Schweizerische Zeitschrift für Philosophie 

Einleitung: Diderots Politik der Darstellung

StPh Band 77Einleitung: Diderots Politik der Darstellung10.24894/StPh-de.2018.77001 11.09.2018Schweizerische Zeitschrift für Philosophie Band 77:11-15Christine Abbt, Michael G. FestlStudia philosophica 77/2018 11 Einleitung: Diderots Politik der Darstellung Zu widersprüchlich. So lautete 1984 das Verdikt von Paul Vernière, dem Herausgeber des Gesamtwerks, in Bezug auf Diderots politische Relevanz.1 Vernières Einschätzung entsprach dem Urteil vieler früherer Deutungen und befeuerte bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts hinein immer wieder die Auffassung, dass es sich bei den Schriften von Denis Diderot um geist- und variantenreiche Literatur handle, die allerdings weder auf einen konsistenten propositionalen Gehalt hin gelesen werden könne, noch mittels einer vertieften philologischen Analyse für politische Philosophie fruchtbar zu machen sei. Diese Einschätzung wird von aktuellen Forschungsarbeiten2 und auch von den hier versammelten Beiträgen zum Schwerpunkt Diderot zurückgewiesen. Zwar gehen nicht alle Autoren und Autorinnen der vorliegenden Beiträge so weit wie etwa Anthony Strugnell, der Diderot 1999 als den politischsten Schriftsteller der Aufklärungszeit würdigte.3 Sie sprechen dem Werk von Diderot und insbesondere dem hier ins Zentrum gerückten Text Le Paradoxe sur le comédien allerdings eine politische Bedeutung zu. Es dauerte lange, bis das Werk von Denis Diderot von der Wissenschaft auch hinsichtlich seiner politischen Aussagekraft ernst genommen wurde. Falsch wäre jedoch zu behaupten, dass die politische Dimension erst im 21. Jahrhundert Anerkennung fand. Wie etwa Isabelle Deflers nachweist, lässt sich seit den 1960er Jahren innerhalb der Philosophie ein wachsendes Interesse an Diderots politischem Denken feststellen, das nach 1990 eine Akzentuierung erfährt.4 Dieses Interesse richtete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich auf die späten Schriften von Diderot. Ernüchtert über die Erfahrungen am Hof der Zarin Katharina, verfasste der Aufklärer ab 1773/74 bis zu seinem Tode im Jahr 1 2 3 4 Paul Vernière: Diderot et les contradictions de sa pensée politique, Revue des sciences morales et politiques, (1984) 269–285. Andreas Heyer: Materialien zum politischen Denken Diderots. Eine Werkmonographie (Hamburg: Kovac, 2004). Jean Starobinski: Diderot, un diable de ramage (Paris: Gallimard, 2012). Franck Salaün (Ed.): Le langage politique de Diderot (Paris: Hermann, 2014). Isabelle Deflers (Hg.): Denis Diderot und die Macht (Berlin: Erich Schmidt, 2015). Diderot habe nie versucht, so Strugnell, seine Gedanken in eine Theorie zu fassen, «il reste néanmoins l’écrivain le plus politique des Lumières». Anthony Strugnell: Politique, in: Dictionnaires Diderot (Paris: Champion, 1999) 410. Vorher bereits Werner Krauss, Hans Mayer (Hg.): Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955. Georges Dulac: Sur la pratique politique d’un philosophe, in: La Pensée (1984) 61–71. Merle Perkins: Diderot and the Space-Time Continuum. His Philosophy, Aesthetics, and Politics (Oxford: The Voltaire Foundation, 1982). Alain Ménil: Diderot et le drame. Thêatre et politique (Paris: Presses Univ. de France, 1995). 12 Einleitung 1783 verschiedene Texte, in denen die Monarchie als Staatsform vehement abgelehnt, ein neues Verständnis politischer Repräsentation gefordert und viele Belange der Politik und des Gesellschaftsvertrags direkter angesprochen werden.5 Selbst wenn Diderot auch in diesen Jahren im strengen Sinn keinen Traktat verfasste wie etwa Hobbes im Leviathan, Rousseau in Contrat social oder Montesquieu mit L’Esprit des lois, so sind in Diderots späten Schriften die politischen Anliegen, Überlegungen und Argumente unverstellter zugänglich. Heute wird in der Diderot-Forschung das Augenmerk auf alle Textsorten ausgedehnt. Eine Untersuchung der politischen Dimensionen des Werks von Diderot, so der Forschungsstand, muss auch die formale Gestaltung in eine Analyse miteinbeziehen.6 Denn Fragen zur Politik sind im Werk von Diderot stets verknüpft mit Fragen über die Möglichkeiten und Grenzen von Darstellung und Repräsentation. Wer diese Dimensionen ausklammert, verpasst dementsprechend nicht selten Pointen, welche Diderot in Bezug auf das Politische gezielt konstruiert.7 Die ästhetische Virtuosität von Diderots Dichtung wird heute eigens als unverzichtbare Dimension ihres politischen Gehalts sichtbar gemacht. Konsequenterweise werden in jüngster Zeit auch jene Texte auf ihre politische Sprengkraft hin gelesen, die innerhalb der Philosophie bislang vor allem als Beitrag zur ästhetischen Theorie interpretiert wurden.8 Diderots Paradoxe sur le comédien, dessen sozial-politische Bedeutung hier in den Fokus gerückt wird, ist ein solcher Text. Sein nachhaltiger Einfluss auf die Theaterästhetik und Schauspieltheorie der Moderne ist unbestritten. Bertolt Brecht etwa oder auch Theodor W. Adorno schließen an den Mimesis-Diskurs, wie Diderot ihn eröffnete und zu Grunde legte, an.9 Die bei Diderot angestrebte 5 6 7 8 9 Georges Dulac: Le discours de Pétersbourg, in: Franck Salaün (Ed.): Le langage politique de Diderot (Paris: Hermann, 2014) 125–173. Christine Abbt: Politischer Sinn und Sinnlichkeit. Die Forderung nach ‘contre-forces’ in Diderots Observations sur le Nakaz, in: Figurationen 2/2017, hg. von A. Honold: Arbeit der Sinne. Diderot und Co. (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2017) 66–79. Carlo Strenger: Fear of insignificance. Searching for meaning in the twenty-first century (Basingstoke: 2011). Dies zeigen etwa Susan Pinette: Diderot’s Dialogic Difference, in: The French Review, Vol. 81, No. 2 (Dec., 2007), 339–350. Oder auch: Thomas Klinkert: Diderots subversive Ästhetik, in: Isabelle Deflers: Denis Diderot und die Macht, op. cit., 181–194. Vgl. James Harriman-Smith: Comédien-Actor-Paradox: The Anglo-French of Diderot’s Paradoxe sur le comédien, Theater Journal 65 (2015) 83–96. Christina Vogel: Theatralität der Gefühle. Überlegungen zur Emotionalität am Beispiel von Denis Diderots Paradox über den Schauspieler, Philologica Jassyensia (2016), 1841–5377. Guangqian Zhu: À propos du Paradoxe sur le comédien de Diderot, Société Diderot, Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie 52 (2017) 87–99. Edmundo Henrique, Morim de Carvalho: Le paradoxe sur le comédien ou La comédie de l’intellect. Diderot, Jouvet, Brecht, Lacoue-Labarthe, Valéry (Paris: L’Hartmattan, 2009) Volume I. Susanne Schmieden: Brechts Diderot-Gesellschaft oder Von der Möglichkeit einer anderen theatralischen Wissenschaft, in: Christine Abbt, Peter Schnyder (Hg.), Formen des Politischen. Studia philosophica 77/2018 13 und umgesetzte Entzauberung des Mythos der Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle erschließt Konsequenzen weit über den Theaterraum hinaus sowohl in Bezug auf Anthropologie und Erkenntnistheorie als auch in Bezug auf Ethik und Politik. Diderot begann mit der Arbeit an der kurzen Paradox-Schrift 1769. Zeitlebens überarbeitete er den Text, welcher in einer ersten Fassung zunächst 1770 in der Literarischen Korrespondenz von Melchior Grimm unter dem Titel Observations sur une brochure intitulée Garrick ou les acteurs anglais erschienen war. Aus Anspielungen im Text und weiteren Hinweisen lässt sich rekonstruieren, dass Diderot diese erste Fassung zwischen 1770 und 1773 weiter überarbeitete und danach unter der Überschrift der Paradox-Schrift erneut auch noch einmal 1777/78 und noch einmal 1783. Zur Publikation kam die letzte Version erst posthum im Jahre 1830.10 Im Paradox über den Schauspieler lässt Diderot zwei Sprecher miteinander in einen Dialog treten und über das Theater und die Schauspielerei diskutieren. In Bezug auf die Frage nach der idealen Schauspielkunst werden sich die Dialogpartner nicht einig. Provokant sind dabei insbesondere die Vorstellungen des Ersten Sprechers. Diese brechen mit der im 18. Jahrhundert verbreiteten Konvention. Statt Einfühlung, Empathie und Verschmelzung zwischen Darstellendem und Dargestelltem fordert der Erste Sprecher vom Schauspieler einen kühlen Kopf, eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe und Urteilskraft. Der Darsteller darf nie vergessen, dass er nur spielt. Die anspruchsvolle und von Diderot zum aufklärerischen Vorbild erhobene Meisterschaft besteht darin, die gegenläufigen Verfahren von Annäherung und Distanzierung oder, anders gesagt, von Imitation und Rationalität in sich zu verbinden. Diese Verbindung von, abstrakt betrachtet, sich ausschließenden Prozessen realisiert sich nicht durch eine Auflösung der Spannung, sondern sie impliziert, wie Philipp Lacou-Labarthe es ausdrückt, «einen Durchgang durchs Extrem, eine Art ‘Maximierung’».11 Der stilisierte Schauspieler (oder die Schauspielerin) treibt sich selbst an, Nicht-Identität einerseits zu überwinden und dabei andererseits das Scheitern dieses Versuchs zu antizipieren und zu beobachten. Imitation verstanden als die Kunst der größtmöglichen Aneignung der Identität einer anderen Person lässt gleichermaßen Re- Denis Diderots Virtuosität und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum (1746–2016), erscheint in: Das unsichere Wissen der Literatur (Freiburg i. Br.: Rombach, 2018). 10 Zur Editionsgeschichte des Paradox-Texts vgl. Marco Baschera: Das Dramatische Denken. Studien zur Beziehung von Theorie und Theater anhand von Kant: Kritik der reinen Vernunft und Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien (Heidelberg: Winter, 1989). Laurent Versini: Chronologie, in: Diderot: Oeuvres, 5 Bd., Bd. 1, (1994) XIV–XCIX. 11 Philippe Lacoue-Labarthe: Paradox und Mimesis, in: ders.: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, übers. von Thomas Schestag (Basel: Engeler, 2003) 11–33, 18. 14 Einleitung präsentierbarkeit und Nicht-Repräsentierbarkeit des Menschen aufscheinen, erfahrund denkbar werden,12 und damit die Kernideen der Aufklärung im Lebensvollzug konkretisieren: Freiheit und Gleichheit. Was als Ideal eines Akts der Schauspielerei gilt, findet beim Zuschauer in gewisser Hinsicht eine Wiederholung. Einerseits fordert Diderot in seinem Text auf vielfältige Weise eine Vertiefung der Divergenz zwischen Spielendem und Zuschauendem.13 Das Publikum soll sich vergessen, während es der Handlung auf der Bühne folgt. Nicht der Schauspieler, sondern die gespielte Rolle soll in einer gelungenen Darstellung alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Unterschied zwischen Darstellendem und Dargestelltem fällt in diesem Moment nicht auf. Die Illusion soll möglichst umfassend wirksam werden. Authentizität ist bei Diderot eine Kategorie des Künstlichen. ‘Echt’ wirken kann, was gespielt ist und woran die Tatsache, dass es gespielt ist, verborgen bleibt. Da eine Aufführung aber nicht unendlich dauert, konfrontiert sie den Zuschauer andererseits mit der Tatsache, dass das, was eben noch wahr war, nicht mehr umfasst als Kunst; dass diese Effekte der Darstellungen immer und auf alle wirken, der Mensch also keine unveränderlich-stabile Natur besitzt, sondern veränderlich ist und beeinflussbar durch das Zusammenspiel mit und von Anderen. Sowohl der Kunstschaffende als auch der Kunstrezipierende werden bei Diderot auf ihre Verschiedenheit, Gleichheit und gegenseitige Bezogenheit hin aufgeklärt, auf ihre Differenz und ihre Ähnlichkeit zurückgeführt und darauf, «un être modifiable relié à d’autres» zu sein.14 Die hier versammelten Beiträge befassen sich einerseits mit den Bedeutungen, Wirkungen und Dimensionen des Akts des Schauspiels. Andererseits werden die Wirkungen dieser Kunst auf eine Zuschauerin bzw. auf das Publikum diskutiert. Wenn der Schauspieler das Publikum so kühn und kalt zu täuschen vermag, was bedeutet das dann in Bezug auf den Gesellschaftsvertrag? Welche Gefahren bedeuten Manipulation, Täuschung und Betrug für eine Demokratie? Einige Artikel rücken Diderots Text in einen ideengeschichtlichen Kontext, etwa u. a. zu Heinrich von Kleist oder zu Jonathan Swift, und streichen die analytischen Aspekte von Diderots Text in Bezug auf Macht und Machtbeziehungen hervor. Einige Beiträge befragen das philosophische Profil, das Diderot entwirft und grenzen es von sentimentalistischen Positionen in Bezug auf Solidarität und Empathie ab bzw. zeigen Linien auf, die zwischen Diderots Text und anderen Positionen der Aufklärung zum Beispiel in Bezug auf moralischen Fortschritt bestehen. 12 Abigail Zitin: Thinking Like an Artist: Hogarth, Diderot, and the Aesthetics of Technique, Eighteenth-Century studies 46 (2013) 555–570. 13 Franck Salaün: Rira, rira pas? La place du spectateur selon Diderot, in: Bénédicte Louvat-Molozay, Franck Salaün: Le Spectateur de théâtre à l’âge classique (XVII/XVIII siècles) (Montpellier: l’entretemps, 2008) 183–194, 187. 14 Franck Salaün: Rira, rira pas?, op. cit., 193. Studia philosophica 77/2018 15 Alle dargelegten Beiträge beziehen sich dabei mindestens auf diesen einen ausgewählten Paradox-Text von Diderot und entfalten davon ausgehend Bezüge, Kritik und Interpretationen. So verschieden die Zugänge und aufgegriffenen Aspekte in den einzelnen Artikeln sind, so gibt es unweigerlich Überschneidungen in Bezug auf Informationen zum Originaltext oder auch in Bezug auf die Verwendung einzelner Textstellen. Um die beabsichtigte Diskussion in den Beiträgen je plausibel zu machen, ist es allerdings unvermeidbar, dass der zugrundeliegende Text jeweils noch einmal wenigstens ansatzweise referiert und die davon angestoßenen Überlegungen in den Kontext zur Vorlage von Diderot gerückt wird. Für eine Leserin oder einen Leser ergeben sich daraus allenfalls Wiederholungen bei der Rezeption, die aufgrund der Ausrichtung des Schwerpunkts nicht gänzlich verhindert werden konnten. Der vorliegende Schwerpunkt wird durch einen Beitrag von Alexander Honold eröffnet, der sowohl die zentrale Rolle der Dialogform und des Zweiten Sprechers für Diderots Text entschlüsselt als auch erläutert, worin das Paradox des Schauspielers laut Diderot tatsächlich besteht. Adrien Paschoud und Barbara Selmeci Castioni arbeiten im Anschluss die zentrale Stellung heraus, die das Paradox über den Schauspieler in Diderots Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Drama und Gedächtnis einnimmt und zeigen, dass Diderots Text auch eine Diskussion über Gedächtnistheorie und die Frage der Vermittlung unterschiedlicher Zeitdimensionen beinhaltet. Susanne Schmieden untersucht den hier im Mittelpunkt stehenden Text Diderots in Bezug auf den Begriff des künstlichen Gefühls und hebt auf dieser Basis nicht nur die wirkungsästhetischen, sondern auch die politischen Potentiale der diderot’schen Position hervor. Janelle Pötzsch fragt nach der politischen Bedeutung des Texts von Diderot, indem sie die Parallelen zwischen Diderots Paradox über den Schauspieler und Jonathan Swifts Gullivers Reisen herausarbeitet und dabei deutlich macht, inwiefern beide Texte in Überlegungen zu Macht und Machtbeziehungen kulminieren. Robin Celikates diskutiert Diderots Text zum Theater als Beitrag über die Rolle politischer Emotionen und erläutert, inwiefern Diderots Schauspieler ein Ideal demokratischer Subjektivität vorstellt. Christine Abbt begreift den Text von Diderot als Reflexion über die Bedeutung der Erfahrung des Paradoxen für die Herausbildung einer Haltung von Skepsis und Solidarität und fragt, welche Funktion Diderot dabei der Empathie zuschreibt. Michael G. Festl schließlich untersucht, was Diderots Konzeptionen von Fortschritt in den Feldern Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft eint und was sie trennt. Viele der hier vorgelegten Beiträge gehen zurück auf eine Lektüre-Tagung am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien im Dezember 2016. Christine Abbt und Michael G. Festl