Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Überreden; Überzeugen

Überreden; Überzeugen 4393 10.24894/HWPh.4393 Eberhard Ostermann
Rhetorik und Argumentationstheorie persuasio peitho (πείθω) Beredsamkeit, vernünftige11 53 Fürwahrhalten11 53 Schmeichelei11 50 Überzeugungsmittel11 51 pisteis (πίστεις)11 51 probare11 51 convictio11 53 rhetorica acroamatica11 53 convincingness11 54 Überzeugen
Überreden; Überzeugen (griech. πείθειν; lat. persuadere; engl. to persuade, to convince; frz. persuader, convaincre; ital. persuadere, convincere)
1. Πειθώ, Persuasio. – Im Griechischen betrifft das Verb πείθειν nebst dem dazugehörigen Substantiv πειθώ semantisch die gesamte Bandbreite des Persuasiven, mit seinen ethischen, epistemologischen und erotisch-ästhetischen Aspekten. Seine Bedeutung reicht von ‹überzeugen› im Sinne des argumentativen Erwerbs von Vertrauen und Glaubwürdigkeit bis hin zu ‹überreden› im Sinne des Einredens oder des Willigmachens, wozu auch außersprachliche Mittel, wie die Bestechung durch Geschenke, gehören können. In der griechischen Mythologie ist Πειθώ der Name der Dienerin oder Gefährtin der Liebesgöttin Aphrodite. Das attische Drama erwähnt sie vor allem als Göttin der Überredung, die in ihrer verführerischen Erscheinung die suggestive Macht der Rede als Einheit von Erotik und Rhetorik personifiziert [1].
In der frühen Ontologie des Parmenides steht sie im Zeichen der metaphysischen Lehre vom intelligiblen Wahren. Die Bahn der Überredung (πειθοῦς κέλευθος) folgt der Wahrheit, sie führt von der Welt des Scheins, dem Produkt bloßer Meinung, zur Gewißheit des einen, absolut homogenen Seienden [2]. Demgegenüber geht mit der Angleichung von Wahrheit und Glaubwürdigkeit in der Sophistik, die sich von der Seinsphilosophie ab- und den Fragen praktischer Lebensgestaltung in der Polis zuwendet, die Aufwertung der öffentlichen Wirkung persuasiver Rede einher. Die Rhetorik (s.d.) als Erzeugerin der Überredung (πειθοῦς δημιουργός) [3] wird als die angemessene Technik im Umgang mit den Meinungen gelehrt, die dem Redner die Kompetenz verleiht, prinzipiell jedes Argument auf überzeugende Weise durchzusetzen. Der Redelehrer Gorgias von Leontinoi veranschaulicht in seinem als Musterrede überlieferten ‹Lobpreis der Helena› diese unwiderstehliche Macht der Rede, indem er ihre affektanstachelnde, der Drogenwirkung analoge Überredungskraft herausstellt. Erscheint dabei die Überredung als eine sublimierte Form der Gewaltanwendung, so wird sie zumeist doch als Gegensatz und bessere Alternative zu Zwang und Gewalt (ἀνάγκη, βία) angesehen [4]. Isokrates, der Schüler des Gorgias, äußert die Ansicht, daß sich die Menschen, die den Tieren körperlich in vielem nachstünden, über diese dennoch zu kulturschöpferischer Leistung erhoben hätten, weil sie die Gabe besäßen, einander zu überreden [5]. Dieses anthropologische Argument wird später von Cicero in seiner Schilderung der zivilisierenden, gemeinschaftsstiftenden Bedeutung der Redekunst aufgegriffen [6].
Platon verurteilt im ‹Gorgias› die sophistische Überredungskunst als methodisch unzulängliche, dem bloß Wahrscheinlichen verpflichtete Routine (ἐμπειρία) und moralisch fragwürdige Schmeichelei (κολακεία) [7]. Gegen diese skizziert er im ‹Phaidros› das Konzept einer idealen, philosophischen Rhetorik, die überzeugt, nämlich das Überreden mittels Dialektik, also argumentativer Rechtfertigung (λόγον διδόναι) [8], und mittels Seelenlenkung (ψυχαγωγία) in den Dienst der Wahrheit stellt. Dabei bringt er auch die erotische Komponente mit ins Spiel [9]. Im ‹Staat› empfiehlt er dem Gesetzgeber den wahlweisen Gebrauch von Überredung und Gewalt als Mittel der Politik [10]. Aristoteles unterzieht in seiner ‹Rhetorik› den Prozeß der Überzeugungsherstellung erstmals einer wissenschaftlichen Analyse, indem er das Feld der persuasiven Kommunikation gliedert und die drei Hauptquellen der Überzeugung (ἔντεχνοι πίστεις) [11] – das Auftreten des Redners, die Affekterregung der Zuhörer und die Plausibilität der Argumentation – in ihrem Zusammenwirken, als Austausch und Koordination der Meinungen, beschreibt. Dergestalt sieht er in der rhetorischen Technik des Überzeugens, die ihre vermittelnde Funktion im Rahmen der politischen (γένος συμβουλευτικόν), juristischen (γένος δικανικόν) oder feierlichen Angelegenheiten (γένος ἐπιδεικτικόν) des öffentlichen Lebens entfaltet, eine rationale Form des Umgangs mit dem Möglichen und Wahrscheinlichen und stellt sie der wissenschaftlichen Dialektik als gleichwertiges Gegenstück an die Seite.
Mit Cicero und in der vor allem am Erfolg vor Gericht interessierten römischen Rhetorik treten gegenüber dem Sachbeweis, dem «probare», verstärkt die affektiven Mittel der «persuasio» in den Vordergrund: das Geneigtmachen des Gegenübers durch geschickte Selbstdarstellung des Redners, das «conciliare», und die Erregung auch der heftigen Leidenschaften des Publikums, das «movere» oder «flectere» [12]. Daß der Überredung durch Einwirkung auf die Gefühle ein entsprechendes Selbstverhältnis des Überredenden zugrunde liegen muß, ist spätestens seit Horaz ein Gemeinplatz der Theorie [13]. Die persönliche Integrität und umfassende, auch philosophische Bildung des Redners, wie sie Cicero im Ideal des «perfectus orator» veranschlagt und Quintilian im Rahmen eines weitreichenden Erziehungsprogramms anstrebt, soll zudem den Mißbrauch der Überzeugungsmittel und damit die Einengung der «ars oratoria» auf eine nur technisch-virtuose, die Dissoziation von Wörtern und Sachen bewußt in Kauf nehmende «ars rhetorica» verhindern.
Während der Autor der Schrift ‹Vom Erhabenen› dem bloß Überzeugenden die überwältigende, blitzartig erschütternde Gewalt der Rede entgegenstellt und vorzieht [14], betont Plotin, daß es einer werbenden Rede, einer Überredung bedarf, die über den Geist zum Guten hinausweist [15]. Augustinus knüpft im vierten Teil seiner ‹Doctrina christiana› an das ciceronische Redner- und Bildungsideal an, das er im Bewußtsein der zweischneidigen Macht der Rede im Sinne der neuen kirchlichen Lehre reformuliert. Ausgehend von der unumstößlichen, im Text der Heiligen Schrift verbürgten Wahrheit, muß der christliche Lehrer in der Lage sein, in allen drei Stilgattungen – belehrend, unterhaltend oder rührend – das Ziel der Überredung zu verwirklichen [16]. Dieses Konzept hat nicht nur die Predigtlehren des Mittelalters entscheidend geprägt, sondern ist überhaupt grundlegend für die christliche Rhetorik geworden.
Mit Boethius, der in seiner Schrift ‹De differentiis topicis› die Rhetorik der Dialektik unterordnet, indem er die Beweiskraft der rhetorischen Topoi auf die Geltung der allgemeineren, dialektischen Topoi [17] zurückführt, ergibt sich eine neue Perspektive auf den Überzeugungsvorgang im Sinne eines quasilogischen, an das Meinungshafte gebundenen Schlußverfahrens. Ansätze in diese Richtung finden sich vereinzelt auch im Mittelalter, z.B. im ‹Metalogicon› des Johannes von Salisbury[18], kommen aber vollends erst im Sprachhumanismus der Renaissance, so etwa bei L. Valla, R. Agricola oder Ph. Melanchthon, zum Durchbruch. Die Rhetorisierung der Logik, die diese Autoren im Zuge ihrer Kritik an der scholastischen Syllogistik betreiben, entbindet die auf Wahrscheinlichkeitsschlüssen beruhende Persuasio von der Annahme einer ihr vorgeschalteten, logischen Wahrheit und läßt dadurch die Grenze zwischen Wahrheit und Überzeugung unkenntlich werden [19].
Dies ändert sich dagegen radikal mit der Neuorientierung des Denkens im Zeichen des exakten Methodenideals der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaften. So liegt nach R. Descartes Überredung vor, «wenn es noch einen anderen Grund gibt, der uns zum Zweifeln bringen kann», während Wissenschaft auf einem Überzeugungsgrundberuht, «der so stark ist, daß er niemals durch einen stärkeren erschüttert werden kann» («ut persuasio sit, cum superest aliqua ratio quae nos possit ad dubitandum impellere; scientia vero sit persuasio a ratione tam forti, ut nulla unquam fortiore concuti possit») [20]. Wer scharfen Verstand besitzt, seine Gedanken zu ordnen und sich klar und verständlich auszudrücken vermag, heißt es im ‹Discours de la méthode›, der kann die anderen selbst dann überzeugen, wenn er niederbretonisch spricht [21]. B. Pascal unterscheidet zwischen einem «esprit géométrique», der aufgrundfester Ausgangsdefinitionen Überzeugungen nahezu erzwingen kann, dessen Reichweite allerdings, weil seine Axiome an das natürliche Sprachverständnis gebunden bleiben, fast ganz auf den Bereich der Mathematik beschränkt ist, und einer Kunst des Überzeugens («art de persuader»), die sich an den Willen, das Vergnügen und die Gewohnheiten der Menschen richtet, wegen deren Verschiedenheit und Wandelbarkeit jedoch nicht theoretisierbar ist [22].
Die Ausblendung der im Persuasionsbegriff enthaltenen irrationalen Momente durch ein selbstevidentes Vernunftprinzip zeitigt Folgen bes. auf dem Feld der politischen Theorie. Während N. Machiavelli den auf Machterhalt sinnenden Fürsten seiner Zeit für den Fall, daß die Zustimmung ihrer ebenso leicht zu überredenden wie wankelmütigen Untertanen schwindet, noch kurzerhand raten konnte, Waffengewalt anzuwenden [23], entwirft Th. Hobbes ein rationales Modell der Vergesellschaftung, in dem der Staat seine Legitimation ganz ohne persuasive Rhetorik, allein durch die zwingende Logik eines ursprünglichen Vertrages bezieht. Zwar kann Hobbes damit die Entstehung der staatlichen Ordnung vom unkontrollierbaren Spiel der Meinungen und Leidenschaften, mit denen es, wie er konstatiert, die Überredung zu tun hat [24], freihalten; gleichwohl bedarf es über den Gedanken an den überwundenen Naturzustand hinaus einer geschickten Lenkung der Meinungen («well-governing of opinions») [25], um die Anerkennung dieser Ordnung bei den Bürgern dauerhaft sicherzustellen. Bei J.-J. Rousseau kommt dieses Dilemma darin zum Ausdruck, daß er dem Gesetzgeber, obwohl dessen Handeln bereits durch die «volonté générale» sanktioniert ist, nahelegt, auf die öffentliche Meinung durch eine gemäßigte Rhetorik einzuwirken. Diese soll nicht um jeden Preis bezwingen («vaincre»), sondern zwanglos überzeugen: «Ainsi donc le Législateur ne pouvant employer ni la force ni le raisonnement, c'est une nécessité qu'il recoure à une autorité d'un autre ordre, qui puisse entraîner sans violence et persuader sans convaincre» [26].
2. Überreden versus Überzeugen. – Seit dem frühen 18. Jh. werden im Deutschen die Begriffe ‹überreden› und ‹überzeugen› häufig einander gegenübergestellt, wobei der juristische Ursprung des Überzeugungsbegriffs (jemanden durch Zeugen überführen) allmählich verblaßt und die Überredung, weil sie sich primär an die Affekte wendet, teils in Mißkredit gerät, teils aus didaktischen Gründen befürwortet wird. Ch. Thomasius nennt die Überredung «eine solche Handlung, da man durch Worte und andre Bezeugungen ohne euserliche Gewaltthätigkeit eines andern Gemüthe auch wieder seinen Willen dermassen einnimmt und gleichsam bindet, daß man es lencken kan wie und wohin man will» [27]. Während Ch. Wolff die «persuasio» aus logischer Sicht zugunsten der «convictio», der Überführung im Sinne strenger, apodiktischer Beweisführung, zurückstuft [28], konzipiert A. Rüdiger seine «rhetorica acroamatica» als ein ganz auf Überzeugung angelegtes, demonstratives Verfahren, das ohne Affekterregung und Rückgriff auf Vorurteile auskommen soll [29]. G. F. Meier unterscheidet in seiner ‹Vernunftlehre› zwischen Überzeugung und Überredung: Eine gewisse Erkenntnis ist «überzeugend (cognitio convincens), in so ferne sie ausführlich gewiss ist, und die Hervorbringung einer solchen gewissen Erkenntnis heisst Überzeugung»; scheinbare Gewißheit wird «Überredung im bösen Verstande genannt (persuasio malo significatu)» [30]. Das relative Recht der Überredung im Rahmen ‘vernünftiger Beredsamkeitʼ betonen dagegen J. A. Fabricius[31] und mehr noch J. Ch. Gottsched, für den sie «ein Vortrag der Wahrheit durch wahrscheinliche Gründe ist, die auch ein Zuhörer von mittelmäßigem Verstande ohne alle Mühe fassen und einsehen kann» [32]. Auf den Gegensatz von Überzeugen und Überreden gehen unter anderen auch J. le R. d'Alembert, G. Ch. Lichtenberg und Fénelon ein, der zwischen einer «persuasion de l'éloquence» und einer «conviction de la philosophie» unterscheidet [33].
Der Begriff ‹Überzeugung› im Sinne innerer, reflektierter Gewißheit als ‹Fürwahrhalten› (s.d.) bzw. als «Bewusstsein von der Gültigkeit eines Urtheils» [34] setzt sich ebenfalls im 18. Jh. durch. Dabei dürfte auch der Sprachgebrauch des Pietismus, der die Überzeugung als unmittelbare, intrapsychische Glaubensgewißheit thematisiert, eine Rolle gespielt haben [35]. I. Kant trennt in der ‹Methodenlehre› der ‹Kritik der reinen Vernunft› zwei Weisen des Fürwahrhaltens. Während die Überzeugung, die, bezogen auf ein objektives Korrelat, Anspruch auf intersubjektive Geltung erhebt, zum Wissen tendiert, bleibt die Überredung, die als bloßer Schein nur Privatgültigkeit besitzt, im Bereich der subjektiv wie objektiv unzureichenden Meinung [36]. Äußerliches Indiz der Überzeugung als Bewußtseinszustand ist nach Kant zum einen ihre Mitteilbarkeit, wodurch die sie tragenden Gründe daraufhin geprüft werden, «ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung thun», zum anderen die Bereitschaft, auf sie zu wetten [37]. Letzteres streicht sich J. W. Goethe, der seinen Faust mit dem Teufel eine Wette eingehen läßt, in seinem Exemplar der KrV an [38]. An Kants Überzeugungsbegriff schließen W. T. Krug[39] und F. Bouterwek[40] mit kleineren Schriften sowie J. F. Fries an, der die Überzeugung als ein der Form nach gesetzmäßiges Fürwahrhalten von der Überredung als ein der Form nach unrichtiges Fürwahrhalten abgrenzt [41]. Fries' Konzeption der Gesinnungsethik basiert auf einem universalen, zur moralischen Grundkategorie erweiterten Begriff der Überzeugung [42]. J. G. Fichte versteht einerseits unter Überzeugung ein unmittelbares, unerschütterliches Gefühl, dem die völlige «Uebereinstimmung unsers empirischen Ich mit dem reinen» [43] zugrunde liegt, und leitet daraus andererseits, sollten sich zwei konträre Überzeugungen gegenüberstehen, die Verpflichtung ab, diese auf diskursive Weise in Übereinstimmung zu bringen: «jeder wird sonach darauf ausgehen, und ausgehen müssen, den andern zu überzeugen, nicht sich von ihm überzeugen zu lassen. ... Jeder kann und darf sonach nur die Ueberzeugung des andern, keinesweges seine physische Wirkung, bestimmen wollen» [44].
Nach A. Schopenhauer, der die Kunstgriffe und Fangschlüsse, deren sich der Überredende bedient, als «eristisch-dialektische Figuren» [45] klassifiziert hat, besteht jede Überredung im Kern aus einer absichtlich einseitigen Bestimmung und willkürlichen Verknüpfung der Begriffe, die dadurch ermöglicht wird, daß sich die Bedeutungssphären der meisten Begriffe überschneiden [46]. Für F. Nietzsche wachsen aus Leidenschaften die Meinungen, die durch die «Trägheit des Geistes ... zu Ueberzeugungen erstarren» [47]. Er plädiert für eine «Macht-Beredsamkeit», die als «grosser Stil» «bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend» [48] ganz auf Suggestion und Überwältigung beruht.
Im 20. Jh. stehen Versuche, den Persuasionsbegriff durch umfassendere Konzepte, wie das der «Identifikation» (K. Burke), zu ersetzen, neben Bemühungen, die Rolle des Persuasiven im Rahmen einer Emotionen-Theorie ethischer Urteile zu bestimmen (Ch. L. Stevenson) [49]. L. Wittgenstein stößt bei der Suche nach den Grundlagen, auf denen ein Sprachspiel beruht, auf ein persuasives Moment: «Am Ende der Gründe steht die Überredung» [50]. Darüber hinaus wird vor allem der Doppelcharakter der Persuasion als instrumentelles Überreden und verständigungsorientiertes Überzeugen diskutiert. Ch. Morris differenziert zeichentheoretisch zwischen «convincingness» («informative adequacy») und «persuasiveness» («incitive adequacy») [51]. In der Argumentationstheorie von Ch. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, die sich auf Kants Unterscheidung berufen, meint ‹persuader› die Wirkung einer Rede auf eine besondere Zuhörerschaft, während ‹convaincre› den rational motivierten Überzeugungsvorgang betrifft, der dem Ideal einer potentiellen Zustimmung durch alle vernunftfähigen Wesen («auditoire universel») verpflichtet ist [52]. K.-O. Apel fordert, «die Rhetorik der Überzeugung von der Rhetorik der bloßen Überredung zu trennen und die erstere im Rahmen einer transzendentalen Pragmatik der Rede mit der philosophischen Logik der Argumentation zu verknüpfen» [53]. J. Habermas folgt diesem Programm mit seinem Begriff der «kommunikativen Rationalität», den er im Gegensatz zu dem der kognitiv-instrumentellen Rationalität auf die «Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede» [54] zurückführt. Inwieweit ein faktisch erzielter Konsens diesem Konzept des Überzeugens tatsächlich entspricht oder doch noch Momente überredender Gewalt enthält [55], soll sich am kritischen Maßstab der «idealen Sprechsituation», der die Bedingungen vernünftiger Verständigung idealtypisch rekonstruiert, erweisen.
Die prinzipielle Unterscheidung zwischen einem strategischen Gebrauch der Sprache und einem wahrheits- und verständigungsorientierten Redehandeln [56] ist gegenüber Habermas z.B. aus pragmatischer Sicht von R. Rorty, der statt dessen nur einen kontinuierlichen Übergang vom einen zum anderen gelten lassen möchte, in Frage gestellt worden [57]. N. Luhmann plädiert im Kontext seiner Theorie selbstreferentieller Systeme für eine «Kultur der nichtüberzeugten Verständigung» und für ein Theoriemodell, das sich offenhält sowohl für den Konsens als auch für Handlungsanschlüsse, die sich aus der Ablehnung von Geltungsansprüchen ergeben [58]. Schließlich unterscheidet P. L. Oesterreich im Rahmen seiner fundamentalontologischen Bestimmung des Persuasiven erneut zwischen autogener Überzeugung und pseudopersuasiver oder privativpersuasiver Überredung [59].
[1]
RE 19 (1937) 194–217.
[2]
Parmenides: VS 28, B 2, 4; vgl. A. P. D. Mourelatos: The route of Parm. (New Haven/London 1970) 136–163.
[3]
Platon: Gorg. 453 a.
[4]
Phileb. 58 a–b; vgl. H. Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1960) 30.
[5]
Isokrates: Nicocl. 6f.; Antid. 253f.
[6]
Cicero: De oratore I, 33; De invent. I, 2.
[7]
Platon: Gorg. 463 b.
[8]
Art. ‹Rechtfertigung I.›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 251–256.
[9]
Platon: Phaedr. 271 c–d. 273 d–e.
[10]
Resp. 519 e–520 a; vgl. K. Popper: Die offene Ges. und ihre Feinde 1 (1957, 31973) 368f.
[11]
Aristoteles: Rhet. I, 2, 1355 b 35ff.; vgl. Art. ‹Pistis›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 976f.; dazu: M.-J. Lossau: Πρὸς κρίσιν τινὰ πολιτικήν. Unters. zur aristot. Rhet. (1981); zur Rezeption der aristot. Lehre der Überzeugungsmittel: Art. ‹Argumentation I›. Hist. Wb. Rhet. 1 (1992) 914–944.
[12]
Cicero: De oratore II, 178; Orator 128; vgl. Art. ‹Argumentation›, a.O. 930ff.
[13]
Horaz: De arte poet. 101–103; Cicero: De oratore 2, 189; Quintilian: Instit. orat. VI, 2, 26f.
[14]
Ps.-Longinus: De sublim. I, 4.
[15]
Plotin: Enn. VI, 7 (38), 40; G. Siegmann: Plotins Philos. des Guten. Eine Interpret. von Enn. VI, 7 (1990) 176.
[16]
Augustinus: De doctr. christ. IV, 25, 55.
[17]
Art. ‹Topik; Topos›. Hist. Wb. Philos. 10 (1998) 1263–1288, 1269f.
[18]
H.-B. Gerl: Rhet. und Philos. im MA, in: H. Schanze/J. Kopperschmidt (Hg.): Rhet. und Philos. (1989) 109–119.
[19]
W. Schmidt-Biggemann: Topica universalis (1983) 15.
[20]
R. Descartes: Br. an Regius (24. 5. 1640). Oeuvr., hg. Ch. Adam/P. Tannery 3 (NA Paris 1988) 65.
[21]
Disc. de la méth. 1, 9 (1637), a.O. 6 (NA 1982) 7.
[22]
B. Pascal: De l'esprit géométrique; Réfl. sur la géométrie en générale, De l'art de persuader (1655). Oeuvr. compl., hg. J. Mesnard 2 (Paris 1991) 390–428.
[23]
N. Machiavelli: Il principe (1513). Opere, hg. M. Bonfantini (Mailand/Neapel 21963) 20.
[24]
Th. Hobbes: De cive X, 11 (1642). Op. lat., hg. W. Molesworth (London 1839–45, ND 1962) 2, 274.
[25]
Leviathan II, 18 (1668). Engl. works, hg. W. Molesworth (London 1839–45, ND 1962) 3, 164.
[26]
J.-J. Rousseau: Du contrat soc. II, 7 (1762). Oeuvr. compl., hg. B. Gagnebin/M. Raymond 3 (Paris 1964) 383.
[27]
Ch. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen, Welche ein Studiosus Juris ... zu beobachten hat (1729) 178.
[28]
Ch. Wolff: Logica oder Vernünft. Ged. von den Kräfften des menschl. Verstandes ... [Dtsch. Logik], 13. Cap. (1713, 141754). Ges. Werke I/1, hg. H. W. Arndt (1965) 231–237.
[29]
A. Rüdiger: De sensu veri et falsi (1722) 574–585.
[30]
G. F. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (1752) §§ 163. 184; Vernunftlehre (1752) §§ 195. 216.
[31]
J. A. Fabricius: Philos. Redekunst (1739) Vorrede; vgl. K. Petrus: Convictio oder persuasio? Etappen einer Debatte in der ersten Hälfte des 18. Jh. (Rüdiger – Fabricius – Gottsched). Z. dtsch. Philol. 113 (1994) 481–495.
[32]
J. Ch. Gottsched: Ausführl. Redekunst VII, 1 (1759). Ausgew. Werke, hg. P. M. Mitchell (1975) 95.
[33]
J. le R. d'Alembert: Art. ‹Elocution›, in: Encycl. ou Dict. rais. des Sci., des Arts et des Métiers 12 (Paris 1765, ND 1967) 520f.; G. Ch. Lichtenberg: Sudelbücher II, H 65 (1784–1788). Schr. und Br., hg. W. Promies 2 (31991) 2, 187; Fénelon: Dialogues sur l'éloquence en gén. et sur celle de la chaire en part. (1718). Oeuvr., hg. J. Le Brun 1 (Paris 1983) 32.
[34]
W. T. Krug: Allg. Handwb. der philos. Wiss.en 4 (1834) 285.
[35]
J. H. Zedler: Grosses vollst. Univ.-Lex. 48 (1746, ND 1962) 782f. (Art. ‹Ueberzeugung des Heiligen Geistes›).
[36]
I. Kant: KrV A 820/B 848–A 825/B 853.
[37]
A 821/B 849.
[38]
Dazu: G. von Molnár: «Die Wette biet' ich». Der Begriff des Wettens in Goethes ‹Faust› und Kants KU, in: K.-D. Müller u.a. (Hg.): Geschichtlichkeit und Aktualität. Festschr. H.-J. Mähl zum 65. Geb. (1988) 29–50, hier: 45.
[39]
W. T. Krug: Von der Überzeugung nach ihren verschied. Arten und Graden (1797).
[40]
F. Bouterwek: Die letzte Krise der Systeme, oder: Von der Moralität und Immoralität der Ueberzeugung. Neues Museum der Philos. und Litt. 1 (1803) 3–24.
[41]
J. F. Fries: System der Logik (31837). Sämtl. Schr., hg. G. König/L. Geldsetzer (1967ff.) 7, 516.
[42]
Ethik (1818), a.O. 10, 158; vgl. G. Hubmann: Eth. Überzeugung und polit. Handeln. J. F. Fries und die dtsch. Trad. der Gesinnungsethik (1997).
[43]
J. G. Fichte: Das System der Sittenlehre (1798). Akad.-A. I/5 (1977) 158.
[44]
a.O. 211.
[45]
A. Schopenhauer: Parerga und Paralip. II, 2, § 26 (1851). Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher (1947ff.) 6, 27; vgl. Erist. Dialektik. Handschr. Nachl., hg. A. Hübscher 3 (1970) 666–700.
[46]
Die Welt als Wille und Vorst. I, § 9 (1819). Sämtl. Werke 2, 58f.
[47]
F. Nietzsche: Menschl., Allzumenschl. 1, 637 (1878/88). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 4/2, 374.
[48]
Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 11 (1889), a.O. 6/3, 112f.
[49]
K. Burke: A rhet. of motives (Berkeley/Los Angeles 1969); Ch. L. Stevenson: Ethics and language (New Haven/London 1944).
[50]
L. Wittgenstein: Über Gewißheit § 612 (1949/51). Werkausg. 8 (51992) 243.
[51]
Ch. Morris: Signs, language, and behavior (New York 1955) 97–104.
[52]
Ch. Perelman/L. Olbrechts-Tyteca: Traité de l'argumentation. La Nouv. Rhét. (Brüssel 31976) § 6f.
[53]
K.-O. Apel: Transformationen der Philos. 1 (1973) 64.
[54]
J. Habermas: Theorie des kommunikat. Handelns (1981) 1, 28.
[55]
Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: R. Bubner u.a. (Hg.): Hermeneutik und Dialektik (1970) 75f.
[56]
Vgl. dazu auch: Art. ‹Strategie›. Hist. Wb. Philos. 10 (1998) 263–266.
[57]
R. Rorty: Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche? Dtsch. Z. Philos. 42 (1994) 981.
[58]
N. Luhmann: Beobacht. der Moderne (1992) 202; vgl. Autopoiesis, Handlung und kommunikat. Verständigung. Z. Soziol. 11 (1982) 366–372.
[59]
P. L. Oesterreich: Fundamentalrhetorik. Unters. zu Person und Rede in der Öffentlichkeit (1990) 51–55.
J. N. Garver: On the rationality of persuading. Mind 69 (1960) 163–174. – J. Kopperschmidt: Überzeugen – Problemskizze zu den Gesprächschancen zwischen Rhetorik und Argumentation, in: M. Schecker (Hg.): Theorie der Argumentation (1977) 203–240. – A. Motte: Persuasion et violence chez Platon. Ant. class. 50 (1981) 562–577. – Ch. Bobonich: Persuasion, compulsion and freedom in Plato's Laws. Class. Quart. 41 (1991) 365–388. – K. Petrus s. Anm. [31]. – F. Lagarde: La persuasion et ses effets. Essai sur la réception en France au 17ème s. (Paris/Seattle 1995).