Grenzbegriff heißt ein Begriff von etwas, zu dem zwar menschliche Erkenntnis nicht zukann, das aber gerade dadurch die Grenzen menschlicher Erkenntnis kenntlich und geltend macht und zu diesem negativen Zwecke gedacht werden muß.
1. Der Terminus gilt als Prägung
Kants; für diesen ist – an der einzigen Stelle seines bei Lebzeiten veröffentlichten Werks, an der das Wort ‹G.› vorkommt – «der Begriff eines Noumenon ... bloß ein G., um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfang derselben setzen zu können»
[1]. Im handschriftlichen Nachlaß definiert Kant: «Der Vollendungsbegriff ist das letzte in der Vermehrung und entspringt aus dem Begriff
alles, sowohl in der synthesi als analysi. Der G. ist das, was übrig bleibt in der Verminderung der conditionum»
[2]; in der Metaphysikvorlesung sind Beispiele dafür: «in dem Verhältnisse der Substanz zum Accidens ... das Substantiale, was kein Accidens mehr von einem andern ist. – In dem Verhältnisse der Ursache und Wirkung ist die Erste Ursache der G., der kein causatum alterius ist. – In dem ... Verhältnisse des Ganzen zu den Theilen ist dasjenige Ganze, das kein Theil mehr von andern ist, der G.; und das ist der Begriff der Welt»
[3]. Der Terminus hat verschiedene – voneinander nicht unabhängige – Rezeptionsschick sale gehabt: die infinitesimale, die regulativ-heuristische und die engagierte Interpretation von G.
2.
Infinitesimale Interpretation. – Die geschichtsphilosophischen Altkantianer um 1800 hatten, weil sie den Begriff ‹Ding an sich› liquidieren wollten und der kantische Terminus ‹G.› – der ihm eine Restbedeutung gesichert hätte – ihnen nur in diesem Kontext bekannt war und dort suspekt sein mußte, offenbar kein Rezeptionsinteresse: weder
Fichte noch
Schelling noch
Hegel haben ihm Aufmerksamkeit gewidmet. Darum hatte er Rezeptionschancen zunächst einzig dort, wo durch die metaphysische Wendung der «Grenzmethode» des Infinitesimalen – wie das von
Leibniz her in der Schule
Wolffs insbesondere bei
Baumgarten versucht wurde – gegen die Vorherrschaft der cartesianischen Extension Realität durch eine «Mathesis Intensorum»
[4] begriffen werden sollte: hier hat
S. Maimon ausdrücklich
[5] und unter ausdrücklicher Verwendung des Terminus ‹G.›
[6] mit seiner Deutung der Dinge an sich als «Differentiale des Bewußtseins» angeknüpft; das scheint
Herbart mit seiner Theorie der «einfachen Reale» fortgesetzt und
Cohen 1883 in seiner Untersuchung über ‹Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte› in jeder Beziehung zu Ende gedacht zu haben: es «korrigiert der G. den Begriff der Gleichheit»
[7] und ist wegen der «systematischen Verwandtschaft zwischen dem Unendlichkleinen und der Empfindung»
[8] als «arithmetische Vorstufe des Intensiven»
[9] «ein unverächtliches Mittel, die leidige Frage von dem Ding an sich zu erledigen»
[10], indem – mit Rücksicht aufs Intensive – «das Differential die Realität als eine konstituierende Denkbedingung geltend macht» und «das Integral das Reale als Gegenstand [bezeichnet]»
[11]. Dieses – schon in Cohens Spätwerk nur mehr abgeschwächt vertretene
[12] – modifizierte Leibnizmotiv im Neukantianismus scheint – insbesondere wegen der Einsprüche
Freges und
Russells[13] – seither nicht weiterverfolgt worden zu sein.
3.
Regulativ-heuristische Interpretation. – Demgegenüber wurde und blieb der Terminus ‹G.› sofort nach 1865 hochbedeutsam, als – bei
Liebmann – sich der Verdacht durchsetzte, die geschichtsphilosophischen Altkantianer, die «Epigonen», seien mit dem «Ding an sich» – einem bereits von Kant verschuldeten Scheinproblem – nicht fertiggeworden: es hatte schon «Kant das dunkle Bewußtsein, daß er hier mit seiner Lehre nicht ganz sicher ist ... Deshalb nennt er auch das ‹Ding an sich› einen ... G .... Aber abgesehen davon, daß dieser ‹negative› Begriff nachher eine sehr positive Bedeutung erhält, kann das letzte, äußerste Ziel unseres Intellects überhaupt kein Begriff sein, sondern nur eine unbeantwortete Frage, ein ungelöstes Rätsel»
[14]. Darum haben die naturwissenschaftsphilosophischen Neukantianer – ansatzweise
Lange[15], am energischsten wiederum
Cohen[16] – den G. als unendliche Aufgabe interpretiert unter dem Aspekt, daß ein G. dabei gerade das akzentuiert, was der Wissenschaftszugriff schuldig bleibt und bleiben muß: die Philosophie der G.e und die Philosophie der transzendentalen Ideen werden hier deckungsgleich. Durch diese «Aequipollenz der ... Begriffe ... des Ding an sich, des Unbedingten, der Idee, des G., der systematischen Einheit»
[17] wird Natur zum G. der mathematischen Naturwissenschaft, Kultur zum G. der Naturforschung usf.: G.e sind «regulative Prinzipien»
[18], indem sie gerade das Unlösbare an Aufgaben geltend machen. Der Einsatz des G. unterstützt so die genuin neukantianische Inversion von Wegen bzw. Methoden und Zielen: der sichere Gang der Wissenschaft dient hier gerade nicht mehr der Erreichung der durch G.e gerade als unerreichbar deklarierten Totalziele, vielmehr dient umgekehrt die Aufstellung dieser einzig dem sicheren Gang der Wissenschaft; gegenüber der Forderung, die damit ergeht, ist die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Totalziele selber fast gleichgültig. Darum – diese Konsequenz hat
Vaihinger gezogen – bilden die G.e eine Teilmenge der Menge der heuristisch oder lebenspraktisch notwendigen Fiktionen
[19]. Erst dem durch
N. Hartmann ontologisch gewendeten Neukantianismus ist durch seine Rehabilitierung der «Dinge an sich» die Fortführung dieses Gebrauchs des Terminus ‹G.› verwehrt. Der aber hat sich inzwischen – bei
Rickert – zur Platzhalterbezeichnung für das «Atheoretische»
[20] und – bei
H. Schwarz – zum geheimen Zentralbegriff einer «Philosophie des Ungegebenen»
[21] gewandelt und ist zugleich
allenthalben in der Philosophie
[22] und ihrer Alltagssprache heimisch geworden.
4.
Engagierte Interpretation. – So wird der Terminus ‹G.› nunmehr – im 20. Jh. – auch für die Diskussion der individuellen und politischen Lebenswelt bedeutsam.
Jaspers' Existenzerhellung impliziert «Grenzbewußtsein»
[23]; die «objektivierenden Analysen ... stoßen an Grenzen, an denen fühlbar wird, was ihnen selbst nicht zugänglich ist»
[24]: Existenz und Transzendenz; sie sind «Grenzgedanken»
[25], über die entschieden wird, wo die «Existenz» in «Grenzsituationen»
[26] existiert: in individuell äußersten Lagen. G.e für politisch äußerste Lagen verlangt
C. Schmitt: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Diese Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem G. allein gerecht werden. Denn G. bedeutet nicht einen konfusen Begriff wie in der unsauberen Terminologie populärer Natur, sondern einen Begriff der äußersten Sphäre. Dem entspricht, daß seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall»
[27]. Demgegenüber erhält sich, quasineukantianisch gewendet, der Gedanke des G. auch – in den Zonen der Identität von Existenzerhellung und politischer Theologie: im Kontext negativer Dialektik – bei
Adorno etwa dort, wo «Erlösung» zum Mittel wird, die Entfremdung zu denken: «Gegenüber der Forderung, die damit ... ergeht, ist ... die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig»
[28]: sie ist ein negativ dialektischer Begriff, eben ein G.