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Pneumatologie, Pneumatik

Pneumatologie, Pneumatik 3159 10.24894/HWPh.3159 Theodor Mahlmann
Metaphysik Geisterlehre Engellehre7 997 anima separata7 997 Geisteslehre Exegese, pneumatische7 999 Pneumatik metaphysica specialis
Pneumatologie, Pneumatik (von griech. πνεῦμα Geist; lat. pneumatologia, pneumatica; engl. pneumatology, pneumatics; frz. pneumatologie, pneumatique; ital. pneumatologia, pneumatica). P. ist eine von J.-H. Alsted 1620 erstmals eingeführte [1] Bezeichnung für den speziellen Teil der Metaphysik, der von Gott (dem «Spiritus independens» [2]) und den geschaffenen Engeln und Seelen der Menschen als den drei stofflosen und vernunftbegabten «Geistern» (πνεύματα, Spiritus) – im Unterschied bzw. im Verhältnis zur Körper-Substanz – handelt: «Pneumatica est scientia de spiritu. ... Potest etiam haec disciplina dici Pneumatologia ... a consideratione entis generalis veniendum esse ad considerationem substantiae, tanquam entis primarii; et omnium primo ad contemplationem spiritus: quae dicitur Pneumatica a subiecto tractationis» («Pneumatik ist die Wissenschaft vom Geist. Diese Disziplin kann auch P. genannt werden. Von der Betrachtung des Seienden im allgemeinen ist auf die Betrachtung der Substanz zu kommen, als des ersten Seienden; und von allem zuerst zur Betrachtung des Geistes: die nach dem Gegenstand der Betrachtung Pneumatik heißt») [3]. Die zuerst von B. Pererius 1562 geforderte Unterscheidung dieses Teils der Metaphysik von dem allgemeinen, der die dem Seienden universal zukommenden Strukturmomente beschreibt [4], hat J. Martini 1604 und 1608 zuerst systematisch durchgeführt [5]. Das literarische Genus ‹P.› hat als erster J. Scharf geschaffen [6]. P. verselbständigt sich damit als Wissenschaft zwischen Ontologie und Physiologie (Physik) [7], die bis zum Ende des 17. Jh. häufig dargestellt wird [8].
Zu Beginn des 18. Jh. erscheint es J. F. Buddeus als nicht mehr ausreichend, «den Teil der theoretischen Philosophie, der die Körperdinge erwägt, als Physik zu benennen, von dem man die P. (pneumaticam, quae spiritus contemplatur), die die Geister betrachtet, und die natürliche Theologie, die von Gott handelt, unterscheidet». Er schlägt vor, «hier auf anderem Wege vorzugehen» und «vom Menschen zu Gott aufzusteigen» («ascendere ab homine ad Deum») [9]. Neben der schon bei Buddeus und anderen empirisch breit entfalteten Kosmologie und der empirischen Psychologie bürgert sich bei Ch. Wolff und anderen der Sprachgebrauch ein, nach dem einerseits «Psychologia & Theologia naturalis nonnunquam Pneumaticae nomine communi insigniuntur ...» («Psychologie und natürliche Theologie bisweilen gemeinsam als P. bezeichnet werden»), andererseits «Ontologia vero, Cosmologia generalis et Pneumatica communi Metaphysicae nomine compellantur» («aber Ontologie, allgemeine Kosmologie und P. gemeinsam als Metaphysik benannt werden») [10]. In diesem Aufbau wird, bei Ch. Thomasius schon 1688, die Geisterlehre als Engellehre aus der P. verdrängt [11] und nur noch als «Appendix hypothetica de spiritibus seu pneumatica hypothetica» behandelt [12]. Aber auch die Lehre von der «anima separata» (der vom Körper getrennten Seele) wird – «wenn daneben auch die noch ältere Frage nach ... ihrer Unsterblichkeit ... nicht ganz fehlte» [13] – auf P. im Sinne der «Wissenschaft von dem nothwendigen Wesen eines Geistes, und von denen Unterschieden und Eigenschaften, welche sich daraus a priori verstehen lassen» [14], reduziert. Die P. wird damit zur Psychologie [15]. Schließlich löst Kant den Anspruch der «P.», in «der Theorie von Geistern» «in Absicht auf eine vermutete Art Wesen» die Existenz einer «Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen» zu erweisen, als «Erdichtung» aufgrundeiner «notwendigen Unwissenheit» erkenntniskritisch auf [16]: «daß ... die rationale Psychologie niemals P. als erweiternde Wissenschaft werden könne» [17]. Dennoch wird der Begriff von Kant noch im Rahmen der bisherigen Schulmetaphysik verwendet [18], ja noch von Hegel in Auseinandersetzung mit dieser [19]. «Nachpneumatologisch» ist erst «die Singularisierung von Geist ... etwa gegen 1800», die sich 1785 in der Übersetzung von P. mit «Geisteswissenschaft» ankündigt [20] und in Hegels Auffassung von P. als «Geisteslehre. Bewußtsein[s]- und Seelenlehre» erscheint [21]. Aber diese «Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie» [22] ist das Ende von P. in philosophisch-systematischem Sinne. Der Begriff wird historisch-beschreibend verwendbar [23]. Der Versuch von K. Rosenkranz, ihn neben «Anthropologie» und «Phänomenologie» als «Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geiste» (1837) zu bewahren [24], bleibt folgenlos wie andere ähnliche [25]. Auch im 20. Jh. bleiben neue Aneignungen des Begriffs für eine Geistesphilosophie Episoden [26]. Die «Theorie der Geisterkunde» [27] lebt aber fort in den P. ablösenden Begriffen ‹Spiritualismus› und ‹Spiritismus›.
Einzig A. E. Biedermann eignete sich den in der Philosophie beheimateten Begriff in der «Kritik der kirchlichen P.», d.h. der Engel- und Dämonenlehre als «Aberglauben» theologisch an [28]. A. von Oettingen gab dann 1902 [29] unter Rückgriff auf zwei den Begriff 1894 verwendende Theologen [30] «P.» die traditionsfreie, völlig neue trinitätstheologische Bedeutung einer «Lehre von der Person des heiligen Geistes» [31]. Aber später findet M. Rade, der sich von Oettingen ausdrücklich anschließt [32], damit keine Nachfolge. Bezeichnenderweise beobachtet F. Kattenbusch 1926, E. Schaeder «könnte», da er – wie ähnlich auch andere Theologen damals – «die Geistfrage die theologische Kernfrage genannt» hat [33], seine Theologie «pneumatozentrisch nennen» [34]. Nach W. Elert «könnte man (so) mit guten Gründen die gesamte Dogmatik nicht nur mit der P. eröffnen, sondern sogar das Werk des Geistes zum Thema des Ganzen machen» [35]. Aber erst nachdem K. Barth 1943 den Begriff ‹P.› als «Geistlehre» bzw. «Lehre vom Heiligen Geist» aufgriff [36], beginnt er sich zu verbreiten [37]. Seit Barth 1968 «die Möglichkeit einer Theologie des 3. Artikels, beherrschend und entscheidend also des Heiligen Geistes» als «P.» zum Ausgangspunkt der Dogmatik zu wählen erwog [38], hat sich der Begriff weithin durchgesetzt [39].
[1]
M. Wundt: Die dtsch. Schulmet. des 17. Jh. (1939) 116. 170.
[2]
D. Hollatz: Examen theol. acroamaticum (1707) 1, c. 1, q. 16.
[3]
J.-H. Alsted: Cursus philosophici encyclopaedia (1620) 2. 10. 298f.
[4]
K. Feiereis: Die Umprägung der natürl. Theol. in Rel.philos. (1965) 15f.
[5]
W. Sparn: Wiederkehr der Metaph. Die ontol. Frage in der luth. Theol. des frühen 17. Jh. (1976) 10.
[6]
J. Scharf: Pneumatica seu Pneumatologia (1629).
[7]
A. Calovius: Systema locorum theol. 1 (1655) 2; zu Wundt, a.O. [1] 116f. 170–172. 219f. 221. 223f., kritisch Sparn, a.O. [5] 155f. 193.
[8]
Ch. Scheibler: Theologia nat. et Angelographia (1621); J. Zeisold (1629/31); S. Klotz (1640); A. Prückner (1650); M. Caselius (1653); A. Heerebord (1659); J. Geilfus (1662); G. Meier (1663); C. Donat (1691); J. Clericus (1695); S. Strimesius (1697); J. Flavel (21698); G. Zeidler (1701); G. P. Roetenbeck: Disp. de impotentia rationis in pneumatica (1702).
[9]
J. F. Buddeus: Elementa philos. theoret. (1703, 81724) §§ 3f.; vgl. S. Johnson: Elementa philos. (Philadelphia 1752, ND 1969) XIX.
[10]
Ch. Wolff: Philosophia rat. sive Logica (1728, 31740, ND 1983) Disc. praelim. § 79; vgl. J. P. Reusch: Systema metaph. (1735, 21743) § 1f.; J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der ges. Weltweisheit (1733f., 71762, ND 1983) § 863; M. Wundt: Die dtsch. Schulphilos. im Zeitalter der Aufklärung (1945, ND 1964) 159. 217. 218.
[11]
Ch. Thomasius: Introd. ad philosophiam aulicam ... § 49 (1688, 21702) 62f.; vgl. Wundt, a.O. [10] 30. 159. 168.
[12]
Reusch, a.O. [10] §§ 1106–1212.
[13]
Wundt, a.O. [10] 272; vgl. z.B. Ch. A. Crusius: Entwurf der nothwend. Vernunftwahrheiten ... (1745, 21753, ND 1964) § 485.
[14]
Crusius, a.O. § 424; vgl. Wundt, a.O. 168 (Wolff); Gottsched, a.O. [10] § 860. 862.
[15]
Wolff, a.O. [10] § 58; vgl. Wundt, a.O. 168. 185. 192. 306 (J. G. Darjes 1743/44); J. G. H. Feder: Logik und Metaph. (1769, 41775) 6 («Seelenlehre») 7. 338. 349–354. 371f. 378 («metaphysische Geisterlehre»); Th. Reid: Philos. works (Edinburgh 1895, ND 1967) 1, 21; J. Beattie: Elements of moral sci. (Edinburgh 1790, ND 1976) 1, XII.
[16]
I. Kant: Träume eines Geistersehers. Akad.-A. 2, 336. 351f.
[17]
KU § 89; vgl. F. Delekat: I. Kant (21966) 170f. 173. 179f. 473.
[18]
Vorles. über die Metaph. (1821, ND 1964) VIIf. 127.
[19]
G. W. F. Hegel: Enzykl. (1830) §§ 34. 378.
[20]
Hist. Wb. Philos. 3, 184. 182. 211.
[21]
Hegel: Bewußtseinslehre für die Mittelklasse (1808/09). Werke, hg. E. Moldenhauer/K. M. Michel (1971) 4, 70f.
[22]
a.O. 73.
[23]
L. Feuerbach: Darst. der Leibnizischen P. Ges. Werke, hg. W. Schuffenhauer 3 (1969, 21981) 136. 145. 155. 352.
[24]
Auch Feuerbach 1839/40, nach H.-M. Sass: L. Feuerbach in Selbstzeugn. ... (1978) 62f.
[25]
A. Le Roux: P. (1844); J. B. Bouvier: Inst. philos. (71844); F. X. Schmid: Entwickl. eines Systems der Philos. auf pneumatolog. Grundlage (1863/68); G. Class: Unters. zur Phänomenol. und Ontol. des menschl. Geistes (1896).
[26]
F. Ebner: Das Wort und die geist. Realitäten. Pneumatolog. Fragm. (1921) Frg. 5; N. Berdjajew: Versuch einer eschatolog. Metaph. (frz. 1946, russ. 1947), dtsch. zit. bei W. Dietrich: N. B. Leben und Werk 1 (1975) 87.
[27]
J. H. Jung-Stilling: Theorie der Geisterkunde (1808, ND 1979).
[28]
A. E. Biedermann: Christl. Dogmatik (1869) §§ 467–473. 689–694; doch vgl. A. Schweizer: Die prot. Zentraldogmen 2 (1856) 385.
[29]
A. von Oettingen: Luther. Dogmatik 2/2 (1902) 296 u.ö.
[30]
W. Kölling: Pneumatologie oder die Lehre von der Person des Hl. Geistes (1894); K. Hollensteiner: Das Weltelend und die Welterlösung. Versuch einer Pneumatik (1894).
[31]
Oettingen, a.O. [29] 316.
[32]
M. Rade: Glaubenslehre (1924/27) Reg.
[33]
E. Schaeder: Theozentrische Theol. 1 (31925) 11; 2 (1914) 105.
[34]
F. Kattenbusch: Die dtsch. evang. Theol. seit Schleiermacher (51926) 69.
[35]
W. Elert: Der christl. Glaube. Grundlinien der luth. Dogmatik (1940, 51960) § 68.
[36]
K. Barth: La Confession de foi de l'église (1943); dtsch. (1967) 40f.
[37]
W. Köhler: Dogmengesch. 1 (1938, 21943) 264; Th. Rüsch: Die Entstehung der Lehre vom Hl. Geist bei Ignatius ..., Theophilus ... und Irenäus ... (1952) 5. 133 u.ö.; O. Weber: Grundlagen der Dogmatik (1955/62) Reg.; De spiritu sancto. Bijdragen tot de leer van de heilige geest (Utrecht 1964) 205–227 (Structurverschillen tussen het christologische en het pneumatologische gezichtspunt [A. A. van Ruler]) passim; a.O. 113. 133. 147 [Quistorp].
[38]
K. Barth: Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hg. H. Bolli (1968) 310–312.
[39]
D. A. Seeber, in: Diskussion zur Theol. der Revolution (1969, 21970) 5; G. Sauter: Vor einem neuen Methodenstreit in der Theol.? (1970) 11. 60f.; J. Moltmann: Kirche in der Kraft des Geistes (1975) 39 (Anm. 18). 42 u.ö.; K. Blaser: Vorstoß zur P. (1977); Gegenwart des Geistes. Aspekte der P., hg. W. Kasper (1979); Th. Freyer: P. als Strukturprinzip der Dogmatik. Überleg, im Anschluß an die Lehre von der ‘Geisttaufeʼ bei K. Barth (1982).
L. Richter: P., in: S. Kierkegaard: Werke. Übers. von L. Richter 1 (1960) 188f. – W. Lindemann: K. Barth und die krit. Schriftauslegung (1973) 47–50: Die Diskussion um die «pneumatische Exegese». – H. G. Pöhlmann: Abriß der Dogmatik (41985) 273f. – Ch. Gremmels: Der Hl. Geist als Ausleger der Schrift, in: Sola scriptum? hg. C. H. Ratschow (1977) 153–155.