Gesnerus 

Book Notes

Ges Band 70Book Notes10.24894/Gesn-en.2013.70021 15.12.2013Gesnerus Band 70:372-375Gesnerus 70/2 (2013) 372–375 Book Notes Hähner-Rombach, Sylvelyn: Gesundheit und Krankheit im Spiegel von Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg 1946 bis 1980. Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2011. 193 S. 27 s/w Tab. (Med GG-Beihefte 40). I 40.10. ISBN 978-3-515-09914-1 Wenn Geschichte davon lebt, neue Quellengattungen für neue Fragestellungen zu erschließen, dann besteht der Beitrag von Sylvelyn Hähner-Rombach darin, Bittgesuche und Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg zwischen 1946 und 1980 systematisch zu analysieren. Vier bis zehn Prozent der Petitionen betrafen in diesem Zeitrahmen die Bereiche Gesundheit und Krankheit. Die seit der Gründung der Bundesrepublik besonders für Baden-Württemberg, Bayern, Schleswig-Holstein und Berlin zugänglichen Petitionen sind nach den Auswertungen der Autorin eine aussagekräftige Quelle für eine patientenorientierte Sozialgeschichte der Medizin. Sie erlauben einen direkten Zugriff auf individuelle und kollektive Deutungen, Wertungen und soziales Wissen der betroffenen Petenten und Petentinnen. Die quantitative und qualitative Auswertung der Quellengattung, die bisher besonders für die Frühe Neuzeit verwendet wurde, gliedert sich in eine kurze methodologische Einleitung, einen Abriss der politischen Strukturen Baden-Württembergs in den ersten Nachkriegsjahren, einen der quantitativen Analyse der Petitionen gewidmeten Teil und schließlich einen langen Teil zur qualitativen Analyse der Petitionen von Strafgefangenen. Die Arbeit zeigt auf der einen Seite den Quellenwert von Petitionen für die zeitgeschichtliche Forschung. Andererseits eröffnet die Autorin einen Blick auf soziale Logiken, die sowohl die Patientengeschichte einer spezifischen Gruppe, den Strafgefangenen, darstellen als auch darüber hinaus gesundheitliches Anspruchsdenken und -verhalten im Deutschland der Nachkriegsjahre und des Wiederaufbaus reflektieren. Hoffman, Susanne: Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert? Geschlechterspezifische Diskurse und gesundheitsrelevante Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern. Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2010. 538 S. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 36). I 76.–. ISBN 978-3-515-09681-2 Im Zentrum dieser 540 Seiten umfassenden Abhandlung steht eine Analyse gesundheitsrelevanter Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern während des 20. Jahrhunderts. Alltägliche Verhaltensweisen und Orientierungen von Männern und Frauen im Umgang mit gesundheitlichen Risiken und Ressourcen werden auf der Grundlage von 155 unveröffentlichten «popularen Autobiographien», d.h. von 372 Gesnerus 70 (2013) nichtprofessionellen Hobby-, Laien- oder Gelegenheitsautorinnen und -autoren verfassten Selbstdarstellungen, untersucht. Die Frage nach Gesundheitslebensstilen im 20. Jahrhundert geht dabei von dem «Geschlechterparadox» aus, welches darauf hinweist, dass Frauen über weite Strecken des Jahrhunderts bei einer höheren durchschnittlichen Lebenserwartung objektiv wie subjektiv einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als Männer. Wenn Frauen mehr über ihre Psyche und Krankheiten Dritter schreiben als Männer, ästhetisch motivierte Diäten wählen oder in allen Lebensphasen stärker von sexueller Gewalt bedroht werden, wie einzelne Kapitel dies detailliert darstellen, gelingt es dieser Arbeit in der Tat, einen Beitrag zu liefern, der geschlechterspezifische Diskurse mit gesundheitsrelevanten Verhaltensstilen verbindet. Susanne Hoffmann zeigt aber darüber hinaus anhand sehr ausführlicher und überzeugender Analysen und Beispiele, dass auch soziale Schicht, Wohnort und Generation den gesunden Alltag prägende Variablen sind. Eine lohnende Lektüre zur Sozialgeschichte der Gesundheit im 20. Jahrhundert. Hüntelmann, Axel C.: Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876–1933. Göttingen, Wallstein Verlag, 2008. 488 S. Abb. I 64.90. ISBN 978-3-83530343-0 Die Geschichte des Gesundheitsamtes ist eine willkommene Studie, die einerseits eine wesentliche Lücke der Geschichte der Medizin und der Gesundheit in Deutschland schließt und die es andererseits ermöglicht, die Verhältnisse von Gesundheit, Politik, Wissenschaft und Verwaltung in der Zeit des Kaiserreichs zu verfolgen. Das Kaiserliche Gesundheitsamt wurde 1876 als oberste Reichsbehörde für das Medizinalwesen gegründet und nach dem Ersten Weltkrieg in Reichsgesundheitsamt umbenannt (die Behörde wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nochmal als Bundesgesundheitsamt «neugegründet»). Axel Hüntelmanns «Anatomie» einer unsichtbaren Behörde beruht auf drei Quellengattungen: Denk- und Festschriften, originales Archivmaterial und publizierte wissenschaftliche Arbeiten. Sie gliedert sich in fünf Kapitel, die sich mit der Gründung einer «medicinalpolizeilichen Centralbehörde» (1), deren institutionellen Entwicklung von 1876 bis 1933 (2), deren Organisation und Aufgaben (3), deren Einbindung in die Interessen und Ziele des Staates (4) und schließlich deren Handlungsstrategien und Beziehungsnetzwerke (5) beschäftigen. Es ist sehr erfreulich, dass diese Arbeit weit über eine Institutionsgeschichte hinaus geht und – allgemeine, Wissenschafts- und Medizingeschichte verbindend – besonders auch das praktische Arbeiten und die konkreten Vorgehensweisen der Behörde beschreibt. Zwischen Verwissenschaftlichung der Gesundheit und staatlicher Gesundheitspolitik in der Praxis eröffnet Axel Hüntelmann somit dem Leser einen faszinierenden Blick auf die frühe Geschichte der elementaren Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in der öffentlichen Hygiene des 20. Jahrhunderts. Es war an der Zeit, dass dieser zentralen und wenig beachteten Behörde eine Studie gewidmet wurde. Gesnerus 70 (2013) 373 Metzger, Nadine: Wolfsmenschen und nächtliche Heimsuchungen. Zur kulturhistorischen Verortung vormoderner Konzepte von Lykanthropie und Ephialtes. Remscheid, Gardez!-Verlag 2011. III+330 S. (Studien zur Geschichte der Medizingeschichte und Medizingeschichtsschreibung, 4). I 39.90. ISBN 978-3-89796-233-0 Nadine Metzger legt mit der überarbeiteten deutschen Version ihrer Dissertation eine spannende Studie zu einer Thematik vor, der seit einigen Jahren eine hohe Aufmerksamkeit insbesondere der jüngeren Generation zukommt: Metzger befasst sich mit Wolfsverwandlungen und Alpmaren. Allerdings geht es ihr weniger um moderne Fantasy-Figuren als vielmehr um die antiken Krankheitskonzepte des oft sexuell konnotierten «Ephialtes» und der «Lykanthropie». Ihre profunden Kenntnisse der antiken Quellen erlauben es ihr, ganz unterschiedliche Textgattungen, von den Überlieferungen bekannter Dichter und Naturphilosophen bis hin zu medizinischen Abhandlungen und Zauberpapyri, zu analysieren und mit späteren magischen Konzepten zu vergleichen. Dabei arbeitet sie die Historizität dieser Vorstellungen heraus und trägt damit zur aktuellen Diskussion über die kulturelle Bedingtheit von Krankheitskonzepten bei. Das Buch ist – und darin liegt sein ganz besonderer Reiz – nicht nur für jeden Liebhaber antiker Literatur ein Leckerbissen, es vermag über das faszinierende Thema auch Personen zu begeistern, denen diese Epoche bisher völlig fremd war. Mildenberger, Florian: Medizinische Belehrung für das Bürgertum. Medikale Kulturen in der Zeitschrift «Die Gartenlaube» (1853–1944). Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2012. 230 S. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 45). I 43.–. ISBN 978-3515-10232-2 Keine andere deutschsprachige Zeitschrift erreichte ein breiteres Publikum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Die Gartenlaube. Sie spielte eine zentrale Rolle in der öffentlichen Thematisierung der Medizin und der Popularisierung medizinischen Wissens. Das Buch zeichnet in chronologischer Abfolge die medizinischen Themen und die öffentliche Rolle der Zeitschrift nach von der Gründung über die Blütephase bis in die Zeit ihrer langsam abnehmenden Bedeutung nach der Jahrhundertwende. Dabei wird deutlich, wie die Zeitschrift die individuelle Verantwortung und Prävention förderte und weniger auf staatliche Intervention setzte. Mildenberger fokussiert vor allem auf das 19. Jahrhundert und handelt die Zeit nach 1918 kurz ab. Sein Buch ist ein willkommener Beitrag zur erst in Ansätzen untersuchten Geschichte der medizinischen Populärliteratur. Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Herausgegeben von Urs B. Leu. Zug, Achius Verlag, 2012. 338 S. Ill. CHF 58.–. ISBN 978-3905351-17-0 Der Untertitel des Buchs ist Programm. Scheuchzer galt und gilt vielen als Übergangsfigur von der barocken Gelehrsamkeit hin zur dynamischen Aufklärung. Der Fokus auf seine Sintfluttheorie trug wesentlich dazu bei, seine traditionellen Seiten hervor- 374 Gesnerus 70 (2013) zuheben. Der vorliegende Sammelband beleuchtet unterschiedliche, teilweise noch wenig beachtete Facetten Scheuchzers und lädt dazu ein, sich stärker dem Frühaufklärer zuzuwenden. Erfreulich ist insbesondere, dass der Sammelband mit 10 Aufsätzen neben den gedruckten Werken vor allem Scheuchzers Handschriften, Korrespondenz, Bibliothek, Fossiliensammlung und damit wenig bekanntes Material ins Zentrum stellt. Ein Highlight ist die Gegenüberstellung der Fotografien von 84 Fossilien mit ihren Abbildungen aus dem 18. Jh., die zur Reflexion über die Geschichte der wissenschaftlichen Illustration anregt. Schattner, Angela: Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge. Das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16.–18. Jahrhunderts. Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2012. 299 S. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 42). CHF 46.–. ISBN 978-3-515-09947-9 Die patientenorientierte Geschichte der «epilepsia» untersucht für den Zeitraum der Frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert), wie Erkrankungen, die als Epilepsie, Fallsucht, fallende Sucht, Hinfallende Krankheit usw. bezeichnet, von den Zeitgenossen wahrgenommen wurden und wie sich der gesellschaftliche Umgang mit den daran Erkrankten gestaltete. Die Arbeit stützt sich nicht auf Patientenbriefe, die als klassische Quelle der heutigen Geschichte aus der Sicht der Patienten gelten, da es der Autorin nicht gelang, «ein genügend großes Sample für Epileptiker» zusammenzustellen. Quellen dieser Arbeit sind vielmehr die «Autobiografie eines Epileptikers der gebildeten Oberschicht» und Gnadensuppliken von Vertretern der Mittel- und Unterschicht an die frühneuzeitlichen Obrigkeiten. Geographisch und zeitlich liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf den deutschsprachigen Gebieten des 16. bis 18. Jahrhunderts. Obwohl die Arbeit den Anspruch erhebt, den deutschsprachigen Raum zu untersuchen, beschränken sich die Quellenbestände der Suppliken und Fürsorgeeinrichtungen auf drei Gebiete: die Landgrafschaft Hessen-Kassel, das Hochstift Würzburg und die Grafschaft Saarbrücken. Ein erster Teil der Arbeit widmet sich den Vorstellungen und Therapien von Heilern auf dem damaligen medizinischen Markt, um die Wahlmöglichkeiten und Unterschiede zwischen den Angeboten für Kranke verstehen zu können. Ein zweiter Teil beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen heilbarer und unheilbarer Epilepsie auf der Grundlage der 1798 in Zürich erschienenen Autobiographie Diaetophilus und der Suppliken. Ein dritter Teil dreht sich um die «obrigkeitlichen Maßnahmen». Zusammenfassend kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die chronische Krankheit als Stigma zu einem gewissen Grad an Isolation der Betroffenen führte, die auf einer angenommenen Kontagiosität beruhte. Medizinische Deutungskonzepte stellten laut der Autorin einen wesentlichen Beitrag zum Selbstverständnis des Leidens dar. Beide Feststellungen dürften auch den zugrundeliegenden Quellenbeständen Rechnung tragen. Gesnerus 70 (2013) 375