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Scientia media

Scientia media 3746 10.24894/HWPh.3746 Klaus Reinhardt
Theologie scientia simplicis intelligentiae scientia visionis8 1507 scientia conditionata
Scientia media. Der von L. de Molina[1] in die Theologie eingeführte Begriff ‹s.m.›, ein Zentralbegriff des Molinismus, einer der beiden Positionen im nachtridentinischen Gnadenstreit [2], bezeichnet Gottes Wissen um die freien Willensentscheidungen, die seine Geschöpfe unter gewissen Umständen und Bedingungen treffen würden («futuribilia»). Ihr Gegenstand ist also das bedingt Wirkliche, ein Zwischenreich zwischen dem rein Möglichen und dem kategorisch Wirklichen. Hinter diesem Begriff steht die Vision unbegrenzt vieler nicht nur möglicher, sondern bedingt wirklicher Welten («ordines»).
Molina nennt Gottes Wissen um das bedingt Wirkliche jedoch nicht deshalb «s.m.», weil es in der Mitte steht zwischen Möglichkeitserkenntnis («scientia simplicis intelligentiae») und Wirklichkeitserkenntnis («scientia visionis»); vielmehr steht für Molina die s.m. in der Mitte zwischen dem Gott schon durch sein Wesen eigenen Erkennen alles notwendigen Seins («scientia naturalis») und dem erst nach seiner freien Willensentscheidung möglichen Erfassen kontingenter Akte. Sie gründet in der alle kontingenten Ursachen bis in ihre bedingten Entscheidungen hinein durchdringenden «supercomprehensio» des göttlichen Wesens.
F. Suárez[3] und P. da Fonseca[4] sagen statt s.m. lieber «scientia conditionata». Den Grund für die Unfehlbarkeit dieses Wissens sehen sie nicht in der «supercomprehensio» des göttlichen Wesens, sondern darin, daß eine Alternative über bedingt Künftiges von Ewigkeit her logisch entschieden ist, auch wenn sich diese Entscheidung erst beim Eintreffen des Ereignisses verifizieren läßt, also in der logisch determinierten Wahrheit von Sätzen über bedingt künftige Sachverhalte. Die Wurzel dieser Auffassung liegt in einer bestimmten Interpretation von Aristoteles' De int. 9 [5].
Der Begriff der s.m. diente Molina wie Suárez und Fonseca dazu, die polaren Gegensätze von Unfehlbarkeit göttlichen Vorauswissens und Freiheit menschlicher Entscheidung in einem System (Molinismus) zu vermitteln.
[1]
L. de Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis ... concordia (Lissabon 1588, ND Oña-Burgos 1953).
[2]
Vgl. Art. ‹Gnadenstreit›, ‹Molinismus›, ‹Praedeterminatio physica›.
[3]
F. Suárez: De scientia Dei futurorum contingentium. Opera omn. 11 (Paris 1858) 291–375.
[4]
P. da Fonseca: Comm. in lib. Met. Arist. III, 6, c. 2 (Köln 1615) 119.
[5]
Aristoteles: De int. 18 a 34.
J. Sagüés: Suárez ante la ciencia media. Estudios Eclesiásticos 22 (1948) 265–310. – F. Stegmüller: Art. ‹s.m.›. LThK2 9, 551. – K. Reinhardt: Pedro Luis SJ (1538–1602) und sein Verständnis der Kontingenz, Praescienz und Praedestination (1965). – S. K. Knebel: s.m. Ein diskursarchäolog. Leitfaden durch das 17. Jh. Arch. Begriffsgesch. 34 (1991).