der Heterogenität rebellischer Subjekte zu fahnden, ist für die Erforschung aktueller sozialer Bewegungen besonders relevant. Einen neuen Blick auf das in westlichen Industrieländern entstandene Sozialstaatsmodell eröffnet der Aufsatz von Anina Zahn über die Proteste von Erwerbslosen in der Schweiz. Diese organisierten sich in Arbeitslosenkomitees, die zugleich Selbsthilfeorganisationen und Protestforen waren. Sie wehrten sich gegen Bevormundung und Stigmatisierung. In diesen Widerständen wurde den Protestierenden die repressive Seite des Sozialstaates bewusst. Dieser brachte nicht nur soziale Sicherheit, sondern auch soziale Kontrolle. Darauf reagierten die Betroffenen mit der Gründung von Beratungsstellen, die von den Arbeitsämtern allmählich geduldet und gefördert wurden. Dadurch entstand eine Interaktion zwischen den Protestierenden und den staatlichen Institutionen, die längerfristig zu Reformen der Stempelpraxis und mehr Selbstbestimmung für die Arbeitssuchenden führte. Zwei weitere Aufsätze befassen sich mit bäuerlichen Protesten. Peter Moser zeigt an irischen und schweizerischen Beispielen, dass das von den Sozialwissenschaften entwickelte, methodisch-theoretische Instrumentarium ungeeignet ist, die bäuerlichen Proteste adäquat zu beschreiben. Zudem führe dieses Defizit zu einer historiographischen Vernachlässigung bäuerlich-agrarischer Proteste in Industriegesellschaften. Er plädiert deshalb dafür, «Begriffe und Theorien zu entwickeln, welche die distinkte sozioökonomische, kulturelle und politische Lage bäuerlicher Bevölkerungsteile im Prozess der Industrialisierung zu erfassen vermögen.» (S. 185). Anschlussfähig an diese Überlegungen ist der Beitrag von Guillaume Savoy zu den Bauerndemonstrationen von 1954, 1961 und 1973 in SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 505 506 Rezensionen / Recensions / Recensioni der Bundeshauptstadt. Diese lösten durch ihre Heftigkeit erhebliche Irritationen in der nichtbäuerlichen Öffentlichkeit aus, zumal sie nicht dem Bild der Bauern als staatstragende Schicht entsprachen und mit der zum nationalen Mythenbestand gehörenden Bauernstaatsideologie kollidierten. Die letzten zwei Aufsätze befassen sich mit Formierungspraktiken und Mobilisierungsstrategien. Renata Latala zeigt, wie sich aus den Streiks gegen die zunehmende Russifizierung der höheren Schulen Warschaus 1905 eine polnische Jugendbewegung entwickelt, die dem zivilgesellschaftlichen Protest gegen das Zarenreich eine generationelle Identität verleiht. Dieser Widerstand lässt sich nicht einfach in nationalistische Deutungsmuster einordnen. Um Identitätsbildung einer politischen Bewegung geht es auch im Beitrag von Andrea Schweizer zur schweizerischen Friedensbewegung. Im Zentrum steht die Frage, wie sich aus den disparaten Gruppierungen eine ernstzunehmende Opposition entwickelte, die 1981 anlässlich einer nationalen Demonstration 30’000 bis 40’000 TeilnehmerInnen gegen den NATO-Doppelbeschluss mobilisieren konnte. Die Gründe für diesen Erfolg wie etwa die alternative Besetzung von Themen, die strategische Neuausrichtung, die Einbindung heterogener Gruppen und der professionellere Umgang mit den Medien, werden anhand einer Analyse des überlieferten Quellenmaterials herausgearbeitet. Insgesamt bietet der Sammelband durch die inhaltliche und methodische Vielfalt der Beiträge einen anregenden Einstieg ins Thema und es ist zu hoffen, dass die Lektüre zu weiteren Forschungen ermuntert. Rolf Graber, Zürich Daniel Sidler, Heiligkeit aushandeln. Katholische Reform und lokale Glaubenspraxis in der Eidgenossenschaft (1560–1790), Frankfurt a. M.: Campus, 2017 (Campus Historische Studien, 75), 593 S., 14 Abb. Daniel Sidler hat ein sehr gut strukturiertes Buch geschrieben, dessen Lektüre Freude bereitet und das seine Leser*innen auf eine theoretisch und methodologisch neue Wege einschlagende Reise in den religiösen Alltag der nachreformatorischen Schweiz mitnimmt. Seine 2016 bei Christan Windler verteidigte Dissertation erzählt eine Verflechtungsgeschichte des frühneuzeitlichen Katholizismus zwischen lokalen und transregionalen Akteuren. Es geht um die Konstituierung und Umgestaltung von religiös geladenen Räumen sowie die Herausbildung und Adaptierung religiöser Praktiken und Objekte, mit dem Ziel möglichst zahlreiche Heiligsprechungen und damit verbundene Aufwertung in religiösen, diplomatischen und wirtschaftlichen Diskursen zu erhalten. In drei sehr eng miteinander verwobenen Kapiteln geht er den unterschiedlichen Akteuren und ihren Strategien und Handlungsspielräumen, den verschiedenen Frömmigkeitspraktiken und den jeweiligen Verdichtungen zu Gnadenräumen am Beispiel der Vielseligen nach und liefert so eine vielschichte Antwort auf die Frage, was Heiligkeit in der frühneuzeitlichen Schweiz bedeutete. Was sie in Rom zu bedeuten hatte, legte Urban VIII. recht eindeutig fest, allerdings liessen seine Bestimmungen einen beträchtlichen Spielraum für «jene im Ruf der Heiligkeit stehenden und […] verehrten, aber weder beatifizierten noch kanonisierten Figuren» (S. 72) übrig. Dieser Bereich sollte erst am Ende des Untersuchungszeitraums von Benedikt XIV. stärker reglementiert werden. In der Zwischenzeit verfolgten lokale «Pressuregroups» die Profilierung der einzelnen Kulte von Bruder Klaus (Niklaus von Flüe) in Sachseln, Hans Wagner in Hergiswald, des Jesuiten Petrus Canisius, Idda von Toggenburg und Burkard von Beinwil. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Das erste Kapitel «Wie im Himmel Roms, so auf eidgenössischen Erden? Heiligenhimmel und Gnadenlandschaften» beschäftigt sich mit diesen Gruppen sowie ihren Interessen und Handlungsmöglichkeiten beim Versuch, Gnadenräume zu generieren, die einzelnen Kulte zu etablieren und symbolische Orte im jeweils eigenen Sinn zu überschreiben. Dies betraf nicht nur innerkatholische Diskurse, sondern auch die Auseinandersetzung mit anderen Konfessionen. Inwiefern Bruder Klaus als katholischer Vielseliger auf den Weg zur Heiligsprechung oder als Protoreformierter zu verehren war, ist ein Aspekt, der auf interkonfessioneller Ebene immer wieder neu ausgehandelt werden musste und Gegenstand zahlreicher polemischer Streitschriften wurde. Dazu gehört auch, dass viele Gnadenorte sich gerade dort herausbildeten, wo die Grenze zu reformierten Gebieten besonders nah war. In diesen Situationen spielten auch verehrungswürdige Objekte immer wieder eine besondere Rolle, so zum Beispiel heilige Bilder, die vor der Zerstörung gerettet werden mussten oder die sogar die Flucht selbst übernahmen, wodurch sich ihre Stellung innerhalb des komplexen Gefüges von Vielseligen, Interessengruppen und Gnadenorten langfristig konsolidierte. Beim Buhlen um die Erschaffung, Eroberung und Gestaltung von Gnadenorten für die einzelnen Vielseligen spielten Bündnisse mit bereits etablierten Kulten oft eine wichtige Rolle. Während sich Bruder Klaus im Schatten der Marienverehrung seinen Weg zum Altar gebahnt hatte, gelang die Verbindung von Hans Wagner mit dem Loretto-Kult nicht. Im Gegenteil, der Vielselige musste letztlich weichen, weil sich eine andere Symbiose nachhaltiger etablieren konnte. Der aus Rom «hinzugezogene» oder von Rom aus delegierte Katakombenheilige Felix erfuhr die zügige und wirkmächtige Überlappung mit dem Züricher Schutzpatron Felix, die andere Kulte verdrängte. Dass Hans’ Leichnam zusätzlich aus dem öffentlichkeitsnahen Raum entfernt und seine Verehrung von bischöflicher Seite untergraben wurde, trug sein Übriges dazu bei. Bruder Klaus hingegen erfuhr mehrere Elevationen und Umbettungen innerhalb «seiner» Kirche bis hin zur schmuckvollen Drapierung seiner Reliquien zu einem, in pompösen Gold und Flitter gekleideten Betenden auf Knien – ein Anblick, der gerade für reformierte und lutherische Besucher schwer zu ertragen war. Solche Aushebungen und Translationen fanden in Anwesenheit lokaler Eliten und diverser Gesandter anderer, übergeordneter Instanzen statt und sollten nicht nur das positive Ende des erhofften Kanonisierungsverfahren vorwegnehmen, sondern zugleich als Vereinnahmungsgeste gegen potenzielle Nebenbuhler funktionieren. Der Erfolg dieses Kultes lag darüber hinaus in seiner Verquickung mit der Verehrung Carlo Borromeos, wodurch er mächtige Fürsprecher in der Ritenkongregation und vor dem Papst erhielt. Im Gegenzug bot der für und durch Bruder Klaus erschaffene Gnadenraum die Infrastruktur, derer sich die spanisch-mailändische Seite zur Propagierung ihres eigenen Heiligen in den Schweizer Kantonen erfolgreich bedienten. Das zweite Kapitel «Hand in Hand mit den Heiligen: Zum Erfahren und Vermitteln von Gnade» betrachtet zwar weiterhin den lokalen Kontext, erweitert aber die Perspektive um die Einbeziehung der Gnade als «eine konkret, ‹weltliche› (Körper‐)Erfahrung» (S. 208) und religiöser Orden bzw. Bruderschaften als Vermittler dieser sehr unmittelbar auf die «physische oder seelische Befindlichkeit» zielenden Gnade. Gerade im Gefolge umständlich vorbereiteter Kanonisierungsverfahren spielt die Frage einer so wahrgenommenen Gnade und ihre Abgrenzung vom «Wunder» eine eminente Rolle. Aufgrund der immer wieder laut werdenden Kritik an der katholischen Heiligenverehrung und ihrer Praktiken bedurfte es auch im Bereich der HeiligsprechungsverSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 507 508 Rezensionen / Recensions / Recensioni fahren einer gewissen Professionalisierung. Dazu gehörte die Verwissenschaftlichung von Kriterien, auf deren Grundlage «Wunder» zu definieren und von milderen Formen des Beistands verehrter Personen abzugrenzen war. Besonders auffällig ist hier, dass spätestens seit den Restrukturierungen unter Benedikt XIV. sich das (Fach‐)Wissen bezüglich dieser Unterscheidungen unter den Laien im gleichen Masse wie unter den Ärzten so weit verbreitete, dass diesbezügliche Zeugenbefragungen fast identische Ergebnisse wie die Expertenaussagen lieferten. Die mehrschichtige Kooperation mit dem Ziel, ein Kanonisierungsverfahren einzuleiten, schlägt sich nicht nur in den Aussagen nieder, sondern auch in der Qualität der dokumentierten Wunder. Vielselige waren in der Konsequenz viel seltener für Rettungswunder zuständig, weil solchen Wundern nicht dasselbe Gewicht wie wundersamen Heilungen von chronischen, unheilbaren Krankheiten im Prozess zukam. Solche Verfahren galten als «nationale» Angelegenheiten, deren Lösung ähnlicher diplomatischer Wege bedurften wie territoriale oder wirtschaftliche Fragen auch. Das dritte Kapitel «Von eidgenössischen Erden in den Himmel Roms? Selig- und Heiligsprechungen» nimmt die Verfahren in Rom in den Blick und analysiert die unterschiedlichen Akteure, die sich innerhalb der transregional agierenden Orden, über klassische diplomatische Wege bzw. über diverse Patronagenetzwerke für die Prozesse einsetzten. Freilich waren dies keine klar strukturierten Schrittabfolgen, sondern diffuse Prozesse, die immer wieder stagnierten und schubweise vorangetrieben wurden. Ihr Vorteil war aber, dass sie ständig von «einem Diskurs der Hoffnung» (S. 466) begleitet waren, da sie praktisch nie scheitern konnten. Die seit Urban eingeführte Skalierung der zu erreichenden Ziele, was den Verehrungsrahmen einer solchen vielseligen Person betraf und der Umstand, dass man stets Selig- und Heiligsprechung gleichzeitig anvisieren konnte, war ein Grund dafür. Der andere lag in den personellen Strukturen vor Ort und in Rom, die es immer wieder ermöglichten, den Faden aufzunehmen und bisweilen sogar auf mehr Glück als beim eben verstorbenen Vorgänger der jeweiligen Entscheidungsträger hoffen zu dürfen. Abgerundet wird der Band von einem Anhang mit Karten, einem Katalog der eidgenössischen Gnadenorte und einem Orts- und Namenregister. Doch soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier mitnichten um ein Buch nur über die Schweiz handelt. Es liefert vielmehr ein Beispiel dafür, wie man Verflechtungsgeschichte zwischen Vogelperspektive und Nahaufnahme der Alltagsereignisse erzählen kann. Sidler zeigt uns, wie sehr diplomatische, politische und wirtschaftliche Beziehungen mit der Alltagsfrömmigkeit vor Ort, mit religiösen Praktiken, diversen Kulten und mit Fragen der Inszenierung und der symbolischen Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren verquickt sind und wie sie sich gegenseitig bedingten. Andreea Badea, Frankfurt a. M. Christian Windler, Missionare in Persien. Kulturelle Diversität und Normenkonkurrenz im globalen Katholizismus (17.–18. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2018 (Externa, Bd. 12), 764 Seiten. Die Konversion vieler Iraner zum Christentum weckt heute bei manchen die Hoffnung, dass es in dem Land mit muslimischer Mehrheit und einer über 1500 Jahre alten, aber schrumpfenden Kirche zu einem neuen Aufleben dieser Religion kommt. Es gibt durchaus Parallelen zur westlichen Mission im Persien der Frühen Neuzeit und der Hoffnung auf ein Erstarken der christlichen Kirchen. Die Gegebenheiten im Persien der Frühen Neuzeit waren indessen in vielerlei Hinsicht anders. Es geht in Christian Windlers SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Opus jedoch nicht um die Ausbreitungsgeschichte des westlichen Christentums, sondern um «Missionare als lokale Akteure im Spannungsfeld unterschiedlicher Normensysteme» (S. 11). Auf das orientalische, einheimische Christentum wird nur insofern eingegangen, als es einen Kontext für das Handeln der Missionare bestimmt. Das Gleiche gilt für Muslime und das Safaviden-Reich. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Zentrale und den Ordensmitgliedern in Neu-Djulfa und Isfahan. Das Buch beruht auf einem ausführlichen Quellenstudium. Dabei steht der Orden der unbeschuhten Karmeliter im Mittelpunkt, zu dem gute Quellen überliefert sind. In der Einleitung (S. 9–29) wird darauf hingewiesen, dass die Studie den Blick auf die römische Kurie und Angehörige verschiedener Orden richtet, die sich als Vorkämpfer einer universalen Mission verstanden, «aber sich nicht willfährig den Ansprüchen der Kurie unterwarfen». Dargestellt werden die wachsende Vielfalt und der Normenpluralismus, den die Missionen geprägt haben. Das erste Kapitel behandelt den «kurzen Arm» Roms (S. 31–153). Die 1622 gegründete Congregatio de Propagande Fide stand in Konkurrenz zu den iberischen Patronaten. Das Patronatsrecht wurde schon durch die Ankunft der unbeschuhten Karmelter 1607 in Isfahan infrage gestellt. Andererseits standen auch die alten Ordensprivilegien in Konkurrenz zur Zentralisierung durch die Propaganda. Seit 1650 wurden apostolische Vikare französischer Herkunft ernannt und es kommt letztlich eine neue Konkurrenz, die französische Krone, hinzu. Die Ordensstrukturen der unbeschuhten Karmeliter widersprachen zum einen den Vorstellungen der römischen Kurie von zentral regierten Orden und zum anderen erwiesen sich die Strukturen aufgrund der Entfernungen für die Distanzherrschaft und Normenkontrolle als dysfunktional. Sie eröffneten aber die Möglichkeit, von der Norm abzuweichen und sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Der zweite Teil des Werkes befasst sich mit dem «Safavidenreich als Arena katholischer Mission» (S. 155–192). Die europäischen Königreiche suchten in dem Safavidenreich einen Partner gegen das Osmanische Reich. Im Handel waren die Europäer in Persien hingegen wenig engagiert. Dagegen hatten die in Neu-Djulfa angesiedelten Armenier bedeutende Handelsnetze. Ihr Platz in der persischen Gesellschaft wurde auch durch die inklusive Politik der Safaviden gesichert. Die Missionare entwickelten aufgrund dieser Politik die Illusion, dass sich das Reich bald zum Christentum bekehren lassen würde. Das dritte Kapitel behandelt das Verhältnis zwischen Missionaren und Muslimen (S. 193–282). Die Ordensangehörige fungierten als Diplomaten, Übersetzer und wurden zu wichtigen Mittelsmännern zwischen Persern und europäischen Delegationen sowie Handelsgesellschaften. Sie schätzten die hohe Kultur Persiens und forderten, dass die Missionare gebildet sein müssten. Eine andere wichtige Rolle der Patres war die der Heiler und Mediziner, obwohl es ihnen verboten war, als solche tätig zu sein. Im vierten Kapitel wird das Verhältnis der Missionare zu den Armeniern behandelt (S. 283–376). Die Armenier empfingen die lateinischen Patres in Djulfa und Neu-Djulfa wie befreundete Mitchristen. Die Lateiner hielten die Armenier hingegen für Unwissende, nicht aber für Schismatiker. Das erlaubte ihnen die communicatio in sacris trotz römischen Verbotes. Die Abgrenzung der Armenier von den Lateinern vollzog sich allmählich. Bei innerarmenischen Streitigkeiten hofften die Konfliktparteien aber immer wieder auf Unterstützung aus Rom. Die Nähe zum Katholizismus hatte für viele Armenier überdies bedeutende ökonomische Vorteile. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 509 510 Rezensionen / Recensions / Recensioni Im folgenden fünften Kapitel (S. 377–498) geht es um das Verhältnis von europäischen Laien unterschiedlicher Konfession zu den Ordensleuten. Laien waren überwiegend protestantische und anglikanische Handelsleute. Dennoch wurden die katholischen Missionare für alle Europäer vor Ort Ansprechpartner. Die Missionare waren auf ihren Reisen von Europa in den Orient ihrerseits auf die Handelsleute und -gesellschaften angewiesen. In Isfahan und Schiras konnten die Klöster durch die Beherbergung von Kaufleuten ihre ökonomische Lage verbessern. Für die Post nutzten Handelsgesellschaften und Orden ihre Dienste gegenseitig. Konfliktstoff boten liturgische Feiern in Privathäusern und in Gemeinschaft mit Häretikern und Schismatikern. Dies und Mischehen erhöhten das Beziehungs- und Sozialkapital. Im sechsten Kapitel (S. 499–581) geht es um die Konflikte der Missionare mit den Ordensnormen. Kontemplation und Mission führten in der konkreten Situation in Isfahan zu Konflikten. Zusätzlich hatten die Karmeliter vom Papst einen politischen Auftrag, sich wie Botschafter dem Hofzeremoniell zu unterwerfen. Dies führte zu grossen Spannungen mit dem Gelübde der Armut. Dagegen verstiess auch die Erledigung weltlicher Geschäfte, zu denen sie unter anderem wegen der geringen, oft ausbleibenden Subsidien gezwungen waren. Im letzten Teil (S. 591–631) wird den (unerwünschten) Auswirkungen der Mission nachgegangen. Die Fremdheitserfahrung stellte die Universalität der eigenen Praxis infrage. Missionen unter einer Mehrheitsgesellschaft einer anderen Religion verstärkten die Unterscheidung von religiöser und gesellschaftlicher Ethik und deren Normen. Dies ermöglichte es, in solchen Mehrheitsgesellschaften zu leben und sich anzupassen. Die Nicht-Entscheidungen bei Zweifelsfällen führten dazu, dass Abweichungen von der römischen Norm toleriert werden konnten. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 649–732), ein Ortsregister (S. 733–736) und ein Personenregister (S. 737–764) schliessen das Werk. Da einzelne Ereignisse immer wieder unter einem anderen Blickwinkel betrachtet werden, kommt es zu Wiederholungen. Eine kompaktere Darstellung hätte das Lesen deshalb vereinfacht. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die sehr fundierte, minutiös recherchierte und ausführlich belegte Arbeit auch für den Orientalisten, der sich mit der einheimischen Kultur Persiens befasst, einen wichtigen Blick auf einem fremden Akteur bietet. Sie ist vor allem auch für die Interaktion mit der lokalen Kirche und den aus den Begegnungen entstehenden Unionen von hoher Wichtigkeit. Sie gibt ferner Einblick in Faktoren, die jenseits der theologischen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen eine Rolle gespielt haben. Harald Suermann, Bonn Manuel Menrath, Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von Ihrem Land, Berlin: Galiani Berlin, 2020, 479 Seiten. Dieses in vielen Aspekten unkonventionelle Buch hat sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte und die Kultur der indigenen Bevölkerung des nördlichen Ontarios, insbesondere der Cree und Ojibwe, zu beschreiben. Dafür hat Menrath das Einverständnis der NAN (Nishnawbe Aski Nation) eingeholt. So will der Autor zu einem besseren Verständnis der gesamten indigenen Bevölkerung Kanadas im deutschsprachigen Raum beitragen. Ziel Menraths ist es, «wissenschaftliche Erkenntnisse mit […] persönlichen Empfindungen zu verbinden und die Betroffenen als handelnde Subjekte zu Wort kommen zu las- SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni sen» (S. 418). Insgesamt kann man feststellen, dass dem Autor die Darstellung der beiden letzten Aspekte sehr gut und anschaulich gelungen ist. Menraths Werk liest sich wie ein Reisebericht. Man begleitet den Autor zu Interviews und Erlebnissen mit verschiedenen GesprächspartnerInnen durch das ländliche Kanada, wobei auch immer wieder Exkurse zu den jeweiligen Gesprächsthemen gemacht werden. Abgerundet wird das Werk mit illustrierenden Fotografien und einem ungemein nützlichen, ausführlichen Glossar. Das Buch beschäftigt sich in fünf Kapiteln mit einer beeindruckenden Bandbreite an Themen: Religion und Spiritualität, Gesundheitswesen und traditionelle Heilungsmethoden, Umweltkatastrophen, das indigene Verhältnis zur Natur, Technologie, Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft, Suchtprobleme durch Drogen- und Alkoholmissbrauch, Auswirkungen von Grossprojekten wie zum Beispiel Staudämmen, den alltäglichen Rassismus sowie generell die Wahrnehmung der Indigenen durch die Mehrheitsgesellschaft und ihr Platz in der nationalen Geschichtsschreibung. Auch das Geschichtsverständnis der Indigenen wird adressiert. Die Thematik wird durch einen historischen Überblick über die Beziehungen zwischen der indigenen und weissen Bevölkerung in Kanada seit dem 17. Jahrhundert komplettiert, wobei vor allem die Gewalt an den residential schools und die dadurch ausgelösten Identitätskrisen angeprangert werden. Der Autor stellt immer wieder die koloniale Diskriminierung, Bevormundung, Ausbeutung und Unterdrückung der Indigenen durch die kanadische Mehrheitsgesellschaft und die kanadischen Behörden heraus, deren Kulturen er als «grundverschieden» (S. 49) beschreibt. Menraths grosse Leistung ist ein gut lesbarer, breit gefächerter und einfühlsamer Text, der mit seinen detaillierten Berichten erschüttert und dem es ein wirkliches Anliegen ist, indigene Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Der Hauptteil des Buches besteht aus ausführlichen Zitaten aus über 100 Interviews, die der Autor mit indigenen Personen in Kanada führen konnte und die voller interessanter Beobachtungen und Details stecken. Leider werden nicht alle dieser Passagen mit Fussnoten belegt, sodass oft unklar bleibt, ob es sich um Zitate aus transkribierten Interviews handelt oder ob der Autor die Aussagen aus seinen Erinnerungen rekonstruiert hat, etwa auf der Basis von Tagebucheinträgen. In Anbetracht des kolonialen Kontextes solcher Praktiken, hätte Menrath hier klarer im Text unterscheiden müssen (siehe etwa S. 40). Dies umso mehr, da der Autor in einigen Passagen eine sehr bildhafte, vermeintlich an indigene Ausdrucksweisen angelegte Sprache benutzt (etwa S. 9 f., S. 19), die exotisierend wirkt und unbedingt hinterfragt werden sollte. Auch wenn Menrath betont, dass es sich nicht um eine «nüchterne wissenschaftliche Qualifikationsschrift» (S. 418) handelt, hätte eine Einordnung der genannten Themen und der Interviews in die aktuelle historisch-ethnologische Forschung zu einem grösseren Erkenntnisgewinn geführt. Wichtige Ereignisse für die indigene Bevölkerung Kanadas wie das Cypress Hill Massaker, zentrale Akteure wie die RCMP (Royal Canadian Mounted Police) werden nicht behandelt, die Geschichte der Indigenen vor dem 17. Jahrhundert ebenfalls nur marginal. Mutmassungen (etwa S. 106, S. 264) werden nicht belegt, in den relativ spärlichen Fussnoten wird auf wenig und veraltete Literatur verwiesen. Und sollte etwa nicht, wenn das für die Beschreibung der Handelsbeziehungen so zentrale Konzept des middle ground erwähnt wird (S. 94), auf das zugrundeliegende Buch von Richard White4 verwiesen werden? Zudem unterlässt es der Autor, seinem ohne Zweifel 4 Richard White, The Middle Ground. Indians, Empires and Republics in the Great Lakes Region, Cambridge MA 1991. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 511 512 Rezensionen / Recensions / Recensioni sehr wertvollem und interessantem Gesprächsmaterial archivalische Quellen oder bereits existierende Interviewprojekte gegenüberzustellen. Bei Aufbau und Ansatz des Buches verwundert es besonders, dass Menrath in keinster Weise auf die reiche Literatur zur Dekolonisierung der Geschichtsschreibung in Nordamerika (und der Welt) eingeht,5 eine Auseinandersetzung mit deren Erkenntnissen wäre sehr fruchtbar für das Buch gewesen. Seinem Anspruch, «wissenschaftliche Erkenntnisse mit […] persönlichen Empfindungen zu verbinden» (S. 418, siehe oben), wird er somit nur zum Teil gerecht. Dass der Autor die Bezeichnung «Indianer» benutzt, wird auf S. 12 problematisiert, wobei Menrath den deutschsprachigen Kontext seiner Nutzung des Begriffs herausstellt und die Schwierigkeit anderer Begriffe betont. Der weit unumstrittenere Begriff «indigen» taucht hier nicht auf, obwohl er auch vom Autor selbst immer wieder genutzt wird (etwa S. 17, 65, 161 etc.). Warum diese unproblematischere Bezeichnung nicht durchgängig benutzt wurde, ist weder ersichtlich noch einleuchtend. Insgesamt bleibt so bei diesem gut lesbaren, spannenden und interessanten Buch die Fragen offen, ob «[e]infach mal zuzuhören, ohne das Wort zu ergreifen» (S. 255, siehe auch S. 13–15) reicht, um die kolonialen Strukturen zu durchbrechen, die der Autor (zu Recht) vehement kritisiert. Yves Schmitz, Bremen Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, München: Verlag C.H. Beck, 2019, 1120 Seiten. In «These Truths», ihrem elften Buch, unternimmt die 1966 geborene Harvard-Historikerin Jill Lepore den ambitionierten Versuch, Ursprünge, Verlauf und Konsequenzen des «amerikanischen Experiments» (S. 13) von Christoph Kolumbus bis Donald J. Trump in einem einzigen Band darzustellen. Ganz auf der Höhe der Zeit geht sie davon aus, dass die Vereinigten Staaten von Amerika immer schon eine multiethnische Gesellschaft waren. Um die gewaltige Stoffmenge in den Griff zu bekommen, verengt sie den Fokus auf die politische Geschichte des Landes und widmet der Sozial-, Kultur- und Militärgeschichte, wie sie selber weiss, «nur sehr wenig Aufmerksamkeit» (S. 19). Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die ohne Zweifel wichtige Frage, wie die in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als selbstverständlich erachteten Aufklärungsideen – politische Gleichheit, naturgegebene Rechte und Volkssouveränität – in der Gesellschaftsentwicklung zum Tragen kamen oder von ihr dementiert wurden. Den darstellerischen Kern bildet damit das «amerikanische Paradox» (Edmund S. Morgan): die Freiheit und politische Gleichheit weisser Bürger, die auf der systematischen Versklavung von Afrikanern gründet, und für die Zeit nach der Emanzipation (1865) die anhaltende rassistische Diskriminierung der afroamerikanischen Minderheit, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der USA ziehen – wenn auch in historisch variablen Formen. Ein solcher Ansatz ist keineswegs neu. Auch wenn man nicht den Massstab einer «histoire totale» anlegt, mutet er reduktionistisch an. Tatsächlich springt ins Auge, wie viele Dimensionen amerikanischer Geschichte in dieser Synthese fehlen oder bloss als Randthemen behandelt werden: die Westexpansion, die Entwicklung des Kapitalismus, die sozialen Konflikte, die Immigration, das kulturelle Leben, die Geschlechterbeziehungen, die Zerstörung der Umwelt und der Klimawandel etwa, aber auch der Aufstieg der 5 Siehe einführend: Linda T. Smith, Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples, London 2012; Susan A. Miller, Native Historians Write Back. The Indigenous Paradigm in American Indian Historiography, in: Wicazo Sa Review 24/1 (2009), S. 25–45. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni USA zur globalen Supermacht, die von Amerika geführten Kriege und die Aussenpolitik. Zudem blickt Lepore von der Ostküste auf ihren Gegenstand, was erklären mag, weshalb sie Grossregionen wie den Südwesten oder das «Heartland» stiefmütterlich behandelt. Stattdessen nehmen in ihrem «old-fashioned civics book», das mit «altmodischem Gemeinschaftsbuch» (S. 18) nicht ganz adäquat übersetzt ist, Präsidentenwahlen, Verfassungsdiskussionen, Entscheide des Supreme Court, populistische Politiker und konservative Ideen, aber auch die Meinungslenkung, die Medienentwicklung und wichtige Bucherscheinungen breiten Raum ein. Bei allem Respekt kann dies unmöglich das Einzige sein, «was ein Volk, das eine Nation bildet, zu Beginn des 21. Jahrhunderts […] über die eigene Vergangenheit wissen muss» (S. 18). Lepores Wälzer ist einem nationalgeschichtlichen Narrativ verpflichtet, das weitgehend auf transnationale Perspektiven und globale Einordnungen verzichtet. Spitz merkte der Standford-Professor Richard White an, dass ihre Darstellung viele Kenner der Materie, die sich nicht als Präsidentenbiografen sehen, enttäuschen müsse. Das Werk wendet sich in der Tat mehr an das grosse Publikum als an Fachangehörige. Am dichtesten gearbeitet sind die ersten 180 Seiten zu den Jahrhunderten zwischen 1492 und 1799, in denen sich die Autorin am besten auskennt. Bis zu «These Truths» hat sie sich als Spezialistin für das frühe Amerika einen Namen gemacht, mit preisgekrönten Fallstudien über den King Philip’s War (1675/76) und die New Yorker Verschwörung (1741). Die Schilderung setzt am 12. Oktober 1492 mit Kolumbus’ Landung auf Guanahani ein und geht von der fruchtbaren These aus: «Die Gründungswahrheiten der Nation wurden in einem Schmelztiegel der Gewalt geschmiedet, sie waren das Ergebnis von ausserordentlicher Grausamkeit, Eroberung und Gemetzel, der Ermordung ganzer Welten» (S. 34). Entgegen den geweckten Erwartungen spielt die Eroberung Nordamerikas durch europäische Invasoren und die Dezimierung und Verdrängung der First Peoples nur zu Beginn eine Rolle. Zu den indigenen Überlebensstrategien und Widerstandsformen hat Lepore wenig zu sagen, über die grosse Pockenepidemie während des Unabhängigkeitskrieges und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf das «Indian Country» gar nichts. Für die Zeit nach 1700 wechselt der Blick ganz auf die Ausbildung des Sklavereisystems in den englischen Küstenkolonien. Im Unterschied zu Neuspanien und Neufrankreich errichteten die Briten entlang der Atlantikküste eine «ganz andere und brutalere Form der Rassenherrschaft, eine Form, die nur zwei Formen kannte, schwarz und weiss, und zwei Formen von Rechtsstellung, Sklave und Freier» (S. 104). So zugespitzt stimmt diese Aussage nicht, gab es in den Küstenkolonien doch stets auch Heerscharen von «indentured servants» aus Westeuropa und damit eine andere Form unfreier Arbeit. Wenig überzeugend ist die Behauptung, dass der entscheidende Anlass für die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 nicht der von König Georg III. verhängte vorläufige Siedlungsstopp und der wachsende Steuerdruck gewesen sei, sondern das Angebot des britischen Gouverneurs von Virginia, alle Sklaven, die sich in die loyalistische Armee meldeten, in die Freiheit zu entlassen. Grundsätzlich zu wenig Beachtung findet in Lepores Werk, dass in der US-Gesellschaft neben der «Color-line» und der politischen Spaltung zwischen Liberalismus und Konservativismus auch andere Konfliktlinien existieren – soziale, wirtschaftliche, kulturelle. Uninspiriert fällt ihre Schilderung des 19. Jahrhunderts aus, wo viele zentrale Themen wie die Verdrängung und Dezimierung der Native Americans oder die entfesselte kapitalistische Wirtschaft des «Gilded Age», aber auch die Masseneinwanderung, das industrielle Amerika und selbst der Bürgerkrieg unterbelichtet bleiben. Begrüssenswert ist SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 513 514 Rezensionen / Recensions / Recensioni dagegen, dass Lepore neben den Mächtigen durchgängig auch Machtlosen eine Stimme leiht, etwa David Walker, Nat Turner, Frederick Douglass oder John Brown, die sich auf unterschiedlichen Wegen für eine Abschaffung der Sklaverei engagierten und damit für eine inklusivere Republik. Nicht frei von zivilreligiösem Pathos heisst es allerdings an einer Stelle auch: «Das amerikanische Experiment hatte bis zu den 1830er Jahren die erste grosse Demokratie eines ganzen Volkes der Weltgeschichte hervorgebracht» (S. 245). Das 20. Jahrhundert beansprucht mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs des Buches. Dem Jim Crow-Amerika und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung räumt die Autorin viel Raum ein. Mit der «separate, but equal»-Doktrin (1896) des Obersten Gerichtshofs gewann die Konföderation, die den Bürgerkrieg verloren hatte, den Frieden. Dennoch staunt man, dass Lepore das Pogrom von Tulsa (1921), bei dem ein weisser Mob bis zu 300 Afroamerikaner ermordete und ihr «Black Wall Street» genanntes Wohnquartier abfackelte, oder die berüchtigte Todesstudie von Tuskegee, in der Mediziner im Auftrag des Gesundheitsministeriums 399 an Syphilis erkrankte Afroamerikaner bis 1972 einem qualvollen Sterben aussetzten, keiner Erwähnung für wert befindet. Die Roosevelt-Ära und den in den Kalten Krieg nachwirkenden New-Deal-Konsens begreift Lepore als Kulminationspunkt amerikanischer Geschichte. Herausgestrichen wird allerdings, dass auch die New-Deal-Programme dem Prinzip der Rassentrennung folgten und Franklin D. Roosevelt nichts gegen die im Süden weit verbreitete Praxis des Lynchens unternahm. Auch die Nachkriegsgesellschaft war noch lange von institutionalisierter Rassenungleichheit geprägt, bis schliesslich der «Civil Rights Act» (1964) der Segregation wenigstens den rechtlichen Boden entzog. Die ganze Zeit seit dem Rücktritt von Richard Nixon (1974) wird von Jill Lepore schliesslich als die einer ständig wachsenden Polarisierung gedeutet. «In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stellten Liberale wie Konservative», heisst es an einer Stelle, «die anhaltenden, aus den 1960er Jahren überkommenen Streitpunkte nicht mehr als Fragen von Recht und Ordnung, sondern als Fragen von Leben und Tod dar. Entweder stand Abtreibung für Mord und Waffen standen für Freiheit, oder Waffen standen für Mord und Abtreibung für Freiheit» (S. 787). Ein grosses Gewicht nimmt im letzten Teil der politische Aufstieg des New Yorker TV-Reality-Stars Donald J. Trump zum 45. Präsidenten ein, der vor dem Hintergrund von Amerikas «Kaltem Bürgerkrieg» (Torben Lütjen), dem Bedeutungsverlust der Qualitätspresse und dem Aufkommen der sozialen Netzwerke erklärt wird. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass dieser populistische Präsident mit seinen Twitter-Kanonaden kein Betriebsunfall der Geschichte war. Denn: «Aus den Tiefen der amerikanischen Politik schöpfte diese Wahl den widerwärtigen Schmutz alter Hassgefühle» (S. 943). Jill Lepore, die neben ihrer Professur als festangestellte Journalistin beim «New Yorker» arbeitet, schreibt mit einer feinen Feder. Je weiter die Darstellung in der Zeit allerdings voranschreitet, desto essayistischer wird sie. Mit ihrer Erzählfreude treibt Lepore es zuweilen zu weit, so etwa wenn sie festhält, dass die Präsidentengattin Betty Ford 1975 eine Journalistin «auf einem Sofa mit Blumenmuster im Wintergarten in der zweiten Etage des Weissen Hauses» (S. 785) empfing oder Barack Obama ein «schmales Gesicht, grosse Ohren und eine kupferfarbene Haut» (S. 915) habe. Lepore will eine neue Lesart amerikanischer Geschichte entwickeln. Das gelingt ihr nicht wirklich. Dazu hätte es einer grösseren Konsequenz bedurft, um die Asymmetrien und Absenzen der Standarderzählung auszubügeln. Mit «These Truths» hat sie das konventionelle Narrativ um die Leidens- und Emanzipationsgeschichte der schwarzen Minderheit erweitert. In einer Zeit, in SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni der der systemische Rassismus sein hässliches Gesicht immer wieder zeigt, leistet ihre faktenbasierte Darstellung jedoch einen Beitrag zur kritischen Gegenwartsaufklärung. Aram Mattioli, Luzern Dunja Bulinsky, Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und sein soziales Umfeld, Zürich: Chronos, 2020, 191 Seiten, 18 Abbildungen. Die neuere Wissenschaftsgeschichte nähert sich ihrem Gegenstand nicht mehr im Sinne eines linearen Fortschrittnarrativs und als Abfolge von Geistesblitzen grosser Forscher. Vielmehr hat sie ihren Blickwinkel erweitert und erfasst den historischen Wandel über die konkreten Forschungspraktiken. Auf diese Weise werden die vielfältigen Kontexte sichtbar, in die die gelehrte Wissensgenerierung und ihre Akteure eingebunden waren, und eine beachtliche Vielfalt an Personenkreisen und Orten der Wissensproduktion tritt ans Licht. Auch Dunja Bulinsky hat sich in ihrer 2018 an der Universität Luzern verteidigten Dissertation über die «Nahbeziehungen» des Zürcher Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) dieser Herangehensweise verpflichtet. Dem ungemein produktiven Scheuchzer, bekannt als Pionier der Erforschung des Alpenraums, Herausgeber der prächtig illustrierten «Kupferbibel» und Schöpfer einer detailreichen Karte der Eidgenossenschaft, leisteten zahlreiche Personen vielfältige Dienste, ohne die seine Forschungsarbeit nicht denkbar gewesen wäre. Viele von ihnen traten nie selbst als Autoren in Erscheinung und blieben so in der bisherigen Forschung, die primär auf der Untersuchung gelehrter Schriften basierte, weitgehend «unsichtbar». Über das Mitwirken ebendieser Menschen am Werk des berühmten Scheuchzer möchte die vorliegende Untersuchung mehr herausfinden. Das zentrale Forschungsinteresse gilt der Frage, «welche Rolle die Helfer aus seinem [Scheuchzers, S.B.] Umfeld für seine Forschungen spielten und wieweit ihre Informationen in seine Publikationen einflossen» (S. 16). Die Darstellung beginnt mit der unmittelbaren häuslichen Umgebung des Zürcher Naturforschers, seinem Haus «zur Lerche» mit seinen Söhnen und der Ehefrau Susanne Vogel. Anschliessend nimmt sie die Zusammenarbeit mit seinem jüngeren Bruder Johannes und ehemaligen Schülern in den Blick, um dann die Rolle der gelehrten Institutionen in Zürich zu beleuchten. Schliesslich geht sie auf die zahlreichen «ungelehrten» Alpenbewohner ein, auf die Scheuchzer als Lieferanten von Wissen über die Bergwelt zurückgriff. Eine der Herausforderungen von Studien, die das alltägliche Handeln historischer Akteure rekonstruieren möchten, liegt oft in der Verfügbarkeit von Quellen. Die vorliegende Arbeit stützt sich in dieser Hinsicht insbesondere auf die bislang nur partiell ausgewertete Korrespondenz Scheuchzers. Der Wert dieser Quellengattung für die Rekonstruktion der Arbeitsweise von Forschern ist bekannt, auch wenn sie naturgemäss erst entstand, wenn eine zu überwindende räumliche Distanz zwischen die Beteiligten trat. So gestaltet sich der Versuch, Einblick in die familiäre Sphäre des Zürcher Naturforschers zu gewinnen, als schwierig. In der schriftlichen Überlieferung sind die Hinweise auf den Alltag im Scheuchzer’schen Haushalt und damit auch das Wirken der Ehefrau äusserst spärlich. Immerhin konnte die Autorin aus Reiseberichten von Scheuchzers zahlreichen Besuchern entnehmen, dass seine Gattin nicht nur im Rahmen ihrer häuslichen Pflichten als Gastgeberin für das leibliche Wohl der Besucher zuständig war, sondern ihrem Mann auch bei der Wissensvermittlung zur Hand ging, indem sie seinen Gästen etwa die Naturaliensammlung präsentierte. Zudem muss ein Hausgenosse – die Autorin SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 515 516 Rezensionen / Recensions / Recensioni vermutet, dass es sich um die Ehefrau handelte – während den Abwesenheiten des Hausvaters die meteorologischen Instrumente abgelesen haben. Insgesamt lege die Überlieferung somit nahe, dass Scheuchzers Arbeitsräume, also die Sammlung und sein Studierzimmer, offenbar keine von der Familie separierten Rückzugsorte waren, sondern in grösserem Masse in den häuslichen Alltag integriert waren, als dies die bisherige Forschung zu Gelehrtenhaushalten vertritt. Ergiebiger sind die Quellen zum – allerdings früh verstorbenen – jüngsten Sohn, der von seinem Vater zur Ausbildung nach England geschickt worden war, und vor allem zu Johannes, dem um zwölf Jahre jüngeren Bruder Scheuchzers, der später ebenfalls als Naturforscher tätig wurde. Johann Jakob hatte ihn in naturkundlichen Themen unterrichtet, und als er sich später auf Reisen begab, unterhielten die beiden einen regen Briefwechsel. Schüler als Tischgänger aufzunehmen, war in frühneuzeitlichen Gelehrtenhaushalten gängige Praxis, so auch bei Scheuchzer. Diese jungen Männer waren, gerade für den Zürcher, der quasi zeitlebens auf eine besoldete akademische Stelle wartete, eine wichtige Einnahmequelle, und galten auch als zukünftige Mitarbeiter. 99 Schüler hatte Scheuchzer im Laufe von mehreren Jahrzehnten nachweislich bei sich zuhause unterrichtet. Am Beispiel von dreien von ihnen zeichnet die Autorin nach, wie die Grundlage einer lebenslangen Bekanntschaft geschaffen wurde, in deren Verlauf die Schüler als Zuträger von Informationen, Vermittler von Kontakten und Naturalien die Arbeit ihres einstigen Lehrers unterstützten, sich aber auch zunehmend emanzipierten und eigene Interessen zu verfolgen begannen. Die Zürcher gelehrten Institutionen, also die «Carolinum» genannte Hohe Schule, die Bürgerbibliothek und die frühaufklärerischen Diskussionszirkel der «Collegia» waren für Scheuchzer Foren, wo er mit seinen Arbeiten vor die lokale Öffentlichkeit treten konnte. Gleichzeitig zeigten sich hier auch die Schwierigkeiten, denen er sich als Vertreter der Kopernikanischen Kosmologie – die in Zürich bis kurz vor seinem Tod nicht öffentlich gelehrt werden durfte – ausgesetzt sah. Das letzte Kapitel ist schliesslich Scheuchzers Austausch mit jenen «ungelehrten» Bergleuten, Jägern und Hirten gewidmet, die ihm den alpinen Raum erst erschlossen. Die räumliche wie soziale Distanz zwischen ihnen und dem städtischen Gelehrten war gross, aber Scheuchzer betrachtete das Wissen jener Leute für seine Forschung als unverzichtbar und mass den Informationen, die sie ihm vermittelten, eine hohe Glaubwürdigkeit zu. Alles in allem liegt hier eine kompakte, leicht lesbare Studie vor, die am Beispiel des Johann Jakob Scheuchzer einige Aspekte der kollaborativen Praxis in der frühneuzeitlichen Naturforschung exemplarisch aufzeigt. Sarah Baumgartner, Egolzwil Peter Erhart (Hg.), Fürstabt Celestino Sfondrati von St. Gallen 1696 als Kardinal in Rom, Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2019 (Itinera Monastica, Bd. 3), 724 Seiten, 41 Abbildungen. Luigi Sfondrati, geboren am 10. Januar 1644 in Mailand, muss ein schwieriges Kind gewesen sein. So schwierig, dass seine Mutter sich nicht anders zu helfen wusste, als ihn im Alter von zwölf Jahren in die Obhut des Benediktinerklosters von St. Gallen zu geben. Die Massnahme zeitigte nachhaltigen Erfolg. Schon bald wurde aus dem Sorgenkind ein Musterknabe, der am 6. Mai 1660 die Profess ablegte, dabei den Ordensnamen Celestino annahm, und am 26. Mai 1668 die Priesterweihe erhielt. Schon im Jahr zuvor war er als SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Professor für Theologie nach Kempten geschickt worden, unterrichtete dann ab 1669 in St. Gallen Philosophie, ab 1671 Theologie, um 1679 an der Salzburger Benediktineruniversität zum Dr. theol. und utr. jur. promoviert zu werden und im Anschluss daran bis 1683 dort zu lehren. Als Autor zahlreicher theologischer und kanonistischer Schriften erlangte er einen glänzenden Ruf, wurde 1687 zum Fürstabt von St. Gallen gewählt und am 12. Dezember 1695 von Innozenz XII. Pignatelli (1691–1700) zum Kardinal ernannt. Als solcher reiste er im Januar 1696 über den verschneiten Splügen-Pass nach Rom, wo der Kardinal mit seinem Gefolge Anfang Februar eintraf und fortan als aussichtsreicher Kandidat für das nächste Konklave galt, das er jedoch nicht mehr erleben sollte. Er starb bereits am 4. September 1696 und fand seine letzte Ruhestätte in S. Cecilia, wo auch sein Onkel, Kardinal Paolo Emilio Sfondrati, Neffe Papst Gregors XIV. (1590/91), beigesetzt worden war. Aus der Zeit des kurzen Kardinalats Celestino Sfondratis hat sich ein reichhaltiger Aktenbestand im Stiftsarchiv St. Gallen erhalten, der nun von einem Forscherteam unter der Leitung von Stiftsarchivar Peter Erhart ediert worden ist, und zwar in mustergültiger Form. Der dabei entstandene Band enthält eine allgemeine Einführung des Herausgebers, einen prosopographischen Überblick zu Celestino Sfondrati und seiner Familie (Giuanna Beeli) und Anmerkungen zum römischen Palazzo des Kardinals (Federica Germana Giordani); es folgen kurze Beiträge zu jenen Personen aus dem Gefolge des Kardinals, die schriftliche Dokumente hinterlassen haben, nebst editorischen Notizen (von Helena Müller, Peter Erhart, Christoph Uiting, Giuana Beeli und Federica Germana Giordani). Der anschliessende Hauptteil, die Edition, enthält Protokolle der Feierlichkeiten anlässlich der Kardinalsernennung; Reisetagebücher und Notizen von Angehörigen des Hofstaats (die lateinischen auch in deutscher Übersetzung); eine kurze italienische Vita des Kardinals; Korrespondenzen; Rechnungen und Quittungen aus der Hofhaltung des Kardinals in Rom; Urkunden; ein umfangreiches Register von Korrespondenzen und Rechnungen sowie einen Abbildungsteil, vor allem mit Fotografien von schriftlichen Originaldokumenten und Porträts Celestino Sfondratis. Der Anhang schliesslich bietet ein Glossar italienischer Wörter, Verzeichnisse zu «Währungen, Münzen, Massen und Gewichten»; «Währungen und Abkürzungen der Apotheker», Abkürzungsverzeichnis, Personenregister und Ortsregister. Besser lässt sich ein Archivbestand für die Forschungsarbeit nicht erschliessen. Und der Inhalt dieses Archivbestandes verdient eine so liebevoll-gründliche Erschliessung vollkommen. Was findet sich nicht alles im schriftlichen Niederschlag, den das kurze Kardinalat Sfondratis in den St. Galler Archivbeständen hinterlassen hat! Die Reiseberichte entwerfen ein anschauliches Bild von den Mühen frühneuzeitlichen Reisens, aber auch von seinen mitunter erstaunlichen Freuden, etwa wenn Pater Hermann Schenk unter dem 29. Januar 1696 von dem Festmahl berichtet, das Herzog Rinaldo d’Este von Modena zu Ehren des Kardinals gab, und sich der Leser bei der Lektüre dieses Berichtes fragt, wo um alles in der Welt in dieser Jahreszeit der frische weisse Spargel («asparagi albi recentes», S. 132) hergekommen sein mag. Die zahlreichen Gratulationsschreiben zur Kardinalserhebung lassen Rang und Reichweite der Netzwerke eines adligen Kardinals um 1700 deutlich werden, Berichte über die Exerzitien des Kardinals die Spiritualität dieses Kirchenfürsten nicht weniger anschaulich zu Tage treten. Es finden sich detaillierte Informationen zum Verlauf der Krankheit des Kardinals ebenso wie zu den Behandlungsmethoden der Ärzte, zu Personalbestand und Kosten der Hofhaltung in Rom, zum Ansehen Sfondratis, das dieser bei Innozenz XII. genoss, der angesichts von dessen schlechtem SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 517 518 Rezensionen / Recensions / Recensioni Gesundheitszustand seufzte: «Es wäre besser, wenn ich stürbe, als dieser Kardinal» (S. 185) – fast willkürlich herausgegriffene Beispiele für den Reichtum an Einblicken in das Leben eines Kardinals, aber, allgemeiner noch: die Lebenswelt der Frühen Neuzeit, die eine Quellenedition eröffnet, der man nur eine reiche und fruchtbare Rezeption wünschen kann. Arne Karsten, Wuppertal Damien Savoy, Église, sciences et révolutions. La correspondance du chanoine CharlesAloyse Fontaine (1754–1834), Fribourg: Bibliothèque cantonale et universitaire de Fribourg, 2019, 608 pages, illustrations. Ces dernières années, l’historiographie fribourgeoise a pu se réjouir de la publication de plusieurs recueils de sources: en 2016 le plus ancien registre de notaire conservé aux Archives de l’État de Fribourg,6 en 2018 le copie-lettres d’un patricien du XVIIIe siècle7 et aujourd’hui la correspondance du chanoine Charles-Aloyse Fontaine. D’approches et de factures différentes, ces efforts documentaires encouragent à faire de Fribourg un cas d’étude pour les problématiques qui occupent actuellement les historiens médiévistes et modernistes. Dans son imposant volume, Damien Savoy nous livre une partie des sources qui sont à la base d’une recherche doctorale menée à l’Université de Lausanne. En introduction, il retrace lucidement l’historique des papiers du chanoine Fontaine, entre destruction par l’ecclésiastique lui-même, censure par ses héritiers et différents legs. Les efforts du chercheur lui ont toutefois permis d’éditer – selon les standards philologiques actuels – 127 documents rédigés par Fontaine et 33 qui lui ont été adressés. L’annotation est riche, très érudite, renvoyant tant à des documents de première main qu’à une vaste bibliographie, et en rien ternie par quelques détails de traduction latine (ainsi celle de 1Cor 9,22 à la page 218). Enfin, d’utiles annexes thématiques et bibliographiques complètent cette édition, qu’illustrent différentes reproductions de document, de portrait de Fontaine, mais aussi des tableaux qu’il a ou aurait lui-même possédés. Les sources relatives au chanoine Fontaine montrent un personnage hors du commun, tant ses activités ont été nombreuses et ses intérêts variés. Ce sont ainsi non seulement des projets de réformes ecclésiales et pédagogiques qui l’habitaient, mais aussi économiques (voir la lettre 96 au ministre F. B. Meyer von Schauensee sur l’entretien des routes et le droit foncier), à côté de travaux historiques et naturalistes inscrits dans des réseaux que le chanoine soignait (voir par exemple sa lettre 80 à I. H. von Wessenberg, où Fontaine se recommande au théologien J. M. Sailer) et qu’il reste à cartographier avec précision. Mais bien plus, les documents mis à disposition par Damien Savoy offrent une porte d’entrée de choix pour l’intelligence de la société fribourgeoise – et de là pas seulement – des tournants du XVIIIe et XIXe siècle. Ainsi, à travers les arguties que Fontaine déployait pour défendre les privilèges du Chapitre collégial, ce sont des continuités juridiques qui se dévoilent, tissées à l’aide de documents pluriséculaires, de l’Ancien Régime aux décennies postrévolutionnaires (lettres 38 et 39). Des échanges et travaux du chanoi6 Les sources du droit suisse, IXe partie: Les sources du droit du canton de Fribourg. Le droit des villes. Registre de notaires et formulaires notariaux, Registrum Lombardorum. Le premier registre notarial des Archives de l’Etat de Fribourg (1356–1359), Tome 7: Enquêtes par Lionel Dorthe et Kathrin Utz Tremp, Basel 2016. 7 François Pierre de Reynold, Rita Binz-Wohlhauser, Simone de Reyff, Alexandre Dafflon, Walter Haas (éds), «Auprès de mon écritoire». Le copie-lettres (1732–1754), Neuchâtel 2018. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni ne apparaît un clergé fribourgeois divisé devant les événements politiques: entre des enthousiasmes contraires, les sources laissent voir des positions plus nuancées, parfois hésitantes. C’est aussi le cas devant des œuvres contemporaines controversées, comme celle de Kant, dont la réception par un clergé éloigné des grands centres intellectuels pourra être éclairée par ce travail d’édition (voir en particulier la lettre 78 au prêtre bullois J.-J. Gremaud). Damien Savoy distribue les documents en six chapitres thématiques («L’homme et sa famille», «Le chanoine de St-Nicolas», «Le théologien et l’homme d’Église», «Le partisan de la Révolution helvétique», «L’administrateur scolaire et le promoteur de réformes éducatives», «L’érudit et le collectionneur»), ce qui constitue déjà un geste historiographique, qu’il détaille en partie dans de brèves introductions à chacune de ces sections. Or, il y est souvent question de «Lumières», d’«éclairés», d’«Aufklärung» pour désigner Fontaine et ses affiliés. Si ce lexique est maintenant commun à l’historiographie du catholicisme du XVIIIe siècle, il est aussi celui que Fontaine et ses contemporains ont utilisé pour désigner leur propre action, et les sources présentées ici l’attestent (voir par exemple les lettres de P.-A. Stapfer). Le risque n’est-il alors pas que de ceux qui n’ont pas suivi la même ligne dite «éclairée», une reprise inconsciente par l’analyse des catégories contemporaines fasse un agrégat «obscurantistes» sans chercher à mieux comprendre des raisons sans doute variées qui leurs étaient propres? L’utilisation maladroite, en tête de l’«Introduction générale», du concept, depuis plusieurs années condamné par l’historiographie spécialisée, d’«ultramontanisme» pour désigner Fribourg prouve en tous les cas la dangerosité de l’écueil.8 Le matériau documentaire que le patient et rigoureux travail de l’éditeur a mis à jour a donc toute la difficulté de sa richesse. Les contextualisations fines et les problématisations au-delà des schémas anciens qu’il exige font de la thèse de Damien Savoy un opus attendu avec impatience. David Aeby, Berne Marco Zanoli (cartes) / François Walter (textes), Atlas historique de la Suisse. L’histoire Suisse en cartes, Neuchâtel: Alphil, 2020,195 Seiten. Das Vorgängerwerk des neuerdings zur Verfügung stehenden Atlas zur Schweizer Geschichte stammt von Ammann / Schib und ist 1951 erschienen. Ein in mehrfacher Beziehung neues Kartenwerk ist demnach ein Desiderat gewesen, weil neuen historischen Einsichten, neuen reprografische Möglichkeiten und der Entwicklung der jüngsten Zeit, die immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert einnimmt, Rechnung getragen werden kann. In den letzten Jahren ist die Schweiz kartographisch allerdings nicht unbearbeitet geblieben. Zu nennen ist der von Bruno Fritzsche unter anderem im Jahr 2001 vorgelegte Strukturatlas zum 19. Jahrhundert, der es verdient hätte, von den Produzenten des neuesten Werks mehr einbezogen zu werden. Einen weiteren Hinweis verdient der wirklich innovative, allerdings auf gegenwartsnahe Verhältnisse beschränkte, 2003 von Heiri Leuthold und Michael Herrmann präsentierte «Atlas der politischen Landschaften: ein weltanschauliches Porträt der Schweiz», der uns mit einer Auswertung von zur jüngsten Zeit zur Verfügung stehenden Daten die Verteilung der regionalen politischen Mentalitäten der Schweiz aufzeigt. Der neue, in 25 Kapitel unterteilte Atlas versammelt 111 Karten über einen Zeitraum vom Neolithikum bis zu den kürzlich entstandenen Metropolitanregionen. Eine wichtige Besonderheit besteht darin, dass sich die Karten nicht auf das heuti8 Voir en premier lieu Philippe Boutry, Ultramontanisme, in P. Levillain (dir.), Dictionnaire historique de la papauté, Paris 1994, p. 1651–1653. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 519 520 Rezensionen / Recensions / Recensioni ge Staatsgebiet der Schweiz beschränken, sondern zum Teil weiträumig auch die Nachbargebiete abdecken, so dass zum Beispiel im Fall der La Tène-Zivilisation oder der Autobahnen des 20. Jahrhunderts transnationale Gegebenheiten sichtbar werden. Über weite Strecken gilt die Hauptaufmerksamkeit jedoch nach traditioneller Manier den politischen Herrschaftsverhältnissen beziehungsweise den Territorien mit unterschiedlichen Regimen. So erfährt etwa ihre kleinräumige Gliederung des 14. Jahrhunderts eine anschauliche Darstellung. Einige Karten sind Phänomenen gewidmet, zu denen bisher noch keine Raumrepräsentationen entwickelt worden sind: zur räumlichen Verteilung der verschiedenen politischen Tendenzen um 1848 oder der Arbeiterbewegung vor 1914. Zwei Karten sind immerhin der Industrialisierung um 1780 und 1860 gewidmet. Die für das erfasste Land bekanntlich nicht unwichtige Landwirtschaft (die Verteilung der Forst-, Gras- und Getreidewirtschaft) bleibt hingegen unberücksichtigt. Eintragungen zu Städten unterschiedlicher Grösse vermitteln bloss eine schwache Ahnung von der Besiedlungsdichte des Landes. Alles in allem bietet der neue Atlas verglichen mit dem Vorgängerwerk einen erheblichen Mehrwert und bleibt doch, wie das Werk von 1951 und wie wissenschaftliches Arbeiten schlechthin, bloss eine Etappe auf dem Weg des steten Ausbaus. Die nächste Etappe wird wohl in der digitalen Animation von solchen Karten liegen. Eine dynamisierte Darstellung drängt sich zum Beispiel in der Geschichte der Eisenbahnentwicklung (hier statisch mit zwei Karten zu 1860 und 1914 festgehalten) geradezu auf. Vielleicht wird uns dies sogar der Kartograph dieses Werks gelegentlich zur Verfügung stellen. Marco Zanoli unterrichtet Geschichte und Informatik an einer Zürcher Kantonsschule, wo er auch das IT-Team leitet. Das Zeichnen historischer Karten ist in einer eigenartigen Mischung von Professionalität und Amateurentum bloss seine leidenschaftliche Freizeitbeschäftigung. In seinem Vorwort spricht er die Hoffnung aus, dass diese Publikation das Interesse an der Geschichte der Schweiz wecken werde. Der Atlas kann aber auch denen nützlich sein, die sich schon für diese Geschichte interessieren und sogar bereits einiges über sie wissen. Die Karten geben zwar Auskünfte, diese müssen jedoch eingebettet und zu einem Verständnis verarbeitet werden. Eine erste Hilfe dazu bieten die von François Walter, zu jedem Kapitel verfassten kurzen Einleitungen. Walter kann dabei aus dem Vollen schöpfen, hat er doch eine mehrbändige, im gleichen Verlag erschienene Schweizer Geschichte verfasst und sich wiederholt mit Fragen der Imagination von Landschaften befasst. In seinem Vorwort erklärt er, dass die Vielfalt der stets neue Konturen annehmenden und neue Kompositionen einnehmenden Territorien an ein Kaleidoskop erinnern und auch daran, dass die Schweiz kein in Zeit und Raum festes Gebilde ist und nicht aufgehört hat, sich zu entwickeln beziehungsweise, wie man es nur französisch auf den Punkt bringen kann: «de se faire, de se défaire et de se recomposer» (S. 9). Georg Kreis, Basel Norbert Furrer, Der arme Mann von Brüttelen. Lebenswelten eines Berner Söldners und Landarbeiters im 18. Jahrhundert, Zürich: Chronos, 2020, 230 pages, illustrations. À l’orée de la cinquantaine, Hans Rudolf Wäber est un grand gaillard (1,75 m.) plutôt sec, au teint hâlé, grisonnant sous un petit chapeau noir et portant des habits modestes. Dix ans plus tard, un nouveau signalement note qu’il lui reste trois dents à la mâchoire inférieure et le chausse de souliers à grandes boucles. Il vient de Brüttelen, un village du Seeland. C’est un homme du peuple, marginal à certains égards et représentatif, pourtant, de son milieu, de son pays et de son temps. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Il s’écarte du modèle courant par sa longévité; peu d’hommes de son état dépassent alors la soixantaine. Il n’a pas d’enfants, en dépit d’un mariage tardif (en 1775, il a trenteneuf ans, vingt de plus que sa femme) rompu en 1786; l’épouse a demandé le divorce, et l’obtient d’autant plus facilement que l’homme, absent, a maille à partir avec la justice. On aimerait le chansonner avec Brassens: «Au village, sans prétention / J’ai mauvaise réputation». Hans Rudolf est suspecté dans le cadre du meurtre d’un gendarme, sans conséquence. Il est aussi poursuivi pour avoir frauduleusement fait enrôler son filleul et neveu au service de Hollande, ce qui lui vaut une sentence de bannissement. Mobile par force autant que par goût, il a passé vingt ans dans des compagnies bernoises au service étranger (Piémont, France, Hollande), ce qui n’a rien d’exceptionnel; en 1784, il a déserté, ce qui était courant. Au pays, Hans Rudolf travaille comme domestique de ferme sur les domaines de patriciens et s’engage une fois dans une manufacture neuchâteloise d’indiennerie. Ce pauvre diable n’est pas miséreux: il a pu se marier. Si l’on ignore tout de ses biens meubles et de son logement, on sait qu’il a possédé, en trois lopins mis aux enchères peu avant le divorce, un petit champ, un bout de pré et quelques pieds de vigne, le tout s’étendant sur moins d’un hectare, 5600 m2 selon nos mesures. Il a été scolarisé au village, mais non pas formé à quelque métier que ce soit. Il sait lire et écrire, parle allemand (le dialecte régional) et français. Un homme évanescent dont la trace se perd après 1796, mais pas insignifiant. Il n’a pas vécu en sauvage et des attaches multiples le reliaient à ses contemporains. C’est dans ce réseau familial, local, institutionnel que se détache et s’individualise, progressivement, la figure de Hans Rudolf Wäber. Mais l’écheveau fait apparaître aussi des données collectives. Avec la biographie de son «pauvre homme», ainsi, Norbert Furrer livre non pas un récit picaresque renouvelé d’Ulrich Bräker, mais – dans le droit fil de précédents ouvrages – un tableau minutieusement documenté de la société pré-industrielle dans nos campagnes, ainsi qu’un essai méthodologique. Déconcertant, mais concluant. En filigrane, on découvre en effet le pays déjà bien administré de Leurs Excellences de Berne; elles ne sont pas si lointaines que leur patte ne puisse s’abattre sur le délinquant ou le suspect, ou leurs juges prononcer le divorce d’une femme abandonnée. Entre le sujet anonyme et ces hautes puissances, des communautés emboîtées assurent la transition: le village de Brüttelen, la paroisse d’Ins (Anet), le bailliage d’Erlach (Cerlier). Dans les réseaux que tissent la parenté et le voisinage, on perçoit des tensions, c’est-à-dire des histoires, mais Furrer s’interdit de succomber à la tentation romanesque, ou simplement littéraire. Il ne concède rien à la narration, au rebours d’une tendance en faveur actuellement (Ivan Jablonka, L’histoire est une littérature contemporaine, 2014). Il prend aussi le contrepied d’une micro-histoire reconstructive d’univers culturels, comme celui du meunier frioulan dans l’ouvrage fondateur de Carlo Ginzburg (Le fromage et les vers, 1976). Il refuse même de commenter les données contextuelles, extraites d’archives qu’il transmet brutes ou de publications contemporaines, telle cette savoureuse description de la paroisse par son pasteur en 1764. À plus forte raison, l’historien se garde d’entrer dans la pensée, l’imaginaire ou le ressenti de son sujet, même avec toutes les précautions d’un Alain Corbin (La vie retrouvée de Louis-François Pinagot, 1998). Furrer a relevé le défi biographique en approchant de l’extérieur l’homme de Brüttelen, sans quitter les documents. Il ne met sous les yeux du lecteur que les pièces d’un dossier. Elles sont fragmentaires, pauvres et rares. Le baptême d’Hans Rudolf est enregistré, mais pas son décès. Les contrôles de troupe n’attestent que sa présence à un moment donné dans une compagnie suisse au service étranger, et cela n’occupe jamais qu’une SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 521 522 Rezensionen / Recensions / Recensioni ligne sur cent-cinquante. Le nom de notre homme apparaît dans une dizaine d’archives, mais lui-même n’a pas laissé un seul mot d’écrit. Voilà des raisons suffisantes pour recueillir avec soin le plus mince témoignage. Fuyant le risque de l’interprétation, Furrer s’en tient de même à des informations purement factuelles quand il emprunte aux données de parents ou de voisins de son sujet, afin d’obtenir un terme de comparaison. Les documents, tous les documents, rien que les documents! Plus positiviste, tu meurs. Mais cette démarche laisse ouvert l’espace de l’imaginaire dans l’esprit du lecteur qui peut à son tour, solidement guidé, construire un Hans Rudolf Wäber possible, plausible. Alors la rigueur méthodologique révèle une exigence éthique: on ne parle pas d’un homme sans voix en parlant à sa place. Et la modestie de l’historien trouve sa justification; il cherche tout ce qu’on peut savoir d’un homme, sachant qu’il ne peut pas atteindre sa vérité. À supposer même que l’utopie d’une biographie totale soit réalisable, la masse des informations récoltées accroîtrait encore le besoin d’en savoir plus. Jean Paulhan avait prévenu: «Les gens gagnent à être connus, ils gagnent en mystère.» Jean Steinauer, Fribourg Manolo Pellegrini, La nascita del Cantone Ticino. Ceto dirigente e mutamento politico, Locarno: Armando Dadò editore, 2019, 544 pagine. La bella e ricca ricerca di Manolo Pellegrini si propone di indagare le vicissitudini e i cambiamenti di orientamento politico del ceto dirigente sudalpino nel tormentato ed effervescente periodo che intercorre tra la proclamazione della Repubblica Elvetica nell’aprile del 1798 e la Restaurazione del 1814. Per fare ciò adotta un approccio prosopografico che, nell’impossibilità di prendere in considerazione tutti i protagonisti di quella complessa stagione politica, ne individua alcuni sulla base di criteri quali «il ruolo di spicco combinato alla presenza nel campione di personalità più subalterne sul piano politico istituzionale; la presenza di tutti i membri del campione all’inizio del periodo storico preso in considerazione; l’esistenza di tracce archivistiche o nelle fonti a stampa di qualità; la rappresentatività delle diverse regioni della Svizzera sudalpina e delle varie correnti politiche» (p. 18). Si tratta di un’operazione senza dubbio necessaria per circoscrivere il campione, ma opinabile (come sono state scelte «le personalità più subalterne»?) e destinata a incidere sull’esito della ricerca, poiché esclude le figure emerse in un secondo momento e forse portatrici di istanze diverse. Non convince poi la scelta di tralasciare alcune personalità, quali Carlo Sacchi e Giovanni Pietro Daberti, che «pur avendo avuto ruoli istituzionali di rilievo» sono state escluse «per la presenza nel campione di familiari più in vista» (p. 24), partendo dal presupposto, tutto da dimostrare, che si siano mossi sulla medesima lunghezza d’onda dei loro famigliari. Come ha dimostrato Giorgio Rumi nel suo studio sulla famiglia Litta Visconti Arese alle volte infatti addirittura i fratelli potevano schierarsi su fronti opposti. Al termine di questo vaglio l’autore ha quindi selezionato un campione di 18 individui da sottoporre ad indagine dettagliata, scandita da cinque periodi politico istituzionali: la caduta dell’antico regime; l’istituzione della Repubblica Elvetica (1798–1803); la Mediazione (1803–1810); l’occupazione italiana (1810–1813) e la Restaurazione. Risulta molto interessante, in relazione all’adesione alla rivoluzione in corso e alla volontà di superare gli assetti tradizionali, l’analisi dell’origine socio / professionale delle famiglie di provenienza, della formazione scolastica, culturale e professionale dei protagonisti e della loro inclusione / esclusione dalle stanze del potere. L’abbattimento dell’antico regime sarebbe stato sostenuto in prevalenza da individui appartenenti a famiglie emerSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni genti sul piano economico e sociale ma ancora estranee alla gestione del potere, che si erano spesso formati nelle università dell’Italia cisalpina e che in virtù di questo avevano respirato aria nuova. Si tratta di un approccio che si inserisce con originalità nel solco degli studi tradizionali sulle ragioni del crollo della Confederazione e della nascita di un nuovo soggetto politico, ma che espunge quasi totalmente dall’esame delle cause la motivazione più squisitamente politica della sincera adesione alle istanze di rinnovamento portate dalla Rivoluzione francese, riconducendo le scelte operate da questi individui ad una dimensione di mero opportunismo politico. Credo invece che le due interpretazioni possano e debbano dialogare tra loro, consentendo la ricostruzione di un quadro composito e polifonico in cui una motivazione non escluda necessariamente l’altra. D’altra parte l’autore dimostra di muoversi con abilità nell’articolare ed analizzare contesti estremamente frammentati e diversificati, ad esempio quando scompone il quadro del mondo sudalpino in una miriade di piccoli mondi attraversati da profonde spaccature e gelosie, che giustificano il comportamento e il posizionamento dei membri delle élites e i loro mutamenti di campo, atteggiamenti che potrebbero apparire contraddittori ricorrendo alle sole categorie tradizionali di conservatori e rinnovatori. Le contraddizioni si manifestano in primis nel dualismo tra città e campagne, tra i sostenitori del collocamento del centro politico cantonale a Bellinzona e quanti prediligevano Lugano, con un continuo cambio di posizionamento politico dettato non tanto da un mutamento d’opinione, quanto piuttosto da un mutamento di contesto. Si spiega così l’apparente paradosso del repentino passaggio di personalità quali Giovanni Battista Quadri e Giovanni Reali da posizioni fortemente centraliste e filo cisalpine espresse nel 1798 al convinto sostegno, nel 1803, di uno stato federale di matrice nazionale. Al di là dell’evoluzione politica dei singoli – che in questo caso non viene esclusa – è soprattutto il mutato contesto politico a richiedere un riposizionamento: «per giovani formatisi nelle università della penisola italiana e completamene a digiuno della lingua tedesca, presumibilmente l’integrazione in uno spazio repubblicano in maggioranza di cultura tedesca poteva essere accettata solo nel contesto di uno Stato federale, che potesse dare un’ampia autonomia d’azione al ceto politico sudalpino di lingua italiana» (p. 265). Altro tema che emerge con nitidezza dalle dense pagine della ricerca è la centralità politica di una ristretta élite di individui, in grado di passare pressoché indenne attraverso una serie di cambiamenti politici e istituzionali che non ne hanno minato la capacità di svolgere una funzione rappresentativa nei confronti delle comunità di provenienza. Una capacità che si espresse non solo all’interno delle istituzioni, ma anche al di fuori. L’esempio delle insorgenze e delle rivolte popolari che precedettero e accelerarono l’intervento di Bonaparte e la stipula dell’Atto di mediazione ne sono una chiara testimonianza: le élites seppero inquadrare e sostenere il legittimo malcontento popolare e orientarlo ad una gradita soluzione politica. Egualmente interessanti sono le conclusioni a cui perviene l’autore in relazione alla caduta del regime napoleonico e alla Restaurazione: dall’esame delle prese di posizione dei 18 uomini politici messi sotto osservazione si coglie come, a distanza di tempo e pure tra mille difficoltà e critiche, nessuno o pochi aspirassero «ad un ritorno puro e semplice dell’antico regime. Quindici anni di regime rappresentativo imposto dalle armate francesi avevano lasciato tracce sia tra i notabili sia in seno alla popolazione» (p. 441). Si chiudeva dunque definitivamente una stagione, ma un mero ritorno al passato non sarebbe stato possibile. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 523 524 Rezensionen / Recensions / Recensioni Oltre che per la serrata e meticolosa analisi delle prese di posizione delle élites sudalpine, il libro si fa anche apprezzare per l’eleganza e la cura dell’edizione, corredata da ben 24 immagini tra stampe d’epoca e fotografie, 14 riproduzioni di documenti e 3 carte del territorio, utilissime al lettore non ticinese per riuscire ad orientarsi in un territorio frastagliato. Spiace invece l’assenza di un indice dei nomi che rende meno agevole la consultazione del volume, soprattutto in ragione dell’approccio prosopografico adottato. Un limite che è stato solo in parte ovviato dall’inserimento di diciotto sintetiche schede biografiche delle personalità poste sotto osservazione. Stefano Levati, Milano Sophie Ruppel, Botanophilie. Mensch und Pflanze in der aufklärerisch-bürgerlichen Gesellschaft um 1800, Köln: Böhlau, 2019, 558 Seiten, 25 Abbildungen. Im Zeitalter der Aufklärung beobachtete, sammelte und beschrieb ein wachsender Personenkreis Pflanzen in der freien Natur und vermehrt auch im Haus. Wer Zeit und das nötige Geld aufbringen konnte, besorgte sich Zeitschriften, unternahm Wanderungen oder untersuchte, wie sich Wasser, Luft und Elektrizität auf einzelne Schnittblumen und ganze Bäume auswirkten. Es herrschte eine wahrhafte Begeisterung für Pflanzen und botanisches Wissen, welche Zeitgenossen als «Botanophilie» bezeichneten. Wie sich durch diese intensive Beschäftigung der Status der Pflanze, aber auch der botanisierenden Menschen in der aufklärerischen Gesellschaft veränderte, zeigt Sophie Ruppel in ihrer als Habilitationsschrift an der Universität Basel eingereichten Studie für den deutschsprachigen Raum kenntnis- und detailreich. Zu Beginn der Studie skizziert Ruppel die geschichtswissenschaftlichen Forschungsfelder, in denen sie ihre Arbeit verortet und gibt einen Überblick über den umfangreichen Korpus gedruckter Quellen. Den botanikhistorischen Hintergrund liefert die Autorin auf Basis biologiegeschichtlicher Überblickswerke und reichert diese mit Beispielen aus Primärquellen an. Der analytische Hauptteil der Monographie besteht aus drei Abschnitten, von denen der erste die Pflanze in den schriftlich niedergelegten Naturauffassungen der Zeit untersucht, während der zweite botanische Wissenspraktiken diskutiert. Gegenstand des dritten Teils ist der Wandel der Alltagspraktiken, genauer gesagt die Entwicklung der Zimmerpflanzenkultur. Auf acht anschliessend eingeschobene Farbtafeln, deren Motive im Verlauf der Studie untersucht werden, folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse, die in einer Diskussion des Begriffs der Aufklärung mündet. Ausgehend vom heute wieder wachsenden Interesse an der Pflanze als Lebewesen fragt Ruppel nach der Mensch-Pflanze-Beziehung im Zeitalter der Aufklärung, jener Epoche, in der gemeinhin die Trennung von Natur und Kultur verortet wird. Der von der Forschung zunehmend infrage gestellten Definition einer Aufklärung, die primär mit Rationalität, Säkularisierung und Objektivierung der Natur verbunden wird, stellt Ruppel eine Aufklärung «als vielschichtige und vielstimmige historische Epoche» gegenüber (S. 23). Sie legt dar, dass die spätaufklärerische Gesellschaft Pflanzen als dem Menschen ähnlich oder «verwandt» ansah und eine Trennung beider in den Quellen erst Mitte des 19. Jahrhunderts fassbar ist. Ruppel zeigt auf, dass die botanisch-aufklärerisch Aktiven Überlegungen zu den Gelenken, Nerven und zum Blut der Pflanzen anstellten, da sie diese als Lebewesen und nicht als Maschinen verstanden, die sich ernährten und schliefen, sich bewegten und fortpflanzten. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Pflanzen immer stärker als Gegenstände im bürgerlichen Haus wahrgenommen. Damit einher ging SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni eine Trennung der Gemeinschaft der Botanophilen in professionelle, wissenschaftliche Botaniker und die zunehmend als weniger seriös angesehenen Liebhaber. Hervorzuheben ist Ruppels konsequente Berücksichtigung von Akteuren, die nach der bis heute fortwirkenden Definition des späten 19. Jahrhunderts nicht der scientific community im engeren Sinne angehören, für die Botanik der Aufklärungszeit jedoch elementar waren. Die Akteure der Mensch-Pflanze-Interaktion um 1800 und damit von Ruppels Studie sind nicht allein Botaniker im modernen Sinne, sondern beispielsweise auch Apotheker, Theologen, Reformpädagogen und adelige Frauen. Manche von ihnen lassen sich lediglich einzelne Male als Autoren von Zeitschriftenbeiträgen fassen oder werden nur als Leserschaft populärer Handbücher sichtbar, weshalb sie in botanikgeschichtlichen Studien lange Zeit unberücksichtigt blieben. Dem stellt Ruppel eine Gemeinschaft der Botanophilen gegenüber, denen die Beschäftigung mit Pflanzen Teilhabe an der aufklärerischen Wissensgesellschaft erlaubte, Möglichkeiten zur Geistes- aber auch Gefühlsbildung sowie der körperlichen und religiös-moralischen Ertüchtigung bot. Religiös-motivierte Naturforschung, das heisst Pflanzenbeobachtung als religiöse Praxis und das Verfassen botanischer Schriften mit dem Ziel der Gotteserkenntnis und des Schöpferlobs sind dabei selbstverständlich eingeschlossen. Zu fragen wäre jedoch, ob kommerzieller Pflanzenhandel und aufklärerische Botanik tatsächlich einen so starken Kontrast bildeten, wie das die von Ruppel diesbezüglich untersuchten Quellen suggerieren, oder es sich bei den zitierten Äusserungen nicht vor allem um Abgrenzungsversuche der Akteure handelt. So zeigte Sarah Easterby-Smith für Pflanzenhändler in London und Paris, dass diese innerhalb der aufklärerischen Netzwerke agierten.9 Gleichermassen lassen sich auch für den deutschsprachigen Raum Belege finden, dass gelehrte Botaniker ganz selbstverständlich Samen bei Händlern bestellten und Universitätsprofessoren Pflanzen an ein breites Publikum verkauften. Wissenschaftliche Gesellschaften statteten auch im 18. Jahrhundert junge Männer mit den nötigen Mitteln aus, um auf Reisen gezielt Pflanzen (und andere Naturalien) zusammenzutragen, und die Reisenden verwerteten ihre Erfahrungen im Anschluss publizistisch, wie Ruppel das für die botanischen Reisevereine der 1820er Jahre zeigt. Auch das Verschicken und Verpacken von Samen und Setzlingen war für die Botanophilen des 18. Jahrhunderts ein zentrales Thema, wie handschriftliche Briefwechsel eindrücklich belegen. Dieser Kritikpunkt soll jedoch keineswegs davon ablenken, dass Ruppels lesenswerte und erkenntnisreiche Studie einen innovativen Beitrag zur Geschichte der Botanik der Aufklärungszeit liefert und zu weiteren Forschungen anregt. Meike Knittel, Berlin Harald Fischer-Tiné (Hg.), Anxieties, Fear and Panic in Colonial Settings. Empires on the Verge of a Nervous Breakdown, Cham: Palgrave Macmillan, 2016 (Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies Series), 404 Seiten, 4 Abbildungen. Imperien und Emotionen haben Konjunktur. Der affective turn hat sich im Bereich der Kolonialgeschichte sowie der postkolonialen Studien als ausserordentlich fruchtbar erwiesen. Die «koloniale Situation» (Balandier) kennzeichnete sich nicht zuletzt durch Ängste, Scham, Befürchtungen und Panik. Auf ebendiese (negativen) Emotionen und ihre Auswirkungen im kolonialen Kontext fokussieren die Aufsätze des von Harald Fischer-Tiné herausgegebenen Sammelbandes. 9 Sarah Easterby-Smith, Cultivating Commerce. Cultures of Botany in Britain and France, 1760– 1815, Cambridge 2017. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 525 526 Rezensionen / Recensions / Recensioni In ihrer Einleitung erörtern Fischer-Tiné und Christine Whyte gekonnt das Unbehagen sowie die Verletzlichkeit, die eine fragile «weisse» Gesellschaft in der kolonialen Welt oftmals auf Schritt und Tritt begleiteten. Eine Reihe performativer Akte – bisweilen nackte physische Gewalt – sollten negative Emotionen bändigen und zur Selbstvergewisserung beitragen. Die Einleitung bietet einen überzeugenden Überblick zum wissenschaftlichen Umgang mit «Emotionen» als analytische Kategorie sowie eine vertiefte Untersuchung des Phänomens der «Panik» im kolonialen Setting. Der Band gliedert sich in vier Teile mit jeweils drei bis vier Aufsätzen. Teil eins ist überschrieben mit «The Health of Body and Mind», der zweite mit «Imperial Panics and Discursive Responses». Darauf folgen jene unter den Titeln «Practical and Institutional Counter-measures» sowie «‹Knowledge› and ‹Ignorance›». Bereits die Überschriften der thematischen Blöcke verdeutlichen den breiten Zugang und die Schlüsselthemen, welche die dreizehn Aufsätze bearbeiten. Die Tiefenschärfe der Beiträge ist beeindruckend, zumal mehrere vergleichend angelegt sind. Im Zentrum stehen Emotionen und deren Auswirkungen im Britischen Empire, im deutschen sowie im niederländischen Kolonialreich von 1860 bis 1960. Die Artikel stützen sich auf eine faszinierend breite Quellenbasis. Neben Akten aus «metropolitanen» Archiven beziehen die Autorinnen und Autoren auch Bestände in Delhi, Pretoria, Freetown (Sierra Leone) sowie Basel mit ein. An dieser Stelle ist es nicht möglich, alle Essays umfassend zu würdigen, obwohl sie sich durchgehend analytisch wie auch sprachlich auf hohem Niveau bewegen. In der folgenden Skizze beschränke ich mich daher auf ausgewählte Beiträge, welche imperiale Furcht und Panik aus unterschiedlichen Perspektiven herausarbeiten und aufzeigen, wie Emotionen die koloniale Situation prägten. Dane Kennedys Beitrag «Minds in Crisis» bildet den Auftakt zum ersten Teil des Buches. Kennedy bringt zwei miteinander verflochtene medizinisch-moralische Theorien in den Dialog. Die eine suchte negative Einflüsse der «Tropen» auf (vorwiegend) «weisse» Männer zu verdeutlichen. Die andere zielte auf die «Kolonisierten» und hob auf deren vorgeblichen Hang zur Panik ab. Während Europäer mit Neurosen wie Schlaflosigkeit oder Angstzuständen zu kämpfen hatten, wurden die Symptome bei indigenen Gruppen als Psychosen – Schizophrenie, Hysterie – gedeutet. Medizinische Diskurse um 1900 in Europa und den USA beeinflussten die Pathologisierung kolonialer Gesellschaften, mitunter ganzer Imperien. Mit Blick auf autochthone Gruppen ging es darum, deren individuellen und kollektiven Akte der Gewalt gegen die Kolonialmacht zu erklären. Aus Sicht der «Experten» waren diese nicht auf Unterdrückung seitens der Imperialmacht zurückzuführen, sondern auf den angeblich «primitiven» und «irrationalen» Charakter der lokalen Bevölkerungen. Deren vorgebliche «Manie» hing dementsprechend mit der fortschreitenden «Modernisierung» in den Kolonien zusammen, welche sie überfordere und sich in irrationaler Gewalt entlade. Die Umdeutung politischer und sozialer Probleme in den Kolonien zu psychiatrischen Pathologien diente zur Erklärung antikolonialer Aufstände. «Medizinische» Argumente trugen so zur Normalisierung und Legitimierung der kolonialen Situation bei. Hinsichtlich der sogenannten tropischen Neurasthenie, die in der Vorstellungswelt der Ärzte vorwiegend Europäer in den Kolonien betraf, macht Kennedy deutlich, dass sich dieses Krankheitsbild nicht auf mikrobiologische Argumente stützte, welche die im Entstehen begriffene Tropenmedizin informierten. Zur Erklärung der tropischen Neurasthenie griffen die Mediziner auf ältere Traditionen zurück, welche Umwelt und Klima – etwa Miasmen – als Krankheitserreger identifizierten. Die Umwelt in den Kolonien SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni schwächte dementsprechend die «Weissen» und führte zu Erschöpfung und Nervenschwäche, was im Grossen und Ganzen auf einen Mangel an «Modernität» zurückgeführt wurde. Das «primitive» Umfeld gefährdete den «zivilisierten» Menschen und hatte eine Reihe von Symptomen zur Folge, die auch das Prestige der Kolonialmacht schwächten. Das Syndrom der tropischen Neurasthenie gefährdete nicht nur den Patienten, sondern das koloniale Projekt, welches je nach Betrachter am Rande des Nervenzusammenbruchs stand. Gajendra Singhs Aufsatz im zweiten Teil des Bandes fokussiert weniger auf die Ängste in den Kolonien, sondern auf die Panik, die (mögliche) sexuelle Kontakte indischer Soldaten mit Europäerinnen während des Ersten Weltkriegs in Europa verursachten. Über die Akten der Zensurbehörden rekonstruiert Singh sorgfältig die tatsächlichen und imaginierten Liaisons, über welche die Sepoys in britischen Diensten in ihren Briefen berichteten. Inter-ethnischer Sex schien die kolonialen Hierarchien, «das Prestige und den Spirit europäischer Herrschaft» ebenso zu gefährden, wie revolutionäres Schriftgut. Harsche Überwachung, Disziplinierung und radikale Einschränkungen der Bewegungsfreiräume indischer Soldaten sollten diese Gefahren bändigen. Ähnlich wie in den Kolonien galt es daher «weisse» Frauen zu «schützen». In den meisten britischen Spitälern war es Krankenschwestern untersagt, indische Kriegsverletzte zu pflegen. Im Kitchener Indian Hospital in Brighton war die Lage besonders prekär; zeitgenössische Beobachter verglichen das Dasein der Inder mit jenem von politischen Gefangenen in Strafkolonien. Als im Spital gar Stacheldraht und britische Militärpolizei zum Einsatz kamen, reichten manchen Petitionen für besserer Behandlung nicht mehr aus. Sub-Assistant Surgeon Jagu Godbole scheiterte bei einem Anschlag auf den britischen Oberst im Spital, was ihm sieben Jahre Gefängnis einbrachte. Trotz Überwachung und Segregation verjubelte manch indischer Soldat seinen Sold im Bordell. Andere, die in Frankreich gedient hatten, träumten davon, ihre «Mademoiselle» möglichst bald nach Indien zu bringen. In Europa liess sich weder der Kontakt von Sepoys mit revolutionärer Literatur unterbinden noch jener mit europäischen Frauen. Den Abschluss des Sammelbandes bildet Robert Peckhams Essay zu Pandemie und Panik in Hong Kong und Bombay, der sich in Zeiten von Covid-19 mit besonderem Gewinn liest. Peckham nimmt die Ängste während der Dritten Pest-Pandemie in den Blick, der Ende des 19. Jahrhunderts weltweit rund fünfzehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Hong Kong, damals eine Stadt mit über 220’000 Einwohnern, forderte die Seuche 1894 rund 2’500 Tote. In Bombay, das eine Bevölkerung von 850’000 Personen zählte, waren es zwischen 1896 und 1899 44’000 Tote – im Grossraum der Metropole gar über 250’000. Peckham identifiziert in einem ersten Schritt das zirkuläre Argument der angeblich asiatischen Veranlagung zur gedrängten Menschenansammlung: Menschenmassen und unhygienische Verhältnisse sahen koloniale Mediziner und Verwalter als Nährboden für Seuchen; Seuchen heizten ihrerseits die indigenen Massen an, was wiederum zu «infektiöser Panik» führte, so die Überzeugung. «Panik und Flucht» wurden so zu Begleitsymptomen der Infektion. Dabei galt die Panik als ebenso ansteckend wie die Mikroben. Der medizinische Jargon und das Konstrukt der Panik dienten auch hier dazu, indigenen Kollektiven die Legitimation ihrer politischen Aktionen abzusprechen. Der medizinische Diskurs in den Kolonien war zur Jahrhundertwende eng mit der Humangeografie Europas verknüpft. Im Zentrum stand die «Lesbarkeit» – die Kontrolle – der (kolonialen) Bevölkerung. Dies drückte sich im Erstellen von Zensus, Stadtplänen, Public Health-Berichten sowie der Berechnung der Bevölkerungsdichte aus. Das Bild der SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 527 528 Rezensionen / Recensions / Recensioni angeblich asiatischen Vorliebe zur Masse, zum «overcrowding», schien sich wieder zu bestätigen: während London in den 1890ern 222 Personen pro Hektar zählte, waren es in Bombay 760. Gemäss indischen Zensus (1901) wies Bombay weltweit die höchste Bevölkerungsdichte aus. Das «Gewimmel» galt auch als Ursache für Proteste und Unruhen. Hong Kong wies zwar nicht «Massen» Bombays auf, brachte jedoch mit den chinesischen Arbeitern in der Stadt und den chinesischen Provinzen im Hinterland ähnliche Ängste hervor. «In China breathing seems to be optional», zitierte der britische Zensus von 1891 ein Werk zu Chinese Characteristics. «[O]vercrowding is the normal condition of the Chinese», hiess es weiter. Chinesische Wanderarbeiter wurden zu «Schwärmen», zu unkontrollierbaren Massen, die tödliche Krankheiten wie die Pest verbreiten. Seuchen galten als Ausdruck eines ungesunden Klimas wie auch als typisch für die chinesischen «Massen» und ihrer Lebensweise. Die panischen «Schwärme» würden dann zur weiteren Verbreitung der Seuchen beitragen, womit sich Infektionskrankheiten wie die Pest oder Cholera als asiatischen Ursprungs konstruieren liessen – was dann wiederum umfassende Präventionsmassnahmen legitimierte: Einschränkungen der Bewegungs- sowie der Versammlungsfreiheit. Hausbesuche der britischen Seuchenkontrolle potenzierten Ängste unter der lokalen Bevölkerung, was abermals die Panik der Kolonialmacht vor den unkontrollierbaren indigenen «Massen» befeuerte. In Zeiten der Pandemie liessen sich Aufruhr, Unruhen sowie Streiks in Hong und Bombay auf angebliche «Ignoranz» und «Dummheit» der lokalen Bevölkerung zurückführen. Trotzdem: Die Pest vermochte im ausgehenden 19. Jahrhundert das Britische Empire in seinen Grundfesten zu erschüttern. Knotenpunkte wie Hong Kong, bislang als Lebensadern des Imperiums wahrgenommen, verbreiteten nun Krankheit und Panik. Reisebeschränkungen und Isolation sollten die negativen ökonomischen Auswirkungen in Grenzen halten. Im Grossen und Ganzen liest sich der Sammelband wie ein überzeugendes Plädoyer, (negativen) Emotionen – Ängste, Panik, Ehrvorstellungen – im imperialen Kontext jenen zentralen Platz einzuräumen, der ihnen für die Analyse kolonialer Situationen zusteht. Die einzelnen Aufsätze bieten Inspiration, um sich mit diesem Fokus auch der Geschichte weiterer Imperien anzunähern. Andreas Stucki, Bern Bouda Etemad, Empires illusoires. Les paris perdus de la colonisation, Paris: Vendémiaire, 2019 (Chroniques), 235 pages. «Sur les terres lointaines, les bâtisseurs d’empire doivent affronter des forces souvent incontrôlables» (p. 209). Avec ces mots se termine l’essai de Bouda Etemad, dont le titre évoque l’illusion de la permanence des empires, déjà abordée par Francis G. Hutchins dans son ouvrage sur l’impérialisme britannique en Inde.10 À travers quatre études de cas, limités géographiquement et chronologiquement – l’Amérique du Nord britannique, les Indes britanniques, l’Algérie française et l’Afrique occidentale – l’auteur amène le lecteur à parcourir les «paris perdus de la colonisation» (p. 8) à travers une argumentation qui souligne l’«écart inattendu qui apparaît sur le terrain entre le modèle imaginé et le type d’implantation effectif» (idem.). D’après Etemad, ces études de cas sont représentatives de trois situations particulières – ayant trait aux conditions que le colonisateur trouve à son arrivée dans les territoi10 Francis G. Hutchins, The Illusion of Permanence. British Imperialism in India, Princeton 1967. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni res à coloniser – qui jouent un rôle central dans l’échec du projet colonial imaginé par les colonisateurs. La première situation est représentée par l’Amérique du Nord britannique. À leur arrivée, les Britanniques rêvent de gains rapides en exploitant un territoire très vaste et faiblement peuplé au travers d’une main d’œuvre agricole européenne à moindre frais. D’après l’auteur, des trois modèles qui caractérisent la colonisation en Amérique du Nord, les colonies fondées par des compagnies commerciales (Virginie) et les colonies de propriétaires (Caroline, Pennsylvanie, New York et Maryland) sont celles qui subissent le plus les désillusions du projet initial. La main d’œuvre immigrée est centrale dans les deux cas. Le rapport de force initial, qui voit le travailleur à la merci de son employeur, est renversé à la faveur du colonat. Celui-ci profite du succès de la monoculture du tabac en Virginie pour s’enrichir au détriment de la Compagnie, et des difficultés dans la gouvernance des colonies de propriétaires pour s’autonomiser. La seconde situation réunit les expériences en Inde britannique et en Afrique occidentale. Les colonisateurs arrivent dans ces territoires avec une claire volonté régénératrice et modernisatrice qui se heurtera à la résistance des structures politiques et socio-économiques locales. L’Inde est colonisée et administrée à partir du milieu du XVIIIe siècle par la Compagnie des Indes orientales et est cédée à la Couronne en 1858 après la révolte des Cipayes. Lord Bentinck, gouverneur-général de l’Inde (1828–1835), est à la tête d’initiatives réformatrices dans le cadre économique et social, ainsi que de la promotion de l’extension et de l’intégration du peuplement européen. Celles-ci échouent pour plusieurs raisons: un programme de développement économique peu réaliste, la résistance de la population indienne aux réformes sociales, la politique migratoire très restrictive appliquée par la Compagnie afin de défendre ses privilèges, sans oublier le caractère hostile du climat indien pour les Européens. À ces facteurs s’ajoute, dans la deuxième moitié du XIXe, la résilience de l’élite indienne qui, devant l’échec réformateur britannique se tourne vers l’«âge d’or hindou» et jette les bases du nationalisme indien. La situation en Afrique occidentale est caractérisée par ce que Bouda Etemad appelle, l’«énigme de la colonisation européenne en Afrique subsaharienne» (p. 166). Celle-ci est constituée par l’écart profond entre les colonisateurs et les populations africaines dans de nombreux domaines (technologique, médical, économique, des communications, etc.) et par la forme et le modèle économique de la colonisation. Les colonies d’Afrique occidentale se caractérisent en effet par une économie paysanne et par une absence des Européens des activités productives. D’après l’analyse d’Etemad, trois éléments socio-économiques sont à l’origine de la désillusion du rêve transformateur européen: l’essor d’un commerce légitime de la part des populations ouest-africaines, qui se fonde sur les anciennes structures commerciales esclavagistes; le succès de l’économie paysanne indigène qui est un avantage pour les métropoles; les divergences entre les entreprises commerciales européennes et leur opposition au système des grandes plantations. Cette réalité amène une transformation dans le projet colonial initial et aboutit à «l’énigme» de la colonisation en Afrique occidentale. Les colonisateurs se muent en tuteurs des structures indigènes traditionnelles et précoloniales, ce qui est exemplifié par la doctrine de l’indirect rule de Lord Lugard. Ce modèle, loin d’être parfait, confrontera les colonisateurs à d’autres désillusions. La troisième situation est exemplifiée par l’Algérie française, dont Etemad se demande pour quelles raisons elle représente «l’expérience coloniale qui a cumulé le plus d’outrances» (p. 117). Dans les projets des colonisateurs français, l’Algérie est pensée comme une colonie de peuplement agricole, mais, au contraire de l’Amérique du Nord SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 529 530 Rezensionen / Recensions / Recensioni britannique, celle-ci présente des facteurs initiaux – une forte densité de population et la présence de structures socio-économiques stables – qui rendent le rêve français chimérique et contribuent au drame de la population indigène. Avec ces conditions de départ, le rêve français ne peut survivre qu’au prix de la discrimination raciale et culturelle entre colonisateurs et colonisés. Imperméable au métissage, l’État français favorise l’assimilation des colons européens à la métropole et discrimine économiquement et politiquement les indigènes (spoliation foncière, ségrégation fiscale, etc.). À travers une argumentation rigoureuse qui s’appuie sur l’historiographie économique de la colonisation, enrichie par une mobilisation très appréciée de débats et de réflexions de philosophes et économistes contemporains des entreprises coloniales, Bouda Etemad confronte les lecteurs à la désillusion des rêves des colonisateurs qui se retrouvent vite dépassés par une série de facteurs sur le terrain dont ils ignorent ou / et méprisent la réalité. La nature de l’ouvrage, un essai comme souligné par l’auteur dans son introduction, a le mérite de le rendre accessible à un large public qui dépasse les spécialistes et ferme la porte à leurs critiques qui trouveraient l’ouvrage peu approfondi. Naïma Maggetti, Genève Eva Bachmann, Die Macht auf dem Gipfel. Alpentourismus und Monarchie 1760– 1910, Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2020, 290 Seiten, 34 Abbildungen. Die Alpen machen bekanntlich weder vor Landes- noch vor Sprachgrenzen halt. Ungeachtet dessen sind Forschungsarbeiten, die einen mehrsprachigen Untersuchungsraum behandeln, in der Geschichtsforschung zu den Alpen eine Ausnahme. Eva Bachmanns Dissertation gehört zu dieser seltenen Spezies, denn die Forscherin arbeitete sowohl mit italienisch-, englisch- als auch deutschsprachigen Quellen. Die Arbeit, die 2018 bei Jon Mathieu an der Universität Luzern eingereicht worden ist, folgt britischen und italienischen Monarchinnen und Monarchen auf ihren Reisen in den Alpen. Die Protagonistinnen und Protagonisten dienen dabei als Repräsentantinnen und Repräsentanten der sich wandelnden Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, die Bachmann daraufhin befragt, inwiefern sie «gesamtgesellschaftliche Veränderungen von kulturellen Präferenzen und Lebensstilen» (S. 8) reflektieren. Die Alpen waren im 18. Jahrhundert durch die Aufklärung primär republikanisch konnotiert (S. 7 f.), ungeachtet dessen zog es im 19. Jahrhundert auch die britischen und italienischen Monarchinnen und Monarchen in dieses, zunehmend durch die Ideen der Romantik gedeutete, Gebirge. Die «Konjunktur der königlichen Alpenreisen» (S. 8) bildete eine eklatante Forschungslücke, die im Rahmen des SNF-Projekts «Majestätische Berge? Monarchie, Ideologie und Tourismus im Alpenraum 1760–1910» erforscht wurde, in dessen Rahmen auch die Dissertation entstand. Methodisch verpflichtet sich die Studie der historischen Komparatistik, wobei die britische und italienische Monarchie als Vergleichsgegenstand fungieren. Kern des Buchs bilden Kapitel 3 und 4, die der «British Royalty» beziehungsweise der «Casa Reale d’Italia» gewidmet sind. Beiden Kapiteln sind knappe Einführungen zum entsprechenden Königshaus vorangestellt. In Kapitel 3 begleiten die Lesenden die britischen Royals Prinzessin Caroline, Prinz Albert, König Edward VII. und Königin Victoria auf ihren Reisen – nicht nur, aber zunehmend in den Alpen: Denn mit der Expansion des British Empires wuchsen auch die Reiseradien der Monarchinnen und Monarchen. Die Alpenreisen der Royals verfolgten entweder den Zweck einer Bildungsreise («Grande Tour») oder der Rekreation. Insbesondere mit letzterem folgten sie den englischen touSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni rists, wie dies auch die britische Times anlässlich der Luzern-Reise von Queen Victoria 1868 feststellte: «Queen Victoria has had the enterprise and the good sense to see what every one of her subjects sees if he can […].» (S. 111). Bachmann macht deutlich: Die Alpen hatten keine Sonderrolle als Reiseziel der britischen Monarchinnen und Monarchen inne, vielmehr bildeten sie eine Destination unter vielen. Auch waren die Royals keine Pioniere, sie folgten viel eher den «Fussstapfen vieler Landesleute», wie die Autorin in Bezug auf Prinz Albert festhält (S. 259). Kapitel 4 verfolgt die Reisen des italienischen Königs Vittorio Emanuele II., der Königspaare Umberto I. und Margherita sowie Vittorio Emanuele III. und Elena. Im Gegensatz zu Grossbritannien verfügte das italienische Königreich über einen eigenen Alpenanteil. Die Besuche des italienischen Königspaares in den Westalpen hatten demnach auch den Charakter einer «symbolischen Beschreitung der Herrschaftsgebiete» (S. 244), wodurch sie sich dezidiert von den Alpenreisen der britischen Monarchie unterschieden. Zudem verbrachten alle Mitglieder der «Casa Reale» gerne und oft Zeit in den Alpen, sei es zur Jagd oder zum Bergsteigen. Doch auch sie waren keine eigentlichen Pioniere, wie Bachmann klar festhält: Selbst die «königliche Alpinistin» (Quellenzitat, S. 200) Margherita hatte als Bergsteigerin bereits weibliche Vorbilder. Im Vergleich (Kapitel 5) zeigt Bachmann auf, dass die Motivationen für Alpenreisen trotz höchst unterschiedlicher Frequenz auf britischer (sporadisch) und italienischer (regelmässig) Seite durchaus ähnlich gelagert waren: Die Alpen «waren Tummelplatz eskapistischer Ausflüge und Touren, prachtvolle Szenerien der befristeten Auslebung scheinbar einfacher Lebensentwürfe und Nährboden reicher Jagdbeute.» (S. 264). Schliesslich bilanziert Bachmann, dass die royalen Alpenreisen durchaus den gesellschaftlichen Wandel während des Untersuchungszeitraums repräsentieren. Ihre Arbeit legt deutlich und quellennah dar, wie das Verhalten der Monarchinnen und Monarchen von der aufkommenden Freizeitkultur, von Individualisierung und dem Aufstieg des Bürgertums geprägt waren, sie also keine Vorreiter waren, sondern in ihrem Reiseverhalten den «Trend[s]» (S. 261) folgten. Bachmann verortet ihre Arbeit an der Schnittstelle zwischen Tourismusgeschichte, Alpen- und Monarchieforschung. Insbesondere letztere bildete ein Literaturkorpus heraus, das sich durch einen starken Fokus auf die jeweilige Nation beziehungsweise das jeweilige Reich auszeichnet, während zahlreiche Biografien von Monarchinnen und Monarchen eher populärwissenschaftlicher Natur sind. Bachmann geht mit dieser Ausgangslage konstruktiv um. Sie setzte sich nicht nur intensiv mit der Literatur aus vier Sprachräumen auseinander (sie zieht auch französische Werke bei), sondern konsultierte auch Archive in England, Italien und der Schweiz. Ihre Arbeit eröffnet einen neuen Blick sowohl auf die Alpen als auch auf das britische und das italienische Königshaus. Ihr Buch unterhält durch die ausführlichen Reiseschilderungen und bereichert durch die konzisen Analysen. Romed Aschwanden, Altdorf Christof Dejung, David Motadel und Jürgen Osterhammel (Hg.), The Global Bourgeoisie. The Rise of the Middle Classes in the Age of Empire, Princeton: Princeton University Press, 2019, 396 Seiten. Die historische Bürgertumsforschung dürften die meisten SZG-Leser*innen wohl mit der deutschen Geschichtswissenschaft assoziieren. In der Bundesrepublik hat sie in den 1980er und 1990er Jahren nicht zuletzt durch die Interventionen von Granden der SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 531 532 Rezensionen / Recensions / Recensioni historischen Zunft, wie Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Lothar Gall, eine sehr dominante Rolle gespielt. Vor knapp 15 Jahren war es mit Margrit Pernau wiederum eine deutsche Historikerin, die eine radikale Erweiterung dieser Debatten durch das konsequente Einbeziehen von transnationalen, globalen und ‹New Imperial History›-Perspektiven postuliert hat. Globalhistoriker*innen, so ihr provokantes Statement, müssten Konzepte wie «Bürgertum» auch für Gesellschaften ausserhalb des Westens fruchtbar machen. Während Pernau ihrem eigenen Appell in einer methodisch originellen aber geographisch sehr begrenzten Fallstudie nachgekommen ist, haben Christof Dejung, David Motadel und Jürgen Osterhammel nun einen viel breiteren Zugriff gewählt, um die nach wie vor zu beobachtende Fixierung der Bürgertumsforschung auf Mitteleuropa zu überwinden. In dem 380 Seiten starken Sammelband untersuchen fünfzehn Beiträge die Entwicklung bürgerlicher Gesellschaftsformationen in Asien, Afrika, dem Mittleren Osten, der Karibik und den Amerikas im langen 19. Jahrhundert. Wenn dabei auch das Hauptaugenmerk insgesamt klar auf dem Vergleich verschiedener Fallstudien liegt, rücken aber immer wieder auch die Verflechtungen zwischen diesen Partikularentwicklungen und überwölbende Aspekte in den Blick. Die exzellente Einleitung (S. 1–39) situiert die Kapitel in der Forschungsliteratur und adressiert ein zentrales Problem des Unterfangens: die konzeptionelle Uneindeutigkeit des Bürgertumsbegriffs. Sind bereits in europäischen Kontexten Begriffe wie «Bourgeoisie» und «Mittelschicht» sehr unterschiedlich besetzt, so wird das zu beackernde semantische Feld durch die Konnotationen der in den jeweiligen Regionalsprachen verwendeten Termini noch sehr viel breiter. Dennoch, so das Herausgeberkollektiv, sei es wichtig, den globalen Vergleich zu wagen: Nur auf diese Art, könne eine exotisierende Abwertung bzw. Nichtbeachtung aussereuropäischer Gesellschaften verhindert werden (S. 14 f.). Die folgenden 15 Kapitel des Bandes sind in sechs nicht immer ganz trennscharf voneinander abgesetzte Sektionen gegliedert. Der erste Teil widmet sich der Rolle des Staates bei der Formierung einer bürgerlichen Schicht. Diese konnte sehr unterschiedlich ausfallen, wie die beiden Kapitel zum Iran (H.E. Chehabi) und den USA (M. Gräser) belegen: Während im ersteren Fall drastische Modernisierungsmassnahmen ‹von oben› den Aufstieg der Mittelschicht befeuerten, waren es im Zweiten Vertreter der «great middle-class», die zum Teil Aufgaben wie Wohlfahrt und Sozialfürsorge für einen schwachen Staat mitübernahmen. Staatliche Handlungsmacht steht klar im Mittelpunkt des Beitrags von Alison Bashford, in dem sie die regionalübergreifend zu beobachtende Bedeutung von Familienplanung und deren staatliche Regulierung für die middling sorts hervorhebt. Der nächste Abschnitt untersucht den Einfluss von kolonialer Herrschaft auf die Herausbildung einer Mittelschicht anhand von drei Fallstudien zu Swahili-Zeitungen und Lesekulturen in Ostafrika (E. Hunter), der Einführung von bürokratischen Managementpraktiken in der karibischen Plantagenwirtschaft (P.X. Scanlan) und der Entstehung einer ‹hybriden› kulinarischen Kultur in Bengalen (U. Ray). Der letztgenannte Beitrag ist insofern von besonderem Interesse, als die Änderung des Konsumverhaltens noch heute ein zentrales Element bürgerlicher Selbststilisierung und Selbstvergewisserung darstellt. Am Beispiel veränderter Ernährungspraktiken der Kalkuttaner Mittelklasse gelingt es Ray zudem aufzuzeigen, dass die Orientierung an westlichen Vorbildern nur sehr selten in der vollständigen Übernahme von Praktiken der bürgerlichen Referenzgruppen in Europa mündete. Es ging den sozialen Aufsteigern vielmehr darum, die anverwandelten Elemente SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni zu ‹authentischen› Bestandteilen der bengalischen Küchentradition zu deklarieren (S. 133–135). Die nächsten beiden Beiträge sind der dritten Sektion Capitalism and Class zugeordnet. Janet Hunter zeigt in ihrem Kapitel über den Aufstieg der japanischen Mittelschicht eindrücklich die heterogene Zusammensetzung dieser Gruppe. Neben den neuen urban professionals, die sich zunehmend an westlichen Wertekanon und Konsumverhalten zu orientieren begannen, existierte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine überwiegend ländliche und kleinstädtische Mittelschicht, die sich betont wertkonservativ und traditionell gab (S. 171–181). Kris Manjapras Beitrag zu middle-class service professionals in den Diensten des imperialen Kapitalismus spannt sowohl zeitlich als auch räumlich einen sehr weiten Bogen. In Bezugnahme auf Wallersteins Konzept der Semiperipherie – das Manjapra jedoch nicht räumlich, sondern funktional verstanden wissen will (S. 187) –, skizziert der Bostoner Historiker die neue mittelständische Formation von Wissenschaftlern, Medizinern, Ingenieuren, Juristen, Logistikexperten, Übersetzern, usw., welche Erschliessung, Verwaltung und Ausbeutung kolonialer Territorien überhaupt erst ermöglichten. Die Flughöhe, die er dabei einnimmt, generiert zwar gelegentlich überraschende Einsichten, aber die fehlende regionale und soziale Differenzierung hinterlässt auch viele offene Fragen. Wie gross waren die betreffenden Gruppen zu welcher Zeit und in welchem Raum? Ist es sinnvoll, etwa ein halbes Dutzend deutsche Forstbeamte mit Tausenden britischen Medizinern in den Diensten der kolonialen medical services des Britischen Weltreichs und zehntausenden Bramahnen und Kayasthas, die sich als Schreiber in der britisch-indischen Kolonialverwaltung verdingten, gleichzusetzen? Welche Rolle spielten rassistische und religiöse Hierarchien und Vorurteile in diesem äusserst heterogenen «multiethnic corps of knowledge professionals» (S. 204)? Die Bedeutung von Religion und Philanthropie steht im Zentrum des darauffolgenden vierten Abschnitts. Während Adam Mestyans Beitrag zum spätosmanischen Reich demonstriert, dass wohltätige Vereine nicht nur im Westen eine wichtige Plattform bei der Konstituierung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft darstellten, liefert David Motadels Kapitel eine überzeugende Mikrostudie der islamischen Glaubensgemeinschaft im Berlin der Zwischenkriegszeit. Anders als heute, war die muslimische Gemeinde an der Spree in den 1920er und 1930er Jahren zwar ethnisch divers, aber dafür sozial äusserst homogen. Der hohe Bildungsstandard und das Beherrschen der sozialen Codes der deutschen Bourgeoisie erklären die unproblematische Integration der islamischen Diaspora in die Berliner Gesellschaft (S. 250). Christof Dejungs gelungener Beitrag adressiert einen wichtigen Aspekt des bourgeoisen self-fashioning, der in den anderen Kapiteln kaum zur Sprache kommt: die diskursiven Überlappungen bei der Beschreibung von heimischen Unterschichten und überseeischen kolonialer Untertanen. Politiker, Sozialreformer und Philanthropen setzten beide Gruppen häufig gleich, um deren vermeintliche Defizite bzw. ihren Abstand zu den eigenen Wertvorstellungen zu illustrieren. Es gibt zwar bereits eine ganze Reihe von Studien, die den Zusammenhang von internen und externen Zivilisierungsmissionen im Zeitalter des Imperialismus thematisiert haben, aber Dejung gelingt es, eine neue Facette hinzuzufügen, indem er zeigt, dass diese diskursive Strategie nicht nur bei den Imperialmächten praktiziert wurde, sondern auch in Ländern ohne Kolonien wie der Schweiz zum Tragen kam (S. 268–270). Besonders instruktiv ist die fünfte Sektion des Bandes, die Fälle untersucht, bei denen die Etablierung einer Mittelschicht entgegen dem globalen Verbürgerlichungstrend SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 533 534 Rezensionen / Recensions / Recensioni gar nicht, oder nur teilweise funktionierte. David S. Parkers Kapitel zeigt, dass viele Intellektuelle der ganz auf Paris und London fixierten Bourgeoisie in Peru, Chile und Argentinien ihre eigene Entwicklung als defizitär und rückständig erachteten (S. 276–279), weil sie nicht exakt den westeuropäischen Vorbildern entsprach. Im zaristischen Russland wurde horizontale Solidaritätsstiftung einer bürgerlichen Schicht dagegen durch die komplizierten Standeseinteilungen erschwert. Wie Alison Smith in ihrem Beitrag auseinandersetzt, beförderte dies lange eine Fragmentierung der russischen middling sorts (S. 299– 305). Dass sich eine synchrone Geschichte des globalen Aufstiegs der Mittelklasse nicht schreiben lässt, zeigen auch Jürgen Osterhammel und Sabine Dabringhaus in ihrem erhellenden Kapitel zu China. Dort gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert Ansätze zur Entstehung einer bürgerlichen Schicht im Milieu der compradors, die als Händler oder Mittelsmänner am Geschäft mit westlichen Mächten beteiligt waren. Diese Entwicklung wurde aber durch die japanische Besatzung und vor allem durch Zwangskollektivierungsmassnahmen unter Mao erstickt. Die Mittelklasse, die sich schliesslich ab den 1990er Jahren zu etablieren begann, entstand somit gleichsam aus einem Vakuum und hatte keinerlei Verbindung mehr zur den proto-bourgeoisen Formationen im frühen 20. Jahrhundert. Der herausragende Beitrag von Richard Drayton, mit dem das Buch endet, zieht gleichsam die Bilanz aus den vorangegangenen Fallstudien. Sprachlich und argumentativ brillant versucht Drayton noch einmal das Potential einer globalen Sozialgeschichtsschreibung auszuloten, indem er eine Generaltheorie der weltweiten Verbürgerlichung im Zeitalter des Imperialismus formuliert. Er erklärt überzeugend, warum das westliche Bürgertumsmodell an der «globalen Statusbörse» so hoch im Kurs stand (S. 354), warnt aber gleichzeitig auch vor einer reduktionistischen Fixierung auf Status und Klasse. Gerade im Kontext einer imperial geprägten Weltordnung sei es für die Vertreter*innen einer neuen ‹globalen Sozialgeschichte› wichtig, von der Geschlechtergeschichte zu lernen und die Intersektionalität verschiedener Differenzkategorien im Blick zu behalten (S. 348 f.). Wenn die werbewirksamen blurbs auf dem Buchcover mit ihrer Einstufung des Sammelbandes als «Meilenstein» vielleicht auch etwas übers Ziel hinausschiessen, so besteht kein Zweifel, dass The Global Bourgeoisie ein hervorragendes Buch ist, das sich wohltuend aus der Masse hastig zusammengezimmerter Konferenzbände abhebt. Die Herausgeber und der Autor des Quasi-Nachwortes, Richard Drayton, haben mit ihrer Einbettung in die historiographische Meta-Ebene hervorragende Arbeit geleistet. Und die allermeisten Autor*innen bemühen sich erfolgreich, Bezüge zu deren übergreifenden Fragestellungen und vorgegebenen Analysekategorien herzustellen. Wenn dennoch eine leichte Spannung zwischen empirisch reichen Beiträgen, die eher aus einer Regionalperspektive geschrieben wurden, und solchen, die eine globale Vogelperspektive wählen, bestehen bleibt, so schmälert dies das Verdienst dieses empfehlenswerten Bandes keineswegs. Im Gegenteil: Eine Intensivierung des hier initiierten Dialoges zwischen diesen beiden Gruppen bleibt grundlegende Voraussetzung für den Erfolg des Projektes einer global social history. Harald Fischer-Tiné, Zürich Claudia Aufdermauer, Heinrich Staehelin, Bundesrat Emil Welti 1825–1899, Baden: Hier und Jetzt, 2020, 336 pages. La littérature consacrée aux grands personnages de l’histoire suisse ne brille pas par son abondance. Longtemps plutôt méprisé, l’art biographique est certes revenu en grâce SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni au sein de la corporation des historiens à partir des années 1980 mais, très sollicité en France, en Allemagne ou dans le monde anglo-saxon, il n’a frappé que marginalement la Suisse. Des progrès y ont été enregistrés, sans doute. Il n’empêche: les biographies des Conseillers fédéraux ou des principaux acteurs de l’État fédéral sont relativement rares et des fonds considérables dorment dans les archives publiques et privées. Par bonheur, le Bundesratslexikon de Urs Altermatt, publié pour la première fois en 1991/1993 et réédité en février 2019 avec de nombreux compléments, mais hélas seulement en langue allemande, offre au moins un tour d’horizon aussi synthétique que précieux des membres du gouvernement fédéral depuis 1848. La publication d’une biographie de l’Argovien Emil Welti, l’une des figures clés de la seconde moitié du XIXe siècle helvétique, constitue donc un événement majeur et un indiscutable apport à une historiographie si pauvre en la matière. Sous la houlette du Verein «Projekt Biografie Emil Welti» fondé en 2006, mandat avait été donné à Heinrich Staehelin, fin connaisseur de l’histoire de son canton, auteur de travaux sur l’autre conseiller fédéral argovien du XIXe siècle Friedrich Frey-Herosé et rédacteur de la notice consacrée à Welti dans le Lexikon d’Altermatt, de confectionner la grande biographie de Welti qui attendait cet honneur depuis 1903, date de la parution du livre de son ami et juge fédéral Hans Weber. Utile par les nombreux textes et discours de Welti qui y sont reproduits, ce livre restait néanmoins sommaire. Hélas, la maladie, puis le décès de Heinrich Staehelin ralentirent, puis stoppèrent la réalisation de ce livre tant attendu. L’association patronnant l’ouvrage a alors eu l’excellente idée de confier la poursuite et l’achèvement du travail à l’historienne Claudia Aufdermauer, versée dans cette période cruciale de notre histoire par sa thèse sur les «Barons du rail» et par son activité au sein de l’équipe dirigée par Joseph Jung en charge de l’édition de la correspondance d’Alfred Escher. Reprenant les chapitres de Staehelin dédiés aux jeunes années de Welti et à sa période de conseiller d’État, elle s’est concentrée sur l’action de l’Argovien comme conseiller aux États et conseiller fédéral. Le résultat est très convaincant et présente une image nuancée d’un homme qui fut longtemps la personnalité la plus marquante du Conseil fédéral, mais aussi accusée de pratiquer une forme d’autoritarisme qui lui valut le surnom de Bismarck suisse. Les deux auteurs dressent surtout le portrait d’un homme politique à la foi républicaine chevillée au corps, intransigeant sur les principes et d’une force de travail extraordinaire, heureux de croiser le fer dès que les valeurs auxquelles il croyait semblaient en danger. Ardent patriote, aux côtés des radicaux les plus engagés de son canton mixte sur le plan confessionnel, célèbre pour ses combats pour l’instruction publique et la reconnaissance de l’égalité politique des Juifs dans son canton, Welti n’a jamais hésité à se positionner contre les tendances du temps s’il le jugeait utile. Ainsi se déclara-t-il profondément centralisateur notamment en matière d’organisation militaire, tant il voyait dans l’armée le creuset du sentiment national et la véritable école du citoyen. De sa vision de l’armée comme ferment identitaire, il déduisit la nécessité de généraliser l’enseignement de la gymnastique, idée dont il fut l’un des pionniers. Prompt à dénoncer les abus du fédéralisme, il osa aussi défendre, avec Escher, la démocratie représentative lors des débats constitutionnels de 1871–1874 contre les partisans de la démocratie semi-directe qui finirent par l’emporter. L’analyse que Claudia Aufdermauer propose des relations entre Welti et Escher est assurément l’un des moments forts du livre. Avec pertinence, elle démontre que l’Argovien n’était en rien le simple exécutant des audaces eschériennes mais que, au contraire, SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 535 536 Rezensionen / Recensions / Recensioni Escher n’aurait pu devenir l’artisan du rail helvétique sans l’aide d’un conseiller fédéral totalement investi dans sa mission et prêt à surmonter les obstacles diplomatiques et économiques les plus perfides pour réaliser son grand-œuvre: un réseau ferroviaire suisse performant, couronné par le tunnel du Gothard qui précipita la chute du grand Zurichois, alors que Welti trébucha lui aussi sur son ambition et démissionna après l’échec du rachat de la compagnie du Central-Suisse devant le peuple, en 1891. Welti n’a d’ailleurs pas été épargné par les rigueurs de la vie et Aufdermauer ausculte avec attention son rôle ambigu dans l’affaire qui défraya la chronique mondaine de l’époque: la rupture entre son fils et la fille d’Escher, tombée dans les bras d’un peintre bernois. Welti a peut-être abusé de sa position dans sa vindicte contre l’indélicat artiste, mais ne renia jamais son affection pour sa belle-fille. Welti dispose ainsi, et enfin, d’une belle biographie. Ce compliment ne doit pas cacher deux légers regrets. Ses élans centralisateurs le rendirent particulièrement impopulaires chez les Romands et sa relation avec Ruchonnet, l’autre grande personnalité du Conseil fédéral dans les années 1880, fut complexe. Nous aurions aimé qu’Audermauer profite de sa connaissance intime de la correspondance de Welti pour approfondir ces questions. La vision du centralisme et du fédéralisme que propose l’Argovien en serait peut-être sortie enrichie. En outre, on sait que le radical Welti s’est peu à peu rapproché des conservateurs modérés et libéraux, amis d’Escher; on sait aussi que, lors du Kulturkampf, Welti, plus tolérant, rompit avec les plus fanatiques de ses collègues radicaux. Ce «voyage» idéologique aurait mérité d’être creusé: sans être ami avec Escher, a-t-il malgré tout fini par adhérer à sa vision du monde? Welti, si passionné d’histoire, a encore beaucoup de choses à nous dire. Olivier Meuwly, Lausanne Tanja Hammel, Shaping Natural History and Settler Society. Mary Elizabeth Barber and the Nineteenth-Century Cape, Cham: Palgrave Macmillan, 2019 (Cambridge Imperial and Post-Colonial Studies), XXIV + 360 Seiten, 18 Abbildungen. In ihrer Studie stellt Tanja Hammel das Leben der in Grossbritannien geborenen und am Kap aufgewachsenen Wissenschaftlerin und Naturforscherin Mary Elizabeth Barber (geb. Bowker) in den Mittelpunkt. Hammel nutzt das Leben und Werk Barbers, um die Naturgeschichte und die Wissenschaft der viktorianischen Zeit sowie insbesondere Aspekte wie Gender als auch aussereuropäische Einwirkung zu erforschen. Barber wurde 1818 in England geboren und wanderte bald darauf mit ihren Eltern und acht Brüdern nach Südafrika aus. Dort entwickelte sie ein Interesse für Naturwissenschaften. Im Laufe ihres Lebens veröffentlichte Barber 16 wissenschaftliche Artikel und korrespondierte mit einigen der bedeutendsten Wissenschaftlern jener Zeit. Der Hauptuntersuchungszeitraum Hammels Buches ist die Zeit zwischen den 1840er und 1880er Jahren. In den Naturwissenschaften wurde diese Zeit von der Rezeption von Charles Darwins Theorien, dem Kolonialismus und der Professionalisierung der Wissenschaft geprägt. Am Beispiel Barbers bringt Hammel auch noch die Themen Gender, Siedlerkolonialismus und die Wechselbeziehungen zwischen Nord und Süd in die Konstruktion einer wissenschaftlichen Moderne mit ein. Als Wissenschaftlerin im 19. Jahrhundert hatte Barber mit Diskriminierung, dem Plagiat ihrer Studien und Marginalisierung zu kämpfen. Dass ihre Geschichte wieder ans Licht gebracht wurde, ist ein Ergebnis der tiefgründigen Archivrecherchen, die Hammel über viele Jahre durchgeführt hat. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Das Buch beginnt mit einer Einführung und besteht dann aus neun Kapiteln, die in drei Abschnitte unterteilt sind. Die gut durchdachte Einführung stellt den Schwerpunkt der Arbeit dar und umrahmt die historische Situation, in der Barber lebte. Die Grundlage für einen Grossteil der Analysen in diesem Buch bilden Barbers Briefe und Schriften, die über drei Kontinente verteilt sind. Der erste Teil «African Experts and Science in the Cape» enthält zwei Kapitel, in denen Hammel versucht, afrikanisches Wissen über die Natur zur Zeit Barbers dazustellen und vor allem zu zeigen, wie Afrikaner*innen dieses Wissen mit im Kap lebenden europäischen Wissenschaftler*innen teilten. Obwohl es nur wenige von Afrikaner*innen verfasste Texte aus der Zeit Barbers gibt, sind einige koloniale Texte vorhanden, die afrikanische Wissenssysteme und die Art und Weise darstellen, wie afrikanisches Wissen in das europäische Wissen einbezogen wurde. Kapitel 2 thematisiert die Zusammenarbeit zwischen Afrikaner*innen und Europäer*innen. Kapitel 3 ist afrikanischen Sammler*innen, Informant*innen und Präparatoren gewidmet. Obwohl, wie Hammel selbst feststellt, dieser Teil aufgrund der begrenzten Menge an Quellenmaterial ziemlich fragmentiert ist, trägt er nichtdestotrotz dazu bei, dass man den Blick auf Naturwissenschaft im Kap nicht nur aus europäischer Perspektive betrachtet, sondern auch die Mitwirkung afrikanischer Expert*innen wahrnimmt. Der zweite Teil, «From Providing Data to Forging New Practices and Theories», untersucht die Spannung zwischen Kolonie und Metropole sowie zwischen Männern und Frauen in der Naturwissenschaft. Insbesondere die Spannung zwischen Brit*innen und Siedler-Kolonist*innen am Kap und ihr wissenschaftlicher Wettbewerb wird in den Blick genommen. Kapitel 4 ist der Untersuchung der Rolle von Gender, Klasse und Wettbewerb gewidmet. Hier werden Barbers wissenschaftliche Illustrationen eingehend untersucht. Durch ihre Beobachtungen und Illustrationen erleichterte Barber die wissenschaftliche Arbeit anderer, allerdings wurde sie selbst aufgrund ihres Geschlechts oft an den Rand gedrängt. Da Barber jedoch, wie Hammel anmerkt, nicht wissenschaftlich ausgebildet war, entfernte sie sich zeitweise von den wissenschaftlichen Kodizes, indem sie Bibelverse und Literaturzitate in ihre wissenschaftlichen Essays aufnahm. Kapitel 5 untersucht Barbers Auseinandersetzung mit Darwins Theorien und wie es ihr gelang, diese mit ihrem christlichen Glauben in Einklang zu bringen. Kapitel 6 untersucht Barbers Beiträge zur aufstrebenden Wissenschaft der Ornithologie und insbesondere ihre Korrespondenz mit Edgar Leopold Layard, dem Kurator des South African Museum, in dem Barbers eigene Beiträge zur wissenschaftlichen Theorie ausgestellt wurden. Der dritte Teil, «Negotiating Belonging Through Science», geht der Frage nach, wie Barber ihre Rollen als britische Frau und Wissenschaftlerin am Kap ausgehandelt hat. Kapitel 7 fokussiert nicht auf die Wissenschaftskonstruktion, sondern untersucht die Verhärtung von Barbers rassistischen Einstellung gegenüber Afrikaner*innen, ihres Glaubens an die britische Überlegenheit und ihrer Feindseligkeit gegenüber australischen Wissenschaftlern. In Kapitel 8 versucht Hammel zu argumentieren, dass Barber Vögel als Metapher für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter benutzt hat. Sie vergleicht Barbers Illustrationen von Vögeln mit denen des britischen Ornithologen John Gould, um zu zeigen, dass Barber weibliche und männliche Vögel als gleichberechtigt darzustellen versuchte, während Gould laut Hammel durch seine Illustrationen die viktorianischen Geschlechterrollen verstärkte. Wenn jedoch andere Bilder von Gould herangezogen werden, könnte man zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen. Kapitel 9 nimmt nicht das Leben von Barber in den Fokus, sondern die Art und Weise, wie ihr Nachlass politisiert wird. HamSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 537 538 Rezensionen / Recensions / Recensioni mel zeigt auf, wie Ausstellungen und die Archivierungspraxis von Barbers Arbeit die Privilegierung der Erfahrungen von Männern aus der Grossstadt widerspiegeln. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit zeitgenössischen Museen und Ausstellungen und damit, wie Wissen, das digitalisiert wurde und theoretisch für alle zugänglich ist, auch Menschen verweigert werden kann, die sich den Zugang nicht leisten können. So wird etwa der Zugang zu globalem Wissen durch den kostspieligen Kauf von Jahreslizenzen für OnlineArchive eingeschränkt. Kapitel 10 schliesst das Buch mit einem Fazit, das die Argumente der Studie zusammenführt. Dazu zählen unter anderen, dass die moderne Wissenschaft nicht nur ein Projekt des globalen Nordens war, dass Afrikaner*innen wesentlich zur Produktion von Wissen über Afrika beitrugen, dass das Kap ein wichtiger Teil des imperialen Wissenschaftsnetzwerks war, dass die Professionalisierung der Wissenschaft Frauen marginalisierte und dass der Darwinismus auch am Kap diskutiert wurde. Am Beispiel Barbers kann Hammel diesen Argumenten nicht nur mehr Tiefe verleihen und sie dadurch lebendig gestalten, sondern den breiteren Kontext dieser Diskussion verdeutlichen. Hammel arbeitet mit einer Methodik, die sie «a relational approach» (S. 11) nennt, um Ereignisse und Entwicklungen an verschiedenen Orten, die sich auf den Verlauf von Barbers Karriere ausgewirkt haben könnten, in einen Kontext zu stellen und zu vergleichen. Obwohl dies oft ein fruchtbarer Ansatz ist, führt er manchmal zu unnötigen Details, die vom Thema abweichen und von der Erzählung ablenken. Hammel begründet diesen Ansatz damit, dass es eine bewusste Entscheidung gewesen sei, «in Erinnerung an die lange mündliche Tradition, historisches Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben» (S. 12), allerdings lässt dieser Ansatz den Text manchmal unstrukturiert erscheinen. Nichtsdestotrotz wirft das Buch viele interessante Fragen und Probleme über die Konstruktion von Wissen auf, über die Art und Weise, wie Menschen aus der Geschichte herausgeschrieben werden, wie und warum wir Menschen wieder in die Geschichte hineinschreiben könnten und sollten, was das für unser Verständnis von verbundenen Geschichten bedeutet und wie sich zeitgenössische Archivierungspraktiken auf das zukünftige Verständnis der Wissenschaftsgeschichte auswirken könnten. Schliesslich ist die Verbreitung des Buchs als Open-Access-Publikation zu begrüssen.11 Felicity Jensz, Münster Urs Altermatt, Vom Unruheherd zur stabilen Republik. Der schweizerische Bundesrat 1848–1875. Teamplayer, Schattenkönige und Sesselkleber, Zürich: NZZ Libro, 2020, 357 Seiten. «Ist es das jetzt?» Ist das vorliegende Buch nun endlich das «opus magnum» des Freiburger Bundesratsspezialisten Urs Altermatt, der seit über 30 Jahren zum obersten Exekutivorgan des schweizerischen Bundesstaates forscht und publiziert? Diese Frage ist mit Jein zu beantworten, denn einerseits versucht das zu rezensierende Werk die historische und politische Quintessenz des Bundesrates zu fassen – eine gute Vorbedingung für ein letztes abschliessendes Werk –, anderseits weist nur schon die terminliche Einschränkung im Untertitel auf die Jahre 1848–1875 auf die Chance hin, einen zweiten oder gar dritten Band zum gleichen Thema zu erwarten (was Seite 357 als letzter Satz des ganzen Werks auch angeführt wird: «Für 2021 ist vorgesehen, dass Urs Altermatt die Periode von 1874–1919 zur Darstellung bringt.») Mit weiteren Publikationen ist also zu rechnen. 11 Siehe https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-030-22639-8 (12.11.20). SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Was bringt der Band? Der erste Text, als «Vorwort» überschrieben, macht zunächst einen aktuellen Bezug zur Rolle des Bundesrates während der Corona-Seuche 2020, bietet dann einen Überblick über bisher entstandene Publikationen im Bundesratsprojekt und skizziert in einer sehr kurzen Form das Vorhaben: Aufzeigen von «Kontinuitäten und Wandlungen des Bundesrates während der Anfangsperiode des Bundesstaates von 1848 bis 1874/75 im diachronen Zeitverlauf» (S. 11 f.). Dem folgt ein «Einführung» genannter, analytischer Text mit den wichtigsten Eigenschaften und Spezifika des schweizerischen direkt-demokratischen Regierungssystems mit einer Kollegialregierung als Exekutive. Dabei werden streng politologische Fragen mit Fragen der Wahrnehmung des Kollegialorgans durch Bevölkerung, Medien und Wissenschaft gemischt: Entstanden ist eine farbige Skizzierung der Besonderheiten des Schweizer Modells. Selbstverständlich wird auch hervorgehoben, dass zwar viele Bücher zu Bundesräten und speziellen Fragen bestünden, aber «keine systematische Bundesratsgeschichte» (S. 25). Es folgen fünf mehr oder minder chronologische Kapitel über die Schaffung der Bundesbehörden, über die «wilden 1850er-Jahre», über die Suche nach Stabilität während der 1860er Jahre, über die Jahre der ersten Bundesverfassungsrevision mit ihren Konflikten sowie über die «Wende von 1874/75»: alle materialreich, im Detail oft schon bekannt, aber dennoch im Zusammenhang mit der Zielsetzung der Studie sinnvoll und argumentativ. Dazu gehören beispielsweise die Ausführungen zur Problematik des «Freisinns» als «freisinnige Grossfamilie» (Gruner), bei der der Autor auch reumütig bekennt, während der vergangenen 30 Jahren dazugelernt zu haben, weshalb er fortan auf den Begriff «FDP» als Parteienbezeichnung für die ersten Jahrzehnte des Bundesstaates verzichten will. Wer das Buch inklusive der Fussnoten liest, ist erstaunt, wie oft die im seinerzeitigen Lexikon-Projekt mitwirkenden Autor*innen wiederholt werden können; eine Sammelanmerkung mit Verweis darauf an anderer Stelle hätte genügt. Es kommt aber auch zum Ausdruck, dass aus dem grossen Projekt andere anregende Publikationen wie zum Beispiel jene von Rolf Holenstein über Bundesrat Ochsenbein entstanden sind. Das Schlusskapitel «Der Bundesrat als nationales Scharnier – eine Bilanz» fasst auf 20 Seiten zusammen und setzt einige eigene Akzente. Dass dabei auch Bekanntes wiederholt wird, liegt auf der Hand. Auch sind nicht alle Schlüsse, die der Autor zieht, wirklich neu. Die unikale Position und Ausgestaltung des Bundesrates ist längst bekannt, und selbstverständlich darf die Staats- und Regierungsgründung als «politisches Wunder» bezeichnet werden (S. 250). Doch eben, andere haben dies – etwas säkularer – auch schon ausgedrückt. Eigenständiger sind für mich allerdings die Ausführungen zur spezifischen Rolle des Bundesrates als «Klammer der Nation», wo die grundsätzliche Problematik des Bundesstaates mit seinen diversen föderalen, sprachlichen und konfessionellen Spannungen im Zentrum steht und mit der Rolle des kollegialen Systems in Verbindung gebracht wird. Dabei kommen auch mehrfach Sichtweisen der im Sonderbundskrieg unterlegenen Kräfte zum Ausdruck, interessant vor allem die Analysen des Luzerner Nationalrates Philipp Anton Segesser, den Altermatt gut in die Gegenwart überträgt. Ein eigentliches Fazit seiner Studie bleibt der Autor dem Leser indessen schuldig – weshalb gegen Ende auch ein Ausblick auf die nächste Periode der «Erosion der Liberalen» eingefügt wird. Gegeben ist damit auch der Anschluss an die angekündigte nächste Publikation. Sebastian Brändli, Zürich SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 539 540 Rezensionen / Recensions / Recensioni Josef Lang, Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart, Baden: Hier und Jetzt, 2020, 335 Seiten, 10 Abbildungen. Josef Langs 300 Jahre umfassende Analyse der Geschichte der Demokratie in der Schweiz ist seit ihrem Erscheinen im Frühling 2020 bereits auf einiges Interesse gestossen. Dies durchaus zurecht, liefert die Analyse des Historikers doch ein prägnantes Narrativ, mündet in pointierte Aussagen und bereichert die Demokratieforschung. Das von Lang als «Geschichtsbuch» deklarierte Werk (S. 13) beinhaltet letztlich auch eine politische Dimension. Zum einen hängt dies mit einer gewissen normativen Stossrichtung zusammen, die im Buch wiederholt durchscheint und Optimierungsbedarf für die schweizerische Demokratie postuliert. Zum anderen werden die Ausführungen aufgrund der politischen Biografie des Autors, der sich als Parlamentarier auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene einen Namen machte und sich stark in sozialen Bewegungen engagiert, wohl auch politisch gelesen. Die Geschichte der schweizerischen Demokratie segmentiert Lang in griffige Phasen, die in inhaltlich-chronologisch geprägte Unterkapitel ausdifferenziert werden. Das im historischen Präsens verfasste Buch ist flüssig geschrieben, auch wenn es stellenweise etwas mäandert. Argumentativer Ausgangspunkt ist für den Autor der Zeitraum von 1861 bis 1874, den er als grossen «Sprung nach vorn» etikettiert. Dieser Zeitraum stellt für ihn eine Schlüsselphase dar und bildet einen Referenzpunkt für die späteren Ausführungen. Getragen von den Zürcher Demokraten, radikalen Kulturkämpfern und dem Grütliverein verdichteten sich in dieser Zeit Reformbestrebungen, die letztlich in die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 mündeten. An dieses Schlüsselkapitel anschliessend, zeichnen mehrere Teile die Linien hin zu dieser Totalrevision nach respektive beleuchten die nachgängigen Entwicklungen. Gut greifbar werden dabei das spannungsgeladene Verhältnis zwischen starker Partizipation und scharfer Ausgrenzung. Der Ausbau der Demokratie, folgt man Lang, sei nach 1874 ins Stocken gekommen, ja es habe sogar Rückschritte gegeben. Langs Analyse folgt einem klaren Narrativ: Für den Untersuchungszeitraum sind zeitgleich zwei unterschiedliche Freiheits- und Demokratieverständnisse wirkmächtig, die zueinander in Konkurrenz stehen. Ein durch die Aufklärung geprägtes, liberales, individualistisch ausgerichtetes «mechanistisches» Verständnis steht einem älteren, traditionalistisch-antiliberal ausgerichteten «organizistischen» Verständnis gegenüber, welches die Bedeutung von Kollektiven wie etwa Kantone, Konfessionen oder Berufsstände ins Zentrum rückt und Freiheit als exklusives Privileg denkt. Die beiden Demokratieverständnisse macht Lang an der Frontstellung Konservatismus versus Liberalismus und Radikalismus fest. Eine pluralistische, inklusive, liberal ausgeprägte Demokratie als anzustrebendes Ziel vor Augen – in der Darstellung kommt in diesem Zusammenhang eine gewisse Fortschrittssemantik zum Einsatz –, nimmt Lang ein Oszillieren zwischen «mechanistischen» und «organizistischen» Tendenzen wahr, das sich in konjunkturellen Schwankungen zwischen progressiven und konservativ-restaurativen Phasen abbildet. Als eigentliche Motoren für die Gleichheit fördernde Veränderungen würden dabei soziale Bewegungen und somit nicht verfestigte Parteiengebilde fungieren. Als Denkfigur bietet dieses Narrativ Einiges. So konterkariert es beispielsweise das etablierte Konkordanznarrativ, das die Herausbildung einer Vielparteienregierung als Harmoniegeschichte konstruiert. Durch seine normativen Elemente liefert das Buch jedoch auch Angriffsflächen. In seinen Ausführungen präsentiert das Buch sowohl grosse Linien wie auch eine Fülle an Fallbeispielen, was die Lektüre gewinnbringend macht. Auf drei inhaltliche StärSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni ken sei besonders verwiesen: Erstens vermag das Narrativ Langs die Widersprüchlichkeit von im internationalen Vergleich hoher Partizipation bei gleichzeitiger Exklusion zu erhellen. Letzteres zeigt er schlüssig an der Frage der Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden in der Schweiz auf. Diese stellte einen der zentralen Konfliktpunkte im Widerstreit der unterschiedlichen Demokratieverständnisse dar. Folge davon war die sehr späte Gleichberechtigung im Jahre 1874, die mit der Annahme der Schächtverbotsinitiative 1893, die nota bene erst durch den Ausbau der direkten Demokratie 1891 möglich geworden war, eine erneute Einschränkung erfuhr. Spannend ist zweitens die Bezugnahme Langs auf das Konzept sozialer Bewegungen. In solchen ausserparteilichen politischen Bewegungen erkennt er dynamisierende Elemente für die Demokratie. Dabei wird allerdings ein enges Verständnis sozialer Bewegungen offenbart, indem eine egalitäre Stossrichtung als Charakteristikum vorausgesetzt wird. Die dargestellten Gruppierungen sind denn auch prädominant progressiver Natur. In diesen Kontext ist drittens auch die Schwerpunktsetzung im Bereich der Frauenemanzipation zu stellen, auf die mehrfach fokussiert wird. Gerade in der Frauenbewegung sieht Lang eine Haupttreiberin der Überwindung autoritärer Verkrustungen zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung während des Kalten Krieges. Zusammen mit der Klimabewegung macht er an der Frauenbewegung auch die Motoren der von ihm postulierten «Wende von 2019» fest, die den Abstieg des Rechtspopulismus in der Schweiz eingeläutet habe; eine These, die aufgrund der starken Gegenwartsnähe etwas voreilig erscheinen mag. Letztendlich sind es auch gerade die hier skizzierten Inhalte, die das Buch sehr lesenswert machen. Gleichzeitig darf aber auf eine Lücke hingewiesen werden: Die Analyse der internationalen Verflechtungen bleibt marginal. Dort, wo solche angetönt werden, ist sie inspirierend – so etwa die Bedeutung der Solidaritätsbewegung zugunsten der USA nach dem Bürgerkrieg für die Demokratisierungsbewegung in der Schweiz während den 1860er Jahren. Die stärkere Öffnung des Blicks für die internationale Dimension könnte Langs These der beschleunigten Veränderung ab den 1970er Jahren weiter erhärten. Thomas Metzger, St. Gallen Peter-Paul Bänziger, Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen: Wallstein, 2020, 456 Seiten, 17 Abbildungen. «Sie wollten erleben, nicht nach Höherem streben» (S. 385). So fasst Peter-Paul Bänziger seine Befunde zur modernen Subjektkultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägnant zusammen. Mit «sie» sind junge Autorinnen und Autoren von Tagebüchern aus der Zeit nach 1900 gemeint. Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente wie Briefe, Verhörprotokolle oder eben Tagebücher haben sich in den letzten Jahrzehnten als äusserst ergiebige Quelle der Kulturgeschichte erwiesen. Während das Hauptaugenmerk der Forschung auf der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert liegt, ist das frühe 20. Jahrhundert bisher wenig erforscht. Diese Lücke zu verkleinern, hilft die gründlich recherchierte und elegant verfasste Studie, die auf einer 2018 an der Universität Basel eingereichten Habilitationsschrift beruht. Inspiriert von Andreas Reckwitz Arbeiten zur neuzeitlichen Subjektivität arbeitet Bänziger anhand von 110 Tagebüchern von jungen Männern und Frauen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum heraus, wie sich die «Selbstverhältnisse» (S. 14) in der longue durée zwischen 1840 und 1940 veränderten. Der Fokus auf die Diarist*innen unter dreissig Jahren ist in erster Linie pragmatisch bedingt, weil junge Menschen zu den fleis- SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 541 542 Rezensionen / Recensions / Recensioni sigsten Tagebuchschreiber*innen gehörten. Ein Beitrag zu Geschichte der Jugend strebt der Autor allerdings nicht an. Bänziger geht es in erster Linie darum, anhand der Tagebücher des frühen 20. Jahrhunderts die «erlebnisorientierte Subjektkultur» (S. 17) herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck geht er nach einer vorbildlich verfassten Einleitung in den ersten drei Kapiteln ausführlich auf verschiedene Subjektkulturen des 19. Jahrhunderts ein, von denen sich die «Erlebnisorientierung» (S. 17) nach 1900 unterschied. Trotz der eher ungünstigen Quellenlage, ist Bänziger bemüht, auch Handwerker, Arbeiter*innen sowie Dienstbotinnen zu Wort kommen zu lassen. Insgesamt dominieren jedoch Zeugnisse bürgerlicher Akteur*innen, die sich selbst im Spiegel der Tugenden von Arbeitsamkeit und Mässigung reflektieren. Richtungsweisend für Bänziger ist in diesem Zusammenhang das Konzept des «bürgerliche[n] Wertehimmel[s]» von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann.12 Richtig Fahrt nimmt die Studie in Kapitel IV auf, das die Rahmenbedingungen der modernen Konsum- und Arbeitsgesellschaft rekonstruiert. Überzeugend plädiert Bänziger dafür, dass stets die Veränderungen in der Produktion und in der Konsumation sowie in der Arbeits- und der Freizeit berücksichtigt werden müssen. Nur so lasse sich die Genese der erlebnisorientierten Subjektkultur adäquat fassen. Die Sterne am neuen Wertehimmel waren die Nation, der (Gross-)Betrieb und die (Klein‐)Familie. In diesen Institutionen und Imaginationen war die neue Subjektkultur aufgehoben. Bänziger ist es ein grosses Anliegen darzulegen, dass diese neue Konstellation nicht nur eine Folge oder Weiterentwicklung bürgerlicher Praktiken und Wertvorstellungen war. In Anlehnung an die Thesen von Jan de Vries und Rudolf Braun insistiert er, dass die Konsumwünsche der vermehrt mit Kaufkraft ausgestatteten ‹kleinen› Leute nicht einfach als Nachahmung des bürgerlichen Geschmacks verstanden werden dürfen. Vielmehr gründeten diese zumindest teilweise auf durchaus eigenständigen ästhetischen und moralischen Vorstellungen, auf die die Fabrikanten und Anbieter von Waren und Dienstleistungen zu reagieren wussten. Tendenziell war die Moderne nach 1900 in Bezug auf die Schicht- und Klassenzugehörigkeit weit weniger exklusiv als die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Wenn es dennoch eine idealtypische Gruppe gab, dann waren es die Angestellten, die in mittelgrossen oder Grossstädten lebten. Kapitel V beinhaltet den innovativen Kern der Studie. Insbesondere die Abhandlungen zu den Tagebüchern eines Kartografen und einer Tänzerin geben faszinierende Einblicke in die kulturelle Praxis des Erlebens im Berlin der Jahrhundertwende. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Diarist*innen des 19. Jahrhunderts, strebten diese Tagebuchschreibenden nicht mehr danach, etwas Besonderes zu werden, sondern möglichst viele aufregende Varieté-Abende, Sportveranstaltungen oder Ferien zu erleben. Auch die Arbeit sollte in erster Linie Spass bringen und Freude bereiten. Die Erlebnisorientiertheit drückte sich auch in der Medialität des Tagebuchs aus, wie Bänziger souverän und gewinnbringend in Kapitel VI aufzeigt. Während im bürgerlichen Tagebuch der vom Bildungsroman beeinflusste biografische Stil vorherrschte, diente das «Erlebnistagebuch» (S. 375) in erster Linie dem expressionistischen Festhalten individueller Erlebnisse in der Arbeits- und Freizeit. Bänzigers Konzepte der erlebnisorientierte Subjektkultur und des Erlebnistagebuchs überzeugen und werden die künftigen Forschungen, die sich für das Handeln, Denken und Fühlen der Menschen in der Moderne interessieren, mit Sicherheit beeinflussen und 12 Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni befruchten. Einzig der Ausarbeitung der neuen Subjektkultur hätte mehr Platz eingeräumt werden können. Die umfangreichen Abhandlungen zum 19. Jahrhundert, die grösstenteils den Forschungsstand stützen und nur punktuell Ergänzungen und Korrekturen liefern, hätten zudem komprimiert werden können. Eine stärkere Fokussierung auf die Tagebücher nach 1900 hätte es wohl ermöglicht, weitere Facetten der erlebnisorientierter Subjektivität genauer zu beleuchten. So etwa die Wahrnehmung und Abhandlung von Krieg, Nationalismus und Nationalsozialismus, die erst im Schlusswort und eher ausweichend angesprochen werden. Gerade weil Bänziger die Nation als wichtigen Eckpunkt der neuen Arbeits- und Konsumgesellschaft nach 1900 hervorhebt, wäre eine intensiviere Auseinandersetzung mit dieser Thematik naheliegend. Ebenfalls interessant wäre es zu erfahren, wie einschneidende Lebensereignisse wie Liebesbeziehungen, Eheschliessungen, Scheidungen oder berufliche Auf- oder Abstiege in den Ereignistagebüchern dokumentiert wurden. Griffen die Diarist*innen hierfür auf ältere bürgerliche Skripts zurück oder entwarfen Sie auch hierfür neue – möglicherweise hybride – Erzählmodi? Diese Einwände und Fragen belegen aber im Grunde nur den anregenden Charakter der vorliegenden Studie, deren Lektüre sehr zu empfehlen ist. Maurice Cottier, Freiburg i. Üe. Franziska Hupfer, Das Wetter der Nation. Meteorologie, Klimatologie und der schweizerische Bundesstaat, 1860–1914, Zürich: Chronos, 2019 (Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, Bd. 27), 380 Seiten, 44 Abbildungen s/w. Diese innovative Arbeit beleuchtet ein auch international erst unzulänglich erforschtes Wissensgebiet. Am Beispiel von Wetter und Klima untersucht sie die Verquickung von Wissenschaft und Politik, die in der Schweiz bisher am Beispiel der Landesvermessung herausgearbeitet worden ist. Sie visualisierte erstmals die Nation als Raum. Die Darstellung ist in drei thematische Teile gegliedert. Der erste beschreibt die Beziehung zwischen wissenschaftlichen und staatlichen Akteuren. Der zweite Teil dreht sich um die meteorologisch-klimatologische Datenproduktion. Der dritte Teil thematisiert die Nützlichkeit meteorologischen Wissens auf verschiedenen Gebieten. Die 1815 gegründete Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, ein privatrechtlicher Verein von Wissenschaftlern, baute von 1826 an ein kurzlebiges Netz von 12 meteorologischen Stationen mit einheitlichen Instrumenten auf, doch blieben die Ergebnisse schwer vergleichbar und überforderten die Kapazitäten der Gesellschaft. Nachdem verschiedene europäische Staaten in den 1850er Jahren bei der Gründung nationaler meteorologischer Institutionen vorangegangen waren, unterstützte der Bund die Naturforschende Gesellschaft 1862 beim Aufbau eines nationalen Messnetzes mit einer Subvention. Dieses nahm im Dezember 1863 seine Tätigkeit auf. Bis 1880 wurde die Subvention für die Meteorologische Zentralanstalt genannte Institution verdoppelt, 1881 wurde dieselbe verstaatlicht. Die Beobachter – zunächst meist Lehrer und Geistliche – waren lange ehrenamtlich tätig, obschon dies zur dreimaligen Ablesung der Messdaten an 365 Tagen verpflichtete. Oft überbrückten Frauen entstehende Beobachtungslücken, wobei einige ihren Ehemännern oder Vätern als Beobachterinnen nachfolgten. Mit der Zeit wurde die Mehrzahl der Beobachter entschädigt. Trotz zahlreicher Anläufe gelang es nicht, die Datenerhebung grenzübergreifend zu vereinheitlichen, weder bei den Beobachtungszeiten noch bei den Masseinheiten. An den nach 1873 periodisch stattfindenden internationalen Meteorologenkongressen waren nur Direktoren von nationalen Messnetzen zugelassen, die keinerlei Kompetenzen abgeben wollten. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 543 544 Rezensionen / Recensions / Recensioni Im zweiten Teil setzt sich die Verfasserin mit der Produktion von meteorologischen Daten auseinander. Dabei diskutiert sie die zentrale Frage, wie meteorologische Daten im weitesten Sinne, auch qualitative, zu Informationen in numerischer Form geworden sind. Die Übergänge waren fliessend. So wurden pflanzen- und tierphänologische Beobachtungen in der Kontinuität der älteren qualitativen Beobachtungstradition zunächst weiterhin, allerdings nur fakultativ, aufgenommen. Andere Elemente wie die ebenfalls auf Augenbeobachtung beruhende Bewölkung wurden in quantitativer Form erfasst. Beobachtungskontinuität, ein zentrales Anliegen der Zentralanstalt, konnte in Anbetracht von verschiedenen Lokalzeiten und der häufigen Verlegung von Stationen, nur nach und nach erreicht werden. Die gängigen Klimavorstellungen beruhten auf langjährigen Mittelwerten. Wie weit der Einfluss der Nationsbildung im Bereich der Klimaforschung reichte, ist schwierig zu bestimmen. Die 1909 erschienene synthetische Darstellung des Klimas der Schweiz erwähnt einerseits die Verschiedenheit der lokalen Klimata, verlegte den Akzent aber auf die Alpen, die als eine Form der nationalen Selbstdarstellung galten. Der dritte Teil thematisiert die Errichtung von Gebirgsstationen, namentlich jener auf dem Säntis, die aufkommenden Wetterballone, die beginnende Erforschung von Klimaveränderungen, die Vermessung von Gletschern sowie die Anfänge der Wetterprognose, um nur einige Inhalte zu erwähnen. Im Ganzen gesehen liefert die gut recherchierte Untersuchung wertvolle Grundlagen für Folgearbeiten auf diesem bisher unzureichend erschlossenen Forschungsgebiet. Christian Pfister, Jegenstorf Brendan Simms, Hitler. Eine globale Biographie, München: DVA, 2020, 1056 Seiten. Seit einigen Jahrzehnten ist verstärkt eine Neigung von Verlagen zu beobachten, ihre Bücher in immer schrillerer Weise anzukündigen. Auf dem rigoros durchkommerzialisierten englischsprachigen Buchmarkt hat diese unselige Neigung selbst den mit seriösem wissenschaftlichem Anspruch einhergehenden Sachbuchbereich, und hier insbesondere Veröffentlichungen zur neueren Geschichte längst erfasst. Besonders hart umkämpft ist dabei die Aufmerksamkeit potentieller Käufer bei jenen Themen, die englische Buchhandlungen bis heute überschwemmen: Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, Hitler. Nicht selten verhält es sich offenbar so, dass Autoren als Erstes nach einer möglichst steilen These suchen, um diese anschliessend dann um jeden Preis zu «beweisen». Das widerspricht zwar dem Prinzip guter wissenschaftlicher Praxis, kommt aber dem Verlag gelegen und fördert den Umsatz. Natürlich wäre es unfair, Brendan Simms, einem renommierten, in Cambridge lehrenden Historiker ein wissenschaftlich derart fragwürdiges Motiv zu unterstellen. Leider nur leisten Aufmachung und Tenor seines Werkes eben dem Eindruck Vorschub, dass auch er der Versuchung womöglich nicht ganz zu widerstehen vermochte: «Viele der wichtigsten Dinge, die wir über Adolf Hitler zu wissen glauben, sind falsch.» Wer immer mit «wir» gemeint sein mag – eine solche Verlagsankündigung lässt alle Alarmglocken läuten. Sollten sich etwa alle bedeutenden Hitler-Biografen von Fest und Kershaw über Longerich und Pyta bis unlängst erst zu Thamer und Volker Ullrich wirklich so fundamental in der Interpretation des deutschen Diktators geirrt haben? In der Tat stellt Simms, zur Geschichte des Nationalsozialismus bislang wenig ausgewiesen, drei grosse, miteinander verknüpfte und angeblich neue Behauptungen auf, deren Tragfähigkeit uns zwingen würde, «Hitlers Biographie und vielleicht die Geschichte des ‹Dritten Reichs› insgesamt grundsätzlich neu» zu überdenken (S. 15 f.). Deren wichtigste ist die das Buch SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni wie ein roter Faden durchziehende These, wonach «Hitlers Hauptaugenmerk während seiner gesamten Laufbahn nicht der Sowjetunion und dem Bolschewismus galt, sondern Anglo-Amerika und dem globalen Kapitalismus». Zweitens sei «seine Haltung zum deutschen Volk […] stets von einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den ‹Angelsachsen› bestimmt» gewesen. Und drittens schliesslich sei in der bisherigen, ganz auf die Shoah konzentrierten Forschung Hitlers «positive Eugenik» vernachlässigt worden, «die dazu dienen sollte, das deutsche Volk auf das Niveau seiner britischen und amerikanischen Rivalen zu heben.» (ebd.) Alle hier angesprochenen Aspekte sind in der bisherigen Forschung zum Teil eingehend behandelt worden. Wir wissen längst, dass Hitler Grossbritannien sowie in mancher Hinsicht auch die USA bewunderte. Auch dass für ihn ‹der Jude› die rassistische Chiffre nicht nur für den ‹Bolschewismus›, sondern auch für die kapitalistische ‹Plutokratie› war, ist längst bekannt. Sicher könnte man darüber streiten, ob einige interpretatorische Akzente nicht anders gesetzt werden könnten. Aber Simms geht es um viel mehr als das: Er möchte das ganze tradierte Hitlerbild vom Kopf auf die Füsse stellen. Tatsächlich aber stellt er es von den Füssen auf den Kopf. Und das gelingt ihm nur durch eine konsequent selektive Auswahl seiner Belege und eine stete Über- oder Fehlinterpretation von Quellen und Literatur. Liest man zum Beispiel was Simms über Hitlers «Mein Kampf» und sein sogenanntes «Zweites Buch» zu sagen hat, so könnte man glauben, es handele sich hier vor allem um Programmschriften wider den anglo-amerikanischen Kapitalismus. Dies aber ist nachweislich Unsinn, auch wenn v. a. beim jungen Hitler stets ein kapitalismuskritischer Ton mitschwingt. Von der gleichen grandiosen Einseitigkeit ist auch seine Auffassung, dass die Gründe für ‹Barbarossa› «mehr mit Anglo-Amerika zu hatten als mit der Sowjetunion» (S. 629), ja dass selbst die Shoah vor allem als Schlag gegen die USA gedacht gewesen sei. Um seine Grundthese durchhalten zu können, bedient sich der Verfasser immer wieder einer geradezu abenteuerlichen ‹Beweisführung›. Hier nur eine Kostprobe: Mit dem Kampf um Stalingrad verfolgte Hitler, wie eine Fülle von Quellen belegt, eine Reihe von operativen und strategischen, kriegswirtschaftlichen und logistischen Zielen, von denen Simms auch etliche erwähnt. Besonders angetan hat es dem Autor aber eine spezielle Bemerkung Hitlers anlässlich eines seiner täglichen Tischgespräche. Als dabei am 2. September 1942 die Rede auf Churchill kommt, äussert Hitler beiläufig die vage Vermutung, «dass Churchill nach irgendeinem Ereignis, zum Beispiel dem Fall von Stalingrad, genau das Gegenteil von dem tut, was er bisher getan hat.»13 Simms gibt diesen Satz wie folgt wieder: «Wenn die Stadt falle, bemerkte [Hitler] gegenüber seinem Gefolge, würde vielleicht auch Churchill stürzen oder wenigstens geneigter sein, Frieden zu schliessen.» (S. 723). An diesen einzigen, zudem unkorrekt paraphrasierten Beleg knüpft der Autor dann seine gravierende Schlussfolgerung: «Kurz, der Angriff auf Stalingrad war wie der ganze Krieg in erster Linie ein Kampfmittel im Wettstreit mit Anglo-Amerika» (ebd.). Konsequenterweise ist für den Autor denn auch die deutsche Kapitulation in Tunis im Mai 1943 «eine weit grössere Katastrophe als die Kapitulation in Stalingrad (wo es, nebenbei bemerkt, zu einer formellen «Kapitulation» gar nicht kam) (S. 746). Offenbar hat der Verfasser die Dimension des Ostkrieges im Vergleich zum Nebenkriegsschauplatz Nordafrika nicht wirklich verstanden. Anders jedenfalls ist schwer erklärlich, dass er dem deutschen Diktator selbst für das Frühjahr 1943 noch «eine kohärente Strategie» 13 Werner Jochmann (Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier, Hamburg 1980, S. 383. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 545 546 Rezensionen / Recensions / Recensioni unterstellt, «um den Sieg zu erzielen oder wenigstens ein zufriedenstellendes Remis zu erzwingen» (S. 742). Daran dürfte Hitler nicht einmal selbst geglaubt haben. Man mag zugunsten des Buches geltend machen, dass eine These nicht unbedingt richtig sein muss, um fruchtbar sein zu können. Dass aber das vorliegende Werk eine nachhaltige Kontroverse auslösen könnte, erscheint angesichts seiner methodischen Unsauberkeiten eher unwahrscheinlich. Das ist insofern bedauerlich, als Simms durchaus eine Fülle von Detaileinsichten zu bieten hat, die bislang wenig bekannt oder aber im Mainstream der Hitler-Literatur untergegangen waren. Insofern mag er mit seinem Werk all jene, die – wie auch der Rezensent – seinen Thesen nicht zu folgen vermögen, zumindest nötigen, noch sorgfältiger zu argumentieren und manch allzu Selbstverständliches vielleicht doch noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Bernd Wegner, Hamburg Thomas Zaugg, Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Eine politische Biografie, Basel: NZZ Libro, 2020, 766 Seiten, zahlreiche Illustrationen. Dem jungen Historiker Thomas Zaugg ist mit seinem Werk über Philipp Etter ein grosser Wurf gelungen. Es war ein Wagnis, seine Dissertation dem Zuger Bundesrat zu widmen, nachdem dieser nun schon seit rund drei Jahrzehnten zur «umstrittenen» Figur der Schweizer Geschichte deklariert wird. Der Exponent des politischen Katholizismus diente schon zu Lebzeiten als Feindbild und Projektionsfläche. Katholikenfeindliche Linke und Freisinnige lehnten ihn bei seiner Wahl in den Bundesrat 1934 als «Kreuzritter» ab, und die freiwirtschaftliche Zeitung «Freies Volk» verdächtigte Etter 1944, «mit schwarzer Färbung eine konservativ-autoritäre Eidgenossenschaft einzuführen, eine Eidgenossenschaft geistiger Unfreiheit und konfessioneller Unduldsamkeit». Der aus einfachen Verhältnissen stammende und joviale Etter war aber während seiner Amtszeit bis weit in Arbeiterkreise hinein beliebt. Im katholisch-konservativen Milieu wurde er geradezu verehrt. Noch Bonjour hielt den rede- und schreibgewandten Vater der Geistigen Landesverteidigung für einen der widerstandsbereiten Bundesräte gegen den faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus. Die positive Stimmung schlug in den historiographisch turbulenten 1990er Jahren um. Etter wurde einer Revision unterzogen und in eine rechtsextreme, sogar faschistische Ecke gedrängt. Thomas Zaugg zeichnet ebenfalls ein kritisches, aber insgesamt positiveres und differenziertes Bild von Etter. Ihm stand als Erster der seit 2014 öffentlich zugängliche Nachlass von Etter im Staatsarchiv Zug zur Verfügung, den er ordnete und auswertete.14 Obwohl dieser schon von Etter selber und dann von der Familie des Bundesrats «durchgesehen» wurde und daher nicht mehr ganz vollständig ist, kam genügend neues, auch heikles Material zum Vorschein. Auf dieser breiten Quellenbasis porträtiert Zaugg den Zuger als Milieupolitiker, der einen langen Weg ging vom militanten, antimodernistischen, antiliberalen und antisozialistischen Jungkatholiken bis zum konsensorientierten und kompromissbereiten Landesvater, der während des Krieges die bundesrätliche Überlebensstrategie und in den 1950er Jahren die Nachkriegsschweiz mitgestaltete, um schliesslich 1959 im Rahmen der «Zauberformel» der Sozialdemokratie den Weg in die Landesregierung zu bereiten. In Krisensituationen zeigte er sich allerdings oft überfordert. Zaugg verfolgt den Lebensweg Etters vom Heimatdorf Menzingen bis in die letzte Lebensphase als Altbundesrat in Bern. In den chronologisch angeordneten Kapiteln geht 14 Thomas Zaugg, Der Privatnachlass von Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Bestandesgeschichte, Inhaltsbeschreibung, Forschungsperspektiven, in: Tugium 34 (2018), S. 79–89. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni der Autor auf ausgewählte umstrittene Fragen ein. Zwangsläufig bleiben so einige Aspekte unberücksichtigt: so etwa Etters Haltung zum Protestantismus oder zu den katholischen Liberalen, die immerhin eine starke Minderheit des schweizerischen Katholizismus bildeten. Die Etter-Biografie lässt auch offen, wie sich Etter im Rahmen des europäischen politischen Katholizismus zu verorten ist. Etter kann sicher nicht in den Kontext von Franco, Salazar, Mussolini oder gar Hitler, den er schon früh einen Verbrecher nannte, gestellt werden, sondern ist vielmehr im Rahmen der deutschen (katholischen) Zentrumspartei sowie der österreichischen Christlichsozialen bzw. der Nachkriegs-ÖVP zu sehen. Die Rezeption von gemässigt linkskatholischen Autoren wie François Mauriac sowie die Duzfreundschaft mit dem österreichischen Ex-Bundeskanzler Leopold Figl, aber auch der Briefwechsel mit dem nach Luzern exilierten linken Zentrumspolitiker Joseph Wirth weisen in diese Richtung. Die Etter-Biografie räumt mit einer Reihe von Fehlinterpretationen auf. So belegt Zaugg, dass der Zuger 1934 im Rahmen einer erneuerten bürgerlichen Allianz zwischen Freisinn und katholischem Konservativismus als «frankophil, föderalistisch und antisozialistisch gesinnter Innerschweizer» gewählt wurde und seine Wahl kein Zugeständnis an die Frontisten und an die nach rechts abdriftenden Jungfreisinnigen und Jungkonservativen war. Auch hat der Rechtsintellektuelle Gonzague de Reynold bei der Abfassung der «Magna Charta» der Geistigen Landesverteidigung nicht die Feder geführt. Dazu waren der Freiburger Aristokrat und Demokratieverächter und der Menzinger Küfersohn zu verschieden. Und antidemokratisch war Etter schon gar nicht: Er lehnte zwar die repräsentative Demokratie liberaler Prägung ab, war aber ganz in der Tradition des katholischen Konservativismus ein Verfechter der direkten Demokratie und Gegner eines zu starken Parlaments. Etter vertrat, inspiriert von den Innerschweizer Landsgemeindekantonen mit ihren mächtigen Landammännern, die Idee einer starken Exekutive. Er distanzierte sich 1940 von der Idee einer Verfassungsrevision wie auch von der grotesken Idee aus dem Waadtland, ihn zum autoritären «eidgenössischen Landammann» zu erheben. Das Vollmachtenregime entsprach seiner Vorstellung einer vom Parlament weitgehend unabhängigen und starken Regierung. Der Autor tritt auch dem Vorwurf des scharfen Antisemitismus entgegen, wie er in den letzten Jahren aufgrund einzelner aus dem Zusammenhang gerissener Zitate gegen Etter erhoben wurde. Etter war zwar wie viele seiner Zeitgenossen nicht frei von antijüdischen Stereotypen. Er war aber an der Judenfrage wenig interessiert, lehnte aber bereits im März 1933 die Judenverfolgung als etwas «unsäglich Rohes, Unmenschliches» (S. 142) ab und verteidigte 1943 die Ansicht, dass Antisemitismus «unserer schweizerischen Gesinnung» nicht entspreche (S. 568). Er äusserte zwar Vorbehalte gegen eine zu starke Zuwanderung durch jüdische Ausländer, setzte sich aber punktuell für Juden ein, so etwa für das Wiener Künstlerehepaar Wotruba (die Ehefrau war Jüdin), das sich in Zug niederlassen konnte, oder für die als Jüdin angefeindete Susanne Schwob, Künstlerin und Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. Nach Zaugg vertrat Etter einen demokratischen, freiheitlichen Korporatismus, der die Selbstorganisation der Berufsverbände ohne staatlichen Zwang anstrebte, quasi ein Vorläufer der Sozialpartnerschaft. Im Friedensabkommen von 1937 sah Etter einen Schritt in die richtige Richtung. In der schweizerischen Geschichtsschreibung wird dieser aus der katholischen Soziallehre stammende demokratische Korporatismus meistens mit dem diktatorischen Ständestaat faschistischer Prägung verwechselt. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 547 548 Rezensionen / Recensions / Recensioni Ebenso widerlegt Zaugg den Vorwurf, Etter hätte eugenische Ideen im Geiste der biologistischen Nazi-Ideologie vertreten. Dabei weist er eine Reihe von Falschzitaten nach, die in der Forschung und den Medien bis heute verbreitet werden. So hat etwa Etter die Behinderten nicht gegen die Armee ausgespielt und Sparmassnahmen gefordert, sondern im Gegenteil zur tätigen Hilfe für die «Geprüften und Leidbeladenen» aufgefordert. Auch kommen die ihm in den Mund gelegten Begriffe wie «falschverstandene Humanität», «biologische Volksgrundlagen», «Gesundung des Volkskörpers» und «Eindämmung ungesunden Lebens» bei Etter nirgends vor. In der von ihm verantworteten Kulturpolitik stand Etter der modernen Kunst offen gegenüber und förderte als Bolschewisten verschriene Künstler wie Heinrich Danioth. Schon 1945 forderte er im Nationalrat den «Ausbruch aus der geistigen und kulturellen Réduit-Stellung» (S. 18 und 670). Dass Zauggs quellenbasierte Neubetrachtung der Person Etters und seines politischen Wirkens nicht überall auf Zustimmung stossen würde, war vorauszusehen. Zwar gab es eine Reihe von positiven Besprechungen.15 Aber auch die Kritiker Etters meldeten sich zu Wort. Relativ moderat argumentierte anfänglich Georg Kreis, der noch 1995 in einem Aufsatz Etter die Absicht unterstellt hatte, «die Schweiz weit hinter die Grundsätze der modernen Demokratie zurückzubuchstabieren».16 Unter dem Titel «Wandlungen eines autoritären Staatsmanns» folgte er in seiner NZZ-Rezension aber Zauggs Interpretation von Etter als einem anpassungsfähigen Politiker, warf dem Autor aber «entproblematisierende Deutungen» vor. «Besonders überzeugend» fand Kreis Zauggs Widerlegung des Vorwurfs, Etter habe eugenische Massnahmen gegen «ungesundes» Leben befürwortet. Scharf gingen hingegen Jo Lang und Jakob Tanner in der WoZ mit der Etter-Biografie ins Gericht. Jo Lang wiederholte seine bereits seit den 1990er Jahren bekannte Disqualifizierung Etters als Vertreter eines antimodernistischen, antiliberalen, antisemitischen und antisozialistischen Katholizismus.17 Jakob Tanner ereiferte sich zuerst über den «geschichtsrevisionistischen Sumpf» von Holocaustleugnern und -verharmlosern im Ausland, verwies dann auf die anders gearteten rechtsnationalen Geschichtsrevisionisten in der Schweiz, um dann exemplarisch Zauggs Etter-Biografie als Versuch einer «solchen Geschichtsverdrängung und der Umdeutung individueller Lebenswege» und gar als «revisionistische Umdeutung» zu disqualifizieren. Er bedauerte, dass die Dissertation «unter dem Radar des Forschungsstands durchfliegen und akademische Qualifikationsziele erreichen» konnte. Damit attackierte Tanner in erster Linie die beiden Doktorväter Tobias Straumann und Matthieu Leimgruber sowie die Philosophische Fakultät der Universität Zürich, welche die Arbeit immerhin mit dem Prädikat «summa cum laude» auszeichnete.18 Zaugg wehrte sich und konterte die von Lang und Tanner vorgebrachten Vorwürfen im «Schweizer Monat», indem er ihnen Falschzitate, Verkürzungen seiner Thesen und 15 Zuger Presse, 2. Juni 2020; Luzerner Zeitung, 14. Juni 2020; Michael Kitzing, Philipp Etter, in: Informationsmittel für Bibliotheken, www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php? id=10255 (28. 1. 2021). 16 Georg Kreis, Philipp Etter – «voll auf eidgenössischem Boden», in: Aram Mattioli (Hg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918–1939. Zürich 1995, S. 201–217, hier S. 214; ders., Wandlungen eines autoritären Staatsmanns, in: NZZ, 27. 3. 2020. 17 Josef Lang, Hilfe für die stärkste Armee, in: WoZ Die Wochenzeitung, 14. 3. 2020. 18 Jakob Tanner, «Auch in der Schweiz wird die Vergangenheit als Echoraum für Propaganda genutzt – und aus diesem tönt es dann genau so glorreich heraus, wie man hineinruft», in: WoZ Die Wochenzeitung, 4. 6. 2020. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni von Aussagen Etters sowie die Ignorierung neu aufgefundener Quellen vorwarf. Allgemein kritisierte er das «Muster», unliebsame neue Forschungsergebnisse als unwissenschaftlich zu disqualifizieren.19 In der Presse wurde dann aber auch rasch Kritik an der Kritik laut.20 Im Frühjahr 2021 flammte die Polemik nochmals kurz auf, zuerst durch die eher negative Rezension von Patrick Kury in «H-Soz-Kult» (9. März) und dann in der Web-Zeitung «Journal21» mit den gleichen Kontrahenten und gleichen Argumenten wie im Vorjahr. Wie Tanner hielt jetzt auch Kreis fest, dass die Arbeit von Zaugg «den Anforderungen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung wenig entspricht».21 Den (vorläufigen) Abschluss der Debatte setzte Rico Bandle am 28. April 2021 in der Sonntagszeitung mit einem Artikel, in dem der Hauptgutachter Tobias Straumann Zauggs Dissertation als «herausragende Arbeit» beurteilte und die Kritik als «einseitig und unpräzis» zurückwies. Bandle brachte die Debatte schliesslich auf den Punkt: «Es geht um die Deutungshoheit über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg», welche die beiden «mittlerweile pensionierten Historiker» bis anhin innehatten. Marco Jorio, Rüfenacht Qu’une thèse de doctorat fasse autant parler d’elle est réjouissant, pour autant que le débat contribue à une avancée historiographique. C’est ce qu’on peut souhaiter pour cette biographie politique de l’un des conseillers fédéraux les plus controversés après Marcel Pilet-Golaz. À la différence de ce dernier, le conservateur catholique zougois Philipp Etter a résisté à l’épuration très atténuée qui a touché la Suisse au sortir de la Deuxième Guerre mondiale. Les attaques d’un P. Schmid-Ammann ou d’un A. Frey dès 1945 contre le catholicisme politique n’ont nullement perturbé la carrière de l’«Etternell» (un sobriquet mi-affectueux, mi-taquin en référence à son quart de siècle à la tête du Département fédéral de l’Intérieur, de 1934 à 1959). Thomas Zaugg évacue d’ailleurs promptement ces critiques d’après-guerre – elles étaient politiquement et confessionnellement motivées et ne s’appuyaient pas sur des sources. Parmi les études d’historiens qui ont suivi à partir des années 1970, toutes ne trouvent pas non plus grâce à ses yeux. Il s’emploie à les réviser, avec des arguments et peut-être aussi un ton qui expliquent la vivacité des réactions. L’histoire procède par révisions, et ce chercheur qui a classé en primeur les treize mètres linéaires d’archives privées d’Etter en a tiré une vision renouvelée, à tout le moins nuancée. En sept parties allant des années de formation à la démission du Conseil fédéral en 1959, Zaugg développe une vue d’ensemble bien contextualisée de ce long parcours politique en n’esquivant pas les sujets désagréables. Au prix de certaines exonérations, il veut rendre compte d’une évolution pour rompre avec des «instantanés» voire des raccourcis qui ont laissé l’image d’un catholique intransigeant, antisémite, eugéniste, promoteur d’un État autoritaire et corporatiste, et enclin à l’accommodement à l’égard de l’Allemagne nazie. Parmi ces thèmes, l’exposition du fédéralisme relativement modéré d’Etter et de sa conception assez floue du corporatisme est particulièrement convaincante. Bien que fluctuantes entre les années 1920 et 1930, les positions d’Etter sont sans comparaison avec les 19 Thomas Zaugg, Der Revisionsvorwurf beendet die Geschichtsschreibung, in: Schweizer Monat, Juli 2020, https://schweizermonat.ch/der-revisionismusvorwurf-beendet-die-geschichtsschreibung (28. 1. 2021). 20 Marco Morosoli, Über den Zuger Langzeitbundesrat Philipp Etter scheiden sich die Geister, in: Luzerner Zeitung, 25. 8. 2020; Rolf App, Umkämpfte Geschichte, in: Kulturtipp, Nr. 1 (2021), S. 32. 21 Journal21.ch, 8.4., 11.4. 2021. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 549 550 Rezensionen / Recensions / Recensioni tentatives des ultra-fédéralistes romands d’implémenter le corporatisme au niveau de l’État. Pour lui, il s’agissait plutôt d’une formule censée s’appliquer spontanément, «organiquement». Elle devait avant tout délester l’État de ses tâches d’intervention dans l’organisation de l’économie (p. 711). Même si elle est aussi commandée par une bonne dose de pragmatisme, sa critique de l’autoritarisme des Fribourgeois (Python, Musy, Piller) fait ressortir par contraste un attachement à la démocratie. S’il a cajolé Gonzague de Reynold, c’était non seulement par admiration sincère pour l’essayiste, mais aussi par calcul, comme l’avait déjà montré Aram Mattioli. Dans ses ambitions fédérales, Etter avait tout intérêt à profiter de l’aura de Reynold auprès des jeunes-conservateurs portés au révisionnisme catholique. Il le considérait aussi comme une tête de pont vers la Suisse latine22. Mais à la différence de Reynold, Etter était dans l’exercice concret de la politique et contraint à un certain réalisme. Relevons au passage qu’on peut prêter bien des naïvetés à Reynold, mais pas celle d’avoir espéré une «restauration monarchiste» (p. 412). Ceci dit, toutes les propositions de l’aristocrate n’ont pas été prises au premier degré, et Zaugg relativise à raison son influence dans l’élaboration du fameux message de 1938 sur la Défense nationale spirituelle. Replacé dans la diversité du conservatisme catholique, Etter incarne une tendance propre à une Suisse centrale industrialisée. L’antilibéralisme et l’antimodernisme fonciers du Zougois ont été «tempérés» par la considération des forces économiques de son canton, face auxquelles il éprouvait un «malaise» souvent évoqué dans le livre. Cette ambivalence et ses dispositions naturelles l’ont engagé dans cette posture d’intermédiaire, d’homme conciliant et «brave confédéré». Il ne transige toutefois pas avec la centralisation et le spectre de l’étatisation, tenus en horreur. Cette détestation qui se vérifie par exemple dans le domaine de la culture n’empêche pas le soutien précoce à une politique familiale et à l’introduction de l’AVS. Les intéressantes notes en fin de volume sur la constante précarité financière de sa famille avec ses dix enfants auraient pu donner lieu à une réflexion sur son intérêt personnel à défendre cette assurance. Parmi les démonstrations contestables figure la question de l’antisémitisme. Zaugg tend à dédouaner Etter en distinguant une judéophobie chrétienne «autorisée» de l’antisémitisme racial «condamnable». Comme l’a relevé Georg Kreis, le bénéfice du doute est souvent laissé à Etter23. S’il a encouragé une politique d’accueil restrictive, ce ne serait pas par antisémitisme, mais parce qu’il craignait les réactions hostiles de la population suisse (p. 566). C’est là un exemple parmi d’autres des distinctions casuistes qui sont reprochées au biographe depuis la sortie du livre. Dans une conclusion par ailleurs plus nuancée que l’introduction, Etter est présenté comme un conservateur dont les vues se sont assouplies avec le temps ou plutôt dans «l’esprit du temps». Ainsi s’est-il «laissé convaincre» par le suffrage féminin après s’y être farouchement opposé. De même a-t-il bien accueilli l’aggiornamento de l’Église catholique après Vatican II (au contraire d’un Reynold engagé au sein du mouvement Una Voce Helvetica pour la défense de la messe en latin). En revanche, si Etter a «soutenu l’intégration des socialistes au sein du Conseil fédéral», c’était sur le mode passif dont il était coutumier. Il était lui-même sur le départ (fatigué, il aurait souhaité démissionner 22 Aram Mattioli, Gonzague de Reynold. Idéologue d’une Suisse autoritaire, Fribourg 1997 (éd. all. 1994), p. 178. 23 Georg Kreis, Wandlungen eines autoritären Staatsmanns, www.nzz.ch/feuilleton/philipp-etterneues-zu-einem-umstrittenen-bundesrat-ld.1548211 (27. 3. 2020). SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni plus tôt), et l’artisan de cette politique pragmatique était le secrétaire du parti conservateur, Martin Rosenberg. En dépit des limites et interrogations soulevées, cette biographie extrêmement fouillée restitue une personnalité dans sa complexité, son épaisseur temporelle et son intimité. Il s’en dégage l’image d’un véritable «animal politique», doué d’une capacité à s’adapter et à sentir le vent – une recette obligée pour durer au Conseil fédéral. Le recours à la correspondance croisée avec des témoignages parfois sévères (W. Stucki, W. Stämpfli, H. P. Tschudi) révèle un homme besogneux, doutant de lui-même et parfois mal outillé pour les tâches à accomplir («Ses analyses se lisaient souvent comme de la poésie politique sans véritables solutions», comme l’écrit joliment l’auteur). Anxieux d’éviter les excès et faux pas de ses collègues (Musy, Pilet-Golaz), il redoutait le jugement de l’histoire – apparemment à juste titre. Stéphanie Roulin, Fribourg Der Privatnachlass Philipp Etters, Bundesrat von 1934 bis 1959, war bis 2014, als er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ein Gerücht. Und bei diesem ging es vor allem um familiär verhinderten Zugang und verschwundene Akten. Dank Thomas Zauggs Erschliessung und der umfassenden Biografie wissen wir, dass Etter selber Briefe «eigenhändig zerstört» hat und der Bestand «auch von Familienmitgliedern vor der Abgabe im Staatsarchiv Zug mehrfach durchgesehen» wurde (S. 24). Allerdings wird diese Frage vom Autor ungenügend problematisiert. Wie auch die «Gefahr einer apologetischen Lesart», wovor der von Zaugg zitierte Hans-Ulrich Jost gewarnt hat (S. 25). Aus den vorhandenen «rund 13 Laufmetern» (S. 24) hat der Autor einige neue Erkenntnisse gewonnen. Die wohl wichtigste lautet: Etter gehörte nicht nur «zu den Jungen» (S. 201), wie sich Etter 1933 selber beschrieb, sondern auch zu den Innerschweizern (S. 157). Zaugg ist diese Neubeurteilung wichtig, um Etter als Gemässigten erscheinen zu lassen. Allerdings ist das Bild, das er vom Innerschweizer Konservativismus und von den Älteren entwirft, ein arg verharmlosendes. So widerspricht der Versuch, für die konservativ-frontistische Bündnisinitiative zugunsten einer Totalrevision der Bundesverfassung ausschliesslich die Freiburger und die Diaspora sowie die Jungen verantwortlich zu machen, offensichtlichen Tatsachen. So haben 1934 im Kanton Zug mit 14,5 % doppelt so viele Stimmbürger die Initiative unterschrieben wie im schweizerischen Durchschnitt. Und danach haben die Zuger wie die Luzerner Katholisch-Konservativen einstimmig die Ja-Parole beschlossen. Die Hinweise des Zuger Freisinns auf Etters antiliberale Schärfe vor der Bundesratswahl vom 27. März 1934 wertet Zaugg als «das kritische Raunen aus der Zuger Lokalpolitik» ab (S. 247). Wie Zaugg den Mythos «der gemässigten Innerschweizer Linie», von der Etter ein «Teil» gewesen sei (S. 104), pflegt, illustriert seine Weichzeichnung deren wichtigsten Vertreters in der Zwischenkriegszeit und frühen Kriegszeit: Heinrich Walther. Der als «Königsmacher» in die Geschichte eingegangene Luzerner Regierungsrat (1894–1937) und Nationalrat (1908–1943), der 1919 bis 1940 Fraktionschef der Konservativen war, wird von Zaugg elf Mal als Etters «Ziehvater» bezeichnet. Er präsentiert diesen als «Politiker der Innerschweizer Linie aus den 1920er-Jahren» (S. 226), die damals «auf einen gemässigten Zentrumskurs eingeschwenkt» (S. 237) sei. Aber Walther ist spätestens durch den Generalstreik ein rechtskonservativer Hardliner geworden, der mit dem Schweizerischen Vaterländischen Verband und dessen Kopf Eugen Bircher enger verbunden war, als Zaugg erkennen lässt. So brachte er nach dem Genfer Massaker vom 9. NoSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 551 552 Rezensionen / Recensions / Recensioni vember 1932, für das er die Linke verantwortlich machte, den sofortigen Ausschluss des Genfer SP-Nationalrats Léon Nicole aus den Ratsverhandlungen durch. Er war einer der beiden Hauptinitianten der Lex Häberlin II, die 1934 an der Urne scheiterte. Zaugg übergeht auch den berühmtesten Artikel, den Walther publizierte: «Die Stunde der Abrechnung mit dem Bolschewismus?» (Vaterland, 18. 7. 1941) und die berüchtigte «Sacro Egoismo»-Rede, die er am 23. September 1942 im Nationalrat gehalten hat. Der Text unterstützte den nazideutschen Ostfeldzug, die Ansprache im Nationalrat den Bundesrat gegen die «Überflutung mit zweifelhaften Elementen». Auch was die Boot-ist-voll-Politik und den Antisemitismus betrifft, versucht Zaugg Etter möglichst zu entlasten. So habe die «Furcht vor Unzufriedenheit und einem latenten Antisemitismus in der Bevölkerung […] die Flüchtlingspolitik bestimmt.» (S. 565). War der Antisemitismus von Verantwortlichen wie Etter nicht mindestens so bestimmend? So bleibt Etters Intervention anfangs 1948 bei SP-Bundesrat Ernst Nobs gegen die Anstellung von Max Iklé mit dem Hinweis auf dessen jüdische Vorfahren bei Zaugg unerwähnt. Dieser Skandal, in dem Nobs sich veranlasst sieht, Etter die Shoa in Erinnerung zu rufen, mag im Privatnachlass fehlen. Aber er ist nachzulesen in der Nobs-Biografie von Tobias Kästli aus dem Jahre 1995.24 Zaugg sieht indes nach 1945 bei Etter höchstens noch «eine Form des kirchlichen Antisemitismus» (S. 704). Zaugg übergeht auch andere Personen und Fragen, die wichtig sind, um die Innerschweiz und Etter zu verstehen. Beispielsweise kommt der einflussreichste Innerschweizer Geistliche der 1930er und 1940er Jahre, der mit Etter verbundene Bestseller-Autor Josef Konrad Scheuber, überhaupt nicht vor. Scheuber illustriert, wie juden-, linken- und vor allem frauenfeindlich das katholische Milieu in der Innerschweiz war. Dies bestätigt sich in den 80 Prozent Nein bei der eidgenössischen Volksabstimmung über das Frauenstimmrecht 1959. Was dieses betrifft, erwähnt Zaugg Etters Gegenargumentation, beispielsweise in der bundesrätlichen Aussprache vom 28. 12. 1956, in keinem Wort.25 Zaugg kommt erst aufs Thema zu sprechen, als er vermelden kann: «Der einstige Gegner des Frauenstimmrechts liess sich allmählich vom Gegenteil überzeugen.» (S. 704) In der Anmerkung wird mit einem frauenfreundlichen Privatzitat des Pensionärs nachgedoppelt. Eine typische Methode der Verharmlosung ist es, eine öffentliche Äusserung mit einer privaten zu relativieren. Zum 400. Jahrestag der Schlacht am Gubel veröffentlichte Etter im Rahmen katholisch-konservativer Feiern eine Broschüre. Die Ankündigung, die Anlässe und die Schrift führen zu heftigen Reaktionen der Freisinnigen und Sozialdemokraten. Zaugg stellt nicht diese öffentliche Debatte ins Zentrum, sondern Etters Fähigkeit, «sich» in einem privaten Brief «von seiner politischen Propaganda ironisch zu distanzieren» (S. 157). Ebenfalls unerwähnt bleibt eine andere wichtige Figur: Emil Georg Bührle. Etter pflegte mit dem Kriegsmaterialproduzenten eine «freundschaftliche Beziehung»26 als Jagdkollege. Obwohl diese Nähe nachweislich der Exportförderung diente und Etters Verknüpfung von «Kanonen, Maschinengewehre(n) und Raketen» mit der Kunstsammlung 24 Tobias Kästli, Ernst Nobs. Vom Bürgerschreck zum Bundesrat. Ein politisches Leben, Zürich 1995, S. 283. 25 Jürg Schoch, «Die königliche Frau, die herrscht, ohne es zu wollen», in: Journal 21, 10. 9. 2010, https://www.journal21.ch/die-koenigliche-frau-die-herrscht-ohne-es-zu-wollen (25. 2. 2021). 26 Matthieu Leimgruber, Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus. Die Sammlung Emil Bührle im historischen Kontext, Zürich 2020, S. 122. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni als «geistige(r) Waffenschmiede»27 interessant ist, kommt auch der Name Bührle in der Etter-Biografie nicht vor.28 Zaugg schliesst seine Dissertation mit einer Bemerkung, die Etter auf dem Sterbebett gemacht hat: «dass er in seinem Leben viele Fehler gemacht habe» (S. 715). Wichtige «Fehler» bleiben in der Biografie unerwähnt. Von den genannten werden etliche relativiert oder verharmlost. Josef Lang, Bern Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, München: C. H. Beck, 2020, 1312 Seiten. Thomas Piketty ist zweifelsfrei einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart. 2013 hat der französische Ökonom mit Das Kapital im 21. Jahrhundert einen Weltbestseller vorgelegt, der – in viele Sprachen übersetzt – eine Diskussion über die weltweite Vermögens- und Einkommensungleichheit entfacht hat.29 Um die Debatte weiter zu befeuern, hat Piketty nun mit Kapital und Ideologie ein weiteres umfangreiches Buch vorgelegt. Wie Piketty in der Einleitung festhält, knüpft das neue Buch unmittelbar an Das Kapital im 21. Jahrhundert an und revidiert dieses in gewissen Punkten. Selbstkritisch räumt er nämlich ein, dass man seine Argumentation dahingehend deuten kann, dass sich die ökonomische Ungleichheit in Europa und den USA im 20. Jahrhundert nur wegen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise verringern konnte. Keine Umverteilung ohne Kriege und Krisen? Das wären besorgniserregende Aussichten für alle, die sich heute mehr ökonomische Gleichheit erhoffen. Dieser eher pessimistischen aber auch mechanistischen Schlussfolgerung will Piketty mit Kapital und Ideologie eine optimistische aber auch eine stärker politisch engagierte Lesart gegenüberstellen. Dazu behilft er sich zweier konzeptueller Erweiterungen. Erstens hilft der Fokus auf «Ideologie» zu zeigen, dass Zuoder Abnahmen von ökonomischer Ungleichheit nicht einfach ein Nebenprodukt von welthistorischen Ereignissen sind – auch wenn diese als Katalysatoren eine wichtige Rolle einnehmen können. Es sind unsere Ideen, Vorstellungen und Imaginationen darüber, wie Individuen und Gesellschaft funktionieren (sollen) und nicht materielle Zwänge, die über die Verteilung von Reichtum innerhalb und zwischen Staaten entscheiden. Zweitens nimmt das Buch eine globale Perspektive ein. Die Loslösung des Blicks auf die stark durch die Kriege geprägten westlichen Gesellschaften offenbart weitere Szenarien, die zeigen, dass die Abnahme von Ungleichheiten – etwa in Indien oder Brasilien – losgelöst der Krisen des frühen 20. Jahrhunderts vorkommen. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Die ersten drei thematisieren historische «Ungleichheitsregime». Das Ziel der historischen Analyse ist es das bestehende Regime des frühen 21. Jahrhunderts, welches im vierten Teil besprochen wird, zu kontextualisieren und gleichzeitig zu zeigen, dass es in der Geschichte immer wieder Knotenpunkte und Weggabelungen gab, bei denen andere Entwicklungslinien möglich gewesen wären. Global betrachtet stellten laut Piketty Formen feudaler Ständeherrschaft den historischen Normalfall dar. Im ersten Teil zeigt er auf, wie sich in Europa der Staatenbildung 27 Philipp Etter: Zum Geleit, in: Kunsthaus Zürich (Hg.): Sammlung E.G. Bührle, Festschrift zu Ehren vom Emil G. Bührle zur Eröffnung des Kunsthauses-Neubaus und Katalog der Sammlung Bührle, Zürich 1958, S. 7 f. 28 Jürg Schoch, Als ein Waffenhändler im Koreakrieg den Bundesrat in die Knie zwang, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. 6. 2018, online unter: https://www.nzz.ch/schweiz/wie-buehrle-den-bundesrat-imkoreakrieg-in-die-knie-zwang-ld.1390388 (25. 2. 2021). 29 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 553 554 Rezensionen / Recensions / Recensioni zunehmend Ideale einer neuen «Eigentümergesellschaft» durchsetzen, welche die alten Dreiständegesellschaften in einem langen Prozess auf- und ablösten. Die Eigentümergesellschaft kannte zwar das Ideal der Rechtsgleichheit zumindest der Männer aber die ökonomische Ungleichheit wurde nicht abgeschwächt, sondern nahm er zu bis zum Ersten Weltkrieg. In den «Sklaven- und Kolonialgesellschaften», welche das Thema des zweiten Teils sind, kam es durch eine Vermengung von Proprietarismus, Rassismus und bestehenden ständestaatlicher Strukturen zu extremen Ungleichheiten. Im dritten Teil, der am stärksten auf das Vorgängerwerk aufbaut, geht es zunächst um die historisch einmalige Verringerung der Ungleichheit in Westeuropa und den USA in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der konservativen Wende um 1980. Zwei Faktoren waren dafür ausschlaggebend. Erstens wurde Eigentum und Besitz (Häuser, Fabriken, Maschinen) im Krieg zerstört. Wichtiger war aber ein Mix aus politischen Entscheidungen, die mal mehr oder weniger bewusst eine Neuverteilung begünstigten. Dazu gehörten stark progressive Steuerregime, eine erstarkte Position der Gewerkschaften, die Nationalisierung von Industrien, Plafonierung von Mieten oder kriegsbedingte Investition in Staatsanleihen, die durch die Inflation über die Zeit stark an Wert einbüssten. Nach 1980 wurden diese Umverteilungsmechanismen aber abgebaut oder verschwanden gänzlich. Dies führte zu einer erneuten Zunahme ökonomischer Ungleichheit, die unsere Gegenwart prägt. Da Ungleichheit laut Piketty im Kern stets ideologisch bedingt ist, analysiert er im vierten Teil die Herausbildung der politischen Verhältnisse, welche die Zunahme der Ungleichheit seit 1980 begleiteten und ermöglichten. Mit Blick auf die Datenerhebung ist dies der innovativste Teil des Buchs. Anhand der erstmaligen quantitativen Auswertung von Nachwahlerhebungen aus mehreren westlichen Staaten sowie Indien und Brasilien wird gezeigt, wie sich die Wahlallianzen seit dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert haben. Bis in die 1970er-Jahren standen tendenziell die Vermögenden, gut Verdienenden und gut Ausgebildeten den wenig Vermögenden, schlecht Verdienenden und kaum Ausgebildeten gegenüber. Dieses Muster, das die Klassengegensätze widerspiegelte, wandelte sich in der Folge kontinuierlich. Anfang des 21. Jahrhundert waren im linken Lager die gut Verdienenden und gut Ausgebildeten (Piketty nennt sie die «brahmanische Linke») mit den oft ökonomisch schwachen und schlecht ausgebildeten Angehörigen oder Abkömmlinge der Einwanderergruppen (Europa) oder den minorities (USA) vereint. Auf der rechten Seite standen die Vermögenden («kaufmännische Rechte») und Wähler aus den unteren sozialen Schichten, die sich stark mit dem Heimatstaat identifizieren. Piketty betont aber, dass der Verlauf in den westlichen Ländern keine globale Gültigkeit besitzt. Als Beispiele führt er die Entwicklung in Indien und Brasilien aus, wo sich die Klassengegensätze zunehmend im Wahlverhalten niederschlagen. Dies hatte zur Folge, dass ambitionierte Sozialprogramme vermehrt diskutiert und auch umgesetzt wurden. Im Schlusskapitel des vierten Teils bezieht sich Piketty eindeutig politisch Position, in dem er Zukunftslösungen skizziert, um ökonomische Ungleichheit auf der nationalen und internationalen Ebene abzubauen. Der «partizipative Sozialismus für das 21. Jahrhundert» müsse es schaffen, die soziale Ungleichheit abzubauen, ohne einen omnipräsenten Staatsapparat aufzubauen, der die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt. Pikettys Hauptaugenmerk liegt aber auf betrieblichen Mitbestimmungsrechten von Arbeitnehmer*innen (im Gegensatz zu Aktionär*innen), Bildungsgerechtigkeit und der Umverteilung durch eine stark progressive Besteuerung nicht nur von Einkommen, SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni sondern auch (vererbtem) Vermögen und CO2-Emissionen. Auf der supranationalen Ebene schwebt ihm eine Politik der kleinen Schritte hin zu einer globalen Staatenföderation vor, die u. a. eine griffige Besteuerung von multinationalen Konzernen ermöglicht und so letztlich zu einer gerechteren Globalisierung führt. Kapital und Ideologie ist eine tour de force. Die analytische Flughöhe und Schärfe, der Detailreichtum, die Datenpräsentation und der Erzählfluss sind beeindruckend. Es ist aber – anders als der Titel es suggerieren mag – kein Werk, das die Herausbildung von Semantiken und Symbolen zur Legitimierung von Ungleichheit (und Gleichheit) analysiert. Piketty bezieht sich zwar an manchen Stellen auf zeitgenössische Romane etwa von Honoré de Balzac, Jane Austen oder – bezogen auf die heutige Zeit – Chimamanda Ngozi Adichie. Der Umgang mit diesen Quellen ist jedoch insgesamt unsystematisch und bleibt illustrativ. Es ist aber klar, dass eine zusätzliche tiefgreifende Medien- und Diskursanalyse von Ungleichheitsregimen den Rahmen dieses Buches und auch die Arbeitskapazität eines Forschers /einer Forscherin bei weitem übersteigt. Das weiss Piketty selbst, wenn er im Schlusswort zur vermehrten Zusammenarbeit der Disziplinen aufruft. Für quantitativ arbeitende Wirtschafts- und Sozialhistoriker*innen ist das Buch selbstredend interessant. Das Buch ist aber auch für Wissens-, Kultur-, und Ideenhistoriker*innen inspirierend. Denn obwohl Piketty selbst nicht allzu viel zur Erforschung des semantisch-symbolischen Unterbaus von Ungleichheitsregimen beiträgt, weist er eindringlich auf die Wichtigkeit dieser Fragen hin. Auch qualitative Quellenkorpora können und sollten daher in Zukunft verstärkt mit Blick auf die Legitimation, Kritik oder Ignorierung von ökonomischer Ungleichheit analysiert werden. Maurice Cottier, Freiburg i. Ü. Bernhard Altermatt, Sprache und Politik – Zweisprachigkeit und Geschichte. Die Schweiz als mehrsprachiger Bundesstaat und der zweisprachige Kanton Freiburg vom 19. ins 21. Jahrhundert, Freiburg: Kultur Natur Deutschfreiburg, 2018, 375 Seiten. Die Stärken der vorliegenden Publikation sind interessante Fragestellungen, die übersichtliche Struktur, die gewissenhafte und kompetente historische Aufarbeitung sowie die klare Sprache. Der Leser wird ohne Umschweife auf die Kern-Thematik hingeführt. Der Autor macht keinen Hehl aus seiner Motivation bzw. Überzeugung. Altermatt ist Proponent der Deutschfreiburger und als solcher an einer soliden Beschreibung und Aufarbeitung der zentralen Fragestellung – Benachteiligung der (deutschsprachigen) Sprachminorität im Kanton Freiburg – intrinsisch interessiert. Der rote Faden des Buches lässt sich wie folgt definieren: Die Bestrebungen der Deutschfreiburger nach sprachpolitischer Anerkennung der Zweisprachigkeit im Spannungsfeld von (dominanter) Frankophonie und Germanisierungsangst. Dies wird konsequent und überzeugend verfolgt. Die Lektüre des vorliegenden Buches ist ein grosser Gewinn. Altermatts Publikation ist ein wichtiger Beitrag zur Zweisprachigkeit im Kanton Freiburg. Diese Wertschätzung wird auch durch die nachfolgenden Kritikpunkte nicht getrübt. Den Anspruch des Buches einer mehrsprachigen Reise durch «Europa und darüber hinaus» kann die Studie nicht erfüllen, dazu reicht das Nachwort «von der Saane bis zum St. Lorenz» des Germanisten Manuel Meune nicht aus. Die angestrebten Vergleiche «Schweiz und andere Kantone» werden häufig nur angerissen. So wird etwa die wichtige Frage, welche Rolle der Zweitsprachunterricht im Allgemeinen, vor allem aber Englisch in verschiedenen Kantonen der Schweiz im Besonderen, bzw. in vergleichbaren europäischen Ländern spielt, wohl mehrfach angesprochen, aber nicht schlüssig beantwortet. Das SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 555 556 Rezensionen / Recensions / Recensioni daran geknüpfte, zentrale Problem (Fremdsprachenunterricht in der Primarschule unter der Auflage «eine Landessprache als erste L2 [Fremdsprache, H.S.] bei gleichzeitiger Vorverlegung von Englisch») ist auch nach der Einführung bzw. Implementierung von Lehrplan 21 ein nach wie vor ungelöstes Problem der Schweizer Sprachenpolitik. Immersionsmodelle in Schule und Unterricht – das ist das bevorzugte und wiederkehrende Argument Altermatts zur Lösung sämtlicher Probleme im Zwei- bzw. Mehrsprachigkeitsdiskurs. Vergleiche mit anderen Kantonen (z. B. Graubünden), in denen diese Unterrichtsmodelle bereits angewendet und erprobt wurden, werden wohl punktuell angesprochen, im entsprechenden Abschnitt (S. 75 f.) aber nicht weiterverfolgt. Bei dem vom Autor angestrebten Vergleich zwischen der Schweiz und Belgien muss man sich fragen, ob dieser zulässig ist? Inwiefern die «scheinbar harmonisch funktionierende Schweiz» und das «konfliktbeladene und vom Sprachenstreit gekennzeichnete Belgien» eine reliable Vergleichsperspektive darstellen, wird vom Autor selbst zumindest hinterfragt. Auch die beschränkende Betrachtung auf die Erst- bzw. Unterrichtssprache lässt interessante Aspekte des Fremdsprachenunterrichts unberücksichtigt. Schliesslich liegt der grösste Unterschied in den politischen Systemen der beiden Länder: Der belgische Zentralismus und die föderale Struktur der Schweiz erschweren einen Vergleich. Ein weiteres, wiederkehrendes Argument des Autors ist jenes der latenten Germanisierungsangst. Aus frankophoner Sicht muss die Frage legitim sein, ob diese Angst wirklich so unrealistisch ist, wie sie von Altermatt dargestellt wird. Für den rätoromanischen Sprachraum in Graubünden ist dieser Prozess [der Germanisierung], wie der Autor zugesteht, jedenfalls mehr als latent. Schliesslich prägt der Autor den Begriff des «language valley of Switzerland», um eine engere Kooperation zwischen der Hauptstadtregion und den zweisprachigen Regionen der Westschweiz zu propagieren. Es bleibt allerdings unklar, was genau mit diesem etwas seltsamen Anglizismus gemeint ist (S. 169). Altermatt räumt auch mit einem weiteren Mythos auf: Mehrsprachigkeit in der Schweiz sei keineswegs jenes Leuchtturm-Beispiel, wofür es in der internationalen Wahrnehmung gerne gehalten wird. Vielmehr – so der Autor – beschränke sich Mehrsprachigkeit auf einige wenige Regionen der Schweiz, ansonsten sei sie hauptsächlich in der öffentlichen Verwaltung zu finden (S. 109). Dazu erklärt Altermatt, dass die Mobilität der Deutschschweizer grösser sei als die der «Suisses romands». Folglich gebe es in den frankophonen Gebieten grundsätzlich eine grössere sprachliche Durchmischung mit Deutschschweizern und demnach stärkere Bestrebungen, das Territorialitätsprinzip aufrecht zu erhalten. Schliesslich thematisiert Altermatt einmal mehr die Bedeutung kantonaler Gesetzgebungen: In Graubünden habe das eidgenössische Sprachengesetz von 2008 (zumindest im öffentlich-rechtlichen Bereich) eine «Lücke geschlossen» (S. 141). Dabei stützen sich diese Bestrebungen auf den – in anderen Kantonen (insbesondere Graubünden für Rätoromanisch) bereits institutionalisierten – Immersionsunterricht. Zu diesen Kantonen zählen auch Neuenburg, Jura, Basel-Land sowie die Stadt Bern, die derartige Projekte bereits erfolgreich lanciert hätten. Was bleibt ist der überaus positive Eindruck des vorliegenden Buches: Ein zentrales Werk (Deutsch‐)Freiburger Sprachgeschichte. Harald Schneider, Chur SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Anina Eigenmann, Konsum statt Klassenkampf. Die Soziale Käuferliga der Schweiz (1906–1945) zwischen Frauenbewegung, religiösem Sozialismus, Philanthropie und Gewerkschaften, Zürich: Chronos, 2019, 320 Seiten, 10 Abbildungen. Wer den Buchtitel liest, denkt vielleicht an die Debatte in der Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, ob man die Produktionsverhältnisse umstürzen oder eher eine Teilhabe an der aufkommenden Konsumgesellschaft anstreben solle. Davon unterscheidet sich der Untersuchungsgegenstand von Anina Eigenmann deutlich. Die 1906 gegründete Soziale Käuferliga (SKL) und ihre meist bürgerlichen Mitglieder interessierten sich nicht für den Konsum der Arbeiterschaft, sondern für den Beitrag der eigenen Konsumpraktiken zur Lösung der sozialen Frage. Es ging nicht um die Förderung des Konsums, sondern um die Frage nach dem «richtigen Konsum» (S. 73). Den zeitgenössischen Debatten um den Konsum widmet sich Eigenmann allerdings nur am Rande. Überhaupt wird die konsumgeschichtliche Forschung eher selektiv rezipiert. Konsum wird vor allem als politisches Instrument thematisiert, am Beispiel der Stimmrechtsfrage auch in seinen Beziehungen zur Staatsbürgerschaft. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit Forschungen zur (Geschlechter‐)Geschichte des Konsums und zum Konsum als Pflicht wie auch Basis von Rechten hätte hier wie da spannende weitere Dimensionen eröffnen können. Das Buch folgt der Geschichte der SKL in vier chronologisch angeordneten Kapiteln. Zunächst beschreibt Eigenmann die Herkunft der zentralen AktivistInnen. Wichtigster Kontext war die Frauenbewegung. Der Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) spielte etwa bei der Gründung der SKL eine entscheidende Rolle. Aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft waren viele Mitglieder durch die Gedankenwelt der Philanthropie und Gemeinnützigkeit geprägt. Wichtig waren aber auch Abolitionismus und Sittlichkeitsbewegung sowie die religiös-sozialen und -sozialistischen Bewegungen. Nur einzelne Gründungsmitglieder pflegten enge Beziehungen zur Arbeiterbewegung. Angesichts der Herkunft der Mitglieder erstaunt es nicht, dass viele Empfehlungen der SKL auf bürgerliche Frauen und deren Einkaufspraktiken ausgerichtet waren. Nur sie hatten Zeit und Geld, um in der geforderten Art und Weise einzukaufen. Richtiger Konsum wurde dabei als sozial verantwortlicher Konsum verstanden. Durch das Einkaufsverhalten sollten gute Arbeitsbedingungen gefördert werden: von der Arbeitszeit über die Arbeitsbelastung bis zum Schutz der Sittlichkeit, die man etwa durch das Trinkgeld gefährdet sah. Auf diese Weise sollte «eine sozialere, menschlichere Form des Kapitalismus» gefördert werden (S. 19). Während man das Bemühen um den richtigen Konsum mit Werkbund und Werbekritik teilte, divergierten die Ziele: «Sollten eher Materialien oder Menschen im Zentrum des Interesses stehen?» (S. 73). Ebenso wenig hatte man dieselben Interessen wie die Heimarbeitszentralen und das Heimatwerk. Statt um Wohltätigkeit und Traditionsförderung ging es darum, die modernen Arbeitsbedingungen der Industrie auch in der Heimarbeit zu etablieren. Dem patriotischen Konsum der «Schweizerwoche» begegnete man zwar mit Sympathie, doch unterschied man klar «nationale und soziale Pflichten». Zudem sei die Schweizerwoche eine Form der «Reklame», von der vor allem die «Produzenten und Kapitalisten» profitierten (S. 169). Die wichtigsten Mittel, mit denen man den richtigen Konsum zu fördern suchte, waren Verhaltensregeln für KäuferInnen, weisse Listen für Firmen mit guten Arbeitsbedingungen sowie Gütesiegel. Schon 1910 wurde ein erster Versuch unternommen, ein solches für Produkte aus Heimarbeit zu etablieren. Mehr Erfolg hatte das «LABEL», das SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 557 558 Rezensionen / Recensions / Recensioni 1938 auf Anregung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) lanciert wurde. 1942 wurde das LABEL an die neu gegründete Schweizerische Label-Organisation übertragen, die noch bis 1968 existierte, allerdings schon bald mit abnehmendem Erfolg. Die SKL entwickelte keine neuen Aktivitäten mehr und wurde 1945 aufgelöst. Bei der Gründung hatte man die SKL als Massenorganisation konzipiert. Bald setzten sich jedoch jene Stimmen durch, die auf stärker auf professionelle Lobbyarbeit setzten. Bezahlte Stellen wurden erst in den 1930er Jahren eingerichtet: für eine kurzlebige Beratungsstelle für weibliche Handelsreisende sowie für das LABEL. Eine wichtige Grundlage für die Professionalisierung waren verschiedene Enqueten, die zugleich zur Akademisierung und zunehmenden Verwaltungsnähe des Personals beitrugen. Schon mit Blick auf die Gründung der SKL hatte eine Kommission des BSF eine erste Studie zu den Arbeitsbedingungen in der Schokoladenindustrie durchgeführt. 1909 folgte eine durch den SGB initiierte Enquete zu den Arbeitsbedingungen in der Heimarbeit. Den grössten Erfolg hatte eine in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchgeführte Folgestudie. Die Heimarbeit stand fast immer im Fokus der SKL. Weitere Arbeitsschwerpunkte waren der Einzelhandel, das Gast- und das Bäckergewerbe sowie die Handelsreisenden. Wie Eigenmann zusammenfassend feststellt, handelte es sich dabei meist um Personengruppen, die im Alltag der KonsumentInnen «besonders gut sichtbar» waren. Zugleich waren sie marginalisiert, «weil sie weiblich, jung, alt oder invalide waren, weil sie keine Ausbildung hatten, wirtschaftlich abhängig und auf jeden noch so niedrigen Lohn angewiesen waren» oder weil sie kaum Möglichkeiten hatten, sich zu organisieren. Nicht zuletzt handelte es sich um Arbeitende, für die sich die Gewerkschaften nicht interessierten. Im Unterschied zur zweiten Buchhälfte, die sich gut lesen lässt, hätten die ersten drei Kapitel an zahlreichen Stellen von einer zusätzlichen Überarbeitung profitiert. Vor allem beim sehr langen zweiten Kapitel überzeugt die Komposition nicht. Dies führt unter anderem zu Wiederholungen und zur Wiedergabe von Details, die für die Argumentation wenig zielführend sind. Zudem sind verschiedene Bewertungen wenig belegt oder widersprüchlich. So vertritt Eigenmann die These, dass die Arbeitsbedingungen in der Schokoladenindustrie wenig problematisch gewesen seien. Kurz darauf schreibt sie, dass die oben erwähnte Studie festgestellt habe, dass lediglich 7 von 23 Fabriken den Standards der SKL entsprachen. Insgesamt zeigt das Buch aber, dass eine sozialgeschichtlich interessierte Konsumgeschichte nach wie vor einiges zu bieten hat. Peter-Paul Bänziger, Freiburg i. B. Maria Meier, Von Notstand und Wohlstand. Die Basler Lebensmittelversorgung im Krieg, 1914–1918, Zürich: Chronos, 2020 (Die Schweiz im Ersten Weltkrieg, Bd. 6), 352 Seiten, 20 Abbildungen, 5 Grafiken, 7 Tabellen. Wie später im Zweiten, wurde die Schweiz auch im Ersten Weltkrieg nicht unmittelbar in kriegerische Auseinandersetzungen involviert. Doch wirkten sich gestörte Handelsbeziehungen mit dem Ausland in vielen Bereichen auf den Schweizer Alltag aus. So erwies sich auch die Lebensmittelversorgung als zunehmend schwierig. Für den peripher gelegenen Stadtkanton Basel mit seinem lediglich marginalen Landwirtschaftsanteil wirkte sich der eingeschränkte oder gar unterbrochene Zugang zu Agrarerzeugnissen des angrenzenden Auslandes besonders gravierend aus. Wie überall in der Schweiz standen die Behörden vor einer unübersichtlichen Aufgabe. Einerseits konnte niemand eine vierjährige SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Kriegsdauer absehen und anderseits erwiesen sich die Anliegen und Ansprüche von Städtern und der Bauernschaft oft als gegensätzlich. Dieser Problematik der erschwerten Beschaffung von Nahrungsmitteln und deren möglichst gerechten und günstigen Verteilung an die Bevölkerung verpflichtet sich die kürzlich von der Universität Luzern angenommene Dissertation von Maria Meier. Die Studie ist Teil eines Sinergia-Projektes der Universitäten Bern, Genf, Luzern und Zürich zum Zentenar des Kriegsbeginns 1914. Meiers Forschungsbereich ist komplex, sie grenzt ihn auf die Frage ein, wie sich der Mangel an Nahrungsmitteln auf den Alltag der Menschen auswirkte – und dies aus der Perspektive einer städtischen Gesellschaft. Im Weiteren richtet sich ihr Interesse auf die Auswirkungen der Ernährungskonflikte auf das soziale Leben. Antworten auf diese Fragestellungen gibt Meier in den drei Hauptkapiteln über die Beschaffung von Lebensmitteln, den Lebensmittelmarkt und die stützenden staatlichen Massnahmen wie Massenspeisungen und die Notstandsaktion. Weitere soziale Stützmassnahmen wie etwa individuelle monetäre Fürsorgebeiträge, Militärunterstützung für Angehörige von Wehrpflichtigen oder Mietzinsbeihilfe stehen nicht im Fokusbereich der Fragestellung und werden von der Autorin nicht thematisiert. Nach den beiden kurzen einführenden Kapiteln gibt das dritte Kapitel Einblick in die Aktivitäten der Behörden zwecks Lebensmittelbeschaffung. Als naheliegende Sofortmassnahme erliess der mit Generalvollmacht ausgestattete Bundesrat ein Ausfuhrverbot für Getreide. Meier beschreibt, wie die kantonalen Entscheidungsträger Vorräte verwalteten und dem Schmuggelwesen entgegenzutreten versuchten. Zur Verbesserung der Versorgungslage ordneten die Behörden 1917 den zusätzlichen Anbau von Kartoffeln und Gemüse an, überall dort, wo im Stadtkanton etwas Grünfläche vorhanden war. Der hierfür von der Autorin verwendete Begriff «Anbauschlacht» (S. 105) irritiert, denn dieser Terminus gehört zum kollektiven Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs. Dies erklärt Meier denn auch auf Seite 115 in einer Fussnote. Als grösstes Alltagsproblem nennt Meier in Kapitel vier die Teuerung. Diese hatte ihre Ursache nicht allein in der Einfuhrunsicherheit und dem daraus entstandenen Mangel an Lebensmitteln. Sie wurde auch durch Hamsterei und Spekulation angetrieben. Um dieser künstlichen Preissteigerung entgegenzuwirken, erliess der Bundesrat bereits in den ersten Kriegstagen eine Verordnung gegen Wuchergeschäfte und Hamsterkäufe. Meier zeigt im Folgenden auf, wie Produzenten und Händler versuchten, die Verordnung zu umgehen und wie Ämter und Beamte zum Beispiel mit der Festsetzung von Höchstpreisen gegensteuerten. Für sie galt es – so Meier – den Mangel zu verwalten (S. 181). Je länger der Krieg dauerte, umso mehr Menschen gerieten in finanzielle Bedrängnis. «Massenspeisungen», so die damalige Benennung, und die staatliche Notstandsaktion deutet Meier im fünften Kapitel aus. Massenspeisungen war der Überbegriff für staatlich subventionierte, öffentlich zugängliche Esslokale. Die preisgünstige Abgabe von Suppen und Mahlzeiten sollte eine ausgewogene Ernährung der Bevölkerung garantieren. Detailreich gibt die Autorin Einblick in den Aufbau und den Betrieb solcher Einrichtungen. Die staatliche Notstandsaktion hingegen war individuell und zielte darauf ab, unverschuldet in Not geratenen Personen mit Barbeträgen oder Gutscheinen zu helfen. Die Erkenntnisse von Meier beruhen auf umfassender Quellenarbeit, schwerpunktmässig im Staatsarchiv Basel-Stadt. Man erkennt, dass nicht allein die Beschaffung von Nahrungsmitteln schwierig war, sondern dass auch divergierende Auffassungen über Vorgehensweisen und die Notwendigkeit von Stützmassnahmen bestanden. Zitierte und parSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 559 560 Rezensionen / Recensions / Recensioni aphrasierte Akteninhalte lassen Leserinnen und Leser die Schwierigkeiten von Behörden – eine Auflistung der wichtigsten Ämter würde die Übersicht erleichtern – und die Nöte der mittleren und unteren Einkommensgruppen nachvollziehen. Eine Familie mit mittlerem Angestellteneinkommen konnte die enorme Teuerung gerade noch knapp verkraften. Die Arbeiterschaft jedoch musste schon in normalen Zeiten mehr als die Hälfte ihrer Entlöhnung für Lebensmittel aufwenden. Für sie wurden die bis Kriegsende auf mehr als das Doppelte gestiegenen Lebenshaltungskosten zur Existenzfrage, oft verbunden mit dem Empfinden, ungerecht behandelt zu werden. Maria Meier erläutert in ihrer Dissertation auf mikrogeschichtlicher Ebene die amtlichen Strukturen sowie unter Beizug von Ego-Dokumenten die Lebenssituation der Bevölkerung. Mit diesem Ansatz verknüpft sie Wirtschafts-, Sozial- und Alltagsgeschichte zu einem eindrücklichen Ganzen. Der schnörkellose, gut verständliche Text sowie die ausgezeichnete Leserführung machen die sehr informative Studie überaus lesenswert. Gertrud Schmid-Weiss, Trogen Régis Huguenin, Gianenrico Bernasconi (dir.), L’heure pour tous, une montre pour chacun. Un siècle de publicité horlogère, Neuchâtel: Alphil, 2019, 266 pages. L’intérêt porté depuis plusieurs années aux affiches et aux annonces publicitaires comme sources historiques ne se dément pas. Nombreuses sont maintenant les études qui analysent comment les entreprises ont développé par l’image des stratégies vantant leurs produits, les arguments auxquels elles ont fait appel pour stimuler la consommation, ainsi que les codes – esthétiques, sociaux, genrés – sur lesquels elles s’appuient pour se singulariser dans un monde où les concurrents se pressent. Si l’histoire de la publicité horlogère et son iconographie ne présentent pas, à cet égard, de grandes différences avec les principaux courants que l’on peut apercevoir dans l’histoire plus large de la publicité et du marketing, le secteur méritait certainement l’exposition qui lui a été consacrée l’année dernière au Musée international d’horlogerie de La Chaux-de-Fonds. L’ouvrage qui en est issu montre toute la puissance de frappe des marques qui, depuis la fin du XIXe siècle, se sont servies de l’affiche pour se créer une identité, matraquer le public ou plus simplement signaler leur excellence. Le parcourir, c’est donc aussi traverser un siècle et demi d’histoire horlogère qui ne se satisfait plus de la mise en évidence des performances technologiques, industrielles et commerciales. Il est vrai que, pendant tout le XIXe siècle et même au-delà, les industriels suisses ont eu la réputation – peut-être exagérée – d’être avant tout de très bons constructeurs à défaut d’être des vendeurs hors pair. Ils se contentaient de leur compétence – ou de leur suffisance – pour affirmer à l’envi qu’un article produit est un article vendu. La réflexion s’arrêtait là. Avec l’horlogerie, on se rend compte qu’il y a eu une réelle prise de conscience et qu’une véritable attention s’est matérialisée avec l’appel à des dessinateurs plus ou moins reconnus – artistes, peintres, illustrateurs – et à des supports variés pour assurer dorénavant une présence sur les marchés. Les différents articles réunis dans le volume en montrent toute la variété: la technologie, la bienfacture, le processus de production ou encore la fiabilité et la précision sont des thématiques qui sont récurrentes dans l’univers publicitaire horloger. Rien d’étonnant à cela pour des fabricants de montre … encore fallait-il que le message passe sans ennuyer le destinataire. C’est dire que les réalisateurs se sont souvent heurtés à des défis de taille pour rendre compte de la capacité d’une montre à être considérée comme autre chose qu’un simple objet fonctionnel. Affirmer qu’elle est porteuse de valeurs et qu’elle s’inscrit dans une «modernité» qu’elle matérialise sur un SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni poignet est plus facile à dire qu’à … le faire croire et à convaincre le consommateur et la consommatrice que c’est vraiment le cas. Si le Cervin peut être facilement suggestif pour une publicité vantant les beautés touristiques de la Suisse, il l’est certainement moins pour stimuler l’achat de telle ou telle montre … Comment par exemple illustrer la ponctualité ? Comment en faire une valeur sociale reconnue par tous et toutes? À quel type de public peut-elle s’adresser? Il en est de même du «prestige», notion très volatile s’il en est et qu’il faut ancrer dans des contextes sociaux, politiques, économiques où elle fait sens. Nous ne pouvons qu’être admiratifs à cet égard devant la puissance de création de ce monde publicitaire, tant par l’image que par le texte. Le constat n’est pas simplement esthétique – certaines affiches sont vraiment d’une très haute qualité – mais il est aussi sur le ton (humour, gravité, légèreté, émotion, etc.) et l’allusion. On regrettera peut-être que rien ne soit dit sur le processus de publicité en lui-même – le passage à l’acte – si l’on peut dire: comment les dessinateurs travaillent-ils? Exercent-ils leur art en toute indépendance ou sont-ils à la solde de l’entreprise désireuse de se présenter sous tel ou tel aspect? Ne sont-ils que des transmetteurs – des passeurs d’idées – ou ont-ils un réel pouvoir d’appréciation et une autonomie dans leur élaboration publicitaire? Quelles sont les instructions données par le commanditaire? Qui façonne finalement l’image de l’entreprise et la représentation qu’elle veut donner de son propre produit: volonté préméditée à l’interne ou soumission à des créateurs externes? On voit très bien le résultat à travers la diffusion des publicités dans les journaux, à la télévision ou ailleurs, mais une analyse en amont aurait mieux permis de saisir les différentes phases de cette ‘construction’ publicitaire. Il reste que cet ouvrage, au-delà de la synthèse très stimulante qu’il offre sur une activité – la publicité – devenue centrale au sein des entreprises horlogères, comble un vide historiographique, car il donne la mesure des subtilités et des nuances qui façonnent le sens d’un objet tellement banal qu’il en devient si précieux pour comprendre les sentiments qui habitent une société à un moment donné. Laurent Tissot, Neuchâtel Werner Seitz, Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900, Zürich: Chronos, 2020, 296 Seiten, 7 Grafiken, 40 Tabellen. Das Buch von Werner Seitz zum Jubiläum des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz bietet einen äusserst systematischen und umfassenden Überblick der Ereignisse sowie eine Fülle an Daten und Fakten rund um den langen Kampf für die politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz. Wer wissen möchte, in welchen Kantonen wann über welche Stimmrechtsvorlagen abgestimmt wurde, wie sich das Abstimmungsverhalten über die Zeit regional und national verändert hat, welche Argumente BefürworterInnen und GegnerInnen des Frauenstimm- und Wahlrechts ins Feld führten oder wie Parteien mit dem lauter werdenden Ruf nach Gleichstellung in der Politik umgingen, wird im beinahe 300 Seiten starken Buch garantiert fündig. Das Buch behandelt die Geschichte bis zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts chronologisch, beginnend bei der «Konstruktion des männlichen Republikanismus» im 18. Jahrhundert (Teil I). Teil II spannt den grossen Bogen von der erstmals formulierten Forderung nach politischer Gleichstellung in den um 1900 gegründeten Frauenorganisationen über zahlreiche erfolglose Vorstösse, Petitionen, Aktionen und Abstimmungen bis zur endlich gewonnen nationalen Abstimmung von 1971. Teil III SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 561 562 Rezensionen / Recensions / Recensioni behandelt die Jahre 1971 bis 2019 und die «Entwicklung der Repräsentation der Frauen in den politischen Institutionen» nach der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Nachdem die ersten Frauen sowohl kantonal wie auch national in Parlamente und Regierungen zogen, stieg ihre Anzahl keineswegs immer kontinuierlich, sondern es gab auch deutliche Phasen der Stagnation sowie des Rückgangs, zum Beispiel in den 2000er Jahren im Ständerat. Zu Recht weist der Autor in diesem Zusammenhang auf den wichtigen anhaltenden Druck der Frauenbewegung hin und den jeweils positiven Effekt der beiden Frauenstreiks von 1991 und 2019. Teil IV untersucht das Abstimmungsverhalten von Frauen und Männern zwischen 1971 und 2019. Es gibt hier durchaus bemerkenswerte Unterschiede zu beobachten: So wurde etwa der Gleichstellungsartikel in der Verfassung (1981) von den Frauen deutlicher angenommen als von den Männern, und das neue Ehegesetz (1985) wäre ohne die Stimmen der Frauen gar gescheitert. Jedoch war es auch die weibliche Stimmbevölkerung, die gemäss den präsentierten Zahlen gegenüber der aus feministischer Perspektive ebenfalls wichtigen Fristenlösung (2002) kritischer eingestellt war. Dieser Befund überrascht und weist auf Forschungslücken bzw. auf offene Fragen hin, denen sich HistorikerInnen annehmen sollten. Auch die im Buch skizzierte, von zahlreichen Kompromissen wie auch schlauen Schachzügen geprägte Geschichte der Mutterschaftsversicherung (2004) verdient eine vertiefte historische Aufarbeitung, fehlt doch in aktuellen Debatten rund um Vaterschaftsurlaub und Elternzeit das Bewusstsein um diese zentrale Errungenschaft der Frauenbewegung fast gänzlich. Zusätzlich zu der chronologischen und genauen Aufarbeitung der Ereignisse vertieft der Autor einige Themen anhand älterer und aktueller historischer Forschung. So wird durch die Darstellung die über lange Zeit äusserst schwierige Position der BefürworterInnen deutlich, die mit viel Beharrlichkeit gegen eine politische Kultur der Schweiz angingen, die oft unter der Gürtellinie hantierte. Zu Recht würdigt der Autor in diesem Zusammenhang ausführlich die vielfältigen älteren feministischen Kämpfe, wie etwa den Streik der Basler Lehrerinnen (1959) oder den bekannteren Marsch nach Bern (1969). Informativ und umfassend sind auch die Ausführungen zur Verknüpfung der Wehrpflicht mit dem Stimm- und Wahlrecht in der Argumentation der GegnerInnen oder die Darstellung der zuweilen sehr unterschiedlichen Strategien der BefürworterInnen: sollte das Frauen Stimm- und Wahlrecht über eine Neuinterpretation der Verfassung errungen werden? Oder war eine Schritt-für-Schritt-Strategie erfolgversprechender, die die politischen Rechte zuerst in den Gemeinden, dann kantonal und erst danach auf nationaler Ebene verankerte? War die politische Gleichberechtigung von Frauen ein grundrechtliches bzw. menschenrechtliches Prinzip, oder war es davon abhängig, ob die Frauen in der Schweiz ihre Fähigkeit und ihr Interesse an der Ausübung politischer Rechte unter Beweis gestellt hatten? Während der Autor über weite Teile sorgfältig und akribisch Daten und Forschungsstand zusammengetragen hat, weisen die Ausführungen zur Frauenbewegung bisweilen Schwächen auf. So folgt der Autor in Teil II zu den Anfängen der Frauenbewegung einem alten Narrativ, das Perspektiven um 1900 in fortschrittlich oder traditionell einordnet und so das Feld der ersten Frauenorganisationen in der Schweiz nur ungenügend zu beschreiben vermag. Damit einher geht eine ebenfalls in älterer historischer Forschung verbreitete, aber inzwischen problematisierte Erklärung, Frauen hätten ein «traditionelles Geschlechterrollenverständnis» verinnerlicht. Dieser Blick wird dem vielfältigen politischen Handeln von Frauen und ihren Organisationen nicht gerecht. Auch bezüglich des Frauenstreiks 2019 und wie dieser einzuordnen sei (Teil III, Kapitel 3) dürften die AusSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni führungen des Autors vermutlich von nachfolgender historischer Forschung noch revidiert bzw. ergänzt werden. Denn die Darstellung dieses bedeutsamen Ereignisses der Schweizer Geschichte als Folge der metoo-Bewegung greift wahrscheinlich zu kurz, waren doch sowohl Themen und Forderungen, wie auch Akteurinnen und Organisationsformen des Streiks zahlreich und divers. Es wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, die Ursachen, Motivationen und Akteurinnen zum Frauenstreik, sowie die daraus resultierenden, bis in die Parlamente reichenden Netzwerke zu untersuchen und zu würdigen. Diese Kritikpunkte schmälern keineswegs das grosse Verdienst, das Werner Seitz zukommt. Sein Buch wird als äusserst komplettes Nachschlage- und Überblickswerk für manche StudentIn, ForscherIn und historisch interessierte BürgerIn von grossem Nutzen sein. Simona Isler, Bern Thibaud Giddey, Histoire de la regulation des banques en Suisse (1914–1972), Genf: Librarie Droz, 2019 (Publications d’histoire économique et sociale internationale, Bd. 41), 576 Seiten. Die Finanzkrise von 2008 hat nicht nur auf schmerzhafte Weise wirtschaftswissenschaftliche Gewissheiten erschüttert, sondern auch eine erfreuliche Renaissance der Finanzgeschichte herbeigeführt. Vor allem die Frage, warum die Banken am Vorabend der Krise nur noch mit minimalen Eigenmitteln ausgestattet waren, hat eine Explosion an Studien zur Geschichte der Finanzstabilität ausgelöst. Die Lausanner Dissertation von Thibaud Giddey über die Geschichte der Bankenaufsicht in der Schweiz von 1914 bis 1972 gehört in diesen Forschungskontext. Die Schweiz ist ein interessanter Fall, denn hier herrschte ein besonders liberales Regime in den Jahrzehnten nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, während die meisten Länder mit weitreichenden Gesetzen auf die grossen Bankenzusammenbrüche jener Zeit reagiert hatten. Die Darstellung ist in zwei grosse Perioden eingeteilt. Die erste Periode umfasst die Zeit von den ersten Gesetzesarbeiten des Basler Ökonomieprofessors Julius Landmann im Anschluss an die grosse Regionalbankenkrise von 1911 bis 1914 bis zur Verabschiedung des ersten eidgenössischen Bankengesetzes im November 1934 und der entsprechenden Verordnung im Februar 1935. Giddey beschreibt den Inhalt von Landmanns Regulierungskonzept und sein Scheitern angesichts des starken Bankenwiderstands, rekapituliert die Bankenkrisen der 1930er Jahre, zeichnet die einzelnen Etappen des Gesetzgebungsprozesses nach und erklärt das liberale Aufsichtsregime, das 1935 installiert wurde. Für Giddey handelt es sich beim Bankengesetz um ein «apaisement peu restrictive» (S. 225). Die zweite Periode umfasst die Jahre von 1935 bis zur ersten Revision des Bankengesetzes 1972. Giddey erstellt zunächst eine kurze Kollektivbiografie, konzentriert sich aber danach ganz auf die Aufsichtspraxis der Eidgenössischen Bankenkommission (EBK), die durch das Bankengesetz von 1934 geschaffen wurde. Er unterscheidet vier Phasen. Die erste Phase dauerte von 1935 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, von Giddey als schwierige Anfangszeit bezeichnet, da die Bankenkommission zunächst einmal ihren Platz finden und behaupten musste. Die zweite Phase erstreckte sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen 1960er Jahre. Sie war durch eine grosse Ruhe charakterisiert. Die dritte Phase, welche die erste Hälfte der 1960er Jahre abdeckt, war demgegenüber von einer wachsenden Unruhe geprägt. Der Finanzplatz Schweiz zog in dieser Zeit viele ausländische Investoren an, die skandalträchtige Geschäfte betrieben, was die Aufsicht überforderte. Die vierte Phase umfasst die Zeit von der Mitte der 1960er Jahre SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 563 564 Rezensionen / Recensions / Recensioni bis zur ersten Revision des Bankengesetzes 1971, das wohl eine gewisse Stärkung der Aufsicht vorsah, die liberalen Parameter der schweizerischen Bankenaufsicht aber kaum veränderte. In den abschliessenden Bemerkungen hebt Giddey drei Punkte hervor. Erstens weist er auf den zyklischen Charakter der Regulierung hin. Handlungsbedarf entstand immer nur im Nachgang von grösseren Bankenkrisen, Skandalen oder Innovationen. Zweitens sieht Giddey die Abneigung der Bankenvertreter gegen neue Regulierungen nicht nur durch ihre generelle Abneigung gegen weitergehende Regulierung begründet, sondern auch dadurch, dass sie selbst ihren bürgerlichen Verbündeten im Parlament nicht ganz trauten. Drittens unterstreicht Giddey die besondere institutionelle Konstruktion, die im Bankengesetz von 1934 vorgenommen wurde. Die Bankenkommission war demnach keine normale Bundesbehörde, sondern war ausserhalb der Bundesverwaltung angesiedelt und verfügte über einen Verwaltungsrat von Praktikern. Davon ausgehend konstatiert Giddey, dass es nicht korrekt sei, die zurückhaltende schweizerische Regulierung mit dem Konzept der «Regulatory Capture» zu erklären. Denn in der Phase von 1935 bis 1971 mussten die Banken nicht durch allerlei Schachzüge die Gunst der Aufsichtsbehörde sichern. Vielmehr verstand sich die Bankenkommission als eine Instanz, die selber die Interessen des Finanzplatzes reflektierte und ihre Aufsicht entsprechend darauf ausrichtete. Nicht nur diese scharfsinnige Beobachtung zeigt, dass es sich bei Giddeys Dissertation um eine äusserst differenzierte historische Analyse handelt. In vorbildlicher Weise werden Theorie, Literatur und Empirie miteinander verwoben. Zudem hat Giddey keine Mühe gescheut, alle relevanten Quellen aufzustöbern. Die Studie wird sich ohne Zweifel bald als Standardwerk der schweizerischen Bankengeschichte etablieren. Giddey ist der erste Historiker, der nicht nur die politischen Prozesse, Gesetze und Verordnungen genau studiert hat, sondern auch die effektive Praxis der Bankenaufsicht beschreibt. Nicht alle Kapitel sind allerdings gleich originell. Im ersten Teil, der die Geschichte bis zum Bankengesetz von 1934 behandelt, wird vieles beschrieben, was in den Grundzügen schon bekannt ist. Die Darstellung besticht hier mehr durch ihre Präzision und ihren Detaillierungsgrad. Im zweiten Teil hingegen betritt Giddey über weite Strecken Neuland. Etwas zu kurz gekommen ist dafür die internationale Dimension. Finanzstabilität wird ja zu einem wesentlichen Teil durch die grossen Finanzplätze und ihre Aufsichtsbehörden als öffentliches Gut zur Verfügung gestellt. Nur vor diesem Hintergrund ist es möglich zu verstehen, warum die schweizerische Regulierung so zurückhaltend sein konnte und sich der schweizerische Bankensektor zwischen 1945 und 1972 weitgehend krisenfrei entwickeln konnte. Wichtige Fragen sind also selbst nach Giddeys Studie noch nicht beantwortet. Tobias Straumann, Zürich Luregn Lenggenhager, Ruling Nature, Controlling People. Nature Conservation, Development and War in North-Eastern Namibia since the 1920s, Basel: Basler Afrika Bibliographien, 2018 (Basler Namibia Studies Series, Bd. 19), 266 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Staaten streben nach Wissen über das von ihnen beanspruchte Territorium und dessen Bewohner. Solches Herrschaftswissen bildet die unerlässliche Grundlage ihres Dominanzanspruchs, weil es die effiziente Aneignung von Ressourcen wie Abgaben und ‹Menschenmaterial› erst ermöglicht. Teil dieser Bestrebungen sind immer auch Massnahmen, SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Territorium und Bevölkerung «lesbar» zu machen (James C. Scott), was nicht nur heisst, bestehende Verhältnisse getreu abzubilden, sondern den eigenen Zwecken gemäss umzuformen, wenn nicht gar neu zu erschaffen. Menschheitsgeschichtlich schloss dies regelmässig massive Eingriffe in die Natur ein – ein Punkt, den hergebrachte Abhandlungen zur Staatsentstehung gerne vernachlässigen. Luregn Lenggenhagers 2017 am Historischen Seminar der Universität Zürich eingereichte und 2018 in den Basler Afrika Bibliographien erschienene Dissertation beleuchtet ebendiesen wichtigen Aspekt. Ihr Augenmerk liegt auf dem Zusammenhang von Naturschutz, von Narrativen der «Entwicklung» sowie der «Modernisierung» und (kriegerischer) Gewalt im nordöstlichen Namibia. Sie liefert so einen eindrucksvollen historischen Längsschnitt, der von der Anfangszeit der südafrikanischen Okkupation bis weit über die Unabhängigkeit Namibias 1990 hinaus reicht. Im Fokus steht der Caprivizipfel – ein koloniales Machwerk aus der Zeit des «Scramble for Africa», durch welches sich das Deutsche Reich im Rahmen des «Helgoland-Sansibar-Vertrages» den Zugang zum Sambesi zu sichern und eine Verbindung zu den ostafrikanischen Besitzungen herzustellen suchte. Aufgrund der exponierten Lage zwischen Angola, Sambia und Botswana wurde der Caprivizipfel von Südafrika als Operationsbasis zur Destabilisierung der Nachbarstaaten verwendet; er diente ‹Rebellen› unterschiedlicher Provenienz als Rückzugsgebiet und wurde noch in der jüngeren Vergangenheit von separatistischen Bestrebungen und dem angolanischen Bürgerkrieg erschüttert. Am Caprivizipfel lässt sich nicht nur das Verhältnis von ‹Zentrum› und ‹Peripherie› innerhalb der Architektonik des südafrikanischen Staates und des unabhängigen Namibias untersuchen, sondern auch eine suprastaatliche Region im südlichen Afrika in den Blick nehmen, die von internationalen wie lokalen Akteuren geprägt ist. Derlei komplexe Zusammenhänge erschöpfend darzustellen, kann ein Buch von 266 Seiten kaum leisten; durch seinen thematischen Fokus liefert es gleichwohl viele wertvolle Einsichten. Die Schrift gliedert sich in vier Kapitel, welche unter je unterschiedlichen inhaltlichen Aspekten die Entwicklung des Naturschutzes chronologisch nachzeichnen: «Nature and Development before 1965», «Nature an War (1965–1980s)», «Wildlife and War (1975–1990)» und «Nature and Peace?». Die folgende Zusammenfassung bleibt notgedrungen selektiv und holzschnittartig. Südafrika scheute grössere Investitionen und suchte nach Wegen, dieses Gebiet in Wert zu setzen, um die Kosten seiner Beherrschung möglichst wieder hereinzuholen (S. 86 f.). Fischerei, Holzwirtschaft sowie schliesslich Jagd und Tourismus wurden dabei als besonders aussichtsreich erachtet. Wie der Verfasser zeigt, dienten die dabei entstehenden Erhebungen, Karten und Massnahmen wie die Anlage von Schneisen immer auch militärischen Zwecken, wenn sie nicht gar auf Militärs selbst zurückgingen. Naturschutz und Sicherheitspolitik resp. Kriegführung gingen stets Hand in Hand. Auch Narrative der «Entwicklung» der scheinbar rückständigen lokalen Bevölkerung wurden von Anfang an bemüht, zumal diese eine wichtige legitimatorische Funktion des Apartheid-Regimes nach innen wie nach aussen einnahmen (S. 33 f.). Doch wer annimmt, dass das seit 1990 unabhängige Namibia einen klaren Bruch mit den vorgängigen Praktiken und Narrativen vollzog, sieht sich getäuscht – und hierin liegt eine weitere wichtige Einsicht dieses Buches (S. 228). Auch der unabhängige Staat ist bestrebt, die ‹Peripherie› zu durchdringen und seinen Interessen dienstbar zu machen (S. 203–209). Freilich gehorcht er nun, wie der Verfasser zeigt, den Imperativen des «Neo-Liberalismus». Das Geschehen wird zunehmend von parastaatlichen Akteuren wie NGOs und privaten Sicherheitsfirmen bestimmt. Auch sie bedienen sich der immer gleichen Narrative der «Entwicklung» und betreiben SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 565 566 Rezensionen / Recensions / Recensioni eine Militarisierung des Naturschutzes (S. 218–220). Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Natur vollends zur Ware geraten ist (S. 188–192), und zwar für eine globale Elite von Trophäenjägern, die ein ‹unberührtes› , wildreiches Afrika sucht (S. 229). Ungeachtet der offiziellen Rhetorik reproduzierten sich so die überkommenen Machtverhältnisse und Ungleichheiten, zumal nicht geklärt ist, ob und inwiefern die lokale Bevölkerung vom Tourismus-Boom profitiert (S. 193). Lenggenhagers Arbeit stützt sich auf Sekundärliteratur, Archivbestände und selbst geführte Interviews. Interessanterweise nimmt das Buch desto mehr an Fahrt auf, je mehr es sich auf die Interviews stützt. Diese schliessen auch eine wichtige Lücke, da die Archive noch wenig Material zur jüngsten Vergangenheit bieten. Umso bedauerlicher ist es, dass der Verfasser der Leserschaft die verwendeten Interviews (oder wenigstens relevante Passagen) nicht zugänglich macht. In den Sozialwissenschaften ist dies gang und gäbe; anders ist wissenschaftliche Überprüfbarkeit nicht zu gewährleisten. Dessen ungeachtet liefert der Verfasser einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des südlichen Afrikas, Südafrikas und vor allem Namibias, gerade weil er sich nicht von vermeintlichen Zäsuren oder internationalen Grenzziehungen einengen lässt. Insbesondere mit Blick auf den Themenkomplex Naturschutz, als dessen Vorreiter sich Südafrika immer empfand, dürfte diese Schrift angesichts der ansonsten prekären Quellenlage eine unverzichtbare Referenz bilden, und zwar umso mehr, als der Verfasser ein geschärftes Problembewusstsein für aktuelle Debatten und Entwicklungen an den Tag legt. Matthias Häussler, Zürich Mirco Melone, Zwischen Bilderlast und Bilderschatz. Pressefotografie und Bildarchive im Zeitalter der Digitalisierung, Paderborn: Wilhelm Fink, 2018, 291 Seiten, 23 s/ w Abb., 32 farb. Abb. Die Digitalisierung von Bildern wird zumeist hinsichtlich der Konsequenzen für deren Status als Quellen im herkömmlichen Sinne diskutiert. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen zur «Authentizität» der Bilder, ihrer vermeintlich zunehmende Manipulierbarkeit sowie die Bedeutung ihrer wachsenden Zugänglichkeit. Weit weniger richtet sich der Blick auf die Institutionen, die Digitalisierung vorantrieben, und die damit einhergehende fundamentale Umorganisation von Beständen. Mirco Melone untersucht in seiner Pionierstudie genau das anhand der Bildbestände des Schweizer Ringier-Verlages. In zwei Abschnitten entfaltet Melone sein Thema. Zunächst schildert er die Entwicklung der Ringier-Bildbestände und ihrer Organisation seit den 1960er Jahren, anschliessend betrachtet er die sich ändernden Kontextualisierungen. Geleitet ist die Untersuchungen durch medientheoretische und -historische sowie praxeologische Einsichten. Das bedingt einen Fokus auf die Institution und den Umgang mit den Beständen durch die hierzu angestellten Experten und Expertinnen, wohingegen die Fragen nach den Spezifika der Bildquellen und deren Entstehungsbedingungen weniger gewichtet sind. Die Studie stützt sich auf Archivalien, die der Autor selbst gesammelt hat sowie – neben anderen kleineren Beständen – die Materialien des Staatsarchivs Aargau, welches das Bildarchiv 2009 übernahm. Seine These, dass letztlich die Digitalisierung der Fotobestände des Verlages der Umwertung von Pressefotografie in eine kulturhistorische Quellengattung Vorschub geleistet (wenn nicht gar erzeugt) hat, besitzt Gewicht. Denn anders als Bildbestände, die sich in Archiven ansammelten und dann über Datenbanken zu einem gleichsam eigen- SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni ständigen Quellenkorpus wandelten, sind Verlagsbestände in erster Linie Waren, deren Wert sich aus der Verkäuflichkeit ableitet. Kommerzielle Bildagenturen stehen vor dem Problem, die naturgemäss stetig wachsenden Bestände zu ordnen, zu lagern und zu verwerten. Nur wenn das gelingt, lohnt aus unternehmerischer Sicht der Erhalt von Bildern. Die Datenverarbeitung ab den 1970er Jahren bot die Chance, Suche und Zugriff nach einzelnen Bildern und Bildfolgen zu optimieren. Doch auch dies stiess alsbald auf Grenzen, die erst durch Digitalisierung der Bilder selbst – und damit einen direkten Zugriff der Nutzer und Nutzerinnen auf Bilder am Bildschirm – überwunden wurden. Was aber sollte mit den analogen Fotografien (Abzügen, Dias, Negativen usw.) geschehen, deren Aktualität abgenommen hatte und deren sachgerechte Lagerung Ressourcen verschlang? Wichtig waren in diesem Zusammenhang die wachsende Bedeutung der so genannten «Stock Photography», also von illustrativen Bildern ohne zwangsweise aktuellen Charakter, die üblicherweise von Agenturen angeboten werden, sowie die Verschiebungen in kulturhistorischen Denk- und Arbeitsweisen. So selbstverständlich es scheint, ein Bildarchiv letztlich in öffentliche Hände zu legen, so wichtig ist es nachvollziehen zu können, warum es schliesslich als kulturhistorisch wertvoll betrachtet wurde. Melone kann zudem darlegen, dass ökonomische Verwertungslogiken tief in die Wahrnehmung und den gegenwärtigen Umgang mit den Ringier-Bildern eingebettet sind. Melone hat eine Fallanalyse vorgelegt, die mustergültig diese oftmals unterschätzen Zusammenhänge erhellt. Es lässt sich nur hoffen, dass weitere Fallstudien folgen werden, um die Thesen zu überprüfen und das Feld der «Bildökonomie» besser auszuleuchten. Einige Punkte verdienen angesichts der Fokussierung der Arbeit auf den Zeitraum seit den 1970er Jahren erwähnt zu werden. Erstens wird nur vereinzelt auf frühere Praktiken der Bildwirtschaft verwiesen. Lässt sich wirklich erst für die 1960er Jahre sagen, dass sich der Umgang mit Pressebildern bei Ringier «professionalisiert» habe? Immerhin datiert Melone den Beginn kommerzieller Bildverwertung durch Agenturen in der Schweiz auf die 1930er Jahre (Illustrations- und Photopress AG), sodass die Frage nahe liegt, wie sich der Bildermarkt bis dahin organisiert hatte. Ringier selbst hatte bereits 1911 die Schweizer Illustrierte Zeitung lanciert (S. 26) und in den europäischen Pressezentren agierten schon grössere auch transnational tätige Fotoagenturen professionell. Je länger eine Bildagentur auf dem Markt ist, desto umfangreicher werden ihre «Stock»-Bestände und das ist kein Phänomen, das erst in den 1960er/70er Jahren auftrat. Mit anderen Worten: das Problem der Archivierung und Verwertung grosser Bildermengen war bereits lange vor Einzug der EDV und der Digitalisierung relevant. Zweitens ist es eine Überlegung wert, sich genauer über den Begriff «Pressebild» zu orientieren; in der Studie scheinen damit alle Bilder gemeint zu sein, die den Weg in eine Bildagentur fanden. Das ist pragmatisch, verschleiert aber die Vielzahl an Produktions- und Distributionsbedingungen der Fotografien. Nicht alle Ringier-Bilder sind exklusiv als Pressebilder entstanden und damit deren Verbreitung nicht allein auf ein Dasein in dieser Agentur beschränkt. Entsprechend hat diese nicht allein über die Kontextualisierung eines Bildes bestimmt. Und es gilt darüber nachzudenken, ob die Bilder tatsächlich derart durch Bildbeschriftungen, archivarische bzw. dokumentalistische Ein- und Zuordnung in ihrer, wenngleich zeitlich wechselnden, Bedeutung festgelegt werden, wie es manches Mal im Text nahe gelegt wird (besonders S. 149–153). Aus Sicht der bewahrenden Institution mag das so sein, aus Sicht der Nutzer stellt sich das anders dar. Auch Pressefotografie funktioniert nicht allein als visueller Ausdruck einer Beschriftung, sondern als Bild per se. Wenngleich SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 567 568 Rezensionen / Recensions / Recensioni dies jenseits der Fragestellung Melones angesiedelt ist, also hier auch nicht als Kritik am Buch zu verstehen ist, sind das weiter führende Fragen. Und diese aufzuwerfen, wenngleich nicht ausdrücklich, ist ein weiteres Verdienst des Buches. Jens Jäger, Köln Ruth Fivaz-Silbermann, La fuite en Suisse. Les Juifs à la frontière franco-suisse durant les années de la «Solution finale», Paris: Calmann-Lévy, 2020, 1448 Seiten. Nun liegt die integrale Arbeit vor, die in Teilen bereits vor rund 20 Jahren für Aufsehen gesorgt hat, weil ihre ersten Befunde in herausforderndem Widerspruch zu Feststellungen der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) «Schweiz-Zweiter Weltkrieg» standen. Die Studie verdient es, aus zwei Gründen weiterhin zur Kenntnis genommen zu werden: erstens wegen ihres Ansatzes und zweitens wegen ihres Faktenreichtums. Der eigene Ansatz besteht aus einem auch von der UEK ansatzweise bereits praktizierten Perspektivenwechsel weg vom an sich nicht abwegigen helvetozentrischen Interesse für die von der Schweiz zu verantwortenden Flüchtlingspolitik in eine Blickrichtung, die sich für das Verhalten der Asylsuchenden interessiert. Gefragt wird nach den Fluchtmotiven, nach dem Wissensstand der Flüchtlinge, den Fluchtwegen und Kosten und natürlich auch nach den Fluchthelferinnen und Fluchthelfern sowie den konkreten Erfahrungen während der Flucht. Wegen der hohen Bedeutung der Fluchthelferinnen und Fluchthelfer wäre es wünschenswert gewesen, dass sie nicht nur im Laufe des Narrativs immer wieder erwähnt worden wären, sondern ihnen fokussiert etwas eingehendere Überlegungen gewidmet worden wären. Zur Kontroverse um die Zahl der Abgewiesenen gibt es nichts neues zu Berichten. Die Verfasserin beharrt auf den Zahlen, die sie den von ihr konsultierten, einzelnen Dossiers entnommen hat: 12675 jüdische Flüchtlinge hätten, aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich kommend, eine Aufnahme erhalten und 1850 seien abgewiesen worden. Von diesen sei (nur) einer auf sechs deportiert worden, nachdem sie ins unbesetzte Frankreich ausgeschafft wurden; bei einer Ausschaffung ins besetzte Frankreich hingegen sei einer auf zwei der Ausgeschafften deportiert worden (S. 21). Die verstreute Einzelangaben werden zusammen mit Karten zum Grenzverlauf und zu Fluchtwegen in einer Tabelle (S. 727) zusammengefasst, verteilt auf die Jahre 1942–1944 und auf die verschiedenen Grenzabschnitte. Wie weit diese Zahlen verallgemeinernde Rückschlüsse auf die ganze Schweiz zulassen, wird nicht diskutiert. Die Autorin setzt sich auch nicht mit den weit höheren Zahlen der UEK und mit deren Art, zu dieser Einschätzung zu gelangen, auseinander. Zu ihrer eigenen Methode gibt sie in ihrem umfangreichen Buch keine Auskünfte, sie verweist nur auf einen früheren Aufsatz in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte.30 Die umfangreiche Arbeit von rund 1400 Dünndruck-Seiten, 2017 in Genf als Doktorarbeit angenommen, umfasst im Grunde drei Dissertationen: Eine erste, wirklich viel neue Befunde vermittelnde Studie befasst sich mit den Fluchtbewegungen aus den Niederlanden, aus Belgien und den beiden Frankreich (dem besetzten und unbesetzten Teil), inklusive dem oft wenig beachteten, vorübergehend von Italien besetzten Savoyen. Eine zweite Studie ist eine mehrheitlich doch in gehabter Weise «helvetozentrische» Rekapitulation der bereits eingehend erläuterten schweizerischen Flüchtlingspolitik – bloss gegenläufig zu bisherigen Erkenntnissen. Und eine dritte, teils ebenfalls Bekanntes wiederauf30 Ruth Fivaz-Silbermann, Accueil et refoulement des juifs à la frontière franco-suisse durant la guerre: sources et statistiques, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 69/1 (2019), S. 111–130. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni nehmende, aber auch bisher unbeachtete gebliebene Netzwerke erfassende Studie befasst sich mit Hilfsaktionen, die die Schweiz als Plattform zur Rettung von jüdischen Kindern aus der französischen Nachbarschaft genutzt haben. Im ersten Teil unterscheidet Fivaz acht verschiedene Motive für die Fluchtversuche nach der Schweiz; wenig bekannt ist das erstgenannte Motiv, via die Schweiz und mit Unterstützung aus der Schweiz zu den Streitkräften der Westalliierten zu gelangen und sich an der Bekämpfung der NS-Herrschaft beteiligen zu wollen (S. 28). Es wird auch zwischen Fluchtrouten unterschieden, die in relativ kurzer Zeit (drei Wochen!) direkt und solchen, die in Etappen und auf Umwegen indirekt an die Schweizer Grenze führten. Statt leitende Fragestellungen systematisch zu verfolgen, ergehen sich die Ausführungen über weite Strecken in Aneinanderreihungen von Einzelschicksalen. Diese sind, obwohl sie sich in der Regel auf nüchterne Feststellungen beschränken, in ihrer Fülle bedrückend und zeigen die enorme Dimension dieser menschlichen Katastrophe. Die Aufzählung erfüllt eine elementare Funktion historischer Chronik: Sie hält, nun jederzeit abrufbar, gegen das Vergessen fest, was gewesen ist, und ist damit eine Art Ergänzung zu Lanzmanns neunstündigem «Shoa»-Film – allerdings mit dem Unterschied, dass zur integralen Lektüre dieses Bandes ein Mehrfaches an Zeit nötig ist. Ab sofort steht als Produkt der aufwendigen Aktenauswertung ein 39 Seiten umfassendes Register mit Personen- und Ortsnamen zur Verfügung. Es bleibt aber die Aufgabe, in zusätzlichen Schritten eine weitere Synthetisierung vorzunehmen und weitere Schlussfolgerungen zu entwickeln. Die dichten Tatsachenfeststellungen dienen zumeist nicht der Beantwortung von übergeordneten Fragestellungen und führen darum auch nicht zu entsprechenden Schlussfolgerungen. Der episch ausgebreiteten Dokumentation hätte es gutgetan, wenn, der französischen Wissenschaftskultur entsprechend, Zwischenbilanzen gezogen worden wären. Das Werk schliesst erst ganz am Schluss mit einer schmalen «conclusion». Die verwerteten Dokumente werden zwar ordentlich nachgewiesen, die Verwertung folgt aber keinen expliziten, am Forschungsstand anknüpfenden Fragestellungen und keiner deklarierten Vorgehensweise. Zweifellos bringt der Einbezug nichtschweizerischer Bestände, insbesondere der französischen Präfekturen, eine willkommene Erweiterung der Optik. In dem breit angelegten Werk finden sich aber keine reflektierenden Angaben zur Quellenlage. Das wären vor allem im ersten Teil besonders angebracht gewesen, weil die Auskünfte mehrheitlich auf Zeugnissen beruhen, die in Befragungen / Verhören abgegeben wurden. Dass es angebracht ist, den Quellen eine eigene Aufmerksamkeit entgegenzubringen, zeigen die wenigen Überlegungen zu den antisemitischen Stereotypen in amtlichen Dokumenten (S. 749). Die Arbeit ist solide dokumentiert, die Dokumentation aber nur schwer nachvollziehbar. Der Fussnotenbereich wird für ergänzende Personalangaben genutzt, die Nachweise zu den Quellen müssen auf den S. 1181–1341 herausgesucht werden. Alle deutschsprachigen Zitate werden in französischer Sprache präsentiert, was dem Werk sprachliche Homogenität gibt, aber keinen Direktzugang zum zitierten Original ermöglicht. Eine Hauptaussage besteht im Hinweis, dass nach der berüchtigten Grenzschliessung vom August 1942 schon bald wieder eine etwas durchlässigere Politik praktiziert werden sei und dass sich die Historiografie bisher zu stark an den Abschreckungserklärungen orientiert und der tatsächlichen Praxis zu wenig Rechnung getragen habe. Nach Meinung der Verfasserin habe die Schweiz durchaus ihre offizielle Abschreckungsdoktrin hochhalten können, zugleich hätte sie aber alle Hilfesuchende uneingeschränkt aufnehmen können und darum aufnehmen müssen. Der abhaltende Filter vor der Ankunft an SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 569 570 Rezensionen / Recensions / Recensioni der Schweizer Grenze sei derart engmaschig gewesen, dass der Schweiz keine «Invasion» gedroht hätte. Nicht nur sei das Boot nicht voll gewesen, es habe auch kein Risiko bestanden, dass es je überfüllt worden und deswegen gekentert wäre. Fivaz genereller Hang zu Gegendarstellungen zeigt sich unter anderem auch darin, dass nach ihrer Einschätzung entgegen bisheriger Annahmen die restriktive Aufnahmebereitschaft neben der Fremdenfeindlichkeit und dem Antisemitismus auch durch das verständliche Bestreben bestimmt gewesen sei, den «nördlichen Nachbarn» nicht mit einer offeneren Aufnahmepraxis zu provozieren (vgl. etwa S. 632 und 647). Gegenpositionen zur bisher publizierten Literatur und insbesondere zum UEK-Bericht beschränken sich in der Regel jedoch auf kurze Bemerkungen und werden in der Regel nicht weiter ausgeführt (vgl. etwa die Bemerkungen zu Guido Koller, S. 1268). Der bisher als hauptverantwortlich für die restriktiven Aufnahmepolitik gesehene Polizeichef Rothmund wird für die Zeit nach dem August 1942 als Befürworter einer humanitären Praxis dargestellt. Er habe sich über die zuvor von ihm selbst etablierte Antiüberfremdungsdoktrin hinweggesetzt, weil er diese nur für Friedenszeiten angemessen erachtet habe und nicht für Verhältnisse, die für Hilfsbedürftige lebensgefährlich seien. Fivaz schafft mit ihrer Darstellung einen Kontrast zwischen einer offiziellen allgemein harten Doktrin der Zurückweisung und einer weicheren offiziösen Praxis in Einzelfällen. Weiter wird unterschieden zwischen einer zumeist entgegenkommenden Haltung Rothmunds und der eigenmächtigen Abschiebepraxis von Seiten der Armee und der Grenzwache. Die Autorin versteigt sich zur Aussage, Rothmund erscheine ihr («il nous parait») der Einzige in Bern gewesen zu sein, der sich bemüht habe, die moralische Verpflichtung gegenüber den Asylsuchenden ernst zu nehmen (S. 666). Fivaz bestätigt aber die kritische Beurteilung, die Bundesrat von Steiger bisher erfahren hat, und sie betont mehrfach, dass Stellen des für die Aussenpolitik zuständigen EPD (heute EDA) eine deutlich restriktivere Haltung als die Polizeiabteilung des EJPD eingenommen hätten. Was bleibt nach absolvierter Lektüre für ein Gesamteindruck, abgesehen davon, dass die enormen Arbeitsleistung Respekt verdient? Es erscheint nicht möglich, sich auf einseitige Generalaussagen festzulegen, weil es, mit zeitlichen Nuancen, stets auch Gegenteiliges gegeben hat. Dazu passt Fivaz Feststellung, dass Aufnahme oder Zurückweisung wie eine Lotterie funktioniert habe (S. 1178). Dass Gegenteiliges zutreffen konnte, findet sich etwa in den Feststellungen, dass Fluchtentscheide in Richtung Schweiz von den verfolgten Juden unabhängig von der konkreten Haltung der Schweiz getroffen worden seien und dass andererseits die Abschreckung («la terrible dissuasion») doch gewirkt, das heisst zu einem Rückgang der Asylanträge geführt habe (S. 608). Ein einigermassen solider, aber nicht quantifizierbarer Gesamteindruck besteht hingegen darin, dass Flüchtlinge recht oft in mehrfachen Anläufen versucht hatten, in die Schweiz zu gelangen. Fivaz’ Schlusswort dürfte breite Zustimmung finden, dass der Name der Schweiz heute mit Respekt ausgesprochen würde, wenn sie trotz offizieller Abschreckungsdoktrin alle Asylsuchenden stillschweigend aufgenommen hätte (S. 1180). Georg Kreis, Basel Peter Huber, In der Résistance. Schweizer Freiwillige auf der Seite Frankreichs 1940–1945, Zürich: Chronos, 2020, 304 Seiten, 50 Abbildungen s/w. Seit mehr als zehn Jahren publiziert Peter Huber schwergewichtig zu Schweizern, die im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts in ausländische Kriegsdienste zogen. Zuerst untersuchte er die «Spanienkämpfer», dann Schweizer, die in der Fremdenlegion FrankSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni reichs Kolonien in Indochina und Nordafrika zu verteidigen halfen, und nun Schweizer, die im Zweiten Weltkrieg auf Seite der Résistance kämpften. Das vorliegende Buch ist vom Aufbau – bis hin zu identischen Kapiteltiteln – und der Methodik her äusserst nahe an Hubers Vorgängerstudie «Fluchtpunkt Fremdenlegion» und teilt dessen Stärken, leider aber auch dessen Schwächen.31 Wie schon bei seinem Vorgängerwerk liegt Hubers grosses Verdienst darin, eine bisher wenig beachtete Gruppe geschichtswissenschaftlich zu untersuchen. Dabei erfasst er sowohl jene Schweizer, die sich in Frankreich irregulär kämpfenden Gruppen anschlossen (im Verlaufe des Krieges als Forces françaises de l’intérieur (FFI) formalisiert), als auch jene, die in den ausserhalb von Frankreich aufgestellten regulären Truppen dienten (als Forces françaises libres (FFL) bezeichnet). Erneut war damit für Huber die aufwändige Arbeit verbunden, tausende militärgerichtliche Dossiers zu durchpflügen, um darin 466 Freiwillige zu identifizieren. Zusätzlich konnte Huber in dieser Studie auf französische Aktenbestände zurückgreifen. Anhand einer Stichprobe von 95 Freiwilligen analysiert Huber die Schweizer Freiwilligen dann genauer hinsichtlich ihres sozialen Profils, ihrer Motivation zum Kampf in der Résistance sowie ihres Schicksals während und nach dem Krieg. Für den Eintritt in die Résistance identifiziert Huber sechs Motivationskomplexe: 1.) «Antifaschismus», 2.) Patriotismus und «Frankophilie», 3.) Legionäre, die 1940 in England strandeten, 4.) Legionäre, die im Nahen Osten und in Nordfrankreich aufgrund der Kriegslage überliefen, 5.) Schwierigkeiten im Zivilleben in der Schweiz und 6.) der unscharfe Komplex «Freude am Militär, Suche nach Kameradschaft, ‹La mystique des maquis›» (S. 88). 31 Lebensläufe im zweiten Teil des Buches ergänzen die statistische Analyse und geben den Schweizer Freiwilligen ein individuelles Gesicht. Auch dieser Teil gehört zu den Stärken des Buches. Als grundsätzliche Schwierigkeit gegenüber der Vorgängerstudie stellt sich die Heterogenität der Schweizer Freiwilligen im Zweiten Weltkrieg heraus, die vor allem aus den unterschiedlichen Eintrittsbedingungen für die FFI und die FFL resultierte. Huber unterteilt die Schweizer Freiwilligen folglich aufgrund der Eintrittszeitpunkte, der Vorbedingungen und der Zugehörigkeit zu FFI oder FFL in fünf Kategorien. Die erste Kategorie bilden jene Schweizer, die sich zumeist ab 1944 aus der Schweiz den FFI anschlossen. Die zweite Kategorie bilden jene ebenfalls in den FFI tätigen Schweizer (zur Hälfte Doppelbürger), die bei Kriegsausbruch schon in Frankreich wohnhaft waren. Die dritte Kategorie besteht aus Auslandsschweizern ausserhalb des von den Achsenmächten besetzen Raumes, die sich der Résistance anschlossen. In der vierten Kategorie fasst Huber jene Schweizer zusammen, die als Fremdenlegionäre in der 13. Halbbrigade dienten und im Sommer 1940 nach dem Rückzug aus Norwegen in London zu den FFL übertraten. In der fünften Kategorie stehen jene Schweizer Fremdenlegionäre, die aufgrund der Kriegssituation im Nahen Osten (Sommer 1941) und Nordafrika (Ende 1942) zu den FFL wechselten. Aus dieser an sich sinnvollen Kategorisierung resultieren sehr kleine Fallzahlen in den einzelnen Kategorien, was bei einer sauberen statistischen Betrachtung viele Unsicherheiten schaffen würde (insbesondere, wenn in Einzelfällen nur von der Hälfte der Stichprobe Daten vorhanden sind). Jedoch fällt die methodische Diskussion der statistischen Analyse sehr dünn aus, und Begriffe wie Konfidenzintervall oder Signifikanz fehlen gänzlich. Auch Detailfehler wie unterschiedliche Prozentsätze bei gleichen absoluten Zah31 Vgl. hierzu die Rezension des Autors in der Militärgeschichtlichen Zeitschrift 77/2 (2018), S. 648–650. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 571 572 Rezensionen / Recensions / Recensioni len (S. 19) vermögen das Vertrauen in die Resultate nicht gerade zu heben. Unwillkürlich fragt man sich angesichts der in der Vorgängerstudie untersuchten Stichprobe von 421 Individuen, ob nicht eine Vollerhebung oder ein Fokus auf die FFI oder FFL sinnvoller gewesen wären. Auch eine methodische Diskussion zu den Militärgerichtsakten fehlt – wie schon in der Vorgängerstudie – fast völlig. Daneben fallen die vielen Detailfehler unangenehm auf, beispielsweise wenn aus einem mitrailleur in der Übersetzung ein Kanonier wird (S. 89), wenn anstelle des Fouriers der für die Schweiz unübliche eingedeutschte Furier steht (S. 244) oder wenn bei einer Gefängnisstrafe aus Jahren Monate werden (S. 113). Handwerklich bedenklich ist die Verwendung von Zeitungartikeln als weiterführende Literatur, wo bereits wissenschaftliche Studien vorliegen (S. 148). Gleiches gilt für unpräzise Sätze, die historisch falsch sind, wie etwa: «Zehntausende Ausländer haben an der Befreiung Frankreichs teilgenommen – das grösste Kontingent stellen die 30‘000 schwarzafrikanischen Kolonialsoldaten» (S. 8). Tatsächlich wurde Frankreich vor allem von Ausländern befreit – nämlich von hunderttausenden amerikanischen, britischen und kanadischen Soldaten. Auch die teilweise problematische Rezeption der Forschungsliteratur wirft Fragen auf. So ordnet Huber die weitgehend apolitischen Schweizer Fremdenlegionäre in die Legionstradition ein und beruft sich dabei auf die Studie von Michels zu deutschen Fremdenlegionären (S. 77 f.). Die Belegstelle bezieht sich allerdings auf die Fremdenlegionäre in Indochina, während Michels selber gerade für die erste Phase des Zweiten Weltkrieges aufgrund des Zuflusses von geflüchteten Spaniern, Deutschen, Polen und Tschechen eine von der Legion als Bedrohung empfunden Politisierung ausmacht.32 Fazit: Huber widmet sich in seiner Studie einer bisher wenig beachteten Gruppe von Schweizer Kriegsfreiwilligen, die er mit grossem Aufwand in den Quellen lokalisiert. Die Auswertung der gewonnen Daten lässt methodisch allerdings sehr zu wünschen übrig, was den wissenschaftlichen Wert der Studie leider erheblich schmälert. Adrian Wettstein, Birmensdorf Sevan Pearson, Wem gehört Bosnien? Die Nationalitätenpolitik der Kommunisten in Bosnien und Herzegowina 1943–1974, Stuttgart: ibidem, 2019, 530 Seiten, 4 Karten. Sevan Pearson beschäftigt sich in seiner Dissertation mit der Frage «Wem gehört Bosnien?» (S. 54). Es ist eine Frage, die spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts die Region umtrieb und bis heute aktuell geblieben ist. Pearson konzentriert sich in seiner Studie auf die Nationalitätenpolitik der jugoslawischen Kommunisten in den Jahren 1943 bis 1974. Einer Einleitung zu Forschungsstand und -desideraten folgt ein informatives, zeitlich weit ausholendes Kapitel zur Entwicklung der Nationalitätenfrage auf dem Gebiet Bosniens und der Herzegowina seit dem 12. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Pearson baut so zuerst ein reichhaltiges Fundament, um darauf seine Untersuchung zu entfalten. Diese Vorarbeit ist notwendig, weil sonst Ereignisse und Entwicklungen der Jahre 1943–1974 nur unzureichend verstanden und kontextualisiert werden können. Diesem Kapitel folgen vier weitere, welche die Zeiträume 1943–1959, 1960–1966, 1967–1971 und schliesslich 1971–1974 abdecken. Die eigentliche Untersuchung setzt im Zweiten Weltkrieg ein – ein Krieg, der für das Gebiet Bosnien und Herzegowina (BiH) nicht nur Besatzung, sondern auch Bürger32 Eckard Michels, Deutsche in der Fremdenlegion 1870–1965. Mythen und Realitäten, Paderborn 2006, S. 113 f. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni krieg bedeutete. Dabei spricht Pearson die Gräueltaten von «Ustaš e» und «Č etnik»-Einheiten an, bleibt aber hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der muslimischen Elite ungenau. Erwähnt werden zwar die Rekrutierungen für die Waffen-SS Divison «Handž ar» (S. 102), dass aber diese de facto 1944 auch Teile Nordostbosniens beherrschte und somit dem deutschen Versprechen auf Autonomie der bosnischen Muslime auch Zugeständnisse gefolgt waren, bleibt unerwähnt. Auch die zahlreichen von diesem Verband begangenen Gräueltaten werden nicht erläutert, obwohl dies zum Verständnis der in Studie mehrfach erwähnten Altlasten aus den Zweiten Weltkrieg beigetragen hätte. Anhand der unterschiedlichen Schreibweise «Muslime» mit grossem oder kleinem «M» / «m» erklärt Pearson, dass nicht nur die Deutschen, sondern auch die Kommunisten in BiH im Zweiten Weltkrieg einen Kampf um Personalressourcen führten. Während in den Jahren 1942/1943 in offiziellen Dokumenten von Muslimen mit einem grossen «M» die Rede ist, was einer impliziten Gleichstellung mit den beiden anderen ethnischen Gruppen, den Kroaten und Serben, gleichkommt, wird diese Bevölkerungsgruppe nach dem Krieg meist nur noch mit kleinem «m» genannt. Muslime galten fortan «nur» noch als religiöse Gemeinschaft und sollten sich entweder den Serben oder Kroaten in BiH zuordnen. Auf der Suche nach einer jugoslawischen Identität begann sich die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 auf die territoriale Selbstverwaltung zu konzentrieren. Dies förderte auch die wieder erwachende Diskussion um dem Status der Muslime. In der Volkszählung 1953 wurde neu die Kategorie «Jugoslawe» geschaffen, die viele bosnische Muslime wählten, da sie sich weder als Serben noch als Kroaten fühlten. Die Diskussion um den Status der Muslime blieb präsent. Waren sie nun eine religiöse Gemeinschaft oder doch ein «narod», eine Nation bzw. eine ethnische Gruppe? Seit 1965 beschäftigte nicht nur die «muslimische», sondern nun auch die «kroatische Frage» die bosnische und jugoslawische Politik. Der Sturz Aleksandar Rankovićs 1966 beflügelte die bereits anhaltenden Diskussionen um die verschiedenen Nationen in BiH und ihre Gleichberechtigung. Eine wesentliche Folge davon war, dass die Muslime in BiH im Mai 1968 per Resolution erstmals als Nation bezeichnet und damit auf die gleiche Ebene wie Kroaten und Serben gestellt wurden. Pearson arbeitet in seiner Studie gekonnt heraus, dass die Wahrung des interethnischen Friedens weiterhin ein Drahtseilakt blieb. Insbesondere die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der Regionen innerhalb BiHs verschärften schwelende lokale Konflikte, die wiederholt in Protokolle des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Bosnien und Herzegowinas, der Kommission für interethnische Beziehungen wie auch der Kommission für religiöse Angelegenheiten Eingang fanden (beispielsweise S. 258, 278, 333). Die «nationale Frage» – Schreckgespenst aller Kommunisten und von Josip Broz Tito mehrfach als gelöst bezeichnet – hatte sich in diesen Jahren wieder als permanentes Thema auf die politische Agenda geschlichen. Nationalistische Tendenzen verstärkten sich und wurden von Kroatien und Serbien als auch von unterschiedlichen, in der Emigration lebenden Gruppierungen noch verschärft. Die Jahre 1971–1974 waren geprägt von der Bekämpfung dieser verschiedenen nationalistischen Tendenzen, die sogar zu Ausschlüssen, beispielsweise von vier Angehörigen des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Kroatiens wie auch tausender weiterer Mitglieder führten. Gleichzeitig förderte aber der Bund der Kommunisten BiHs die Gleichberechtigung der einzelnen Ethnien weiter, woran auch ihre eigene wachsende Autonomie innerhalb der Föderation zu erkennen ist. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 573 574 Rezensionen / Recensions / Recensioni Pearsons detailreiche Studie bietet sowohl für Historiker*innen als auch Politikwissenschaftler*innen informative Einblicke in die Nationalitätenpolitik über drei Jahrzehnte. Sie offenbart erstens den ständigen Balanceakt zwischen Zentralismus und Föderalismus, zweitens die Anstrengungen zum Ausbau der Autonomie BiHs innerhalb der Föderation und drittens die anhaltenden Anpassungen politischer Verhältnisse im Spannungsfeld von Wahrung des interethnischen Friedens und wiedererstarkender nationaler als auch nationalistischer Tendenzen innerhalb BiHs. Zur Verständlichkeit beigetragen hätte sicherlich eine vorgängige Einführung der unterschiedlichen, teilweise parallel verwendeten Begriffe der religiösen, ethnischen und nationalen Gruppen. Hervorzuheben ist Pearsons umfangreiche Archivarbeit und die Erschliessung neuer Quellenbestände, die in seine Arbeit einflossen. Als Betrachter von aussen, ohne politische Agenda, ist es Pearson gelungen, die von ihm eingangs erwähnte ausgeglichene und multiperspektivische Herangehensweise umzusetzen und eindrückliche Einblicke in die Komplexität politischer Verhältnisse und Entwicklungen in BiH wie auch auf jugoslawischer Ebene zu ermöglichen. Dieses Buch bietet somit auch gute Ausgangsstudie, um die Konflikte der 1990er Jahre in dieser Region zu studieren. Franziska Anna Zaugg, Bern Darius Harwardt, Verehrter Feind. Amerikabilder deutscher Rechtsintellektueller in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main / New York: Campus, 2019, 560 Seiten. Mit seiner 2019 erschienen Dissertation zu «Amerikabilder deutscher Rechtsintellektueller in der Bundesrepublik» geht der Historiker Darius Harwardt (Universität Duisburg-Essen) der Ambivalenz der Amerikabilder in den Diskursen der Nachkriegszeit nach. Die Studie fokussiert sich dabei auf die rechtsintellektuellen Imaginationen der USA und untersucht, wie diese als Projektionsfläche von Akteuren der Neuen Rechten instrumentalisiert wurden. Im theoretischen Teil erläutert der Autor die Begrifflichkeiten der Arbeit, wobei er «Amerikabilder» dem normativ aufgeladenen Begriff «Antiamerikanismus» vorzieht. Ebenso spricht er hauptsächlich von «Rechtsintellektuellen» statt von «Neuen Rechten» und stützt sich damit auf ein Definitionsmerkmal, bei dem in der Forschung weitgehend Konsens herrscht. Der Autor analysiert einen breiten Quellenkorpus an Zeitschriften, Publikationen und Korrespondenzen rechtsintellektueller Kreise. Da die Arbeit von der frühen Nachkriegszeit bis zur Gegenwart reicht, integriert Harwardt auch Internetseiten und Diskussionsforen neurechter Gruppierungen in seine Untersuchung. Die Studie beschränkt sich zwar vornehmlich auf deutsche Rechtsintellektuelle, bezieht aber auch etwa den Cheftheoretiker der französischen Nouvelle Droite Alain de Benoist aufgrund seiner Relevanz für nationalrevolutionäre und «konservativ-revolutionäre» Strömungen der Neuen Rechten sowie den Schweizer Armin Mohler, der als bedeutender Vordenker der deutschen Neuen Rechten gilt, mit ein. Die Dissertation ist in vierzehn Kapiteln unterteilt, wobei die sieben thematischen Kapitel durch drei Fallbeispiele zum NATO-Doppelbeschluss, zum Zweiten Golfkrieg und zu den Anschlägen vom 11. September 2001 ergänzt werden, welche die unterschiedlichen Amerikabilder im heterogenen neurechten Milieu exemplarisch darstellen sollen. Die Wahl der Fallbeispiele ist – an Bourdieu angelehnt – mit «kritischen Ereignissen» begründet und mit methodischen Überlegungen der Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey ergänzt. Harwardt zeigt eindrücklich, wie ambivalente Amerikabilder den Rechtsintellektuellen als Chiffre dienten, um diese für ihre nationalistischen deutschlandpolitischen ZielsetSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni zungen zu verwerten. Negative Stereotype beschrieben die USA vor allem als einen Hort des Liberalismus und der kulturellen Dekadenz. Positive Amerikabilder hingegen waren in rechtsintellektuellen Kreisen durch die aussenpolitische Situierung der BRD bedingt, die die atlantische Partnerschaft als Schutzgarantie vor potenziellen sowjetischen Aggressionen interpretierten. Der Autor macht dabei vier rechtsintellektuelle Gruppen aus, die um die Deutungshoheit ihrer Amerikabilder konkurrierten: Der «konservativ-revolutionäre» Kreis um Armin Mohler und Caspar von Schrenck-Notzing, die die führende neurechte Zeitschrift Criticón begründeten. Die USA wurden darin als Urheber der Reeducation und einer moralisierenden Aussenpolitik beschrieben, um damit eigene machtpolitische Zwecke zu verschleiern. Nichtsdestotrotz waren diesem als Diskussionsplattform konzipierten Theorieorgan immer wieder ambivalente Amerikabilder zu entnehmen. Die zweite rechtsintellektuelle Gruppe politisierte im Umfeld der CDU, genannt sei etwa Kurt Ziesel mit dem Deutschland-Magazin, in dem der Antikommunismus gegenüber dem Antiliberalismus priorisiert und diese Linie auch konsequent durchgesetzt wurde. Die um Henning Eichberg entstandene Nationalrevolutionären verteidigten ethnopluralistische Positionen und grenzten sich habituell von anderen rechten Strömungen ab. Ihnen erschien «ein McDonalds in der Fussgängerzone bedrohlicher als ein Panzer auf der Hauptstrasse» (S. 491). In ihrer radikalen Ablehnung der USA offenbarte sich auch eine strategische Inflexibilität, die trotz kulturalistischer Stereotype und antikapitalistischer Rhetorik keine Anschlussfähigkeit zu generieren vermochte. Als letzte Gruppe werden Protagonisten des intellektuellen Rechtsextremismus mit der Zeitschrift Nation Europa und Deutschland in Geschichte und Gegenwart aufgeführt, die Kontinuitäten zu antiamerikanischen und antisemitischen Zuschreibungen des Nationalsozialismus aufwiesen, jedoch zumindest selektiv modernisierende Impulse aus den nationalrevolutionären und «konservativ-revolutionären» Kreisen aufnahmen. Mit dem Präsidentschaftsantritt Ronald Reagans, der im rechtsintellektuellen Milieu vermehrt als Zeitenwende des Konservatismus gedeutet wurde, marginalisierten sich die zunächst doch zahlreichen neutralistischen Stimmen aufgrund mangelnder Anschlussfähigkeit an die etablierte Politik und orientierten sich stärker am amerikanischen Neokonservatismus. Diese Entwicklung verstärkte sich in den Debatten um den Zweiten Golfkrieg und den Islamismus als sich rechtsintellektuelle Diskurse mit rechtspopulistischen Argumentationen anreicherten. Trotz der wiederholten Anführung von Modernisierungsprozessen bleibt allerdings deren konkreter Inhalt vage, hier wäre es interessant gewesen, mehr zu den Erneuerungsbestrebungen rechtsintellektueller Protagonisten zu erfahren, gerade bei nationalrevolutionären oder «konservativ-revolutionären» Figuren. Mohler etwa, welcher der zeitgenössischen Charakterisierung folgend als Gaullist dargestellt wird, instrumentalisierte den Gaullismus lediglich – analog zu den Amerikabildern –, um «konservativ-revolutionäre» Theorieelemente in moderner Verpackung in bundesrepublikanische Debatten einzuschleusen und beweist somit eine gewisse Adaptionsfähigkeit an die politische Struktur der Nachkriegszeit. Lohnend wären ausserdem Überlegungen zum Format und zum strategischen Zweck einzelner rechtsintellektueller Medien gewesen, die zum Teil etwas zu stark mit der ideologischen Haltung der Gründer beziehungsweise der vier unterschiedenen rechtsintellektuellen Gruppen identifiziert werden und somit die für die Neue Rechte so bedeutende strategische Dimension bisweilen verloren geht. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 575 576 Rezensionen / Recensions / Recensioni Trotz dieser kleineren Einwände bietet Harwardt eine äusserst lesenswerte Arbeit, die die rechtsintellektuellen Diskurse zu Amerikabildern klug mit ihren Protagonisten und Netzwerken verbindet und eindrucksvoll historisch kontextualisiert. Da der Autor nicht nur die Entwicklung der rechtsintellektuellen Amerikabilder über einen breiten Zeitraum nachzeichnet, sondern auch noch lebende Akteure in die Untersuchung integriert, ist diese angenehm zu lesende Studie auch für an der gegenwärtigen Neuen Rechten interessierte Leser bestens geeignet. Cenk Akdoganbulut, Freiburg i.Ü. Philippe Vonnard, Nicola Sbetti, Grégory Quin (eds.), Beyond Boycotts. Sport during the Cold War in Europe, Berlin / Boston: De Gruyter, 2018, 234 pages. «Le passé est, par définition, un donné que rien ne modifiera plus. Mais la connaissance du passé est une chose en progrès, qui sans cesse se transforme et se perfectionne».33 L’ouvrage dont on rend compte ici répond parfaitement à ce que Marc Bloch écrivait il y a plus de 70 ans. Si elle est caractérisée comme «froide» sans conflits armés majeurs les opposant directement, la «guerre» qui s’ouvre en 1947 pour s’achever en 1991 avec la dislocation de l’URSS a souvent été décrite comme l’opposition entre deux mondes irréconciliables, totalement isolés l’un d’avec l’autre. Les relations étaient réduites au strict nécessaire et on évitait à tout prix de s’influencer mutuellement de peur de donner à ses propres populations l’impression que c’était mieux de l’autre côté. En s’appuyant sur les domaines politiques, militaires, diplomatiques, économiques, technologiques, scientifiques, l’historiographie a martelé à l’envi ces postulats avec le risque de tomber – consciemment ou inconsciemment – dans un militantisme parfois peu compatible avec une approche dite scientifique. Avec leur ouvrage issu d’une session de la 5e rencontre des jeunes chercheurs en histoire contemporaine à Barcelone en 2015, les éditeurs s’inscrivent dans une nouvelle tendance historiographique perceptible depuis quelques années. Loin d’aboutir à l’idée que finalement ces deux mondes «s’aimaient» – ce qui serait ridicule –, ils renforcent la thèse selon laquelle ces mondes ne s’ignoraient pas ou tout au moins admettaient des points de rencontre. Le sport présente à cet égard un champ idéal d’études. «Divisés mais pas déconnectés» pour reprendre le titre d’un ouvrage paru en 2011, ces mondes, en s’affrontant sur un terrain de football, d’athlétisme, dans une salle de basketball ou une piscine, se sont influencés ou ont tenté d’influencer l’adversaire – qui restait un ennemi –, sans compter que ces rencontres pouvaient générer une meilleure compréhension de l’autre même pour le dénigrer.34 Certes les boycotts n’ont pas manqué, renforçant la thèse initiale de l’opposition dure et musclée : que l’on pense aux Jeux Olympiques de Melbourne en 1956, de Moscou en 1980 et de Los Angeles en 1984. Mais en d’autres occasions, pour des événements peut-être moins médiatisés, des rencontres ont vu s’affronter des équipes de l’Est et l’Ouest dans des parties où la suprématie des uns sur les autres restait l’enjeu mais où les sourires et les poignées de main avant ou après le match matérialisaient un respect des règlements et le sentiment qu’on partageait les mêmes sensations. 33 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris 1952, (Cahier des Annales, vol. 3) p. 36. 34 Tobias Hochscherf, Christopher Laucht, Andrew Plowmann (dir.), Divided, but not Disconnected. German Experiences of the Cold War, New York 2011. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni C’est à ces rencontres que les contributions rassemblées ici se sont intéressées. Se focalisant surtout sur les compétitions qui eurent lieu sur le continent européen, elles montrent comment il faut les comprendre dans un contexte qui restait tendu. Le cas de la ville de Trieste à la frontière de deux mondes (1945–1948), la spécialisation et la scientifisation des méthodes d’entraînement dans le ski de fond telles qu’elles sont comprises en Suède et en URSS depuis les années quarante, la politique sportive du régime franquiste envers le Bloc de l’Est, les interactions du sport soviétique en Europe, le rôle de l’UEFA dans les échanges Est-Ouest entre 1945 et 1955, le cas de la Conférence européenne sur les Sports dans les années 1970 et 1980, l’impact des basketteurs américains dans les bases militaires en France, les jeunes pionniers ghanéens dans l’orbite soviétique, le rôle du jeu d’échec dans la Guerre froide à travers le «match du siècle» Spassky-Fischer à Reykjavik, la tournée des joueurs de ping-pong chinois en Suisse en 1972, le menu proposé est suffisamment riche et varié pour nous faire entrer dans les dédales des confrontations et dégager une explication à ces événements. Car sous les sourires et les poignées de main que les photographes immortalisaient à loisir, que se cachait-il? Le célèbre aphorisme de George Orwell à l’issue de la tournée réalisée en Grande-Bretagne par le Dynamo de Moscou en novembre 1945 – «Le sport c’est la guerre, les fusils en moins » – résume-t-il complètement ce qui s’est passé jusqu’à la chute du Mur en 1991? Fallait-il préférer de toute évidence ces confrontations en culottes courtes à tout affrontement armé, une victoire ou une défaite sur un terrain de football valant de toute manière mieux que des milliers de morts sur un champ militaire? Comme le montre la plupart des articles, la diplomatie n’était jamais absente de ces manifestations – le joueur quel qu’il soit pouvant troquer sa tenue de sportif contre l’uniforme de l’officier ou de l’agent de renseignement une fois la partie terminée – et la volonté d’en découdre autrement que sur un champ de bataille pour assurer la suprématie d’un camp ou de l’autre, non plus. Mais en suivant Martin Polley de la Montfort University dans une postface très éclairante, on peut aussi émettre l’idée que ces confrontations faisaient entrer les intervenants dans les univers plus personnels de contacts et d’interactions, que ce soit entre les officiels qui organisaient et encadraient ces événements ou les groupes de joueurs qui s’y affrontaient. Une rencontre n’est jamais innocente et laisse des traces sur les participants à titre individuel ou collectif même s’ils restent convaincus – de gré ou de force – qu’ils se trouvent dans le bon camp. En laissant de côté des aspects spectaculaires qui ont amené aux boycotts et qui ont fait l’objet de nombreuses études, en laissant aussi de côté les grands événements – tels les Jeux Olympiques – médiatisés à outrance, ces jeunes historiens nous invitent à déplacer notre regard vers des confrontations peut-être moins importantes, plus discrètes mais tout aussi révélatrices de la place du sport dans les sociétés, à l’Est comme à l’Ouest. Dans ses Huit leçons sur le sport, Paul Yonnet écrit que «le phénomène sportif repose entièrement sur une demande sociale constituée de deux éléments: une demande de sport direct et une demande de spectacle.»35 Durant la Guerre froide, le sport n’a pas échappé à cette dimension. De ce point de vue, aller au-delà des boycotts, c’est aussi envisager l’après-guerre. Laurent Tissot, Neuchâtel 35 Paul Yonnet, Huit leçons sur le sport, Paris 2004, p. 35. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 577 578 Rezensionen / Recensions / Recensioni Adrian Hänni, Terrorismus als Konstrukt. Schwarze Propaganda, politische Bedrohungsängste und der Krieg gegen den Terrorismus in Reagans Amerika, Essen: Klartext, 2019, 387 Seiten, 4 Abbildungen. Ein oft übersehener Aspekt des seit 20 Jahren andauernden «Krieg gegen den Terror» ist die Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise zum Thema. In den USA und – in einem geringeren Masse – in Europa schossen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Studiengänge und Publikationen wie Pilze aus dem Boden, die sich dem Phänomen «Terrorismus» und dessen Bekämpfung widmeten. Dieses Feld der «orthodoxen» Terrorismusforschung wurde wiederholt scharfer Kritik unterzogen. Neben methodischen und theoretischen Schwächen wurden insbesondere staatszentrierte Prioritäten und Perspektiven und damit verbunden eine mangelnde Distanz von Forschern und Forschungsinstituten zu staatlichen Sicherheitsorganen bemängelt.36 Adrian Hännis Dissertation steht in der Tradition eines kritischen Zugangs zur Terrorismusforschung. Wie der Autor schreibt, sei sie als Beitrag zur notwendigen Aufarbeitung der «Militarisierung der ‹Antiterror-Politik› in westlichen Demokratien» (S. 20) zu verstehen. Sein Anspruch ist dabei nichts Geringeres als die Begründung einer kritischen Terrorismusgeschichte. Hänni interessiert sich nicht für eine essentialistische Genealogie des Terrorismus, vielmehr will er dessen historische Kontinuitäten als «sozial-diskursiv konstruiertem Gegenstand» (S. 35) herausarbeiten. Die zentrale These seiner Arbeit lautet, dass es sich beim «Krieg gegen den Terror» nach 2001 keineswegs um eine Schöpfung aus dem Nichts handle, sondern dass dieser eng mit dem Terrorismusdiskurs sowie den Antiterrorismus-Praktiken unter US-Präsident Ronald Reagan und damit «untrennbar mit der Geschichte des Kalten Kriegs verknüpft» sei. Hänni beschreibt, wie Medien, Wissenschaft und Politik gegen Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre verschiedene Formen der politischen Gewalt wie Bombenanschläge, Geiselnahmen und Flugzeugentführungen als Teil eines grösseren Phänomens – namentlich Terrorismus – zu interpretieren begannen. Diese Entwicklung ging einher mit der Formierung von terrorism studies als einem eigenständigen Wissenschaftsfeld. Es hätte der Arbeit nicht geschadet, das Spektrum an unterschiedlichen Positionen und Meinungen der dabei federführenden Terrorismusexperten etwas detaillierter und differenzierter wiederzugeben.37 Hänni betont aber zurecht, dass es diesen «Terrorologen» nie gelang, die Deutungshoheit über das Phänomen zu erlangen und dass sie dieses stattdessen mit Massenmedien sowie Vertretern der US-Regierung teilen mussten. Ähnlich wie die «Sowjetologie» habe der Terrorismusdiskurs somit «im Zwischenraum von politischem Wissen und wissenschaftlichen Diskursen» (S. 56) verharrt. Dies bringt Hänni zum Committee on Present Danger (CPD), einer antikommunistischen Interessensgruppe, die sich wie ihre namensgleiche Vorgängerorganisation aus den 1950er Jahren der Bekämpfung einer – bewusst überzeichneten – «sowjetischen Bedrohung» verschrieb. Diese Faktoren – die Entdeckung des Terrorismus als eines spezifischen Problemfeldes sowie der Rekurs auf die «sowjetischen Gefahr» – bildeten die Rahmenbedingungen für den Kern des Terrorismusdiskurses der Reagan-Administration: ein von der Sowjetunion 36 Siehe z. B. Richard Jackson, The Core Commitments of Critical Terrorism Studies, in: European Political Science 6/3 (2007), S. 244–246. 37 So wie etwa bei Lisa Stampnitzky, auf deren Forschung sich Hänni laut eigener Aussage in Kapitel 2 stark stützt. Vgl. Lisa Stampnitzky, Disciplining Terror. How Experts Invented Terrorism, New York 2013. SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni gelenktes globales Terror-Netzwerk als existenzielle Bedrohung für die USA und westliche Demokratien. Anhand der Jerusalem Conference on International Terrorism (JCIT) im Juli 1979 sowie dem Erscheinen von Claire Sterlings The Terror Network zwei Jahre später rekonstruiert Hänni die Herausbildung dieser Vorstellung. Pikanterweise basieren zahlreiche Schlüsselpassagen in Sterlings Werk – der «repräsentativste, einflussreichste und konstitutivste Einzeltext des amerikanischen Terrorismusdiskurses der frühen 1980er Jahre» (S. 95) – auf gezielt verbreiteten Desinformationen, wie Hänni mittels mehreren Fallbeispielen überzeugend demonstriert. Die Idee des von der Sowjetunion kontrollierten Terrornetzwerks habe folglich in «Schwarzen Propagandaoperationen westlicher Geheimdienste» gegründet (S. 165), was ihrer Verbreitung durch die Reagan-Administration, darunter viele vormalige CPD-Mitglieder, jedoch keinen Abbruch tat. Hänni zeigt aber auch auf, dass sich dieser Prozess bei weitem nicht immer friktionslos vollzog und sich etwa unter Geheimdienstanalysten punktuell Widerstand dagegen regte. Hänni verortet Mitte 1980er Jahre eine Transformation des Terrorismusdiskurses, in dem nun eine Reihe sozialistischer bzw. radikal-totalitär islamischer «Staatssponsoren» die zentrale Rolle im «Netzwerk» einnahmen. Diese Verschiebung erlaubte – anders als im Falle der Sowjetunion – denn auch die Formulierung einer militärischen Antwort auf vermeintliche terroristische Bedrohungen. Dass sich im Januar 1986 erstmals eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung für den Einsatz militärischer Gewalt gegen Terrorismus aussprach, belege nicht zuletzt die Effektivität des Terrorismusdiskurses als «Machtstrategie». Der Militärschlag gegen Libyen im April 1986 blieb aber dennoch die Ausnahme. Stattdessen habe der Iran-Contra-Skandal gegen Ende 1986 die Militarisierung des Terrorismusdiskurses und seiner Antiterror-Praktiken reversiert, die nun einstweilen der Logik der Strafverfolgung und weiterer nicht-militärischen Massnahmen folgten. An dieser Stelle hätte man sich eine etwas detailliertere Aufarbeitung dieses Gegenprozesses gewünscht, nicht zuletzt auch mit Blick auf notwendige Vorbedingungen für eine analoge Reversion gegenwärtiger Antiterrorpraktiken militärischer Art. Zum Schluss bettet Hänni die Paranoia vor dem sowjetischen Terrornetzwerk in einen breiteren Kontext imaginärer Verschwörungen und deren Charakteristika ein. Sie alle seien «monolithisch, zentralisiert, absolut böse und apokalyptisch» (S. 328). Zugleich weist der darauf hin, dass solche politischen Hysterien nicht spontan entstünden, sondern genau dann am meisten Wirkung entfalteten, «wenn sie von Spitzenpolitikern wie dem Präsidenten der USA für real erklärt» (ebd.) würden – eine Warnung, wie sie angesichts von Corona, QAnon und der zunehmenden Dämonisierung der jeweiligen Gegenseite im politischen Diskurs der Vereinigten Staaten nicht aktueller sein könnte. Michel Wyss, Zürich / Leiden Sarah Kiani, De la révolution féministe à la Constitution. Mouvement des femmes et égalité des sexes en Suisse (1975–1995), Lausanne: Antipodes, 2019, 286 pages. L’ouvrage de Sarah Kiani, De la révolution féministe à la Constitution, fait partie de ces rares livres scientifiques qui provoquent successivement intérêt, admiration, émotion et agacement; ce dernier sentiment n’étant déclenché que par les évènements racontés. Issu de son travail de thèse, il s’attèle à retracer le rôle du mouvement des femmes de Suisse sur les politiques fédérales en matière d’égalité hommes-femmes entre 1975 et 1995. Comme le titre le suggère, l’autrice s’intéresse avant tout à l’impact de certaines actions non conventionnelles portées par des groupes non institutionnalisés (révolution SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 579 580 Rezensionen / Recensions / Recensioni féministe) sur les procédés législatifs (Constitution). Fondée sur un riche corpus de sources mélangeant documents officiels, articles de presse, lettres et entretiens, l’analyse est structurée par l’utilisation de concepts de la science politique et de la sociologie (théorie des mouvements sociaux, notion de champ). Après un bref chapitre revenant sur l’histoire des mouvements des femmes en Suisse, le livre aborde une première période qui s’étend de la conception de l’initiative destinée à inscrire l’égalité professionnelle et familiale entre les sexes dans la Constitution (le futur article 4 bis) à son adoption le 14 juin 1981. Lancée en 1975, la campagne pour l’initiative se base, entre autres, sur des idées plus anciennes (égalité salariale) et de nouvelles opportunités (volonté de mieux s’intégrer dans l’économie internationale) que l’autrice retrace dans une première sous-partie. Elle explore ensuite la constitution de ce mouvement social, en réussissant le tour de force d’en transmettre le caractère instable et parfois accidentel. Elle montre alors, et c’est un des points les plus intéressants de cet ouvrage, des imbrications entre les «vagues» féministes et des familles idéologiques (libéralisme et socialisme) plus fréquentes et plus complexes que la littérature ne l’a jusqu’ici soutenu. Cette première partie se termine sur le constat de l’influence du nouveau mouvement des femmes (MLF, puis féministes marxistes) sur la politique officielle grâce à l’utilisation d’un répertoire d’actions renouvelé (contestations variées dans l’espace public et usage du droit d’initiative); influence marquée par la domination d’une conception de l’égalité alors portée par les féministes marxistes, celle de l’égalité salariale. La deuxième période porte sur les stratégies adoptées par le mouvement des femmes pour que soit mise en pratique l’égalité professionnelle et familiale nouvellement reconnue par la Constitution. L’autrice introduit les groupes qui se créent à la suite de l’adoption de l’article 4 bis afin de passer «de l’égalité formelle à une égalité de fait» (p. 134). Vient ensuite l’examen des différentes stratégies mises en place: initiatives parlementaires, création de bureaux de l’égalité cantonaux, travail syndical, activisme au sein du Parti socialiste, le tout couronné par une analyse très poussée de la grève des femmes du 14 juin 1991. Se dessine alors, sur cette période, un champ où prédomine les féministes socialistes et marxistes, ce qui met au centre la question de l’égalité professionnelle (et surtout salariale) et des moyens d’action renouvelés (la grève), mais, comme le souligne l’autrice, ce groupe est loin d’être homogène, partagé entre membres de la gauche traditionnelle et d’autres de la Nouvelle gauche (MLF, entre autres). La troisième période traite de l’après-grève jusqu’à l’adoption de la loi sur l’égalité (LEg) le 24 mars 1995, avec l’objectif de comprendre pourquoi et par qui les thématiques féministes sont portées, reprises, en partie dénaturées. Le chapitre se concentre d’abord sur les structures d’opportunités politiques permettant d’expliquer que la question de l’égalité de fait soit prise en compte dans la politique fédérale (entre autres grève); une analyse contextuelle particulièrement intéressante, large et précise dans sa recherche des causes de ce succès. L’autrice s’arrête ensuite sur les différentes opinions concernant un projet de loi focalisé sur les inégalités liées au travail salarié avant de clore cette longue enquête sur la rencontre entre l’idée d’égalité et celle de rentabilité dans les années 1990. Cette appropriation d’idées féministes par la sphère économique aura le mérite d’accélérer la mise en place de certains outils nécessaires à rentabiliser les investissements faits sur les femmes (formation) comme les crèches, mais elle n’aura que celui-là, mettant notamment de côté d’autres propositions comme la redistribution des tâches ménagères. Ainsi, sur la fin de la période, le constat est sans appel. Après avoir réussi à imposer ses thématiques (égalité salariale et professionnelle) au cœur du champ féministe et influé sur le conSZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni tenu du concept d’égalité ainsi que sur certaines lois en partie grâce à son institutionnalisation, le mouvement des femmes assiste à la marchandisation de ses idées, en guise d’un premier backlash annonciateur du 14 juin 2019. Traitant d’un passé très récent et d’une actualité encore plus que vive, l’ouvrage de Kiani ne souffre que du défaut de sa principale qualité, sa richesse: face au foisonnement des informations et des thématiques, quelques repères chronologiques et une structure plus claire auraient parfois été bienvenus. Ce livre a l’immense mérite de s’attaquer à une période peu étudiée et à en rendre la complexité tout en étant, comme rarement, précieux pour la compréhension du présent. Les féministes d’aujourd’hui s’agaceront sans doute des lenteurs persistantes et d’une violence discrète de certains procédés de consultation du Conseil fédéral, mettant sans vergogne de côté des organisations jugées trop radicales. Elles seront sans doute émues de croiser, dans un livre d’histoire, des femmes infatigables, telle Maryelle Budry, qui arpentent aujourd’hui encore les manifestations, et de réaliser que la grève de juin 1991 a été aussi belle, joyeuse et contestataire que celle de juin 2019. Laure Piguet, Genève Ulrike Jureit, Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment, Göttingen: Wallstein, 2020, 284 Seiten, 32 Abbildungen. Der Klappentext ist kurz. «Über einen körperlich-emotionalen Zugang zur Geschichte» steht da, ein knapper Satz angesichts des breiten Themenspektrums, das Ulrike Jureit in ihrem Buch aufmacht. Ihr geht es um das Nachspielen militärischer Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts durch Privatpersonen im 21., und sie will es genau wissen: Was bedeutet der Boom dieser Reenactments für Geschichtskultur, Erinnerung und den kollektiven Umgang mit der Vergangenheit? Das Nachspielen von Schlachten, zeigt die Verfasserin, ist kein neues Phänomen. Bereits im 19. Jahrhundert wurden sie als Umzüge, pageants, historische Festspiele und «lebende Bilder» nachgestellt. Jureit verweist dabei ausführlich auf die schweizerischen Forschungen zu diesen theatralischen Erinnerungsevents. Heutige Kriegsspieler haben mit ihren Vorgängern einiges gemeinsam. Die Grenze zur verschwundenen und unzugänglich gewordenen Vergangenheit soll überwunden werden; die Toten von damals – wenn auch nur für wenige Stunden – zum Leben erweckt, damit man unter sie treten kann und mitmachen. Das Kriegsspiel erzeugt ein fiktives «wir», das Lebende und Tote einschliesst. Diese erste Person Plural ist allerdings nicht geschlechtsneutral. Die Reenactors, darauf verweist Jureit mehrfach, sind fast ausschliesslich Männer. Sie werden immer zahlreicher, in Europa wie in den USA, und ihre Aufführungen sind publikumswirksam. Das grösste mittelalterliche Reenactment weltweit ist mittlerweile die Schlacht von Grunwald/ Tannenberg mit 2000 Spielern und 200’000 Zuschauern am 600. Jahrestag 2010. Nachgespielte Schlachten des 19. und 20. Jahrhunderts, auf die sich Jureit konzentriert, sind ähnlich erfolgreich. Zum 150. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg 2013 versammelten sich dort 15’000 kostümierte Kriegsspieler vor 200’000 Zuschauern. Das «War and Peace Revival» im britischen Kent, in dem vor allem Kämpfe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nachgespielt werden, findet jährlich vor fast 100’000 Zuschauern statt – ein touristisches Retro-Spektakel mit mehr als 800 Verkaufsständen, Comedy and Tanzmusik aus den 1940ern bis 1960ern. Was macht diese Kriegsspiele so erfolgreich? Reenactments im modernen Sinn entstanden in den USA, aus dem ritualisierten Händeschütteln ehemaliger Gegner im Bürgerkrieg, das erstmals 24 Jahre nach den Ereignissen, 1887, organisiert wurde. Als die letzten Veteranen verstorben waren, wurde es SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 581 582 Rezensionen / Recensions / Recensioni 1938 und 1963 von kostümierten Freiwilligen aufgeführt, ergänzt vom Nachspielen besonders dramatischer militärischer Episoden. Geprägt wurden sie vorwiegend von Erzählmustern der besiegten Südstaaten: Schon 1963 bemerkte der Historiker Karl S. Betts, dass der Süden den Krieg verloren haben mochte, aber die Hundertjahrfeier offensichtlich gewonnen. Bis heute sind es fast ausschliesslich weisse mittelständische USAmerikaner, die bei diesen Kriegsspielen ihre nationale Zusammengehörigkeit in einem religiös aufgeladenen Ritual feiern. Die Grenzen zwischen gespieltem und realem Bürgerkrieg können dabei bedrohlich durchlässig werden. Im Sommer 2017 besetzten bewaffnete weisse Suprematisten das Schlachtfeld von Gettysburg, um es gegen angeblich drohende «Entweihungen» zu verteidigen. Im Gegensatz zu Kriegsspielern waren ihre Waffen mit scharfer Munition geladen; einer schoss sich versehentlich ins Bein. Ulrike Jureits Buch erschliesst die umfangreiche Forschungsliteratur über die amerikanischen Kriegsspieler und ergänzt sie um eingehende Darstellungen der Reenactments europäischer Gegenstücke, in Form historischer Reportagen als Ortstermine bei den Feiern zum 200. Jahrestag der Schlachten von Grossgörschen und Leipzig 2013, dem 100. Jahrestag der Schlacht von Tannenberg/Skzotowo und dem 150. Jahrestag der Schlacht von Als im dänisch-preussischen Krieg 2014. Den Kriegsspielern, die sie interviewt hat, geht es aber nicht um die Vergemeinschaftung im Namen der Nation. «Wir wollen das erleben, aber wir wollen das vor allen Dingen auch den Zuschauern zeigen», sagt einer. «Und das ist genau der Punkt – es steigt der Adrenalinspiegel, wir wissen, es ist nicht echt, aber es fühlt sich echt irgendwo an, es ist aufregend.» So intensiv sich die Reenactors um exakte Rekonstruktion von Ausrüstung und militärischen Abläufen bemühen, so drastisch reduziert ist ihre Auswahl der wiedergegebenen Szenen. Die Kriegsspieler zeigen zwar Verwundete und «Tote» (beides wenig begehrte Rollen; sie werden vorher per Losentscheid bestimmt); weggelassen wird aber alles, was weder der Selbstdarstellung der Spieler noch dem Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer entspricht. Also keine toten Pferde; keine Massaker an Gefangenen und Zivilbevölkerung; keine standrechtlichen Erschiessungen von Deserteuren und angeblichen Spionen, ganz zu schweigen vom qualvollen Tod von Verwundeten und Erkrankten und Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen. All das sparen die Reenactments aus; im Namen von historischer «Authentizität». Reenactments, haben Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld der Geschichtspädagogik und der Erinnerungskultur formuliert, zeigten «lebendige» historische Episoden und ermöglichten individuelle und «sinnliche» Aneignung der Vergangenheit als Spass, Emotion und Selbstverwirklichung. Stimmt alles, meint Jureit, die Ergebnisse sind allerdings etwas unheimlich. Denn Krieg ist dann am aufregendsten, wenn man dabei kein körperliches Risiko eingeht und ausserdem in den eindrucksvollsten Posen fotografiert werden kann – neben öffentlichen Kriegsspielen gibt es auch stärker gewaltbetonte «twilight tacticals», die ohne Zuschauer, aber mit Fotografen stattfinden. Bei aller Betonung des Authentischen ist das Kriegsspiel offensichtlich persönliche Wunscherfüllung mit Hilfe jener spezifischen Figuren und Ereignisse aus der Vergangenheit, die dafür am besten geeignet sind. Die Verfasserin müht sich gewissenhaft, die unterschiedlichen Erklärungsansätze für diese Spektakel zu referieren. Kollektives Gedächtnis als positive «Identitätsstiftung», Spiel als Gegenwelt, Zeitreise als Pilgerschaft und temporäre Verwandlung: die gelehrten Definitionen von «Erinnerungskultur» erweisen sich als derart dehnbar, dass Reenactments sogar für ihr «bildungspolitisches Potential» gelobt werden – von touristischer SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 Rezensionen / Recensions / Recensioni Verwertung ganz zu schweigen. Der Leipziger Oberbürgermeister bezeichnete 2013 das Reenactment zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht sogar als «ernsthaftes Bemühen um Antworten auf die Frage nach der Zukunft Europas». Das ist fast so grotesk wie die Annahme, jede Form von kulturellem Erinnern sei positive Identitätsstiftung, wie Jureit zeigt. Reenactments, die sich strengen Authentizitätsregeln verpflichten, reproduzieren mit den Ordnungssystemen von früher damit auch deren rassistische und völkische Unterscheidungen. Worauf, fragt sich die Autorin am Schluss, sind diese Inszenierungen eigentlich die Antwort? Die meisten Reenactors in den USA haben, trotz des überdurchschnittlichen Anteils an ehemaligen Militärangehörigen, keine eigenen Kriegserfahrungen, wie die Forschung zeigt. Viele sehnen sich nach eigenem Kriegserleben, um die Lücke zwischen dem Betrachten von Geschehnissen auf dem Bildschirm und dem eigenen Körper zu füllen. Die souveränen Machtgefühle, mit der selbst simulierte Gewaltausübungen einherzugehen scheinen, so ihr Fazit, sagen mehr über die Sehnsüchte der Gegenwart aus als über die historischen Geschehnisse, die sie zu rekonstruieren wiedergeben. Reenactments, könnte man knapper zusammenfassen, sind nicht lebendig. Sondern artifiziell und untot: Weisses Ego-Kino. (Ich hätte gerne mehr über Kriegsfilme als direkte Vorlagen gelesen.) Am deutlichsten wird das, wenn man den Blick über die USA und Europa hinaus erweitert. Wird in Kenia oder Grossbritannien der Mau-Mau-Aufstand von 1953/56 nachgespielt – etwa 100 weisse und vermutlich weit über 80’000 afrikanische Opfer? Werden in Frankreich und Algerien die Unabhängigkeitskriege 1954–1962 (etwa 300’000 Opfer) oder in Indien und Pakistan die partition riots von 1947/48 (zwischen einer Viertelmillion und einer Million Tote) reinszeniert? «Magie des Authentischen» heisst das Buch. Mit Magie ist gewöhnlich das Unerklärbare gemeint, die Wirkung auf den Betrachter vor dem Vorhang, hinter dem etwas abläuft, das ihm ungreifbar bleibt. Von diesem Zauber bleibt nach der Lektüre nichts übrig. Hinter dem Vorhang sind melancholische weisse Männer, die etwas wiederhaben wollen, von dem sie glauben, dass ihre Vorgänger es hatten: das starke Gefühl. Aber genau das unterscheidet sie von ihnen. Wer das massenhafte industrialisierte Töten erlebt hat, das zeigen alle Ego-Dokumente von Soldaten der letzten beiden Jahrhunderte, der will es wirklich nicht wiederholen. Valentin Groebner, Luzern SZG/RSH/RSS 71/3 (2021), 493–583, DOI: 10.24894/2296-6013.00093 583