Schweizerische Zeitschrift für Philosophie 

Zwischen Diskontinuität und Traditionsbezug:

StPh Band 76Zwischen Diskontinuität und Traditionsbezug: 10.24894/StPh-de.2017.76014 10.10.2017Schweizerische Zeitschrift für Philosophie Band 76:245-260René TorklerKurzbeschreibung Hannah Arendt’s relation to the philosophical tradition is highly ambivalent. On the one hand, she states an irreversible break with the tradition, caused by historical events that can never again allow to refer to it in an affirmative way. On the other hand, it seems obvious that an understanding of the contem-porary political world would not be possible without the help of conceptual instruments developed within the tradition. Even though she never explicitly discusses her hermeneutical approach, her own description of what she presents as Walter Benjamin’s method of dealing with the philosophical tradition provides us with hints of her views on the matter. She refers to the hermeneutical method as «pearl diving». In this paper, I defend the idea that the same method is at play also in her own works. Since she moreover speaks of a «demolition» of tradition, I argue that her method shows a high degree of affinity to Heidegger’s. My conclusion is that her attitude towards the philosophical tradition ranges between destruction and the will to preserve it. Studia philosophica 76/2017 245 René Torkler Zwischen Diskontinuität und Traditionsbezug: Hannah Arendts Hermeneutik Hannah Arendt’s relation to the philosophical tradition is highly ambivalent. On the one hand, she states an irreversible break with the tradition, caused by historical events that can never again allow to refer to it in an affirmative way. On the other hand, it seems obvious that an understanding of the contemporary political world would not be possible without the help of conceptual instruments developed within the tradition. Even though she never explicitly discusses her hermeneutical approach, her own description of what she presents as Walter Benjamin’s method of dealing with the philosophical tradition provides us with hints of her views on the matter. She refers to the hermeneutical method as «pearl diving». In this paper, I defend the idea that the same method is at play also in her own works. Since she moreover speaks of a «demolition» of tradition, I argue that her method shows a high degree of affinity to Heidegger’s. My conclusion is that her attitude towards the philosophical tradition ranges between destruction and the will to preserve it. Wenn wir uns mit der Geschichte der Philosophie befassen, so tun wir dies in ­aller Regel nicht oder zumindest nicht in erster Linie, weil wir Positionen der Philosophiegeschichte einen bloß ästhetischen oder gar anekdotischen Wert zu­ schreiben. Der Philosophiehistoriker legt es normalerweise nicht auf den Aufbau eines Kuriositätenkabinetts an. Vielmehr erhoffen wir uns vom Zugriff auf die philosophische Tradition Im­ pulse für gegenwärtige Diskussionen, möglicherweise sogar Antworten auf ge­ genwärtige ethische oder politische Probleme. Wir gehen davon aus, dass uns die Texte der Philosophiegeschichte in dem Sinne noch etwas sagen, dass ihre Be­ griffe und Argumentationen für unser heutiges Leben eine Bedeutung besitzen oder diese zumindest durch unseren Prozess der Interpretation wieder gewinnen können. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, da der Kontext der Entstehung philosophischer Denkgebäude vielfach in einer so hohen zeitlichen und damit zumeist auch kulturellen Entfernung zu unseren eigenen Lebenszusammen­ hängen liegt, dass man mit Recht eine gewisse Fremdheit konstatieren kann, die uns in unserem Zugriff auf einen philosophischen Text von demjenigen trennt, 246 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik der sich als Zeitgenosse an die Interpretation eines Werkes begeben hat. Es könnte daher sein, dass unser Anliegen an einer unüberwindlichen Inkommensurabilität scheitern muss, die sich aus der kaum zu überbrückenden historisch-kulturellen Distanz zum Entstehungskontext eines Textes ergibt. Wie nicht zuletzt Kurt Flasch gezeigt hat, kann eine Kontinuität der Welt oder des Denkens, welche uns mit den Denkern der Tradition verbindet, keineswegs selbstverständlich als ge­ geben vorausgesetzt werden.1 Wollen wir aber die diskursive Auseinandersetzung mit Positionen der Tradition nicht von vornherein aufgeben, so dürfen wir die folgenden beiden Fragen nicht unbeantwortet lassen: Was berechtigt uns also zu der Annahme, dass in Texten der Philosophie­ geschichte etwas aufgehoben ist, das für uns noch Bedeutung besitzt? Und wie stellen wir uns das Verfahren vor, mittels dessen diese Bedeutsamkeit der Tradi­ tion aufgespürt oder (zurück-)gewonnen werden kann? Mit Blick auf unseren Umgang mit der philosophischen Tradition steht also einerseits die Methode des Unternehmens und andererseits seine Legitimität überhaupt in Frage – und wir werden bei beidem versuchen, in Hannah Arendts Umgang mit der abendländi­ schen Tradition Hinweise auf mögliche Antworten zu finden. 1. Der Traditionsbruch Dass in diesem Zusammenhang gerade auf Hannah Arendt rekurriert werden soll, ist sicher in mehrerlei Hinsicht überraschend. So lässt sich etwa mit Recht bezweifeln, dass eine Indienstnahme ihres Denkens für Zwecke der Philosophiegeschichte in Arendts Sinne gewesen wäre. Nicht nur hielt sie selbst von Philosophiegeschichte ähnlich wenig wie von Geschichtsphilo­ sophie; sie ging auch über lange Jahre auf Distanz zur akademischen Philosophie überhaupt. Diese Haltung kommt am deutlichsten in dem berühmten Interview zum Ausdruck, das Günter Gaus 1964 mit ihr führte. Dort sagt sie sehr bestimmt: Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf – wenn man davon überhaupt sprechen kann – ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Ich glaube auch nicht, daß ich in den Kreis der Philosophen aufgenommen worden bin, wie Sie freundlicherweise meinen.2 1 2 Kurt Flasch: Wie schreibt man Geschichte der mittelalterlichen Philosophie? Zur Debatte z­ wischen Claude Panaccio und Alain de Libera über den philosophischen Wert philosophie­ geschichtlicher Forschung, in ders.: Philosophie hat Geschichte, Bd. II: Theorie der Philosophiehistorie (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2005) 294–318, hier 311–314. Hannah Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus, in: Hannah Arendt. Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2007) 46–72, hier 46. Studia philosophica 76/2017 247 Politische Theorie zu betreiben hieß für Hannah Arendt, die in der politischen Auseinandersetzung zur Verhandlung stehenden «menschlichen Angelegen­ heiten» aus der weltlichen Praxis selbst heraus zu betrachten, anstatt von einer philosophischen Metaperspektive aus Ordnung in das Chaos der Welt bringen zu wollen. Da Hannah Arendt die Politik wesentlich als Sphäre der Meinungen be­ griff, erschien ihr diese (typisch) philosophische Haltung als anmaßend und dem Politischen zudem nicht angemessen. Aus einer weltenthobenen Perspektive von oben herab über das politische Geschehen urteilen zu wollen hielt Arendt für eine Art der Auseinandersetzung, die dem Charakter des Politischen nicht gerecht zu werden vermag und die sie dazu brachte, die Philosophie vielfach für ihre Welt­ losigkeit zu kritisieren. In ihr Denktagebuch notierte sie hierzu: «Der Philosoph wird herrschsüchtig, weil er über das Meinungschaos Gewalt haben will.»3 ­Arendt ging also nicht nur davon aus, niemals in den Kreis der Philosophen auf­ genommen worden zu sein, sie war auch der Auffassung, dass eine Aufnahme in diesen Kreis ihrer Tätigkeit sogar möglicherweise Schaden zufügen könnte und blieb deshalb sozusagen absichtlich außen vor: «Ich will Politik sehen mit, ge­ wissermaßen, von der Philosophie ungetrübten Augen.»4 Doch wenn die Philosophie unsere Augen mit Blick auf aktuelle menschliche Problemstellungen eher trübt, so scheint dies dem eingangs angesprochenen An­ liegen philosophiegeschichtlicher Forschung, einen Beitrag zu Diskussionen und Problemen der Gegenwart leisten zu können, bereits deutlich entgegenzustehen. Erschwerend kommt hinzu, dass Arendt die Verbindung zur abendländischen Tradition auf eine nicht weniger grundsätzliche Weise als abgerissen betrachtete: Mit dem Verlust der Tradition haben wir den Ariadnefaden verloren, der uns durch die ungeheuren Reiche der Vergangenheit sicher geleitete, der sich aber auch als die Kette erweisen könnte, an die jede Generation neu gelegt wurde und durch die ihr die Vergangenheit in einem im vorhinein vorgezeichneten Aspekt erschien.5 Arendt ging davon aus, dass eine viele Jahrhunderte währende Kontinuität, wel­ che es den Menschen erlaubt hatte, sich mit Hilfe von Beständen der abend­ ländischen Tradition in ihrer Welt zu orientieren, durch einen Traditionsbruch zerstört worden war, der im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts seinen vorläufi­ gen Höhepunkt erreicht hatte. 3 4 5 Hannah Arendt: Denktagebuch, Bd. I (München, Zürich: Piper, 2003) 162. H. Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus, op. cit., 47. Hannah Arendt: Was ist Autorität?, in: Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2000) 159–200, hier 161. 248 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik Mit dem Totalitarismus hatte sich für sie etwas entwickelt, das so neu war, dass die Begriffe der Tradition an ihm ganz grundsätzlich scheitern mussten. Die Ge­ halte der Philosophiegeschichte erwiesen sich in dieser Situation zunehmend als unzulänglich, um das erfahrene Weltgeschehen zu fassen: «Das Vertrackte an der Weisheit der Vergangenheit ist, daß sie uns sozusagen unter den Händen zerrinnt, sobald wir sie ernsthaft auf die zentralen politischen Erfahrungen unserer eige­ nen Zeit anzuwenden suchen.»6 Dieses grundsätzliche Problem, mit tradierten Kategorien an neuen Phänomenen zu scheitern, erhielt für Arendt im 20. Jahr­ hundert eine neue Qualität; das abnehmende Potenzial tradierter Begriffe stei­ gerte sich hier bis hin zu einem Bruch, der die in der Moderne bereits zusehends schwächer werdende Kontinuitätslinie, die zur Tradition noch hatte gezogen ­werden können, endgültig durchtrennte. «Verlorengegangen ist die Kontinuität der Vergangenheit, wie sie von einer Generation auf die andere überzugehen und dabei eine Eigenständigkeit zu entwickeln schien.»7 Die Welt, in der das, was Arendt als abendländische Tradition und damit als ein noch relativ geschlossener Zusammenhang vor Augen stand, seine orientie­ rende Kraft noch voll hatte entfalten können, schien mit der gegenwärtigen Welt, in der jedes Verstehen an den Gräueln totalitärer Regime scheitern musste, zu wenig gemein zu haben, um diese Welten in einem Verhältnis ungebrochener Kontinuität zu sehen. Der Traditionsbruch, den sie konstatierte, hatte diese Kon­ tinuität obsolet werden lassen, sodass von einer geschlossenen Überlieferung nicht mehr die Rede sein konnte. Die Brauchbarkeit von Begriffen und Maß­ stäben der Tradition erschien Arendt durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts so eingeschränkt worden zu sein, dass es war, «als ob uns alle Kategorien des Denkens und Maßstäbe des Urteilens gleichsam unter der Hand explodierten, ­sobald wir sie hier anwenden wollen.»8 Im Ergebnis musste dies für den Menschen des 20. Jahrhunderts ein enormes Orientierungsdefizit mit sich bringen, denn «da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln». Arendt zufolge hatte Toqueville diesen Satz ebenfalls «aus einer Situation heraus geschrieben, in der die philo­ sophischen Kategorien der Vergangenheit nicht mehr zum Verstehen ausreichten.»9 6 7 8 9 Hannah Arendt: Verstehen und Politik, in: Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2000) 110–128, hier 112. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd. I.: Das Denken (München, Zürich: Piper, 1979) 208. Hannah Arendt: Die Menschen und der Terror, in: Politik und Verantwortung – Zur Aktualität von Hannah Arendt, hg. von Waltraud Meints und Katherine Klinger (Hannover: Offizin, 2004) 53–63, hier 58. Hannah Arendt: Philosophie und Politik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993) 381–400, hier 399. Studia philosophica 76/2017 249 Und was 1840 gegolten hatte, galt für Arendt gut 120 Jahre später umso mehr – in einer Situation, da der Traditionsbruch des 20. Jahrhunderts Grundkonstanten ­politischen Denkens massiv in Frage gestellt hatte. Einem radikal Neuen tragen die überlieferten politischen Kategorien nur un­ zureichend Rechnung – auch wenn wir gar nicht anders können, als sie weiterhin als Ausgangspunkt zu nehmen, um dieses Neue begreiflich zu machen.10 Syste­ matisch stellt sich hier also insgesamt die Frage, wie sich unser Umgang mit der Tradition gestalten soll, «wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind und die ­Erinnerung an den Anfang ganz und gar verblaßt ist.»11 2. Die Hermeneutik des Perlentauchens Wer sich mit Arendts Werk befasst, wird schnell feststellen, dass weder ihre Wei­ gerung, sich als Philosophin zu verstehen, noch die Diagnose des Traditions­ bruches sie daran hinderten, sich in einer immensen Breite mit der Tradition abendländischer Philosophie auseinanderzusetzen. Wir müssen also davon aus­ gehen, dass Arendt durchaus einen Weg gesehen hat, wie eine sinnvolle Bezug­ nahme auf Gehalte der philosophischen Tradition trotz der genannten Probleme denkbar und möglich ist. Als Antrieb beschreibt sie ebenfalls in dem benannten Interview mit Günter Gaus den Drang, nicht in erster Linie wirken, sondern ­verstehen zu wollen. Dies wiederum schien sich ganz ohne Bezugnahme auf Ver­ stehensinstrumente der Tradition nicht bewerkstelligen zu lassen.12 Ihre wieder­ holt vorgetragene Devise «Ich will verstehen»13 hat ihrem Werk gerade in jünge­ rer Zeit die Rubrizierung als hermeneutische Position eingetragen.14 Dazu ist 10 Vgl. H. Arendt: Verstehen und Politik, op. cit., 115. 11 Arendt, Hannah: Tradition und die Neuzeit, in: Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2000) 23–53, hier 35. 12 Man kann in dem Anliegen, trotz Traditionsbruch einen Zugriff auf die Tradition denkbar zu machen, durchaus eine Parallele zwischen Arendts und Kosellecks Denken sehen, denn «beide entwickelten metahistorisch-anthropologische Kategorien, die diesen Traditionsbruch perspektivieren und zugleich überbrücken sollten.» Stefan-Ludwig Hoffmann: Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Hans Joas und Peter Vogt (Frankfurt: Suhrkamp, 2011) 171–204, hier 188. 13 H. Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus, op. cit., 48. 14 Dag Javier Opstaele: Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff (Würzburg: Königshausen und Neumann, 1999); Dag Javier Opstaele: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Hannah Arendts hermeneutische Theorie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 55/1 (2001) 101–117; Peter Trawny: Verstehen und 250 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik zunächst festzustellen, dass dies ihr Denken nur in einem sehr eingeschränkten Sinn abbildet, denn es ist «letztlich nicht an der Tradition hermeneutischer ­Theorien geschult.»15 Wenngleich sie nämlich zusammen mit Gadamer Vorlesun­ gen bei Heidegger gehört hatte, hätte ihr sicherlich wenig ferner gelegen, als sich einer philosophischen Schule, sei es der Hermeneutik oder einer anderen, zuzu­ ordnen. Das liegt einerseits daran, dass ihr die Diagnose des Traditionsbruches kein affirmatives Traditionsverhältnis gestattete, wie es beispielsweise in Gadamers Hermeneutik zum Ausdruck kommt: Es wird sich in solchem Verstehen immer um mehr handeln, als nur um historische Konstruktionen der vergangenen ‘Welt’, der das Werk zugehörte. Unser Verstehen wird immer zugleich ein Bewußtsein der Mitzugehörigkeit dieser Welt enthalten. Dem aber entspricht eine Mitzugehörigkeit des Werkes zu unserer Welt. […] Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.16 Da Arendt nicht mehr davon ausging, dass die Welt der Gegenwart und die Welt jenseits des Traditionsbruches sich noch in der von Gadamer beschriebenen Weise vermitteln ließen, war ein solches «Einrücken» für Arendt kaum noch denkbar. Die Kontinuität des von Gadamer unterstellten Überlieferungszu­ sammenhanges war für sie nicht mehr gegeben. «Dieser Traditionsbruch ist heute eine vollendete Tatsache; weder ist er das Resultat von Wahl und Vorsatz, noch ist er abhängig von weiteren Entscheidungen.»17 Daneben muss man hier andererseits auch deutlich feststellen, dass ihr jeder Anspruch auf Methodenreflexion grundsätzlich fremd war. «Hannah Arendt be­ fasste sich nicht mit methodologischen Überlegungen.»18 Seyla Benhabib hat in diesem Zusammenhang vielmehr von «hermeneutischen Mysterien»19 ge­ sprochen, Antonia Grunenberg sogar «von einer systematischen Verweigerung 15 16 17 18 19 Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen «Urteilskraft» als politisch-ethische Hermeneutik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 60/2 (2006) 269–289. Regine Romberg: Athen, Rom oder Philadelphia? Die politischen Städte im Denken Hannah ­Arendts. (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007) 49. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme­neutik (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2010) 295. H. Arendt: Tradition und die Neuzeit, op. cit., 35. Seyla Benhabib: Hannah Arendt und die erlösende Kraft des Erzählens, in: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, hg. von Dan Diner (Frankfurt a.M.: Fischer, 1988) 150–174, hier 156. Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006) 33. Studia philosophica 76/2017 251 wissenschaftlicher Methodologie.»20 Wir finden hier also nur wenig geordnete Hinweise auf eine klare hermeneutische Vorgehensweise. Dieser Befund ent­ spricht nicht zuletzt ihrer Überzeugung, dass eine allzu festgefügte Methodo­logie am Wesen politischer Phänomene letztlich vorbeiführen muss und «daß die über­ triebene Beschäftigung mit methodischen Fragen, die zu einer Manie geworden ist, einem Ausweichen vor den drängenden Fragen und Sachen gleichkommt.»21 Sie selbst sprach in der ihr eigenen, recht lapidaren Art nur davon, dass man «sich nicht selber in die Karten gucken soll.»22 Wenn wir Arendt hier nun dennoch auch in einer methodischen Perspektive thematisieren wollen, so tun wir dies im Anschluss an die in der Arendtforschung inzwischen zu einem recht breiten Konsens gewachsene Einschätzung, dass eine solche methodische Reflexion auf indirekte Weise in Arendts Text über Walter Benjamin zu finden ist.23 Arendt stellt ihren Freund als jemanden dar, der von einer liebenswerten Sam­ melleidenschaft geprägt war, die sich auch auf das Sammeln von Zitaten er­ streckte. Dabei habe Benjamin entdeckt, dass «an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war.»24 Diese Entdeckung eröffnete für Arendts eigenes Denken nun die Option eines Verhältnisses zur abendlän­ dischen Tradition, die Ernst Vollrath das «Verfahren des historischen Zitats»25 ge­ nannt hat. Für diese Vorgehensweise ist es wesentlich, die Tradition nicht als ­einen monolithischen Zusammenhang zu begreifen, und den Gedanken des Tra­ ditionsbruchs weniger als einen Bruch mit der Tradition zu verstehen, sondern vielmehr als Hinweis darauf, dass die Tradition nur noch als etwas Zerbrochenes vorliegt, in Scherben und Bruchstücke zerstoben. Auf diese Weise wurde über das Vorbild des Zitate sammelnden Walter Benjamin der Blick frei auf ein Ver­ ständnis des Traditionsbruches, nach dem der Zusammenbruch eines festgefüg­ ten Traditionszusammenhanges auch als ein Ereignis verstanden werden kann, 20 Antonia Grunenberg: Denken im Schatten des Traditionsbruchs, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 16 (2007) 101–119, hier 115. 21 Ernst Vollrath: Hannah Arendt und die Methode des politischen Denkens, in: Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, hg. von Adalbert Reif (Wien, München, Zürich: Europaverlag, 1979) 59–84, hier 60. 22 Die Äußerung findet sich in dem besagten Interview mit Günter Gaus, fiel in der Textausgabe allerdings – wohl aufgrund ihrer Beiläufigkeit – der sehr ungenauen Transkription zum Opfer und ist daher nur in der Originalfassung der Videoaufnahme greifbar. 23 Vgl. dazu z.B. S. Benhabib: Die melancholische Denkerin, op. cit., 156–159 sowie Helgard Mahrdt: «Unausrottbar ist das Poetische, solange es das Wundern gibt» Hannah Arendt über Walter Benjamin, in: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, hg. von Wolfgang Heuer und Irmela von der Lühe (Göttingen: Wallstein Verlag, 2007) 31–49, hier 41, 48f. 24 Hannah Arendt: Walter Benjamin, in: Hannah Arendt: Benjamin, Brecht. Zwei Essays (München: Piper, 1971) 7–62, hier 49. 25 Ernst Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft (Stuttgart: Klett-Cotta, 1977) 19. 252 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik welches die Gehalte dieses Zusammenhanges freisetzt: Arendt «betrachtete ­diesen Bruch als ein Zeichen, daß die Fäden, die Gedankensplitter frei und auf solche Weise, daß die Freiheit geschützt blieb, aufgenommen und zu etwas Neuem, Dynamischen und Erhellenden gemacht werden sollten.»26 Wenn uns die Tradition als geschlossener Zusammenhang auch nicht mehr trägt, so ist sie uns in ihrer zersplitterten Form doch in Form ihrer Einzelelemente zugänglich, aus denen etwas Neues entstehen kann. «Für Arendt ist die Vergangenheit wie ein Steinbruch: Einzelne Elemente werden herausgebrochen und mit anderen neu zusammengeführt.»27Arendt hat diesen Gedanken eines Traditionsverhältnisses nach dem Traditionsbruch in der berühmt gewordenen Metapher des Perlen­ tauchers gefasst, die den methodischen Aspekt ihres Denkens reflektieren hilft: Dieses Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den ‘Denkbruchstücken’, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht es in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dieses Denken leitet, ist die Überzeugung, daß zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, daß aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; daß in der ‘Meereshut’ – dem selbst nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entste­ hen, die […] überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt.28 Wir sind also von der uns nur noch in Form von Fragmenten zugänglichen Tra­ dition nicht abgeschnitten – wohl aber zusehends entfernt wie der Meeresgrund vom Tageslicht. Unser Verhältnis zur philosophischen Tradition stellt sich hier nicht als ein Überlieferungsgeschehen dar, das uns in gerader Kontinuitätslinie mit dieser verbindet und in das wir nur «einzurücken» bräuchten, um von ihm zu profitieren. Der Perlentaucher versinnbildlicht die Aufgabe, im Zugriff auf die Tradition eine aktive Rolle einzunehmen, bei der er einzelne Bruchstücke aus dem ehemals fest gefügten Zusammenhang der Tradition, den über Jahrhunderte gewachsenen Korallen, aktiv auswählt, um sie ans Tageslicht der Gegenwart zu retten und dort einzubringen. 26 Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin, in: Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, hg. von Adalbert Reif (Wien, München, Zürich: Europaverlag, 1979) 319– 325, hier 319. 27 Ingeborg Nordmann: Hannah Arendt (Frankfurt am Main, New York: Campus, 1994) 12f. 28 H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 62. Studia philosophica 76/2017 253 3. Die Demontage der philosophischen Tradition Die Gedanken zu Benjamin nimmt Arendt am Ende ihres philosophischen Spät­ werks, dem Leben des Geistes wieder auf und bezieht sie ganz explizit auf die Frage nach dem eigenen Vorgehen. Auch wenn sie hier davon spricht, «nun nicht auf meine ‘Methode’ hinlenken» zu wollen, so konstatiert sie doch bereits auf der folgenden Seite: «Mit solchen Bruchstücken der Vergangenheit nach ihrer Ver­ änderung durch die See habe ich mich hier beschäftigt.»29 Bei aller Beiläufigkeit, mit der Arendt ihre methodischen Reflexionen einstreut, nähern wir uns hier also offensichtlich einer vorläufigen Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach einer möglichen Methode des Zugriffs auf die philosophische Tradition. Diese stellt sich für Arendt als eine Form der Demontage dar, bei der Anleihen an Hei­ deggers «Aufgabe einer Destruktion»30 in Sein und Zeit unverkennbar sind: Ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demon­ tieren. […] Die Demontage selbst ist nicht destruktiv; sie zieht nur Konse­ quenzen aus einem Verlust, der eine Tatsache ist und als solche nicht mehr Bestandteil der »Ideengeschichte«, sondern unserer politischen Geschichte, der Geschichte unserer Welt.31 Während Arendt in ihrem Text über Benjamin zunächst befunden hatte, dass der «Sammler» den Zusammenhang der Tradition erst aufbrechen muss, um an die von ihm begehrten Zitate heranzukommen, scheint dies am Ende des 20. Jahr­ hunderts letztlich gar nicht mehr notwendig zu sein, da «der im Anfang dieses Jahrhunderts vollzogene Traditionsbruch ihm diese Arbeit des Zerstörens bereits abgenommen hat.»32 In diesem Steinbruch braucht also nichts mehr eigens her­ ausgebrochen zu werden, die gesuchten Brocken liegen vielmehr bereits als Trümmer umher. Die Vorstellung einer zersplitterten Tradition hat neben dem trennenden As­ pekt also auch eine konstruktive Perspektive; Arendts Vorgehen oszilliert hier zwischen «Bewahren- und Destruierenwollen»:33 «Wenn […] die Vergangenheit 29 H. Arendt: Das Denken, op. cit., 207f. 30 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe Bd. 2 (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1977) §6. Heidegger macht hier geltend, die Destruktion habe nicht «den negativen Sinn einer Abschüttelung» und stellt demgegenüber ihre «positiven Möglichkeiten» im Umgang mit der ontologischen Tradition heraus. Ibid. 22. 31 H. Arendt: Das Denken, op. cit., 207. 32 H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 56. 33 Ibid., 52. 254 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik nicht als Tradition überliefert wird, dann kann frei über sie verfügt werden»;34 die Bruchstücke der Vergangenheit können zu etwas Neuem, den besagten «neue[n] kristallisierte[n] Formen und Gestalten»35 zusammengefügt wer­ den – und so zum Verständnis der Welt nach dem Traditionsbruch beitragen. ­Dieser b­ ereits im Benjamin-Text greifbare Gedanke begleitet Arendt bis in die letzten Zeilen ihres Spätwerks, wo sie in der gleichen Metaphorik vermutet, dass «die ‘Korallen’ und ‘Perlen’ […] vielleicht nur als Bruchstücke zu retten sind.»36 In beiden Texten sind es Zeilen (Fragmente!) aus Shakespeares Sturm, die sie in Anspruch nimmt: Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Gebein wird zu Korallen; Perlen sind die Augen sein: Nichts an ihm, das soll verfallen Das nicht wandelt Meereshut In ein reich und seltnes Gut.37 Nachdem Arendt uns die Frage nach der Methode, die auch nach dem Bruch noch einen Zugriff auch Bestände der Tradition ermöglichen soll, im Bild des Perlen­ tauchers beantwortet hat, bringt uns die Metapher der «Perlen» und «Korallen» offensichtlich in die Nähe unserer zweiten eingangs aufgeworfenen Frage da­ nach, was uns in Arendts Sicht überhaupt dazu berechtigt anzunehmen, dass in der philosophischen Tradition etwas für uns auch heute noch Bedeutsames auf­ gehoben ist. Auch dazu äußert sich Arendt wenig explizit und – wie könnte es anders sein – fragmentarisch; wir können ihren Gedanken hier daher nur andeuten. Diese Vorstellung, dass es im Zugriff auf die Tradition um etwas Ursprüngliches, zuGrunde-liegendes geht, das es aus der Tiefe der Tradition zu bergen gilt, wird auch in einer Passage sichtbar, wo Arendt von einem Schatz spricht, der sich im Zusammenhang mit der Geschichte der Revolution finden lasse. Sie beschreibt diese nämlich als «Erzählung von einem uralten Schatz, der unter den unter­ schiedlichsten Umständen jäh, unerwartet zum Vorschein kommt und unter ­anderen mysteriösen Bedingungen wieder verschwindet, als wenn er eine Fata Morgana sei.»38 34 35 36 37 Young-Bruehl: Arendt als Geschichtenerzählerin, 319. H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 62. H. Arendt: Das Denken, op. cit., 208. Ibid., 208; ebenso in: H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 49; entnommen aus Shakespeare: Der Sturm I, 2. 38 Hannah Arendt: Vorwort. Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2000) 7–19, 8. Dass die Umstände der «Bergung» dieses Schatzes von Studia philosophica 76/2017 255 Die an Benjamin angelehnte, fragmentarische Methode des Perlentauchers geht also Hand in Hand mit der Vorstellung, dass in dem zu Hebenden etwas auf­ gehoben ist, das ihm einen Wert verleiht, der auch für uns heute weiterbesteht. Sie knüpft hier ganz explizit an die Vorstellung einer «Überlieferung» an, in die es «gilt […] zurückzuhören».39 Es zeigt sich hier also, dass Arendts Methodik so­ wohl bei Benjamin als auch beim jungen Heidegger entlehnte Komponenten mit­ einander verbindet. Dass es im Umgang mit der Philosophiegeschichte um eine Suche nach etwas Ursprünglichen gehe, lässt dieser in seinen frühen Schriften erkennen, wo er «die Ursprünglichkeit der Probleme selbst aus ihrem immanen­ ten Sinn» für entscheidend hält oder konstatiert, es könne kein «echtes histo­ risches Verstehen […] ohne Rückgang auf die ursprünglichen Motivationen»40 geben. 4. Lebendige Erfahrung Wo Arendt solche Grundüberlegungen aufgreift, ist ihre Terminologie vielgestal­ tig: Mal spricht sie von einer hinter den Begriffen «liegende[n] phänomenale[n] Wirklichkeit»,41 mal von «immerwährende[n] ‘Urphänomene[n]’.»42 Wichtig an den oben zitierten, von Arendt in Anspruch genommenen Zeilen Shakespeares ist aber vor allem, dass den Perlen die Augen, und den Korallen das Gebein des Vaters zugrunde liegen soll. Sehen wir für einen Moment davon ab, dass diese Darstellung mit der tatsächlichen Entstehung von Perlen und Korallen nur sehr wenig zu tun hat, so wird doch deutlich, dass es offensichtlich etwas Lebendiges ist, was den vom Perlentaucher erbeuteten Fragmenten einmal zugrunde gelegen hat und was in diesen gewissermaßen sedimentiert ist. Arendts Beschäf­ tigung mit der Vergangenheit ist «keine Verfallsgeschichte, sondern der Versuch, 39 40 41 42 Arendt als Erzählung beschrieben wird, gibt uns überdies einen deutlichen Hinweis darauf, dass Narrativität sowohl für Benjamins als auch für Arendts Verhältnis zu Vergangenem eine wichtige Rolle spielt: Die Pluralität von Geschichten eröffnet gegenüber dem eindeutigen Urteil ‘der Geschichte’ eine Perspektivenpluralität, die Unparteilichkeit gewährleistet und die Blickwinkel von Siegern und Besiegten gleichermaßen zu berücksichtigen erlaubt. Den Blick auf die Vergangenheit von allzu eindeutigen Deutungen auf der Grundlage kausaler Erklärungsmuster freihalten zu wollen kann als ein weiterer Berührungspunkt von Arendt und Benjamin verstanden werden. Vgl. H. Mahrdt, Hannah Arendt über Walter Benjamin, op. cit., 47f. Martin Heidegger: Hegel und die Griechen, in ders.: Wegmarken. Gesamtausgabe Bd. 9 (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976) 427–444, hier 440. Martin Heidegger: Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie (Sommersemester 1919), in ders.: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57 (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1999) 121–203, hier 124f. H. Arendt: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, op. cit., 18. H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 62. 256 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik die in Sprachschichten und Begriffssedimenten abgelagerte Menschheitsge­ schichte zu durchdenken.»43 Wenn den Begriffen der philosophischen Tradition Arendt zufolge also stets etwas Lebendiges zugrunde liegt, dass sich in ihnen abgelagert hat, so stellt sich fast unweigerlich die Frage, was wir uns unter diesem Lebendigen genauer vor­ zustellen haben. Entscheidend ist dabei Arendts immer wieder auftauchende Vor­ stellung, dass es beim Verstehen letztlich nicht um Theorie gehe, sondern um Erfahrung: «Meine Annahme ist, daß das Denken aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung erwächst und an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben muß.»44 Dass die Bruchstücke der Tradition für uns Bedeutung haben können, liegt in Arendts Vorstellung also daran, dass sie stets auf ganz konkrete, lebendige Erfahrungen zurückgehen, die in ihnen gewissermaßen aufgeboben sind und deren Bedeutung in der lebendigen Auseinandersetzung mit diesen Traditionssplittern wieder zum Leben erwachen kann. Diese Form der Rückverweisung zeigt sich auch in unserem politischen Denken insgesamt, das Arendt in sehr grundsätz­ licher Weise an die Entstehung des Politischen bei den Griechen zurückgebun­ den sieht: «Die griechische Polis wird solange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort ‘Politik’ im Munde führen.»45 Die spezifische Form politischer Erfahrungen, welche durch die Entwicklung der athenischen Demokratie möglich wurden, bleiben für Are­ ndts Denken insgesamt ebenso bestimmend wie die Vorstellung, dass es eben nicht vorgängige ewige Ideen oder erfahrungsunabhängige Kategorien sind, die uns in unserem politischen Denken prägen, sondern dass unsere politischen Be­ grifflichkeiten vielmehr umgekehrt politischen Erfahrungszusammenhängen ent­ springen, welche weit ursprünglicher sind: «The value of a book like The Human Condition […] is to be found in the glimpse it offers us of a ‘pure’ praxis, a praxis prior to ist philosophical conceptualization.»46 Nun ist dieser Gedanke, dass den Begriffen der Tradition eine in ihnen ein­ gekapselte Erfahrung zugrunde liegen soll alles andere als selbstverständlich und die Frage, wie Arendt auf diesen Gedanken kommt, sicher nicht ganz von der Hand zu weisen. In ihrem Text Macht und Gewalt macht sie deutlich, dass es ihr in diesem Zusammenhang um spezifisch politische Unterscheidungen geht, die entsprechenden Erfahrungskontexten entwachsen. Sie konstatiert hier, dass die Begriffe «Macht, Stärke, Kraft, Autorität und Gewalt […] sich doch alle auf ganz 43 44 45 46 S. Benhabib: Die melancholische Denkerin, op. cit., 158. H. Arendt: Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, op. cit., 18. H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 60. Dana Villa: Arendt, Heidegger, and the Tradition, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, ­Sonderband 16 (2007) 87–100, hier 89. Studia philosophica 76/2017 257 bestimmte, durchaus verschiedene Phänomene beziehen und kaum existieren würden, wenn sie das nicht täten.»47 Mit anderen Worten: wesentliche, katego­ riale Unterschiede gehen für Arendt stets auf konkrete politische Erfahrungen ­zurück – wie beispielsweise eben auf die Erfahrung der in einer Pluralität von Menschen konstituierten Macht, die sich grundsätzlich von der Erfahrung der ge­ walttätigen Durchsetzung eines Herrscherwillens unterscheidet. Diese Differenz spiegelt sich in der für Arendts Denken nicht unwichtigen Gegenüberstellung von Macht und Gewalt wieder. Alle wesentlichen begrifflichen Unterscheidungen in Arendts Werk verweisen auf eine solche phänomenale Erfahrungsbasis und stel­ len selbst zwar sprachliche Vermittlungen unvereinbarer Phänomene dar, gehen aber selbst nicht in dieser sprachlichen Vermittlung auf, sondern verweisen stets auf die ihnen zugrunde liegenden Erfahrungen.48 Und eben diese Erfahrungsbasis ist es wiederum, welche die ihnen entwachsenen Begriffe dafür qualifiziert, sich in der lebendigen Gegenwart zu bewähren. Doch wie unterscheiden wir, wann wir es mit einer solchen Perle der Tradition zu tun haben und wann nicht? Arendt will auch diese Frage mit «von der Philo­ sophie ungetrübten Augen»49 beantworten; unserer Entscheidung hier ein philo­ sophisches Metakriterium unseres Urteilens vorzugeben wäre ihrem Denken ohne Frage fremd. Und so kann auch an dieser Stelle – wie so oft in Arendts Werk – nur gelten: «The criterion is the world.»50 Das Kriterium der Bewährung für die aus der Tradition herausgebrochenen Fragmente muss die Wirklichkeit der Welt selbst sein und damit ein Zusammenhang, der wesentlich von menschlicher Plu­ ralität bestimmt ist. Wir müssen uns in der von Pluralität geprägten politischen Praxis, die immer als eine Auseinandersetzung mit gleichberechtigten Anderen darstellt, darauf einstellen, mit Neuem und Unerwartetem konfrontiert zu wer­ den. Dabei gibt es häufig keine allgemeine Regel, auf die wir rekurrieren kön­ nen; daher müssen wir uns hier auf den freien Gebrauch unserer Urteilskraft ver­ lassen. 47 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. (München: Piper, 1970) 44. 48 Auch hier ist eine Parallele zum Denken von Reinhart Kosellecks mit Händen zu greifen, der in Historik und Hermeneutik schreibt, es gehe ihm «um kategoriale Bestimmungen, die auf Seinsweisen zielen, die zwar sprachlich vermittelt werden müssen, aber der Sache nach nicht in sprachlicher Vermittlung aufgehen, sondern auch etwas Eigenständiges sind. Es handelt sich also um Kategorien, die auf eine Seinsweise möglicher Geschichte zielen, die so etwas wie Verstehen und begreifen erst provozieren.» Reinhart Koselleck: Historik und Hermeneutik, in ders.: Zeitschichten (Frankfurt: Suhrkamp, 2000) 97–118, hier 112. 49 H. Arendt: Fernsehgespräch mit Günter Gaus, op. cit., 47. 50 Hannah Arendt: From Machiavelli to Marx. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, Cornell Univerity, 1965, Libary of Congress, Arendt Papers, Box 39. Blatt 023453–023514. Link: http:// memory.loc.gov/mss/mharendt_pub/04/040380/0060d.jpg 258 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik Dieser Grundzug von Arendts Denken prägt auch ihre Vorstellung des ver­ stehenden Umgangs mit der Tradition; Pluralität bildet in Arendts Denken einen wesentlichen Grundzug, dessen Bedeutung hier also auch auf methodischer Ebene zum Tragen kommt. Dies wird auf sehr plastische Art und Weise in der Jaspers zugeschriebenen Einschätzung deutlich, Arendt hole «die Philosophen aus ihren chronologischen Residenzen heraus und [bringe] sie […] ins ‘Wohn­ zimmer’ des gegenwärtigen Gesprächs und der gegenwärtigen Kommunikation.»51 Dass ein in sokratischer Tradition verstandener Dialog ein Strukturelement in Arendts Denken ist, welches der Pluralität als einer menschlichen Grundbedin­ gung auf einer methodischen Ebene zusätzlich zum Ausdruck bringt, haben ­sowohl Arendt als auch ihre Interpreten schon häufig herausgestellt. Es ist gera­ dezu, als würde dieser Zugriff in Form einer dialogischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition innerhalb ihres Werkes einen Gesprächsraum eröffnen, der diesem Dialog einen Ort verleiht und das philosophische Denken zu einer Auseinandersetzung mit der plural verfassten Wirklichkeit der Welt hin öffnet. Dabei ist es nicht nur eine Pluralität von Perspektiven der Philosophiege­ schichte, welche in Arendts Werk miteinander vermittelt werden, sondern diese Vermittlung öffnet sich zudem der Pluralität, welche die Wirklichkeit der gegen­ wärtigen Welt konstituiert. Ein solcher Zugriff auf die philosophische Tradition kann mit Recht als eine politische Hermeneutik bezeichnet werden, denn hier wird «das Politische […] der spezifische Modus des Verstehens von Wirklich­ keit, der sich in dieser Praxis aktualisiert.»52 In Arendts Werk spiegelt sich Plu­ ralität als der zentrale Grundzug des Politischen also auf der Gegenstandsebene wie auf der Ebene der Methodik wider. So erklärt sich auch, warum Arendt der Auseinandersetzung mit Urteilskraft und Gemeinsinn so breiten Platz einräumt: Urteilskraft wie Gemeinsinn fungieren innerhalb ihrer Hermeneutik nicht nur als ‘Perlen’, die aus der Tiefe der Tradition hervorgeholt werden, sondern sie sind gleichzeitig diejenigen menschlichen Vermögen, welche diesen Pluralität vermit­ telnden Zugriff erst ermöglichen.53 An Urteilskraft und Gemeinsinn offenbart sich damit eine für Arendts Denken spezifische Einheit von Gegenstand und Metho­ de.54 Die Urteilskraft ist die Instanz, vergangene und gegenwärtige Pluralität mit­ 51 E. Young-Bruehl: Hannah Arendt als Geschichtenerzählerin, op. cit., 320. 52 Hans-Jörg Sigwart: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2012) 475. 53 In einer Weise, die zu Arendts Position durchaus strukturelle Ähnlichkeiten aufweist, hat R ­ udolf A. Makkreel die Urteilskraft in ihrer Bedeutung für hermeneutische Prozesse herausgestellt, wobei er sich ganz explizit auf Arendts Deutung von Kants dritter Kritik bezieht. Vgl. Rudolf A. Makkreel: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft (Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 1997) 192. 54 Vgl. René Torkler: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-­ Rezeption und ihre didaktische Bedeutung (Freiburg: Alber, 2015) 417f., 431. Studia philosophica 76/2017 259 einander zu vermitteln und in diesem Sinne «unser Vermögen, mit der Vergan­ genheit umzugehen.»55 5. Traditionsbezug trotz Diskontinuität Es ist sichtbar geworden, dass Arendt zu jeder traditionsaffirmativen Form eines philosophiegeschichtlichen Kontinuismus in deutlicher Distanz steht. Diese Di­ stanz ist bei ihr jedoch nicht in erster Linie methodologischen Überlegungen zur Metaphilosophie der Philosophiegeschichte geschuldet, sondern in der Vor­ stellung eines uns ganz grundsätzlich von der Tradition abschneidenden Bruches begründet, der sich im 20. Jahrhundert recht konkret historisch verorten lässt. Arendts Aufmerksamkeit gilt nicht einer akademischen Methodenreflexion, son­ dern einer Zeitdiagnose und der Klärung des menschlichen Selbstverständnisses nach dem Traditionsbruch. Für das Verstehen politischer Phänomene der Gegenwart erschien ihr die Tra­ dition dennoch nicht einfach entbehrlich, vielmehr meinte sie deren Bedeutungs­ gehalte mit ihrer an Benjamin orientierten Vorgehensweise zurückgewinnen zu können, die Seyla Benhabib darum einmal eine «alternative Archäologie der Moderne»56 genannt hat. Ihre Überlegungen dazu, wie ein Umgang mit der phi­ losophischen Tradition trotz Diskontiunität möglich sein soll, offenbaren selbst in hohem Maße einen Charakterzug, den sie Benjamin unterstellte – nämlich die «Gabe, dichterisch zu denken.»57 Dass hier auch das Vorbild Heideggers und des­ sen hohe Wertschätzung der Dichtung im Hintergrund stehen, liegt auf der Hand.58 Ob mit diesem Dichterisch-denken bereits die Arbeit des Philosophiehisto­ rikers beginnt, soll hier nicht entschieden werden – aber es spricht doch einiges für die Vermutung, dass sie ohne diese Fähigkeit nicht eben leichter werden dürfte: «Geschichte der Philosophie treiben, heißt: sich in einer assoziations­ reichen, halb-poetischen Sprache bewegen.»59 55 56 57 58 H. Arendt: Das Denken, op. cit., 212. S. Benhabib: Die melancholische Denkerin, op. cit., 158. H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 62. Martin Heidegger: «… dichterisch wohnet der Mensch …», in ders.: Vorträge und Aufsätze. ­Gesamtausgabe Bd. 7 (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000) 189–208. Auch Arendt bezieht sich an vielen Stellen ihres Werkes immer wieder auf Hölderlin; vgl. z.B. Hannah Arendt: Kultur und Politik, in: Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz (München, Zürich: Piper, 2000) 277–304, hier 291. 59 K. Flasch: Wie schreibt man Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, op. cit., 314. 260 René Torkler: Hannah Arendts Hermeneutik Man kann hier sicherlich darüber streiten, wie weit Arendts Metapher des Per­ lentauchers trägt, der in der weit von uns entfernten Tiefe der Tradition Denk­ bruchstücke aus dem ehedem geschlossenen Zusammenhang der Tradition her­ ausbricht. Deutlich versinnbildlicht Arendts Bild der aus der Philosophiegeschichte demontierten Perlen und Korallen jedoch den Gedanken Kurt Flaschs, dass phi­ losophiegeschichtliche «Reprisen den älteren Autor […] nur sehr partiell zur Gel­ tung bringen. Das heißt, sie haben in der Regel den Charakter eines Einschnitts. […] Sie demolieren das, was sie herzustellen glauben.»60 Arendt demontierte die Tradition, um aus ihr diejenigen Bruchstücke zu ret­ ten, denen sie mit Blick auf die politische Praxis der Menschen und deren Ver­ ständnis eine besondere Bedeutung zumaß: Sie möchte den Himmel der Philosophie bewahren, nicht damit er von einem unnennbaren, preziösen oder gar tendenziell tyrannischen Solipsismus verfinstert wird; sondern um den Dialog des Denkens im politischen Raum selbst zu beleben, wo das Denken sich als die Fähigkeit entfaltet, zwischen gut und böse zu unterscheiden.61 Auch der selektive Prozess ihres Traditionszugriffs findet sein Maß letztlich an der von Pluralität geprägten politischen Praxis – oder, wie sie es formulierte – am amor mundi. Ihr ging es nie darum, die «Vergangenheit, […] so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen»,62 sondern letztlich bei allem und immer um das, was sie für den Sinn von Politik hielt: nämlich ­Freiheit. Was als Perle gelten kann und was nicht, dieser auswählende Zugriff auf die philosophische Tradition bemaß sich in ihrem Denken stets daran, inwiefern es dazu beitragen würde, eine freiheitliche und von Pluralität geprägte Welt zu verstehen und zu erhalten. Auch wenn metaphilosophische Betrachtungen zu Legitimität und Methode philosophiegeschichtlicher Forschung sicherlich nicht zu Arendts Anliegen zähl­ ten, so können wir von ihr doch lernen, wie ein Traditionsbezug trotz eines radi­ kal gedachten Bruchs einen Sinn behalten kann. 60 Ibid., 299. 61 Julia Kristeva: Das weibliche Genie Hannah Arendt (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2008) 246. 62 H. Arendt: Walter Benjamin, op. cit., 62.