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Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits im Korrespondenznetz der Gelehrtenrepublik (Lavater, Herder, Hamann)
xviii.ch Band 11Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits im Korrespondenznetz der Gelehrtenrepublik (Lavater, Herder, Hamann)10.24894/2673-4419.00006 02.11.2020xviii.ch Band 11:63-85Caroline Torra-Mattenklott Kurzbeschreibung
In the eighteenth-century Republic of Letters, private correspondence and publishing activities were closely intertwined. For his publication projects, Johann Caspar Lavater relied on a comprehensive correspondence network. However, with his expansive communication style and his attempts to initiate debates on religious issues by publicly addressing potential interlocutors, he repeatedly offended his correspondents’ sense of privacy. Focusing on letters by Lavater, Johann Gottfried Herder, and Johann Georg Hamann, my contribution shows how boundaries between intimacy, publicity, and indescretion are negotiated. Since this discussion takes place in the immediate intellectual environment of Lavater’s studies in physiognomy, it may seem little surprising that it is conducted literally and figuratively as a debate on self-images and portraits.
II. Lavater und der europäische Diskurs Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits im Korrespondenznetz der Gelehrtenrepublik (Lavater, Herder, Hamann) Caroline Torra-Mattenklott Abstract In the eighteenth-century Republic of Letters, private correspondence and publishing activities were closely intertwined. For his publication projects, Johann Caspar Lavater relied on a comprehensive correspondence network. However, with his expansive communication style and his attempts to initiate debates on religious issues by publicly addressing potential interlocutors, he repeatedly offended his correspondents’ sense of privacy. Focusing on letters by Lavater, Johann Gottfried Herder, and Johann Georg Hamann, my contribution shows how boundaries between intimacy, publicity, and indescretion are negotiated. Since this discussion takes place in the immediate intellectual environment of Lavater’s studies in physiognomy, it may seem little surprising that it is conducted literally and figuratively as a debate on self-images and portraits. Keywords: Johann Caspar Lavater; Johann Gottfried Herder; Johann Georg Hamann; correspondence; indiscretion; portraits; self-images Private Korrespondenzen und publizistische Aktivitäten sind in der Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts eng miteinander verschränkt. In privaten Briefen werden Publikationen vorbereitet und angekündigt, als Beilagen verschickt oder auszugsweise mitgeteilt und kritisch diskutiert. Umgekehrt finden Briefe vielfach Eingang in Publikationen oder werden gar selbständig publiziert – als Sendschreiben oder Leserbriefe in Periodica, als dialogisches Element essayistischer Formen, als Musterbriefe in Briefstellern, als vermeintlich authentische Dokumente im Briefroman und natürlich in Form literarischer oder gelehrter Briefwechsel. Als Widmungsschreiben oder Zuschriften gehören sie ins Repertoire der rahmenden Paratexte, die belletristische oder philosophische Publikationen adressieren und mit Metareflexionen versehen. Die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation werden im Zusammenspiel von Brief und Publikation in beide Richtungen hin überschritten: Verschlossen im Briefumschlag oder Paket gelangt das Manuskript zum Verlag und die Publikation in den privaten Raum. In der typographischen Gestalt des Buchs oder der Zeitschrift erhält der private Brief ein öffentliches Gesicht; ein handschriftliches Exzerpt wird im Privatbrief zu einer individuellen Mitteilung. Leserinnen und Leser publizierter Briefe werden Zeugen eines vermeintlich intimen Dialogs, und die Praxis, Publikationen in der privaten Korrespondenz zu kommentieren, überführt den öffentlichen Diskurs in einen persönlichen Gedankenaustausch. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 63 64 Caroline Torra-Mattenklott Jürgen Habermas hat für diese Verschränkung von Intimität und literarischer Öffentlichkeit die prägnante Formel der «publikumsbezogenen Privatheit» gefunden1 und auch bereits angedeutet, dass «privat» und «öffentlich» in Bezug auf die Briefkultur des 18. Jahrhunderts nur bedingt als Gegenbegriffe taugen: Die literarische Öffentlichkeit ist nach Habermas eine «Öffentlichkeit von Privatleuten»; sie gehört soziologisch gesehen zur privaten Sphäre des Warenverkehrs, der gesellschaftlichen Arbeit und der Familie.2 Auf diese bürgerliche Öffentlichkeit ist die Subjektivität, die in den literarischen Formen des Tagebuchs, der Autobiographie und des Briefs erprobt und reflektiert wird, immer schon ausgerichtet. Gleichwohl sind literarische Öffentlichkeit und Intimsphäre in Habermas’ Denkmodell nicht einfach deckungsgleich: «Der Gegensatz zur literarisch vermittelten Intimität ist Indiskretion, nicht Publizität als solche.»3 Wo im symbolischen Raum der Gelehrtenrepublik die Grenze zur Indiskretion verläuft, ist Ermessenssache. Zwar war es im 18. Jahrhundert gängige Praxis, Briefe im Bekanntenkreis vorzulesen und zirkulieren zu lassen, und da Briefe rechtlich weder als geistiges Eigentum noch als Teil der Privatsphäre geschützt waren, konnten sie auch ohne Zustimmung des Absenders ungestraft veröffentlicht werden.4 Solche Freizügigkeiten wurden jedoch nicht in allen Situationen und von allen Briefeschreibern gleichermassen geschätzt. Polyphone Briefromane wie Richardsons Clarissa oder Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses führen eindrucksvoll vor Augen, welche Ausmasse der indiskrete Umgang mit Briefen im kollektiven Imaginären annehmen konnte und zu welchen Befürchtungen die intensive Nutzung des Mediums im familiären Bereich Anlass gab. Diesen ebenso beunruhigenden wie faszinierenden Szenarien hat Goethe mit den Leiden des jungen Werthers das Modell einer exklusiven Brieffreundschaft entgegengesetzt, deren Intimität an keiner Stelle durch Indiskretionen gestört wird. Dass der fiktive Herausgeber die zum «Büchlein» gebundene Briefsammlung dem empfindsamen Leser ohne Skrupel zum Freunde anempfiehlt, die Intimität des Wertherschen Monologs also explizit einer sympathetischen Öffentlichkeit 1 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990, S. 107 u. ö. 2 Ebd., S. 90. 3 Ebd., S. 114. 4 Die theoretischen Grundlagen des Urheberrechts wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgearbeitet, in Deutschland und in der Schweiz aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts umgesetzt. Zur Entwicklung in Deutschland, England und Frankreich vgl. Eckhard Höffner, Geschichte und Wesen des Urheberrechts, Bd. 1, München, Verlag Europäische Wirtschaft, 2010; zur Geschichte des schweizerischen Urheberrechts vgl. Manfred Rehbinder, «Die geschichtliche Entwicklung des schweizerischen Urheberrechts bis zum ersten Bundesgesetz vom Jahre 1883», in: Elmar Wadle (Hg.), Historische Studien zum Urheberrecht in Europa. Entwicklungslinien und Grundlagen, Berlin, Duncker und Humblot, 1993, S. 67–80. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits überantwortet,5 bestätigt Habermas’ These, dass Publizität in diesem Kontext keineswegs mit Indiskretion gleichzusetzen ist. In den Briefromanen des 18. Jahrhunderts ist das Thema der Indiskretion ausführlich reflektiert worden. Dass dies auch in Gelehrtenbriefwechseln der Fall ist, dass diese Briefwechsel durchaus romanhafte Züge aufweisen können und dass sich ihre romanhaften Qualitäten, wie im Briefroman, zuweilen aus den Indiskretionen und Empfindlichkeiten der Briefpartner sowie den verschlungenen Wegen von Briefen und Briefbeilagen ergeben, möchte ich im Folgenden anhand einiger Briefe von Johann Caspar Lavater, Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann zeigen. Die Briefe, auf die ich eingehen werde, stammen aus den Jahren 1773 bis 1777, fallen also – wohl nicht zufällig – in dieselbe Zeit, in der zwei der meistrezipierten deutschsprachigen Briefromane, Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) und Goethes Werther (1774), ihre Wirkung zu entfalten begannen. Wie sich erweisen wird, hängen die Erwartungen an einen freundschaftlichen Briefwechsel und die Auffassungen davon, wo freundschaftliche Mitteilsamkeit und öffentlicher Diskurs in Indiskretion umschlagen, eng mit den Selbstkonzepten und Subjektivitätsentwürfen der Briefeschreiber zusammen. Es mag kaum verwundern, dass es sich bei diesen Selbstkonzepten im unmittelbaren intellektuellen Umfeld der Lavaterschen Physiognomik buchstäblich um Selbstbilder handelt, dass also die Auseinandersetzung über die Grenzen zwischen Intimität, Publizität und Indiskretion im wörtlichen wie im übertragenen Sinne als eine Auseinandersetzung über Portraits geführt wird. Bevor ich exemplarisch zwei Stränge aus dem Korrespondenznetz herausgreife, das sich in den 1770er Jahren zwischen Zürich, Bückeburg, Königsberg und Weimar entspinnt, möchte ich einleitend auf die beiden wohl bekanntesten Konflikte eingehen, die Lavater mit seiner zuweilen übergriffigen Publikationspraxis ausgelöst hat. Von der Stube auf den öffentlichen Kampfplatz: Lavaters Widmungsschreiben an Mendelssohn und Goethe Lavater, der für seine Projekte die Synergien eines umfassenden Korrespondenznetzwerks nutzte und im Laufe seines Lebens annähernd sämtliche Möglichkeiten und Varianten der Briefpublikation ausschöpfte,6 hat mit seinen publizistischen Aktivitäten immer wieder den Vorwurf der Indiskretion provoziert. Der Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Karl Richter u. a. (Hg.), München, btb, 2006, Bd. 1.2, S. 197– 299, hier S. 197. 6 Vgl. dazu die synoptische Darstellung von Roland Meyer, «Netzwerke und Bilderströme. Lavater als Medienunternehmer», in: Felix Lenz, Christine Schramm (Hg.), Von der Idee zum Medium. Resonanzfelder zwischen Aufklärung und Gegenwart, Paderborn, Fink, 2019, S. 319–337. 5 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 65 66 Caroline Torra-Mattenklott spektakulärste und schwerwiegendste Fall dieser Art ist zweifellos das Widmungsschreiben an Moses Mendelssohn, das Lavater seiner im August 1769 unter dem Titel Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum publizierten Teilübersetzung von Charles Bonnets Palingénésie philosophique voranstellte und dem Widmungsträger zusammen mit einem Begleitbrief in einem noch ungebundenen Exemplar des Buches zuschickte.7 Mendelssohn hatte mit seinem Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen (1767) einen Beitrag zur Diskussion über das Leben nach dem Tode geleistet, zu der Bonnet mit seiner Palingénésie und Lavater selbst mit seinen zu diesem Zeitpunkt erst in Teilen publizierten Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Joh. Georg Zimmermann Stellung genommen hatten.8 In seinem Widmungsschreiben, das mit Bonnet nicht abgesprochen war,9 knüpfte Lavater an seine sechs Jahre zurückliegende persönliche Begegnung mit dem jüdischen Philosophen an und forderte ihn dazu auf, Bonnets Schrift «öffentlich zu widerlegen», sofern er «die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finde[ ]», sofern er sie aber richtig finde, «zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit» ihn tun hiessen – «was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte.»10 Sowohl zur Zeit ihres Erscheinens als auch in der späteren Forschung ist diese Widmung als Aufforderung zur Konversion verstanden und als Zumutung wahrgenommen worden, nicht zuletzt von Mendelssohn selbst.11 In 7 Vgl. die Einleitung «Zum Lavater-Mendelssohn-Streit», in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Alexander Altmann u. a. (Hg.), Bd. VII: Schriften zum Judentum, bearbeitet von Simon Rawidowicz, Faks.-Nachdruck d. Ausg. Berlin 1930, Stuttgart-Bad Cannstatt, Friedrich Frommann Verlag Günther Holzboog, S. XI–LXXX, hier S. XIX. Andree Michaelis-König hat darauf hingewiesen, dass das Widmungsschreiben in dieser Form «auf der Schwelle vom unverbindlichen Streitgespräch zum qua Druck Festgeschriebenen» steht und auf materialer Ebene «einen Übertritt» symbolisiert, «der sich mit der bereits in Gang gesetzten Drucklegung gleichsam automatisch vollzog». Entgegen der Anmutung des noch Unfertigen sei Mendelssohn «so gleichsam vor vollendete Tatsachen» gestellt worden. Vgl. Andree Michaelis-König, «Mendelssohn, Lavater, Lessing. Von Freundschaftskrisen und stützenden Netzwerken», in: Lore Knapp (Hg.), Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Mit den Übersetzungen zweier Aufsätze von Latour und Sapiro, Bielefeld, Aisthesis, 2019, S. 269–294, hier S. 279. 8 Zu dieser Diskussion und zum Verhältnis zwischen Bonnet und Lavater vgl. Gisela LuginbühlWeber, «‹… zu thun, … was Sokrates gethan hätte›. Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die Unsterblichkeit», in: Karl Pestalozzi, Horst Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1994, S. 114–148. 9 Zu den genauen Umständen der Publikation vgl. ebd., S. 122. 10 Zueignungsschreiben Johann Caspar Lavaters an Moses Mendelssohn, in: Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 3. Hier und im Folgenden sämtliche Hervorhebungen im Original. 11 Vgl. in diesem Sinne Mendelssohns Reformulierung der Aufforderung Lavaters in seinem «Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich», in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 5–17, hier S. 7. Zu den zeitgenössischen Reaktionen vgl. den Abschnitt «Stimmen zum LavaterMendelssohn-Streit» der Einleitung «Zum Lavater-Mendelssohn-Streit», ebd., S. LVI–LXXVII. Entgegen der zeitgenössischen und in der Forschung geläufigen Lesart hat Gisela Luginbühl-Weber in ihrem Aufsatz «… zu thun, … was Sokrates gethan hätte»: Lavater, Mendelssohn und Bonnet über die xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits seiner öffentlichen Replik vom 12. Dezember 1769, die er Lavater ausserdem in Briefform zukommen liess, stellt Mendelssohn der «vertraulichen Unterredung», die er mit Lavater und seinen Schweizer Freunden auf seiner Berliner «Stube» gehalten habe, den «öffentlichen Kampfplatz» gegenüber, auf den dieser ihn nun mit seinem Widmungsschreiben führe.12 Mit der Nötigung zur öffentlichen Stellungnahme ignoriere Lavater Mendelssohns erklärte Neigung, seine religiösen Gesinnungen als eine Herzensangelegenheit für sich zu behalten, und setze sich damit sogar über Vereinbarungen hinweg, die im persönlichen Gespräch getroffen worden seien: «Wenn ich nicht irre; so sind Versicherungen vorhergegangen, daß von den Worten, die bey der Gelegenheit vorfallen würden, niemals öffentlich Gebrauch gemacht werden sollte.»13 Die unterschiedlichen Haltungen zum Verhältnis zwischen Intimität und Öffentlichkeit, die sich in Lavaters Widmung und Mendelssohns Antwortschreiben äussern, lassen mehrere Deutungen zu. Mendelssohn selbst begründet sein Widerstreben, sich öffentlich zu seiner religiösen Gesinnung zu äussern, damit, dass er seine Religion für sich selbst gründlich geprüft und als die wahre erkannt habe, dass das Judentum keinen missionarischen Eifer kenne und dass die prekäre gesellschaftliche Situation der Juden es ihm verbiete, sich auf Religionsstreitigkeiten einzulassen.14 Aus theologischer Sicht ist hervorgehoben worden, dass Lavater im Gegensatz zu der verinnerlichten Frömmigkeit, die sich in Mendelssohns Antwortschreiben zeige, einen extravertierten Frömmigkeitstypus verkörpere, der sich mit dem «reinen Selbstbezug» des religiösen Gewissens nicht begnüge, sondern zu gewaltsamen missionarischen Übergriffen tendiere.15 Dass Lavaters ungebremster Mitteilungsdrang nicht nur mit seinem religiösen Sendungsbewusstsein, sondern auch, komplementär zu Mendelssohns umsichtiger Zurückhaltung, mit einem bestimmten sozialen Habitus assoziiert werden kann, belegt eine Hypothese, die Goethe Jahre nach Lavaters Tod in Dichtung und Wahrheit formuliert: Das republikanische Gemeinwesen seiner Heimat habe Lavater von klein auf daran gewöhnt, «über das öffentliche Wesen zu denken und mitzusprechen»,16 so dass es ihm selbstverständlich geworden sei, seinen Drang zur Tätigkeit unmittelbar in gesellschaftliches Wirken zu übersetzen. Diese früh eingeübte, unablässige öffentliche Wirksamkeit steht für Goethe in direktem Zusammenhang mit Lavaters freundschaftlichen Umgangsformen: «Wir Unsterblichkeit gezeigt, dass sich Lavaters Widmungsschreiben auch als Aufforderung zu einer überkonfessionellen religionsphilosophischen Debatte verstehen lässt. 12 Mendelssohn, Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich, S. 7 f. 13 Ebd., S. 8. 14 Ebd., S. 8 f., S. 10–12, S. 14 f. 15 Björn Pecina, «Frömmigkeit und Dialog. Der Streit zwischen Mendelssohn und Lavater als Religionsgespräch», in: Andreas Kubik (Hg.), Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit: Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 69–87, hier S. 82. 16 J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit, Münchner Ausgabe, Bd. 16, S. 646. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 67 68 Caroline Torra-Mattenklott andern», schreibt Goethe in Erinnerung an Lavaters Besuch in Frankfurt im Sommer 1774, «wenn wir uns über Angelegenheiten des Geistes und Herzens unterhalten wollten, pflegten uns von der Menge, ja von der Gesellschaft zu entfernen»; Lavater hingegen «liebte seine Wirkungen ins Weite und Breite auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in der Gemeine [sic], für deren Belehrung er ein besonderes Talent besaß».17 An ein «vertrauliches Gespräch, an ein solches das Bezug auf uns selbst gehabt hätte», sei unter diesen Umständen «nicht zu denken» gewesen, so dass er, Goethe, sich entschlossen habe, Lavater auf dessen Weiterreise nach Ems zu begleiten, «um unterwegs, im Wagen eingeschlossen und von der Welt abgesondert, diejenigen Gegenstände, die uns wechselseitig am Herzen lagen, frei abzuhandeln.»18 Mit seiner Erwartung, persönliche Angelegenheiten unter vier Augen, notfalls in der erzwungenen Intimität der Kutsche zu besprechen, lokalisiert Goethe das freundschaftliche Zwiegespräch in der Abgeschiedenheit des privaten Innenraums, ähnlich wie Mendelssohn sich in seiner Replik auf Lavaters Widmungsschreiben auf die persönliche Unterredung in seiner Stube berufen hatte. Goethe neigte zwar nicht dazu, seine Haltung zur Religion vor der Öffentlichkeit zu verbergen, beharrte aber auf einer konsequenten Trennung von intimer und öffentlicher Kommunikation.19 Als ausschlaggebend für Goethes definitiven Bruch mit Lavater gilt das Widmungsschreiben, das Lavater 1786 seinem missionarischen Epos Nathanaél voranstellte.20 Ohne Goethe namentlich zu nennen, apostrophierte er ihn in diesem Widmungsschreiben als «einen Nathanaél, Dessen Stunde noch nicht gekommmen ist»,21 und rechtfertigte die Anonymität der Zueignung mit seinem Ebd., S. 650. Ebd., S. 651 f. 19 Zur Kommunikation mit seinen Lesern und zur Differenz zwischen öffentlicher und privater persona schreibt Goethe im selben Zusammenhang: «Nun weiß man, wie ungeduldig meine lieben teilnehmenden Leser mich zu machen pflegten, und aus welchen Ursachen ich höchst abgeneigt war, mich mit ihnen zu verständigen. Nun fühlte ich den Abstand zwischen meiner und der Lavaterschen Wirksamkeit nur allzu sehr: die seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, befreundete sich ihm in der Nähe; und wer mich nach meinen Werken für liebenswürdig hielt, fand sich sehr getäuscht, wenn er an einen starren ablehnenden Menschen anstieß.» Ebd., S. 651 f. 20 Vgl. Horst Weigelt, «Johann Kaspar Lavater und Goethe. Zwischen Nähe und Distanz», in: Hans-Georg Kemper, Hans Schneider (Hg.), Goethe und der Pietismus, Tübingen, Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag Tübingen, 2001, S. 135–156, hier S. 152– 154, und Daniela Kohler (Hg.), Nathanaél. Johann Caspar Lavater im poetischen Gespräch mit Goethe über das wahre Christentum, Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2016, Wissenschaftlicher Kommentar, bes. S. 7, S. 38. 21 Johann Caspar Lavater, Nathanaél. Oder, die eben so gewisse, als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums. Für Nathanaéle, Das ist, Für Menschen, mit geradem, gesundem, ruhigem, Truglosen Wahrheitssinne, s.l., o.V., 1786, S. 1, in der Edition von D. Kohler S. 78. In ihrem Kommentar stellt Kohler die anonyme Widmung in den Kontext der theologischen Diskussion zwischen Lavater und Goethe, die der Publikation des Nathanaél vorausgeht, und liefert auf diese Weise plausible Argumente für die Annahme, dass die Widmung sich auf Goethe bezieht. 17 18 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits Bestreben, den mit der Widmung an Mendelssohn begangenen Fehler – den er, letztlich uneinsichtig, als «scheinbare Indiskretión» bezeichnet – nicht zu wiederholen: So will auch weder Dir selbst, noch irgend einem Stêrblichen sagen, wen ich bey dieser Zuschrift vor dem Auge habe – Und durch diese wirkliche Diskretión jene scheinbare Indiskretión einer ähnlichen Zuschrift büssen, die vôr wohl fünfzehn Jahren einem Weisen dieser Welt, der im Jenner 1786. starb, den ersten Tódesstoß gegeben haben soll.22 Goethe las Lavaters Nathanaél 1787 in Rom und bezog die Widmung augenscheinlich auf sich, jedenfalls notierte er eine wütende Replik, die er jedoch nicht abschickte.23 Auf dem Rückweg nach Weimar im Sommer 1788 reiste Goethe nicht über Zürich, um eine Begegnung mit Lavater auszuschliessen.24 Aussichten in die Ewigkeit und ein zerstückter Bilderrahmen: Lavater im Briefwechsel mit Herder Als Johann Gottfried Herder Ende Oktober 1772 erstmals mit Lavater in Kontakt tritt, ist ihm dessen Kontroverse mit Mendelssohn präsent. Schon im November 1769, noch vor dem Erscheinen von Mendelssohns Antwort auf Lavaters Widmungsschreiben, bemerkt Herder in einem Brief an Friedrich Nicolai, er habe bereits drei Briefe Lavaters unbeantwortet gelassen, da er sich «fürchte […] von ihm nicht auch compromittirt zu werden».25 Dass er nun doch an Lavater schreibt – und zwar in grosser Ausführlichkeit – ist eine Reaktion auf die ersten zwei Bände von dessen Aussichten in die Ewigkeit, die Herder, wie er dem Verfasser erklärt, zwar vor seiner Frankreichreise im Frühsommer 1769 erhalten, aber erst jetzt gelesen habe.26 Lavater hatte seinen Wunsch nach J. C. Lavater, Nathanaél, S. 3; D. Kohler, Nathanaél, S. 79 f. «Diesen Dichter Sinn […] Lüge zur Wahrheit zu machen kenne ich recht gut und du kommst mit deiner Saalbaderey an den unrechten. ich bin kein Nathanael und die Nathanaele unter meinem Volcke will ich selbst zum besten haben, ich will ihnen nach Bequemlichkeit oder Nothdurft selbst etwas aufbinden, also pack dich Sophist. Oder es gibt Stöße.» Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, hg. i. A. der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143 Teilen, Weimar, Böhlau, 1887–1919 (im Folgenden zit. als WA), I. Abt., Bd. 32, S. 446. Vgl. dazu H. Weigelt, Johann Kaspar Lavater und Goethe, S. 153, sowie D. Kohler, Nathanaél, S. 54. 24 Vgl. H. Weigelt, Johann Kaspar Lavater und Goethe, S. 154. 25 Johann Gottfried Herder an Friedrich Nicolai, Paris, 30. 11. 1769, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803, unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und SchillerArchiv), Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger, 1977–2016 (im Folgenden zit. unter der Sigle HB), I, 75, S. 176. Dieselbe Befürchtung formuliert Herder in einem Brief an Karoline Flachsland, Bückeburg, 09. 01. 1773, HB II, 148, S. 289 f. 26 Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, 30.10.1772, HB II, 127, S. 252 f. Die Korrespondenz zwischen Lavater und Herder wird als Online-Edition und als Printaus22 23 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 69 70 Caroline Torra-Mattenklott einer regen Diskussion über das Thema der Unsterblichkeit nicht erst mit der Widmung seiner Bonnet-Übersetzung an Mendelssohn publik gemacht. Schon im Vorbericht zum ersten Band der Aussichten von 1768 hatte er die «ernsthaftern Genies» unter seinen Lesern dazu aufgefordert, ihm ihre Meinungen mitzuteilen und sich auf diese Weise an dem freundschaftlichen Briefwechsel zu beteiligen, den seine Schrift inszeniert: Ich bitte alle meine Leser, diese Bogen schlechterdings nicht anders, als wie geschriebene originale Briefe an einen Freund anzusehen, dem man auch seine kühnsten und halbreifen Gedanken ohne Bedenklichkeit und Zurückhaltung mitzutheilen gewohnt ist. Ich darf sie um so viel eher bitten, immer genau auf diesem Standpunkt zu bleiben, weil ich wirklich sehr vieles davon auf dieselbe Weise an meinen Freund geschrieben, und auch in denen neuhinzukommenden Stellen, den mir gegen ihn geläufigen natürlichen Ton durchaus, ohne allen Zwang und Künsteley beybehalten habe […]. Wie glüklich würde ich mich schäzen, und wie unendlich viel müßte dieß Gedicht, die Welt und ich selbst dabey gewinnen, wenn sich die ernhaftern Genies, denen etwa diese Briefe in die Hände kommen mögten, gefallen liessen, mir ihre Urtheile, Beyträge, Belehrungen, Zweifel, und vornehmlich ihre eigenen Aussichten in die Ewigkeit, auf irgend eine ihnen unbeschwerliche Weise mitzutheilen […].27 Der Vorbericht endet mit der Aufzählung einer «verehrungswürdige[n] Schaar großer Männer», von denen Lavater sich Zuschriften erhofft – ganz am Ende der Liste figurieren auch die Namen Herders und Mendelssohns.28 Herders erster Brief an Lavater kommt dieser Einladung umfassend nach: Es handelt sich um eine freundschaftliche, aber scharfe Kritik, die Sympathiebekundungen für Lavaters Persönlichkeit und Religiosität mit einer entschiedenen Zurückweisung seiner Jenseitsvisionen verbindet. Herders zentraler Vorbehalt ist erkenntniskritischer Art; er betont, u. a. gestützt durch Zitate aus dem ersten und zweiten Korintherbrief, die Unmöglichkeit, über das ewige Leben andere als spekulative Aussagen zu machen, und weist auf das Fehlen konkreter Jenseitsvorstellungen in der Bibel hin. Alle dahingehenden Vermutungen Lavaters seien reine Erfindungen, die nicht von Gottes Schöpfung kündeten, sondern vom anmassenden Eigensinn des Verfassers.29 gabe ediert in dem an der Universität Zürich angesiedelten Forschungsprojekt Johann Caspar Lavater: Historisch-kritische Edition ausgewählter Briefwechsel (im Folgenden zit. unter der Sigle JCLB). Vgl. https://lavater.com/briefwechsel (26.03.2020). Der hier zitierte Brief vom 30. Oktober 1772 ist in JCLB noch nicht inventarisiert. 27 J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78, in: ders., Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Zürich, NZZ Libro, 2001 ff. (im Folgenden zit. unter der Sigle JCLW), Bd. II, Ursula Caflisch-Schnetzler (Hg.), S. 6 f. 28 Ebd., S. 9 f. 29 HB II, 127, S. 254, S. 256; für die Zitate aus 1 Kor 2, 1 Kor 13 und 2 Kor 12 vgl. S. 254. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits Trotz Herders kritischer Töne hat Lavater diesen Brief überschwänglich begrüsst. In seiner spontanen Antwort wechselt er nach wenigen Zeilen vom Sie zum Du und setzt dem von Herder angeschlagenen sachlichen Ton die emphatische Rhetorik empfindsamer Kommunion entgegen: Itzt, Freund, kann ich nicht antworten – aber schreiben muß ich – und wollte lieber weinen – hinübergeisten – zerfließen – an Deiner Brust liegen – meine Herzensfreunde, zwei Freundinnen mit mir Dir zuführen – und sogar – nicht sagen, blicken, drücken, athmen: «Du bist und wir sind.»30 Dass der Wunsch nach intimer Verbindung mit dem Adressaten die eigenen Herzensfreunde und -freundinnen gleich mit umfasst, ist charakteristisch für Lavaters Kommunikationsstil und wird im selben Brief noch konkretisiert: Lavater macht Herder mit sich bekannt, indem er ihm seine Freunde Pfenninger, Tobler, Hess und Spalding vorstellt; erst danach erwähnt er seine beiden Kinder, seine Eltern und Geschwister und seine Tätigkeit als Helfer am Waisenhaus. Der Brief schliesst mit dem Verweis auf zwei mitgesandte Portraits seiner selbst und dem wiederholt ausgesprochenen Verlangen, eine ähnlich umfassende Selbstdarstellung auch von Herder zu erhalten.31 In seiner Antwort vom 18. Januar 1773 reagiert Herder auf diese Erwartung mit dem gleichen freundschaftlich-belehrenden Ton, den er schon in seinem ersten Brief angeschlagen hatte, und wie der erste Brief, so ist auch der zweite von einem erkenntniskritischen Grundgedanken getragen, den Herder in die Worte des ersten Korintherbriefs kleidet: Also auch nicht Ein Wort darüber, daß ich in der Gestalt meines Briefes, (gestus, habitus, Mine, wie Sie wollen), es Ihnen nicht gleichthun weder kann noch mag. Ich bin mir selbst noch zu sehr Räthsel, Fragment, u. versiegelter Hieroglyphenwirrwarr, als daß ich Ein Wort über mich sagen könnte, was Sie oder mich nicht betröge. Ihr Leute in kleinen Republiken habt noch das selige Vorrecht der alten Welt Vaterland zu haben, in dem man sich denn auch, zumal wenn man, wie Du, ist (im Guten u. Bösen) eher findet, nutzet u. anwendet: da im Gegentheil ein Fündling Monarchi30 Johann Caspar Lavater an Johann Gottfried Herder, Zürich, 10. 11. 1772, in: Heinrich Düntzer, Ferdinand Gottfried von Herder (Hg.): Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe, Frankfurt am Main, Meidinger Sohn und Comp., 1857, Bd. 2 (im Folgenden zit. unter der Sigle HN), *2, S. 26 f. Karoline Flachsland, der Herder den Brief Lavaters zusammen mit einem Weihnachtsgruss zukommen liess (Bückeburg, 25. und 26. 12. 1772, HB II, 141, S. 281), kommentiert verwundert: «was haben Sie ihm geschrieben, und wie kommen Sie zu der sonderbar schwärmerisch-heiligen Brüderschaft?» HB XI, Kommentar zu II, 148, S. 401. Der hier zitierte Brief vom 10. November 1772 findet sich in der Zentralbibliothek Zürich (ZBZ) im Familienarchiv Lavater (FA Lav) als Manuskript (Ms) unter der Signatur 564.121 / JCLB, JCL-br-02nr. 31 «Hier ist ein schlechter Abdruck eines unvollkommenen Portraits von mir. – Aber alles, alles von Dir – erwart’ ich nun auch – […] Noch eine Zeichnung leg’ ich bei – von einem lieben Manne. Ich wünschte, daß sie besser gerathen wäre – aber du nimmst sie von meiner Hand – an – weil Dein Freund – […] das Urbild davon ist. Ahnde nun, mein Bruder, was ich von Dir erwarte.» HN, *2, S. 29 / JCLB, JCL,-br-02nr, S. 8–9. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 71 72 Caroline Torra-Mattenklott scher Staaten erst viele Dichtungen, Versuche, u. Experimente, die ihm viel kosten, durchgehen muß, um zu sagen «Hier stehe ich erst, an Leib u. Seele!» Laßen Sie, liebster Lavater, in dem was ich sage, so viel Räthsel seyn, als da will. Eine Stunde Bekanntschaft, Freundschaft, Sehen ins Angesicht sagt da Alles, was Worte nicht sagen können u. also laßen Sie uns auch das Vergnügen δι εισοπτρου εν αινιγματι nutzen und schätzen, bis einmal das προσωπον προς προσωπον folgt ––– Ich gebe Ihnen also nur den hölzernen, Goldschaumrand meines Bildes.32 Dieselbe paulinische Denkfigur, mit der Herder in seinem ersten Brief vor Spekulationen über das Jenseits gewarnt hatte, wird hier auf die Darstellung des eigenen Selbst bezogen: Herder lehnt es ab, ein ausgeführtes Bild von sich zu vermitteln, weil er sich selbst «noch zu sehr Räthsel, Fragment, u. versiegelter Hieroglyphenwirrwarr» sei, und er bietet seinem Gegenüber deshalb statt eines Portraits «den hölzernen, Goldschaumrand» seines Bildes an. Die ausgesparte Gestalt des Gesichts, die im Medium des Briefs fragmentarisch bleiben müsse und sich nur dunkel erahnen lasse («δι εισοπτρου εν αινιγματι», «durch einen Spiegel in einem dunklen Bild», 1 Kor 13,12), werde erst in der persönlichen Begegnung («προσωπον προς προσωπον», «von Angesicht zu Angesicht») erkennbar sein.33 Gleichwohl hat der Brief, wie im ersten Satz des Zitats deutlich wird, für sich genommen bereits ein Gesicht oder eine Gestalt («gestus, habitus, Mine»), auch wenn sie nicht die Anschaulichkeit eines Portraitbildes annimmt. Die Art dieser Gestalt hängt ab von der Persönlichkeit des Briefeschreibers, und ähnlich wie später Goethe vermutet Herder, dass die frühzeitige Ausbildung eines gefestigten, extravertierten Selbstbildes bei Lavater durch das eigenverantwortliche Agieren im republikanischen Gemeinwesen befördert worden sei. Unter den Bedingungen der Monarchie vollziehe sich die Selbstfindung dagegen in einem längeren und umwegigen Prozess. Der «Goldschaumrand» eines Selbstportraits, den Herder im Anschluss an die zitierte Textpassage umreisst, besteht aus den äusseren Stationen eines solchen noch unabgeschlossenen Selbstfindungsweges, von der Kindheit und Ausbildung in Mohrungen, Königsberg und Livland über die Reisen nach Frankreich und Holland bis hin zu seiner gegenwärtigen Anstellung als Konsistorialrat und Oberprediger in Bückeburg. Wie die Aussichten auf das Jenseits, so ist für Herder auch die diesseitige Zukunft und damit die definitive Gestalt des eigenen Ich verhüllt, so dass sich 32 Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, 18. 01. 1773, HB II, 151, S. 296 / in JCLB noch nicht inventarisiert. 33 Auch der dritte Band von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit steht im Zeichen des Paulus, akzentuiert aber nicht die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit der irdischen Gotteserkenntnis, sondern den sich in der Bekehrung zu Christus eröffnenden Ausblick. Das Motto des dritten Bandes lautet in deutscher Übersetzung «Nun aber schauen wir alle die Klarheit des HErrn, wie in einem Spiegel mit aufgedecktem Angesichte, und wir werden verklärt in dasselbige Bild, von einer Klarheit zur andern, als vom HErrn, der der Geist ist.» (2 Kor, 3,18) J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, S. 391 (Originalzitat auf Griechisch, die Übersetzung folgt dem Herausgeberkommentar). xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits statt eines ausgeführten Ganzen immer nur Teilmomente einer Entwicklung wahrnehmen und vermitteln lassen.34 Von dieser Selbstreflexion aus leitet Herder nun über zum Thema der Diskretion, indem er andeutet, wie er seine fragmentarischen Mitteilungen aufgenommen wissen möchte: Bis dahin denken Sie, mein lieber Freund, wenn Sie diesen Rahmen zerstückt und beschädigt, wie er ist, ansehen, daß sein Bildniß noch in Heraklea, Jerusalem oder Indien unter der Erde verborgen liege u. auf die schonende Grabschaufel des Auferweckers warte – – auch also nur aus der Erden hervormurmle, u. an Hörer, Freund u. Rhapsodisten sich mehr «Ausleger und Bewahrer» «als den freundschaftlichsten, edelherzigsten Demonstrator» erbitte. Ein Mann, wie Sie, liebster Lavater, kann dies letzte Wort nicht anders, als aufnehmen, selbst wenn es auch mehr als Gegensatz der Allegorie wäre. Ich weiß nicht, wie mich dünkt, aber unser Briefwechsel ist schon (ohne Zweifel von Ihrer Seite aus den besten, edelsten Beweggründen, kein Gedanke an andre!) zu laut, zu bekannt, als ein stilles Wort zweer Freunde über solche Sachen, das so unmittelbar von Seel in Seele kommen will, als nur möglich, weil sonst jedes ZwischenMedium auch von der reinsten Natur gleich Schall oder Lichstral auffängt, bricht, von der Bahn wendet, u. ichs […] fast zum ersten Kennzeichen […] der Freundschaft mache, daß sie versiegelt sei u. nur durch That, Folge u. Würkung offenbar werde.35 Herder setzt den gegenwärtigen, «zerstückt[en]» Zustand seines Bildes hier allegorisch mit dem Zustand der Toten vor der Auferstehung gleich und überträgt seine Bitte um Diskretion auf diese Weise wiederum ins Vokabular des Unsterblichkeitsdiskurses: Sein Bildnis, das orakelnd «aus der Erden hervormurmle», sich in seinen Briefen also wie die göttliche Offenbarung nur in Rätselfiguren artikuliere, verlange eher, ausgelegt und bewahrt, als demonstriert, d. h. philosophisch bewiesen oder öffentlich herumgezeigt zu werden, da jede Ablenkung, jeder Umweg das Licht oder den Schall irreleite und die allein ans Gegenüber gerichtete Botschaft entstelle, das vertrauliche Zwiegespräch also störe. Der von Ähnlich skeptisch hatte Herder sich zu den Möglichkeiten der Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung bereits 1768 in der Einleitung zu seinem «Torso von einem Denkmal» für Thomas Abbt geäussert, auch hier in der Metapher des fragmentarischen Bildes: J. G. Herder, «Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grabe errichtet», in: ders., Werke in zehn Bänden, Günter Arnold u. a. (Hg.), Bd. II: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, Gunter E. Grimm (Hg.), Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag, 1993, S. 565–608, hier bes. S. 572 f. Vgl. dazu auch den zweiten Entwurf zu Herders Shakespeare-Aufsatz von 1771 (ebd., S. 530–549, hier S. 538). Zur Konzeption von Subjektivität und Autobiographik in Herders frühen Schriften vgl. Christian Moser, «Der ‹Traum der schreibenden Person von ihr selbst›. Autobiographie und Subjektkonzeption bei Johann Gottfried Herder», in: Wilfried Malsch u. a. (Hg.), Herder Jahrbuch 1996, Stuttgart, Weimar, Metzler, 1997, S. 37–56. Zu Herders Identitätskonzeption im Kontext der Unsterblichkeitsdiskussion vgl. außerdem Tino Markworth, Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder, Paderborn, Schöningh, 2005, hier bes. das Kapitel «Identitätskonstruktionen und Geschichte», S. 135–150, zur Korrespondenz mit Lavater S. 148–150. 35 HB II, 151, S. 296 f. 34 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 73 74 Caroline Torra-Mattenklott ihm erwünschten «versiegelt[en]» Korrespondenz stellt er den in industriellem Massstab betriebenen Postverkehr Lavaters gegenüber, der seiner Vorstellung von einem freundschaftlichen Briefwechsel empfindlich zuwiderläuft: «ich bin über die Anschlagzettel Ihrer Briefbureaus im 3ten Theil der Aussichten erschrocken, u. äußerst stutzig gemacht».36 Gemeint ist eine Liste von Adressen namhafter Buchhändler, Schriftsteller und Gelehrter in der Vorrede zum dritten Band der Aussichten in die Ewigkeit, die Lavater als Sammelstellen für Zuschriften angibt, um die günstigen Versandmöglichkeiten anlässlich der nächsten Ostermesse zu nutzen.37 Die Bitte um die beschleunigte Zustellung von Beiträgen wird begleitet von der Ankündigung, dass der Verfasser «ausser Stand» sei, den gelehrten Förderern seines Unternehmens schriftlich zu antworten, da ihn dies «allzusehr zerstreuen und ermüden» und seine «ohnedem schon allzulästige Correspondenz […] noch unerträglicher machen» würde.38 Herders Befremden über diese Zeilen bezieht sich nicht nur auf die Ausmasse und die bürokratische Organisation des Lavaterschen Briefverkehrs, sondern auch auf die Vorstellung, im öffentlichen Diskurs mit dem «Pöbel» – durch «Rathhäuser und Taubenkrämerei» – zu Einsichten gelangen zu können, die sich seiner Überzeugung nach allein dem «individuellsten Gefühl[ ]» offenbaren.39 In den folgenden Briefen bleibt Herders Wunsch nach Diskretion ein wiederkehrendes Motiv. Durch seinen Mitteilungsdrang und seine Neugier ebenso wie durch seine Publikationspraxis bietet Lavater immer wieder neue Anlässe zur Sorge und Verstimmung; mit seinen kommunikativen Bedürfnissen ist die von Herder verlangte Exklusivität schwer vereinbar. Am 4. Februar 1773 berichtet Lavater von seinem Plan, sein anonym und angeblich ohne sein Wissen publiziertes Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst um einen zweiten, unter seinem Namen herausgegebenen Band zu ergänzen und die Tagebucheinträge mit dem Tag beginnen zu lassen, an dem ihn Herders erster Brief erreichte.40 Herder reagiert alarmiert. Er setzt seinem Gegenüber detailliert und ohne allegorische Einkleidung auseinander, warum er das, was er als sein Bild («ειδωλον») bezeichnet – seinen «Namen, Brief, Situation u.s.w.» – vertraulich behandelt wissen will. Lavater habe nicht das Recht (Herder schreibt: «nicht Macht»), in seiner Publikation gegen seinen, Herders, Willen von seinem Brief und seiner Person Gebrauch zu machen: Sie kennen mich ja nicht: wißen ja also noch weit weniger meine Beziehungen, u. Schicksale – laufen Sie also nicht immer Gefahr, mit dem wärmsten liebevollsten Herzen eben da Ihren Freund zu verrathen, wo Sie ihn eben nur verkündigen wollHB II, 151, S. 297. J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, S. 398 f. 38 Ebd., S. 400. 39 HB II, 151, S. 297. 40 Johann Caspar Lavater an Johann Gottfried Herder, Zürich, 04. 02. 1773, HN, *3, S. 33. Vgl. ZBZ, FA Lav MS 564.122, Nr. 1 / JCLB, JCL-br-02ns. 36 37 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits ten? u. wird die Gefahr nicht immer umso größer, je einer größern Menge Sie sich anvertrauen, die wieder ihre Menge u. Woge nach sich hat, u. wo endlich Alles in die fremdesten, verschiedensten Sinnesarten geräth, denen ganz der Schlüßel u. Sinn zu uns fehlet? […] zerbrechen Sie nicht Siegel des Briefs u. Aufschrift die nur zu Ihnen sprach? […] Ich weiß also, mein Freund, Sie thun mir die Liebe u. richten sich hierinn nach meiner Schwachheit. Auch in Ihrem Journal was sich ja eben mit dem Tage anfängt, an welchem Ihr erster Brief datiert war, laßen Sie ja meinen Namen u. Alles Merkliche meiner Person aus; fangen in der That lieber gar mit Einem Tage später an, und laßen mich gar weg. Ich wiederhole es, daß Sie auch nur ohne, viel mehr wider mein Wißen und Willen zu solchen Citationen nicht Macht haben […].41 Lavaters Antwort zeigt, dass er Herders Forderung wahrgenommen und in ihren Konsequenzen bedacht hat, aber mit seinem eigenen Freundschafts- und Selbstkonzept nicht in Übereinstimmung zu bringen vermag. Hatte Herder die Unmöglichkeit, dem Briefpartner ein Bild von sich zu vermitteln, mit der Unabgeschlossenheit seines Selbstfindungsprozesses begründet, so hofft Lavater umgekehrt, dem «liebste[n] Bruder, auf einmal einen Theil seiner innersten Denk- und Handelsweise klar vor die Seele […] bringen» zu können, indem er ihm neben seinen Schriften «einen Haufen wichtiger und unwichtiger Copien [s]einer Briefe an Andere» sendet.42 Aus der Fülle seiner Aufzeichnungen und seiner Briefe an verschiedene Personen soll sich für den Leser ein Simultanbild seines Inneren ergeben. Die unterschiedlichen Entstehungskontexte und Adressaten der Texte können diesem Bild insofern nichts anhaben, als sie einen wesentlichen Teil dessen ausmachen, was Lavater unter seiner «innersten Denkund Handelsweise» versteht. Lavaters Selbstbild ist nicht, wie dasjenige Herders, in einer für ihn selbst undurchdringlichen Tiefe lokalisiert, aus der es erst in ungewisser Zukunft aufsteigen kann, sondern liegt ausgebreitet in der Vielfalt seiner Kontakte und Aktivitäten, die er unter Einbeziehung eines wachsenden Publikums unablässig dokumentiert. Im dritten Band der Aussichten imaginiert Lavater eine Kommunikationsform des Jenseits, die seinem Mitteilungsbedürfnis in idealer Weise entspricht: Jede, auch die vollkommenste Wortsprache der Erde, […] hat die sehr wesentliche Unvollkommenheit – daß sie nur succeßiv ist; wie die Bilder und Zeichensprache für das Aug nur momentan. Die Sprache des Himmels, soll sie vollkommen seyn, muß successiv und momentan zugleich seyn; das ist, sie muß einen ganzen gleichzeitigen Haufen von Bildern, Gedanken, Empfindungen, wie ein Gemälde zugleich 41 Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, 27. 02. 1773, HB II, 162, S. 313 f. / in JCLB noch nicht inventarisiert. 42 Johann Caspar Lavater an Johann Gottfried Herder, Zürich, 11.–15. 03. 1773, HN, *5, S. 44 f. Vgl. ZBZ, FA Lav MS 564.123, Nr. 1 / JCLB, JCL-br-02nu, S. 17. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 75 76 Caroline Torra-Mattenklott und auf einmal, und dennoch die succeßiven mit der größten und wahrhaftesten Schnelligkeit darstellen.43 Das Korrespondenznetz, in dem jeder mit jedem in Austausch steht und alle Seelen einander offen stehen, erweist sich vor diesem Hintergrund als Antizipation einer idealen, lückenlos transparenten Jenseits-Gesellschaft, in der «Heere von Freunden» – «Menschen-Freunde, Engel-Freunde, Leben-Freunde» – «sich vor Gott und allen Sinnen und Erkenntnißkräften ungescheut bis auf den tiefsten Grund ihrer Natur dürfen sehen lassen; die […] unaufhörlich sich offenbaren, und dennoch immer unerschöpflicher an Vollkommenheiten sind.»44 Die Seligkeit des Einzelnen besteht in Lavaters Vision darin, «immer mehrere Gottes-Freunde umfassen, geniessen und beseeligen» zu können.45 Unter irdischen Bedingungen ist eine solche vernetzte Identität nur unter grössten persönlichen und administrativen Anstrengungen realisierbar – dazu gehört, wie Lavater an Herder schreibt, die «absolute […] Nothwendigkeit», alle Briefe «durch eine sichere Hand» kopieren zu lassen.46 Dass die von Herder verlangte Diskretion unter diesen Umständen das grösste Opfer ist, das Lavater bringen kann, liegt auf der Hand: Und nun noch eins! willst Du, daß auch Pfenninger, ein Mensch, an dessen Adel und Weisheit und Tugend ich auf hundert Schritte kein Beispiel weiß – nichts von Deinen Briefen an mich, nichts von meinen an Dich wisse, so will ich Dir auch dies Opfer bringen, das größte, das ich Dir bringen kann – ein Opfer, zu dem er sich selber anerboten hat. Leuchsenring, der es, vermuthlich von Dir, weiß, daß Du mir geschrieben hast, mußt’ ich mit ein paar Zeilen sagen, was – aber fürchte Dich nicht . . . .47 Auf den Plan, die Unveränderte[n] Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst mit dem Eintreffen von Herders Brief beginnen zu lassen, möchte Lavater dennoch nicht verzichten: Der erste Tagebucheintrag setzt sich aus seiner ursprünglich an Herder adressierten Beschreibung des denkwürdigen Abends und einem anonymisierten Auszug aus dessen erstem Brief zusammen.48 Herder, der das Tagebuch gegen Ende des Jahres in gedruckter Form zu Gesicht bekommt, reagiert verärgert. In wenigen pointierten Sätzen macht er deutlich, dass Lavaters Version der «publikumsbezogenen Privatheit» in seinen Augen J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, S. 451. Ebd., S. 466. 45 Ebd., S. 467. 46 HN, *5, S. 45 / JCLB, JCL-br-02nu, S. 18. 47 Ebd. 48 J. C. Lavater, Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Theil (1773), in: JCLW, Bd. IV: Werke 1771–1773, Ursula CaflischSchnetzler (Hg.), Zürich, NZZ Libro, 2009, S. 711–1051, hier S. 774–779. 43 44 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits einer Aufkündigung freundschaftlicher Intimität gleichkommt, zugleich aber die Authentizität der intimen Mitteilung selbst preisgibt:49 […] tausend Dank für Ihre Briefe, an mich geschrieben, geschrieben an alle Welt: für Ihre Bücher sämtlich und sonders. Das Tagbuch bin ich durch. Dank u. Dank auch nicht für die Stellen, die von mir handeln: Ich möchte mit Ihrer Frauen sagen, die überall wie ein würksamer, einfältiger Engel Gottes erscheint (und Du, mein Freund, bist ein lieber Gottesschwätzer!): «ich wollte, daß keiner weder Gutes noch Böses von mir schriebe! […]» Also damit gehabt Euch wohl. Das Tagbuch wird viel Gutes u. Erbauung stiften: ist aber kein Tagbuch mehr, höchstens zeigt sich Lavater im NachtKamisol oben auf dem Balkon, weiß aber wohl, daß er auf dem Balkon stehe.50 Der Magus im Schlafzimmer: Geheime skandalöse Geschichte eines Portraits aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten Herder inszenierte sein Persönlichkeitskonzept in den Eröffnungsbriefen seiner Korrespondenz mit Lavater metaphorisch als Bildnis, als eidolon oder gerahmtes Portrait. Johann Georg Hamanns Briefwechsel mit Lavater setzt sehr viel später ein; der erste überlieferte Brief Lavaters an Hamann stammt vom 26. Dezember 1777. Er hat jedoch eine Vorgeschichte, die sich ebenfalls als eine Geschichte über Selbstbilder und publizistische Praktiken erzählen lässt. In diesem Fall handelt es sich um die Geschichte eines Portraits im wörtlichen Sinne. Sie beginnt im Schlafzimmer von Hamanns Elternhaus und findet ihren vorläufigen Abschluss im zweiten Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten.51 Bevor Hamann im Juni 1765 nach Mitau geht, um dort eine Stelle als Sekretär anzunehmen, lässt er sich für seinen Vater portraitieren und erteilt desZu den Paradoxa, die sich aus dem Projekt der öffentlichen Selbstbeobachtung in Lavaters Tagebüchern ergeben, vgl. Stephan Pabst, «Schamlose Beobachtung. Über den Zusammenhang von Beobachtung und Anonymität in Lavaters Geheimem Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst», in: ders. (Hg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin, Boston, de Gruyter, 2011, S. 177–204. 50 Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, etwa 18. 12. 1773, HB III, 40, S. 59 / in JCLB noch nicht inventarisiert. 51 Vgl. zu dieser Geschichte Arthur Henkels Einleitung zu Johann Georg Hamann, Briefwechsel, Walther Ziesemer, Arthur Henkel (Hg.), 7 Bde., Wiesbaden, Insel, 1955–1979 (im Folgenden zit. unter der Sigle ZH), Bd. III, S. XI–XXIII, hier S. XIX (wieder abgedruckt als «In telonio sedens. J. G. Hamann in den Jahren 1778–1782», in: A. Henkel, Der Zeiten Bildersaal. Studien und Vorträge, Stuttgart, Metzler, 1983, S. 81–91, hier S. 88 f.), den auf Henkels Vorarbeiten basierenden OnlineKommentar zum Hamann-Briefwechsel (https://www.hamann-briefwechsel.de; 06. 03. 2020) sowie die konzise Rekonstruktion von Joachim Ringleben, «Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen», in: Bernd Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, S. 82–110. Das Portrait findet sich auf S. 97, seine Geschichte im Abbildungsverzeichnis, S. 399. 49 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 77 78 Caroline Torra-Mattenklott sen Magd Anna Regina Schumacher, mit der er später seine «Gewissensehe» führen wird, den Auftrag, das Portrait über seinem Bett aufzuhängen. Nach dem Tod des Vaters 1766 gelangt das Bild in den Besitz des Königsberger Buchhändlers und Verlegers Johann Jakob Kanter, der es zu Hamanns Leidwesen in seinem Laden ausstellt. In einem Brief vom 1. Dezember 1773 bittet Hamann deshalb seinen Förderer Friedrich Carl von Moser, das Portrait zu erwerben, um den «in effigie am öffentl. Pranger» blossgestellten Autor aus dieser Notlage zu befreien: Vor dieser letzten Reise [nach Mitau in Kurland, C. T.-M.] hatte ich den frommen und etwas kindischen Einfall mich für meinen seel. Vater so treu als möglich abmalen zu laßen in puris naturalibus mit einer mir unentbehrl. gewordenen Macht auf meinem von Jugend auf kahlen […] Haupte. Meine treue Hamadryade, die Mutter meiner lieben Kinder, hatte Befehl dieses Bild an meiner Schlafstelle aufzuhängen. Bey meiner letzten Heimkunft nach meines seel. Vaters Tode machte auf dieses Gemählde der jetzige Lotterie Director Kanter als mein doppelter Gevatter gewaltthätigen Anspruch. Dieser treulose Verleger, wie alle seine Brüder, […] hat anstatt […] seines eigenen Schlafkämmerchen, wofür ich bestimmt war, mich in seinem Laden, der der gröste in ganz Norden ist, am höchsten Balken aufhängen laßen, wo sich alle Welt über den armen Sünder im Hemde mit verbundenem Kopfe aufhält, ohne zu wißen, wie ich dazu gekommen in der attitude eines Narren oder Maleficanten in unserm großen Kanterschen Laden aufgehangen zu werden. Wenn Ew. Excellenz aus layenbrüderlicher Praedilection mir die gnädige Erlaubnis ertheilen wolle mit dem Kanterschen Buchladen wegen des Magi in effigie einen Handel zu schließen: so sollen Sie dabey nicht so sehr übervortheilt werden als bey unserm in Börnstein eingefaßten Insectenkram bisweilen geschehen mag. An dem künftigen Schicksal dieses Originals ist nichts weiter gelegen; es sehnt sich blos nach seiner Erlösung von dem hiesigen Pranger, wo es jedermann zum Spectacul hängt.52 Die Briefpassage exemplifiziert anschaulich das Rollenspiel, das Hamann in seinen Publikationen ebenso pflegte wie in seinen Privatbriefen. Der Jurist, Staatsmann und Schriftsteller Friedrich Carl von Moser hatte an diesem Spiel einen besonderen Anteil: In einer anonymen Replik auf Hamanns Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache (1761), die eine kritische Bemerkung über Mosers Schrift Der Herr und der Diener geschildert mit Patriotischer Freiheit (1759) enthielt, stilisierte Moser sich selbst zum «LayenBruder» und Hamann zum «Magus im Norden», eine Rolle, die Hamann sich dankbar zu eigen machte.53 In seiner Beschreibung des Portraits, dessen SchickJohann Georg Hamann an Friedrich Carl von Moser, s.l., 01. 12. 1773, ZH III, 398, S. 68 f. In ZH wird deutsche Kurrentschrift in Frakturschrift, lateinische Schreibschrift in Antiqua transkribiert. In den Hamann-Zitaten wird der in Antiqua gesetzte Text – wie auch die Hervorhebungen – in Kursivschrift wiedergegeben. 53 Anon. [Friedrich Carl von Moser], Treuherziges Schreiben eines Layen-Bruders im Reich an den Magum im Norden oder doch in Europa, s.l., o.V. 1762. Unter dem Pseudonym «Magus im Norden» publizierte Hamann 1772 seine Philologischen Einfälle und Zweifel. 52 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits sal er Moser ans Herz legt, setzt Hamann dieses Spiel fort, entwirft aber zusätzlich weitere Rollenbilder. Das ursprünglich für einen intimen, familiären Ort angefertigte Portrait, das Hamann «so treu als möglich» abbildet und ihn gleichsam nackt («in puris naturalibus») mit einer «Macht» auf dem kahlen Kopf, d. h. mit einem im Hause getragenen Kopftuch zeigt statt mit einer Perücke,54 wird durch den Umzug in den halb-öffentlichen Raum des Buchladens zur effigies, zum Schaubild eines «Narren» oder «Maleficanten», das stellvertretend für die abgebildete Person am Pranger steht bzw. hängt und dem allgemeinen Gespött anheimgegeben ist. Der Buchladen als Institution der literarischen Öffentlichkeit regrediert also durch die Indiskretion seines Inhabers zum Schauplatz eines vormodernen Exekutionsrituals. Hamanns Unwillen betrifft nicht die öffentliche Sichtbarkeit seines Bildnisses als solche, sondern die Zweckentfremdung des intimen Portraits, das für ein «Schlafkämmerchen» bestimmt war und nun im grössten Buchladen «in ganz Norden» hängt. Dass es hier um eine Frage des aptum, der situativen Angemessenheit geht, bestätigt der folgende Absatz, in dem Hamann ein alternatives, für Kanters Geschäft geeignetes Portrait imaginiert, auf dem er als Magus des Nordens zu sehen ist: Für ein Dutzend Preuß. Thaler will ich in einem gantzen andern Bilde mit allen Pontificalibus eines Nordischen Magi prangen und im gantzen Kanterschen Buchladen soll von nichts die Rede seyn als von der wunderbaren Metamorphose des hiesigen armen Sünders im Hemde mit verbundenem Kopfe; wenn gantz Deutschland sich ausgewundert haben wird daß der Vater des starken Agathons und der winzigen Musarion auf seine alten Tage der Colporteur eines kleinen deutschen Mercurs geworden. Das Gerücht meiner Verjüngung wird an den Gränzen von Europa bis zu den Ohren meiner bösen Catin kommen, die noch nicht aufgehört die Aspasie, Maintenon und Sevigné meiner Seelen zu seyn. – – Ist sie nicht das erste und einzige Mädchen auf der Welt, das so viel Herz gehabt einen Magum zu lieben und Hof- 54 Die Bezeichnung des Kopftuchs als «Macht» ist eine Anspielung auf eine bis heute als dunkel geltende Stelle im ersten Korintherbrief, in der es um die Haartracht und Kopfbedeckung beim Gottesdienst geht: «Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupt haben um der Engel willen.» (1 Kor 11,10). Das Wort «Macht» (gr. ἐξουσία) ist sowohl im Sinne der symbolischen Macht des Mannes über die Frau gedeutet worden, die in einer Kopfbedeckung, etwa einem Schleier zum Ausdruck kommen solle, als auch umgekehrt – dem im Neuen Testament üblichen Wortgebrauch entsprechend – im Sinne der Vollmacht der Frau, über ihre Haartracht oder Kopfbedeckung selbst zu entscheiden. Der Kontext einschliesslich der Bedeutung der Engel in V. 10 ist ähnlich interpretationsbedürftig, vgl. dazu die umfassende Darstellung in Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, in: Norbert Brox u. a. (Hg.), Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. VII/2: 1Kor 6,12–11,16, Solothurn, Düsseldorf, Benziger und Neukirchen, Vluyn, Neukirchener, 1995, S. 487–541, bes. S. 513–519. Dass Hamann ἐξουσία im Sinne eines Kopftuchs versteht, wird aus dem Zusammenhang klar; welche weiteren Assoziationen sich für ihn mit dem Vers verbinden, lässt sich angesichts der vielen möglichen Deutungen schwer bestimmen. Das Spiel mit Geschlechterrollen ist für Hamann nicht untypisch. xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 79 80 Caroline Torra-Mattenklott nung zu einer der reichsten Erbschaften haben soll? – Ja sie allein verdient die Mutter meiner lieben, lieben ungezogenen Kinder zu seyn.55 Während das reale Bild fehlplatziert ist, weil es Hamann in seiner bescheidenen häuslichen Rolle und Aufmachung zeigt, entspricht das imaginäre Portrait des Magus «mit allen Pontificalibus» seiner öffentlichen persona in der Gelehrtenrepublik. Diese öffentliche Imago darf, ja soll zum Gegenstand des allgemeinen Klatsches und Tratsches werden, genau wie Hamanns Publikationen, die er an dieser Stelle, eine Formulierung Mosers aufgreifend, als seine «ungezogenen Kinder» den «lieben», leiblichen Kindern seiner «Hamadryade», d. h. der früheren Magd Anna Regina Schumacher gegenüberstellt.56 Hinter der «bösen Catin», der Hamann diese «ungezogenen Kinder» anempfiehlt, verbirgt sich die grossbürgerliche Katharina Berens, um deren Hand Hamann vor seiner Verbindung mit Anna Regina Schumacher vergeblich angehalten und die er später zu einer Muse und Kunstfigur stilisiert hatte.57 Hamanns häuslicher Rolle in puris naturalibus entspricht die für repräsentative Zwecke weniger geeignete Lebensgefährtin und Hamadryade, seiner öffentlichen persona die ferne, ebenso idealisierte wie ambivalente Figur der Catin, Aspasie, Maintenon und Sévigné.58 Dem Buchhändler Kanter als Hamanns «doppelte[m] Gevatter» kommt die mitunter heikle Rolle zu, zwischen der häuslichen und der öffentlichen Sphäre zu vermitteln.59 Am 27. Februar 1774 meldet Hamann an Moser, dass er Kanter den «beyZH III, 398, S. 69. F. C. von Moser nahm Hamanns Kritik seines Buchs und sein eigenes Treuherziges Schreiben eines Layen-Bruders in den ersten Band seiner Gesammelten moralischen und politischen Schriften auf und versah die beiden Texte mit einem kurzen Kommentar, in dem es auf Hamann bezogen heisst, die «licentia poetica des lieben Scholiasten» falle «hie und da etwas ins ungezogene». (F. C. von Moser, Gesammelte moralische und politische Schriften, Bd. I, Frankfurt am Main, Johann Christian Gebhard, 1763, S. 509.) Die metaphorische Darstellung der Autorschaft als Vaterschaft begegnet bereits in Mosers Treuherzigem Schreiben (im Erstdruck S. 19 f., in den Gesammelten moralischen und politischen Schriften S. 523 f.). 57 Vgl. Hamanns Klaggedicht, in Gestalt eines Sendschreibens über die Kirchenmusick; an ein geistreiches Frauenzimmer, ausser Landes (1761) und seine Lettre perdue d’un sauvage du nord à un financier de Pe-Kim (1773). 58 Ildikó Pataky vermutet, dass Hamann seine Lebensgemeinschaft mit Anna Regina Schumacher nicht legalisierte, weil er ihr die gesellschaftlichen Pflichten einer bürgerlichen Ehefrau ersparen wollte, die sie überfordert hätten, vgl. Ildikó Pataky, «Privatperson im öffentlichen Dienst, oder die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem in Hamanns Leben und Schriften», in: Manfred Beetz, Andre Rudolph (Hg.), Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft, Berlin, Boston, de Gruyter, 2011, S. 33–45, hier 41. – Catin ist eine Kurzform von Katharina, wird aber auch im Sinne von «Dirne» (fille publique) gebraucht. 59 Es ist mir bisher nicht gelungen, die doppelte Gevatterschaft Kanters biographisch vollständig aufzuklären. Ein Brief Hamanns belegt, dass er Pate eines Kindes von Kanter war, das 1772 starb (vgl. J. G. Hamann an Johann August Eberhard, Königsberg, 05. 12. 1772, ZH III, 381, S. 25 f.). Innerhalb der Logik des Briefs an Moser wäre es plausibel, die doppelte Gevatterschaft Kanters einerseits auf die familiäre Verbindung, andererseits auf Kanters publizistische Patenrolle als Hamanns Verleger zu beziehen. 55 56 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits kommenden Ecce!» am Sonntag Invocavit, dem ersten Passionssonntag, für zwei Friedrichsd’or abgekauft habe. Das Portrait hat also inzwischen die Dignität eines Passionsbildes angenommen und wird nach der Schaustellung und Erlösung nun, wie Hamann schreibt, in einem «Nasendrücker», einem Sarg also, an den künftigen Eigentümer versandt.60 Dass es damit keineswegs aus dem Verkehr gezogen ist, wird Hamann erst im Sommer des darauffolgenden Jahres bewusst. Gerade hat er sich mit seiner Familie über ein Portrait von Herders kleinem Sohn gefreut und ist im Begriff, dem Vater von dem herzförmigen Rahmen zu berichten, in den der Glaser das Bild gefasst habe wie in Marzipan, da wird er vom Buchhändler Kanter unterbrochen, der soeben von der Leipziger Messe zurückgekehrt ist und in seinem Portefeuille nicht nur ein Bildnis von Herders Frau Karoline mitbringt, sondern auch «einen Kupferstich eines schwindlichten Kopfs in der Kappe eines Schweißtuchs».61 Der Kupferstich, der sich unschwer als Kopie des von Moser freigekauften Portraits identifizieren lässt, bereitet Hamann eine schlaflose Nacht: Er meint, in den herabhängenden Zipfeln des Kopftuchs Eselsohren zu erkennen, vermutet eine Intrige, an der Kanter beteiligt sei, und äussert den Verdacht, dessen ehemaliger Lehrling Christian Ludewig Stahlbaum habe ohne sein Wissen eine Kopie des Portraits angefertigt.62 Kanter selbst beteuert dagegen, Lavater habe den Stich für seine Physiognomischen Fragmente anfertigen lassen und die Vorlage dazu von Moser erhalten: Hierauf wurde mit gewöhnl. Eidschwüren betheuert, daß es ein Versuch von Lavater wäre für den 2ten Theil seiner Physiognomien; und eine Probe von der Stärke seiner Ideale; daß Moser ihm das Contour gegeben und er diesen selbst besucht hätte. […] Unter dem – Strich ist mit Bleystift mein Name geschrieben und dies ward vom Überbringer für Lavaters Hand ausgegeben.63 Wie ein an Immanuel Kant gerichteter Briefentwurf belegt, liess Hamann sich so schnell nicht beruhigen; er fühlte sich an den Streit erinnert, den Herder wenige Jahre zuvor mit Christian Adolf Klotz ausgefochten hatte, fürchtete, öffentlich angegriffen und blossgestellt zu werden, und schmiedete Rachepläne.64 Kant, so nahm Hamann an, könne den ersten Teil der Physiognomischen Fragmente bereits gesehen haben und ihm über eine eventuelle Publikation des «A[sinus]60 S. 70. Johann Georg Hamann an Friedrich Carl von Moser, Königsberg, 27. 02. 1774, ZH III, 400, Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder, s.l., 16./17. 07. 1775, ZH III, 452, zum Marzipanherz S. 194, für das Zitat S. 195. 62 Ebd., S. 196. Vgl. zum Eselsohr auch Hamanns ausführlichere Erläuterung in seinem Briefentwurf an Immanuel Kant, s.l., 18. 07. 1775, ZH III, 453, S. 198–200. 63 ZH III, 452, S. 196 f. 64 Johann Georg Hamann an Immanuel Kant (Entwurf), s.l., 18. 07. 1775, ZH III, 453, S. 199. Zu Klotz vgl. ZH III, 452, S. 197. 61 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 81 82 Caroline Torra-Mattenklott Stiches» durch Lavater Aufschluss erteilen – zu diesem Zweck lasse er ihm das zweifelhafte Bildnis zukommen.65 Erst Herder vermochte es, den Verdacht von Kanter abzulenken, der nach seinem Eindruck zwar ein Windbeutel und Schwätzer sei, mit dem Hinweis auf Moser und Lavater aber vermutlich die Wahrheit gesagt habe. Herders Argument fiel umso überzeugender aus, als er mit Lavaters Arbeitsweise vertraut war, die Publikation seines eigenen Portraits in den Physiognomischen Fragmenten fürchtete (oder zu fürchten vorgab66 ) und dem Freund versprach, den Abdruck des Stichs nach Möglichkeit zu verhindern: Die Geschichte von Lavater aber kann wahr seyn. Moser hat würklich Ihr Bild Lavater zu kopiren mitgegeben u. das Stechen ist ihm, weil er Zeichner u. Kupferstecher hält, ganz natürlich. Ich u. mein Weib sollen auch im 1ten Theil der Physiognomik stehen, ganz unkenntlich aber u. völlig gegen unser Wißen und Willen. Aergern Sie sich also nicht: wollen Sie nicht daselbst prangern, so kann ichs vielleicht für mich hintertreiben.67 Tatsächlich hat Herder die Veröffentlichung des Hamann-Portraits im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente nicht verhindert, sondern befördert, indem er Lavater auf dessen Bitte hin eine Charakterskizze Hamanns zur Verfügung stellte. Damit tat er Hamann letztlich einen Gefallen: Noch im März hatte dieser ihn damit beauftragt, Lavater ein Exemplar seiner ΠΡΟΛΕΓΟΜΕΝΑ zukommen zu lassen, erklärtermassen «um ihm Lust auch zu einem Schattenriß meines Kopfs zu machen», und Herder war diesem Wunsch nachgekommen.68 Schon im Herbst 1774 hatte Lavater ihn um seine Mitarbeit an den Physiognomischen Fragmenten gebeten; ein Jahr später schickte er ihm einen überarbeiteten Stich nach Hamanns Portrait mit der Bitte um einen Beitrag.69 Vgl. ZH III, 453, S. 198, S. 200. Herder und seine Frau hatten Lavater selbst Bilder von sich geschickt, vgl. Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, etwa 18. 12. 1773, HB III, 40, S. 60 (in JCLB noch nicht inventarisiert) und Bückeburg, 05. 11. 1774, HB III, 107, S. 126 / JCLB, JCL-br-02o4. 67 Johann Gottfried Herder an Johann Georg Hamann, Bückeburg, 29. 07. 1775, HB III, 175, S. 198. Herder wiederholt sein Versprechen einen Monat später, vgl. Johann Gottfried Herder an Johann Georg Hamann, Bückeburg, 25. 08. 1775, HB III, 181, S. 205. 68 Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder, Königsberg, 14. 03. 1775, ZH III, 440, S. 168; Johann Gottfried Herder an Johann Caspar Lavater, Bückeburg, Mitte Mai 1775, HB III, 161, S. 186. 69 «Hier Hamann, der eben fertig ist. Den vorigen hab’ ich weggesetzt, er war zu schlecht. […] Hamanns Charakter in die ‹Physiognomik› von Dir? O – dürft’ ich!» Johann Caspar Lavater an Johann Gottfried Herder, Zürich, 08. 11. 1775, HN, 40, S. 151. Vgl. ZBZ, FA Lav MS 564.138, Nr. 2 / JCLB, JCL-br-020a, S. 6. Der im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente gegenüber der S. 285 abgedruckte Portraitstich stammt von Johann Heinrich Lips; bei der ersten, von Kanter nach Königsberg gebrachten Version handelt es sich möglicherweise um die im Text selbst als unähnlich kritisierte Umrisszeichnung auf S. 286. Vgl. J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Faks.-Druck nach der Ausg. 1775–1778, Bd. 2, Zürich, Orell Füssli, 1968. 65 66 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits Johann Georg Hamann, Kupferstich von Johann Heinrich Lips, in: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. II, S. 285. Abb. 1 – Im August 1776 bekommt Hamann die ersten beiden Bände der Physiognomischen Fragmente endlich zu Gesicht und stürzt sich darauf wie «auf einen fetten Kalbsbraten». Über sein Portrait am Ende des zweiten Bandes (Abb. 1) schreibt er enthusiastisch an Herder: Niemals hat Original und Copie sich einander so angestaunt, Autor Leser und Kunstrichter, als der geneigte Leser über sich selbst. […] Kurz die Eitelkeit der Abigail für ein Weib von guter Vernunft und schön von Angesicht wenigstens von einem inspirierten Physiognomisten ausposaunt zu werden verwandelte den lieben guten Lavater zu einem Seher Gottes in meinen Augen und zu einem ausdrückl. Engel der mit einem Kelch vom Himmel erschien, mich im Staube meiner Sorgen zu stärken. Heil ihm, dem Nasen-, Mund- und Ohrseher, der vielleicht meiner nächsten langen Weile, die mir Gott schenken wird, ein sokratisches Lachen über meine eigene Gestalt, wie ich selbige in littore seines zweyten Versuchs zur Beförderung der Menschenkenntnis u Menschenliebe gesehen, zubereitet.70 Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder, Königsberg, 9.–10. 08. 1776, ZH III, 467, S. 240 f. Das von Hamann gestrichene Wort «Leser» wird in ZH in spitzen Klammern wiedergegeben. 70 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 83 84 Caroline Torra-Mattenklott Herders Charakterskizze – deren publizierte Version von Lavater überarbeitet und vermutlich um physiognomische Beobachtungen ergänzt worden ist71 – portraitiert Hamann als «hochstaunenden Satrapen», Seher und Propheten.72 Der Text supplementiert auf diese Weise genau jene Qualitäten, die dem intimen Portrait in Hamanns Auffassung abzugehen schienen: Er verwandelt den armen Sünder im Hemde, den Narren, Maleficanten und Esel in den Magus, als der Hamann in der Öffentlichkeit erscheinen wollte. Dass man seine Sehergabe dem intimen, für das Schlafzimmer des Vaters bestimmten Portrait tatsächlich ansehen konnte, schien Lavaters physiognomisches Urteil unzweifelhaft zu beweisen. Nur so lässt sich erklären, dass Hamann sich von dem publizierten Portrait geschmeichelt fühlte und Lavater dankbar zu einem Seher und Engel Gottes verklärte. Als Hamann im Frühjahr 1777 eine neue Stelle als Packhofverwalter antrat, wurde ihm eine kostenfreie Dienstwohnung zur Verfügung gestellt. Nach dem Umzug berichtet er Herder von der Einrichtung des Hauses und schildert detailliert die Anordnung der Bilder, die er an den Wänden seines neuen Wohn-, Schlaf- und Büchersaals aufgehängt hat. Die Beschreibung dieser persönlichen Bildergalerie wird zum narrativen Endpunkt eines kleinen, durchaus lustvoll inszenierten Briefromans, dessen imaginäre und tatsächliche Protagonisten sich im Verlaufe der Korrespondenz in effigie bei Hamann angesammelt haben und sich nun einträchtig dem Betrachter darbieten: Über Hamanns Bett hängen Portraits von Lavater, Christoph Kaufmann und Herder, über dem Sofa ein Bildnis Martin Luthers, unter einem Spiegel zwei von Stahlbaum in Kupfer gestochene Szenen aus dem Leben Jesu und dazwischen, auf rotem Grund, die Silhouette von Herders Sohn in ihrem «albernen […] Rahmchen».73 Den Abschluss bildet das Portrait des Autors selbst: Zur Seite im Schatten hängt das ärgerl. Bild mit dem Eselsohr, deßen geheime scandaleuse Geschichte Ihnen bekannt ist, und unter demselben das Motto zu meinem Autor Namen: Allzuklug sind seine Lehren, Allzuklug ist tumm!74 Goethe, den Lavater deswegen anfragte und dem er in diesem Kontext über Wieland ebenfalls einen Portraitstich Hamanns zukommen liess, lehnte die Aufgabe ab, vgl. Johann Caspar Lavater an Christoph Martin Wieland, Zürich, 13. 02. 1776, in: Wielands Briefwechsel, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, durch Hans Werner Seiffert, Bd. 5: Briefe der Weimarer Zeit, Berlin, Akademie Verlag, 1983, 510, S. 471 / JCLB, JCL-br-05er und Johann Wolfgang Goethe an Johann Caspar Lavater, Weimar, etwa 20. 03. 1776, WA, IV. Abt., Bd. 3, 421, S. 42 / in JCLB noch nicht inventarisiert. Zu Lavaters eigener Überarbeitung von Herders Text vgl. Johann Konrad Pfenninger und Johann Caspar Lavater an Johann Gottfried Herder, Zürich, 05.–27. 02. 1776, Nachschrift von Lavater vom 27. Februar, HN, 43, S. 161 / JCLB, JCL-br-00v1. 72 J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 2, S. 285. 73 Johann Georg Hamann an Johann Gottfried Herder, Königsberg, 18. 05. 1777, ZH III, 500, S. 344 f. 74 Ebd., S. 345. 71 xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 Publizistische Indiskretionen, Selbstbilder und Portraits Die von Lips gestochene und von Lavater publizierte Version dieses Bildes hat sich durch Herders emphatischen Kommentar in das Portrait eines Sehers und Propheten verwandelt; die ältere, weniger gelungene Kopie aus Kanters Portefeuille zeigt in Hamanns Augen nach wie vor das peinliche Eselsohr. Die Bildunterschrift macht es zum Sinnbild eines Irrtums, den Hamann mit seinem «Autor Namen» assoziiert – zu einer weiteren, ironischen Variante seines Selbstbildes also, die zwischen intimer und öffentlicher persona changiert. Sie fügt sich bruchlos in Hamanns Wohnzimmer ein, in dessen Ausstattung und Funktion sich familiäre Intimität und literarische Öffentlichkeit – nicht ohne gewisse Spannungen – auf vielfältige Weise durchdringen. Prof. Dr. Caroline Torra-Mattenklott, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen, Templergraben 55, D-52056 Aachen, c.torra-mattenklott@germlit.rwth-aachen.de xviii.ch 11/2020, 63–85, DOI: 10.24894/2673-4419.00006 85